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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Drohkulissen und Inszenierungen – Was passiert in Belarus?

    Drohkulissen und Inszenierungen – Was passiert in Belarus?

    Belarus ist mal wieder in den Nachrichten: Staatsführer Aljaxandr Lukaschenka hat bekanntgegeben, dass fast ein Drittel der belarussischen Armee an die Grenze zur Ukraine verlegt wurde. Laut Geheimdiensten wurden auch russische Söldner der Wagner-Gruppe an der Grenze im Gebiet Homel zusammengezogen. Warum dieses Manöver von Lukaschenkas Seite?  

    Zudem wurden für den 23. Februar 2025 sogenannte Präsidentschaftswahlen angekündigt, die weder frei noch fair werden, weil im Land keine Opposition mehr möglich ist. Diese muss aus dem Exil heraus agieren. Wie tut sie das? Wie hat sich die Opposition insgesamt entwickelt? Und welche Strategien hat sie für die anstehende Wahlinszenierung?  

    Auf diese und andere Fragen antwortet die belarussische Politologin Victoria Leukavets vom Stockholm Centre for Eastern European Studies (SCEEUS). 

    dekoder: Anscheinend hat Lukaschenka Truppen an der belarussisch-ukrainischen Grenze aufmarschieren lassen. Warum? 

    Victoria Leukavets: Die Spannungen zwischen Belarus und der Ukraine haben sich nach dem Einmarsch der Ukraine in die russische Region Kursk verschärft. Letzte Woche erklärte Lukaschenka, dass Belarus etwa ein Drittel seiner Streitkräfte an die Grenze zur Ukraine verlegt habe. Er warf der Ukraine eine aggressive Politik vor: unter anderem die Verletzung des belarussischen Luftraums bei ihrem Angriff auf die russische Region Kursk und die angebliche Entsendung von mehr als 120.000 ukrainischen Soldaten an die Grenze zu Belarus. Verteidigungsminister Viktor Chrenin erklärte, Belarus sei bereit, Vergeltung zu üben, falls ukrainische Soldaten in das Hoheitsgebiet des Landes eindringen sollten. Die Ukraine hat die belarussischen Anschuldigungen zurückgewiesen und erklärt, sie habe keine 120.000 Soldaten an die Grenze geschickt.  

    Alles nur ein Psychospiel oder besteht tatsächlich die Gefahr, dass Lukaschenka in den Krieg eingreifen könnte?

    Das Vorgehen Lukaschenkas kann auf verschiedene Weise interpretiert werden. Erstens ist ihm bewusst, dass belarussische Freiwillige eine aktive Rolle beim Einmarsch der Ukraine in die russische Region Kursk gespielt haben. Das Hauptziel der Freiwilligen ist es, nicht nur die Ukraine, sondern auch Belarus zu befreien. Daher versucht Lukaschenka, ein deutliches Signal zu senden, dass er die Lage an der belarussischen Grenze unter Kontrolle hält, falls die ukrainische Offensive auf belarussisches Gebiet übergreift. Zweitens könnte er durch die zunehmenden Spannungen an der belarussisch-ukrainischen Grenze Russland helfen, die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit von dem Rückschlag abzulenken, den Russland beim Einmarsch in die Region Kursk erlitten hat. Dies erklärt die aktive Präsenz russischer Streitkräfte und russischer Söldner wie Wagner an der ukrainisch-belarussischen Grenze. 
    Insgesamt ist es unwahrscheinlich, dass Belarus eigene Truppen in den Krieg schicken wird, da das Land für Moskau als Ausgangspunkt für militärische Operationen viel wertvoller ist als aktiver Teilnehmer an militärischen Aktionen. Letzteres könnte das Risiko der Instabilität in Minsk erhöhen und eine harte internationale Reaktion auslösen, die der Kreml nicht unbedingt gebrauchen kann.  

    Aljaxandr Lukaschenka bei einer Militärparade im Juli 2024 in Minsk / Foto © president.gov.by
    Aljaxandr Lukaschenka bei einer Militärparade im Juli 2024 in Minsk / Foto © president.gov.by

    Eigentlich war die sogenannte Präsidentschaftswahl für den Sommer 2025 in Belarus angekündigt. Nun wurde bekannt, dass sie am 23. Februar 2025 stattfindet. Hat Lukaschenka Angst, dass der Sommer den Protestwillen der Belarussen beflügeln könnte? 

    Lukaschenka versucht tatsächlich, die Risiken einer Wiederholung des Szenarios von 2020 zu minimieren. Damals wurde Belarus von einer Welle noch nie dagewesener Proteste erfasst. Diese Erfahrung war ein Schock für das politische System, das Lukaschenka seit Mitte der 1990er Jahre aufgebaut hat. Es gelang ihm, die Situation unter Kontrolle zu bringen. Der Preis dafür allerdings war sehr hoch. Der Westen verhängte umfassende Sanktionen. Auf internationaler Bühne geriet er in die völlige politische Isolation. Rückblickend auf das Jahr 2020 könnte Lukaschenka also denken: Wenn er damals vorsichtiger gewesen wäre, wenn er weniger Risiken eingegangen wäre, hätte er diese Krise vermeiden können. Und deshalb wird er dieses Mal keinerlei Risiken eingehen und alle noch so kleinen Schritte unternehmen, die Situation vollständig unter Kontrolle zu halten. Dazu gehört auch das Kalkül, dass die Menschen im Winter möglicherweise nicht so protestwillig sind wie im Sommer. 

    Alle oppositionellen Parteien wurden verboten, die Repressionswelle rollt weiterhin. Warum braucht Lukaschenka solche Wahlinszenierungen überhaupt noch? 

    Wahlen in nicht-demokratischen Umgebungen sind Instrumente und Rituale, mit denen sich Diktatoren an der Macht halten. Autokratien mit Wahlen gelten in der Wissenschaft tatsächlich als beständiger als solche ohne Wahlen. Bei Belarus sehe ich drei wesentliche Funktionen, die solche Wahlen haben: Das Regime will damit seine Unbesiegbarkeit signalisieren. Allein durch das Abhalten der Wahl sendet das Regime eine starke Botschaft sowohl an die Bevölkerung als auch an die politische Opposition. Und die besagt: Wir sind stark genug, diesen Stresstest durchzustehen, und wir haben die Lage vollständig unter Kontrolle. 

    Zudem nutzt das System solche Wahlen sicher, um Informationen über die Opposition zu sammeln? 

    Richtig. Das Regime sammelt Informationen zur Loyalität in der Bevölkerung und vor allem unter den eigenen Anhängern. Die Wahlen geben dem Regime die Möglichkeit, die Taktiken der Opposition zu studieren, daraus zu lernen und so die eigenen Taktiken zu testen, anzupassen und infolgedessen insgesamt widerstandsfähiger zu werden. Außerdem helfen solche Wahlen Lukaschenka, sich im In- und Ausland zu legitimieren: Sie stärken die Verbindung zum loyalen Teil seiner Wählerschaft, aber übermitteln auch den internationalen Partnern wie Russland und China die Botschaft, dass das Regime stark ist, dass es die völlige Kontrolle hat und dass die vertrauensvolle Zusammenarbeit fortgesetzt werden kann. 

    Seit Juli wurden zahlreiche politische Gefangene entlassen. Muss man dies auch in Zusammenhang mit dem bevorstehenden Wahlereignis sehen? 

    Es gibt Gerüchte, dass es eine dritte Welle von Freilassungen geben wird. Zum Tag der nationalen Einheit am 17. September. Lukaschenka verfolgt damit zwei Hauptziele. Er versucht, die Spannungen in der Gesellschaft ein wenig abzubauen und den Boden für die Wahl zu bereiten. Aber ein wahrscheinlicheres, vielleicht ein realistischeres Ziel ist dieses: Er ist bestrebt, die Kommunikationskanäle mit dem Westen wieder zu öffnen. Es ist seine Art, dem Westen zu signalisieren, dass er zu Verhandlungen bereit ist, um den Sanktionsdruck zu verringern. Dazu gehört auch, dass er sehr genau beobachtet, was auf dem Schlachtfeld zwischen Russland und der Ukraine passiert. Vor dem Hintergrund der mutigen Offensive der Ukrainer in Kursk kalkuliert er seine eigenen Schritte. Wenn Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland unvermeidlich werden, würde dies die geopolitische Konfiguration in der ganzen Region beeinflussen, was sich wiederum auf Lukaschenka auswirken würde. Er sendet deswegen im Voraus Botschaften an den Westen. Als ernsthafte Schritte zur Einleitung eines tiefgreifenden Öffnungsprozesses würde ich diese aber nicht interpretieren. Er will ja keinen politischen Selbstmord begehen. Vielmehr hat er kleinere, pragmatische Ziele im Blick.  

    Bevor wir über die Taktik der Opposition sprechen – wer oder was ist die belarussische Opposition eigentlich? 

    Die Opposition ist kein homogener Körper, sondern besteht aus verschiedenen Strukturen und Organen. Zum einen ist da das Team von Swjatlana Zichanouskaja, der anerkannten nationalen Führungsfigur der Opposition. Dann gibt es ihr Vereinigtes Übergangskabinett, eine Art Exilregierung, deren Mitglieder wie Minister zu unterschiedlichen Fachbereichen agieren. Dazu kommt der Koordinationsrat, der sich quasi zu einem Exilparlament entwickelt, in dem Gruppierungen und Fraktionen mit unterschiedlichen politischen Interessen vertreten sind. Im Mai wurden erstmals Wahlen zu diesem Koordinationsrat abgehalten. Die Wahlbeteiligung war sehr gering, aber nichtsdestotrotz ist dies eine spannende demokratische Übung, die sich weiterentwickeln wird und die den hohen Organisationsgrad der Opposition zeigt. Weitere Gravitationszentren sind das Nationale Anti-Krisen-Management, das sich in Warschau befindet und das von Pawel Latuschka geleitet wird, das Kalinouski-Regiment, das auf Seiten der Ukraine kämpft und das auch im Koordinationsrat vertreten ist, und Sjanon Pasnjak, ein prominenter Vertreter der alten Opposition. Er ist einer der lautesten Kritiker von Zichanouskaja, wird aber von der Mehrheit in der Demokratiebewegung nicht ernst genommen. 

    Wie sieht also die Strategie der Opposition in Bezug auf die Wahlinszenierung aus? 

    Wenn es keine neuen Entwicklungen geben wird und die Situation so bleibt, wie sie ist, wären die Wahlen im Grunde eine One Man-Show. Die Opposition hätte so nur ein sehr begrenztes Instrumentarium, um die Situation vor Ort zu beeinflussen. Eine Strategie, die aktuell diskutiert wird, ist daher die Entwicklung einer effizienten Kommunikationskampagne, die sich an die belarussische Bevölkerung innerhalb des Landes, aber auch an das externe Publikum richtet. Das Hauptziel dieser Kampagne wäre es, Lukaschenka weiter zu delegitimieren, indem man die ganze Welt daran erinnert, wie repressiv dieses Regime ist, wie viele politische Gefangene es immer noch gibt, welche Rolle Lukaschenka beim Angriffskrieg gegen die Ukraine spielt und so weiter. 

    Wie stark ist eigentlich die Anhängerschaft von Lukaschenka? Es gibt Zahlen, die sie auf 20 bis 30 Prozent bemisst. 

    Wir können keine eindeutige Antwort auf diese Frage geben, und zwar aus dem einfachen Grund, weil Belarus wie jedes andere autoritäre Land eine Blackbox ist. Unter den gegenwärtigen Bedingungen der Unterdrückung kann man die Stimmung in der Gesellschaft einfach nicht genau messen, Die Leute haben Angst, ihre Meinung zu sagen. Meinungsumfragen werden nur online durchgeführt. Und das bedeutet bereits, dass sie nicht vollständig repräsentativ sind. Die Zahlen, die Sie nennen, stammten aus Umfragen von 2021, die von Chatham House durchgeführt wurden. Präzise werden dort 27 Prozent auf Seiten der Lukaschenka-Unterstützer genannt. 

    Einige in der Opposition fordern, dass sich auch Swjatlana Zichanouskaja als Oppositionsführerin zur Wahl stellen müsse. Wäre das nicht kontraproduktiv? 

    Es gibt diese Stimmen. Aber viel wichtiger ist, dass am Ende der Konferenz Neues Belarus, die im August in Vilnius stattfand, von den Teilnehmern ein sehr wichtiges Dokument verschiedet wurde, mit dem Zichanouskaja als Anführerin bestätigt wurde. Und zwar bis zu dem Zeitpunkt, wenn wirklich demokratische Wahlen in Belarus abgehalten werden können oder wenn sie selbst das Amt niederlegt. Die Mehrheit ist also der Ansicht, dass solch eine Wahl unter den derzeitigen Umständen riskant wäre. Sie könnte den inneren Zusammenhalt der demokratischen Bewegung untergraben. 

    Swjatlana Zichanouskaja bei der Konferenz der belarussischen Opposition im August 2024 in Vilnius / Foto © Pressedienst Swjatlana Zichanouskaja
    Swjatlana Zichanouskaja bei der Konferenz der belarussischen Opposition im August 2024 in Vilnius / Foto © Pressedienst Swjatlana Zichanouskaja

    In den vergangenen Jahren gab es immer Kritik am Team Zichanouskaja. Was sind die wesentlichen Kritikpunkte? 

    Bei der Kritik geht es um die angeblich intransparente Verwaltung der von westlichen Gebern bereitgestellten Mittel, um die angeblich mangelnde Koordination zwischen all den Institutionen der Opposition, über die wir vorhin gesprochen haben. Zudem wird vor allem die nicht gleichberechtigte Vertretung oppositioneller Stimmen auf internationaler Ebene bemängelt. Der Druck auf das Team von Zichanouskaja ist sehr hoch, die Erwartungen sind groß, die Exilsituation ist für alle sehr schwierig. Ich will die Kritikpunkte nicht abmildern, aber Kritik ist unter diesen Umständen normal, und sie ist ein Zeichen für die Vitalität und Diversität der Opposition. Wenn wir über den Erfolg oder Misserfolg der Opposition sprechen, müssen wir andere Kriterien heranziehen. 

    Und die wären? 

    Kriterium Nummer eins: Die belarussische Oppositionsbewegung wird von einem starken Zusammenhalt getragen und hat eine effektive Koordination entwickelt. Nummer zwei ist die hohe Anerkennung im Ausland und erfolgreiche Lobbyarbeit auf internationaler Ebene. Tatsächlich ist Swjatlana Zichanouskaja ständig unterwegs, wird sogar auf höchster politischer Ebene von politischen Amtsträgern und Vertretern empfangen. Es ist gelungen, stetige Kommunikationskanäle mit Regierungen aufzubauen. Das dritte Kriterium: Die Oppositionsbewegung ist bemüht, regierungsähnliche Strukturen zu schaffen, die auf Grundlage demokratischer Prinzipien funktionieren. Auch hier sehen wir, dass die Oppositionsbewegung mit demokratischen Aushandlungsprozessen und Vertretungsformen experimentiert. Die russische Oppositionsbewegung beispielsweise macht keinen einzigen Schritt in diese Richtung. Und das letzte Kriterium, das wohl fundamentalste und schwierigste: Jede Oppositionsbewegung kann als erfolgreich angesehen werden, wenn sie effektive Mechanismen entwickelt, um die Verbindung zur Bevölkerung im Heimatland aufrechtzuerhalten.

    Kritiker bemängeln, dass die Opposition immer mehr zu einer Interessensvertretung der Exilbelarussen wird und den Kontakt zur Bevölkerung verliert. 

    An dieser Kritik ist natürlich etwas Wahres dran. Aber die Aufrechterhaltung der Kommunikation mit den Menschen im Land und deren Unterstützung hatte immer hohe Priorität. Es werden ständig neue Mechanismen entwickelt und getestet, um neue Kommunikationskanäle zu schaffen. Als die russische Vollinvasion begann, wurden verschiedene Antikriegs-Initiativen unterstützt, einschließlich der Eisenbahn-Partisanen und der Cyber-Partisanen. Diese Aktivitäten wurden in enger Abstimmung mit dem Büro von Zichanouskaja umgesetzt. Zudem werden ständig finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt, um politischen Gefangenen und deren Familien zu unterstützen. Es wird auch mit neuen Plattformen und Kanälen experimentiert, um die Menschen im Land mit Informationen abseits von Propaganda zu versorgen. Ich würde also nicht sagen, dass die Kommunikation mit den Menschen im Land ein völlig weißer Fleck ist. Ja, sie hat ihre Grenzen, weil das Regime derart repressiv ist. Aber die Opposition ist bemüht, diese Grenzen zu verschieben und aufzuweichen.  

    Lukaschenka hat in letzter Zeit häufiger gesagt, dass sich die Belarussen an einen neuen Anführer gewöhnen müssten. Er will doch nicht etwa zurücktreten? 

    Diesen Aussagen sollte man nicht ernst nehmen. Er hat in der Vergangenheit ähnliche Aussagen getätigt. Er versteht, dass Belarus eine sehr entscheidende Phase durchläuft. Und dies ist kein guter Zeitpunkt für einen Machtwechsel. Ich würde sagen, dass der Zweck solcher Aussagen im Grunde nur darin besteht, einen sehr ehrgeizigen Teil seiner Eliten in Schach zu halten. Indem er ihnen vermittelt, dass er zwar kein ewiger Anführer ist, dass er aber irgendwann für eine stabile Nachfolge sorgen wird, dass er die Kontrolle hat. Ein Rücktritt oder eine Machtübergabe werden ganz sicher nicht im Rahmen der Wahlen oder in baldiger Zukunft geschehen. Lukaschenka hat Angst, dass, wenn er loslässt, etwas Unvorhergesehenes passieren könnte. 

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  • „Wir stehen das gemeinsam durch“

    „Wir stehen das gemeinsam durch“

    Beim größten Gefangenenaustausch seit dem Kalten Krieg kamen Ende Juli 2024 insgesamt 16 Personen aus russischer Haft frei (einer davon – der Deutsche Rico Krieger – saß in Belarus im Gefängnis). Die Angaben darüber, wie viele politische Gefangene noch in Zellen und Straflagern festgehalten werden, gehen auseinander: Die belarussische Menschenrechtsorganisation Wjasna zählt gegenwärtig fast 1400 politische Gefangene in Belarus. Das Zentrum zum Schutz der Menschenrechte von Memorial zählt nur Fälle, die von den eigenen Experten untersucht und nach den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention bewertet wurden. Demnach sind gegenwärtig mehr als 340 Menschen in Russland aus politischen Gründen in Haft und mehr als 430 Personen wegen ihrer religiösen Überzeugung,  

    Die Organisation OWD-Info, die eng mit Memorial zusammenarbeitet, dokumentiert Festnahmen und Strafverfahren mit politischem Hintergrund. Ihrer Zählung nach laufen Stand August 2024 in Russland fast dreitausend solcher Verfahren.  

    Von den Repressionen betroffen sind aber nicht nur die Angeklagten und Verurteilten selbst. Auf dem Portal Bereg schildern Angehörige politischer Häftlinge, wie sie die Trennung erleben, wie sich ihr Leben veränderte und wie sie auf ein Wiedersehen warten: 

    • Jegor Balasejkin, 18 Jahre alt, sechs Jahre Lagerhaft. Der damals 16 Jahre alte Gymnasiast wurde am Abend des 28. Februar 2023 bei dem Versuch festgenommen, ein Rekrutierungsbüro in Brand zu stecken. 

    • Dmitri Skurichin, 49 Jahre alt, anderthalb Jahre Lagerhaft. Der Betreiber eines Einkaufsladens in einem kleinen Ort in der Leningrader Oblast hatte sich am 24. Februar 2023, dem Jahrestag des Überfalls auf die Ukraine, vor seinem Geschäft niedergekniet und ein Plakat gehalten: „Vergib uns, Ukraine!“. Das deutete das Gericht als „Diskreditierung der Streitkräfte“. Skurichin war seit vielen Jahren politisch aktiv, unter anderem als Abgeordneter im regionalen Parlament. Seit der Krim-Annexion protestierte er immer wieder gegen den Krieg gegen das Nachbarland. Ende Juli 2024 wurde er aus der Haft entlassen, nachdem er seine Strafe vollständig abgesessen hatte. 

    • Boris Kagarlizki, 65 Jahre alt, fünf Jahre Lagerhaft. Der linke Soziologe betrieb einen beliebten YouTube-Kanal. Dort hatte er nach einer Explosion auf der Krim-Brücke im Oktober 2022 ein Video mit dem Titel „Explosive Grüße an den Brücken-Kater“ veröffentlicht. Ein Kater, der den Bauarbeitern zugelaufen war, wurde zuvor von russischen Staatssendern als Maskottchen der Brücke gefeiert. Kargalizki wurde am 12. Dezember 2023 zunächst zu einer Geldstrafe verurteilt. In der Berufungsverhandlung im Februar 2024 verwandelte das Gericht die Geldstrafe in Lagerhaft.  

    Tatjana Balasejkina 

    Mutter von Jegor Balasejkin 

    Jegor war immer ein sehr guter Junge. Wahrscheinlich denken viele, wenn ich das sage: „Natürlich, die Mama. Was soll sie sonst auch sagen?“ Aber es ist wirklich so. Er hat nie Ärger gemacht, hat nie gequengelt. Ich habe ihm vorgelesen, seit er auf der Welt ist, und er hat sich so sehr daran gewöhnt, dass wir, wenn er im Kindergarten oder in der Schule krank wurde, uns dann zuhause mit Büchern hinsetzten. Man konnte sich mit ihm immer einigen: Wollte er zum Beispiel im Geschäft ein Auto, habe ich ihm immer erklärt, dass wir das kaufen können, wenn mein Gehalt ausbezahlt wird, und er hat deswegen nie einen Aufstand gemacht. 

    Wir haben es geschafft, ein sehr warmherziges und vertrauensvolles Verhältnis zu unserem Sohn aufzubauen. Er hat uns nie hintergangen. Immer war er offen und ehrlich, wohl, weil er wusste, dass er von niemandem wegen einer Fünf oder wegen eines Energydrinks nach der Schule mit den Kumpels bestraft würde. Wir haben ihn nie physisch bestraft, er hat nie in der Ecke gestanden. Ich denke, er hatte das Gefühl, dass seine Eltern zu ihm stehen, und das hat zu einem vertrauensvollen Verhältnis geführt. Er hat mir immer alles erzählt, selbst intime Dinge, als er körperlich erwachsen wurde. Wir haben über seine erste Verliebtheit geredet, darüber, mit wem er im Gymnasium gut klarkommt und mit wem nicht. Wenn Jegor aus der Schule kam, zog er seinen Mantel aus, und setzte sich immer gleich an den Küchentisch und erzählte, wie sein Tag war. 

    Als Jegor geboren wurde, verstand ich, dass er keine Erweiterung von mir ist, sondern ein eigenständiger kleiner Mensch mit seinen Wünschen, Interessen, mit guter oder schlechter Laune. Diese Wahrnehmung unseres Kindes half uns, das Verhältnis aufzubauen, das wir jetzt [wo er in Haft ist] haben. Obwohl er seit 15 Monaten von uns getrennt und nicht erreichbar ist, scheint mir, dass unsere Beziehung noch stärker geworden ist. Wir vertrauen einander jetzt noch mehr. 

    Jegor Balasejkin bei einer Reise im Schlafwagen / Foto © privat
    Jegor Balasejkin bei einer Reise im Schlafwagen / Foto © privat

    Bei der ersten Sitzung vor Gericht, als die Untersuchungshaft festgelegt wurde, das war am 2. März 2023, hat Jegor uns kein einziges Mal angeschaut. Unsere Blicke ließen nicht von ihm ab, und er schaute kein einziges Mal her. Auch beim ersten Besuch in der Untersuchungshaft war er irgendwie vorsichtig. Erst einige Zeit später haben wir darüber gesprochen. Er sagte da, es sei ihm so vorgekommen, als würden wir ihn nicht unterstützen: „Ich werde jetzt allein sein in meinem Kampf.“ Mein Mann und ich waren perplex: „Wie können wir dich nicht unterstützen, wo wir dich doch dein ganzes Leben lang unterstützt haben? Wir haben alle deine Entscheidungen immer akzeptiert.“ Jegor meinte, er habe befürchtet, dass wir uns ja von ihm abwenden und ihn nicht weiter begleiten würden. Aber nach dem Gespräch war ihm dann sehr viel leichter ums Herz und froh zumute. Er hatte verstanden, dass wir diesen Weg gemeinsam bis zum Ende gehen. Unser Verhältnis wurde noch enger, nun vertraut er uns blind. 

    Wir können jetzt sogar über mehr Themen reden als in der Zeit, als er noch in Freiheit war. Er hat keinen Zugang zu Informationen, außer über den Fernseher. Jetzt sind wir seine Informationsquellen. Wir informieren uns über alles Mögliche: Literatur, Geschichte, Geografie, die Geschichte militärischer Konflikte. Alles, was wir erfahren, schicken wir ihm per Brief. Militärische Konflikte haben mich nie interessiert. Ich habe mich immer mehr für Sprachen interessiert – ich bin Englischlehrerin. Jetzt müssen wir die unterschiedlichsten Themen studieren, kurze Exzerpte schreiben und sie ins Gefängnis schicken. Und die Themen, über die wir sprechen, sind noch zahlreicher geworden. 

    * * *   

    Jegor wurde am 28. Februar 2023 unweit einer Rekrutierungsbehörde in Kirowsk festgenommen. Erst nach zwei Stunden wurden mein Mann und ich informiert. Zuerst dachten wir, dass wir jetzt irgendwelche Erklärungen unterschreiben, ihn dann mitnehmen und nach Hause fahren. Der Ermittler sagte uns aber, dass Jegor nicht nach Hause kann. Alle seine Sachen seien jetzt Beweisstücke, weswegen wir ihm neue bringen müssten. Dann folgten Durchsuchungen und Verhöre. Alles ging sehr schnell. Nach dem Verhör wurden die Ermittlungen neu eingestuft, es ging nicht mehr um § 167 des Strafgesetzbuches [„Vorsätzliche Sachbeschädigung“ – dek.], sondern um § 205 [„Terroristischer Akt“ – dek.]. 

    Bis er hinter Gitter wanderte, hatte ich noch Hoffnung: Ich ging zu Hause auf und ab und fragte mich immer wieder: „Wie können wir dich da rausholen?“ Vom Gericht kehrte ich dann mit anderen Gedanken zurück: „Wir können dich da nicht rausholen. Wir müssen etwas unternehmen.“ Wir suchten im Internet nach Informationen, nach Menschenrechtsorganisationen und so weiter. Beim ersten Besuch sagte Jegor, wir sollten nicht mal daran denken, auf etwas zu hoffen, und dass es keinen Sinn hat, Geld für Anwälte auszugeben: „Ist doch völlig klar, wie es weitergeht. Ihr versteht ja, dass sie mir den 205er nicht deshalb anhängen, weil ich Flaschen geworfen habe, sondern wegen dem, was ich gesagt habe.“ 

    * * *  

    Unser Leben hat sich in diesen 15 Monaten um 180 Grad gewendet. Aus naiven Erwachsenen, die an Gerechtigkeit, Ehrlichkeit und Anständigkeit glaubten, haben wir uns in komplette Realisten verwandelt. 

    Die erste Zeit nach der Verhaftung war am schmerzlichsten und schrecklichsten. Als ob man mich von einem Planeten auf einen anderen geworfen hätte, wo alles ringsum für mich fremd ist. Die Hoffnung und der Glaube an das Gute schwand mit jedem Prozesstag. Uns war klar, dass er nicht mit einer Bewährungsstrafe davonkommen wird. Wir hatten ja gehört, wie der Staatsanwalt und der Sekretär des Richters miteinander flüsterten und Jegor einen politischen Verbrecher nannten. Und obwohl einem all das bewusst ist – auf die Urteilsverkündung bist du dann doch nicht vorbereitet. Emotional kannst du damit unmöglich zurechtkommen. Als ich von den sechs Jahren hörte, wurde ich hysterisch, obwohl ich mich darauf eingestellt hatte. Am 15. Mai wurde Jegor auf die Liste der „Terroristen und Extremisten“ gesetzt: Wir wussten, dass das passieren würde. Aber wenn du ihn dann auf den Listen siehst, bist du doch wieder erschüttert. Zwei Tage stand ich total neben mir, das war wirklich ein Schlag für mich. 

    Mein Mann wurde einen Monat nach Jegors Verhaftung von seinem Arbeitgeber entlassen. Er kann nirgendwo mehr Arbeit finden, weil es überall, wo er sich bewirbt, eine Überprüfung durch die Staatssicherheit gibt. Und überall leuchtet knallrot, dass unser Sohn ein Terrorist ist. 

    Jegor Balasejkin mit seinen Eltern Daniel und Tatjana. Nachdem Ermittler an seinem Arbeitsplatz aufgetaucht waren, verlor Daniel Balasejkin seinen Job als Elektriker / Foto © privat
    Jegor Balasejkin mit seinen Eltern Daniel und Tatjana. Nachdem Ermittler an seinem Arbeitsplatz aufgetaucht waren, verlor Daniel Balasejkin seinen Job als Elektriker / Foto © privat

    Ich habe versucht in die ONK (Gesellschaftliche Beobachtungskommission) der Leningrader Oblast zu kommen. Die suchten zusätzliche Mitglieder. Ich schickte meine Papiere hin und machte sofort klar, wegen welches Paragrafen mein Sohn einsitzt. Sie sagten mir, dass sei gar kein Problem. Einige Wochen später rief man mich an und erklärte: „Wir haben die Bewerberlisten zur Prüfung an den FSB geschickt. Leider steht neben ihrem Familiennamen „Aufnahme kategorisch nicht empfohlen“. 

    Unser Freundes- und Bekanntenkreis hat sich von Grund auf verändert: Wir haben praktisch mit niemandem mehr Kontakt, der vor dem 28. Februar Teil unseres Lebens war. Überhaupt versuchen wir, uns mit niemandem zu treffen. Weil es uninteressant ist, über aufgeblühte Blumen und die Preise im Supermarkt zu reden. Früher war es für mich wichtig, dass ich leckeres Essen koche, dass die Wohnung aufgeräumt ist, dass alle Handtücher so hängen, wie ich es möchte. Jetzt weiß ich, dass mir völlig egal ist, wie die Handtücher hängen und was ich zu Essen koche. Ich nutze die Zeit lieber für Sachen, die jetzt wichtig für mich sind: Ich werde die Strafprozessordnung studieren. Die Werte haben sich für mich vollkommen verschoben. 

    Unsere Freunde und Verwandten sind geteilter Meinung: Einer hat Jegor des Verrats beschuldigt. Andere meinten, dass er ein dummer Junge sei und jetzt dafür büßen wird. Aber unsere Gerichte seien gerecht, und er werde natürlich freigesprochen und nach Hause kommen. Als dieses „gerechte“ Gericht dann sein Urteil fällte, war das ein Schock für diese Leute. Es gab niemanden, der sich vollkommen auf die Seite von Jegor stellte. Solche gab es nur unter denen, die wir nach seiner Verhaftung kennenlernten: seine Abonnenten, Menschen, die zu den Gerichtsprozessen gehen, die ihm Briefe schreiben. 

    Wir haben immer zu unserem Sohn gehalten und wir werden weiter zu ihm halten. Die Art und Weise, mit der er seine Überzeugung deutlich gemacht hat, war vielleicht nicht ganz korrekt. Aber er hat ein Recht auf diese Überzeugung. 

    * * *   

    Eine Zeit lang hörte ich Lieder, die mich aufmunterten. Dann begriff ich, dass sie keinen Trost mehr spenden: Wenn ich ein Lied abspiele, beginne ich sofort zu weinen. Das ist nicht gut, denn so werde ich immer trauriger. Zu Hause hängen die beiden T-Shirts, die wir beim Berufungsverfahren anhatten, mit Fotos von Jegor. Jeden Tag wache ich auf und sehe das Gesicht meines Sohnes. Ich gehe hin, küsse es, grüße ihn, spreche mit ihm, während ich durchs Zimmer gehe. Das gibt mir das Gefühl, dass er bei mir ist. 

    Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich es schaffe, und dann wieder nicht. Ich wünsche mir, dass ich in den kommenden fünf Jahren nicht vollkommen den Verstand verliere, dass ich geistig gesund bleibe. 

    Ich bin übervoll mit Hass, und das macht mir Angst. Ich wäre gern wie Jegor, weil er keinen Hass gegen die Menschen hegt, die ihn hinter Gitter gebracht haben und diesen Irrsinn in unserem Land veranstalten. Ich würde mich gern von diesem Hass befreien, weil Hass schlecht ist. 

    * * *   

    Ich denke, wenn Jegor 2029 freikommt, wird sich im Leben des Landes nichts verändert haben, und es wird kein wirklich demokratisches Land sein. Für Jegor wird hier kein Platz sein. Ihm wird der Weg in eine Zukunft versperrt sein. Uns ist er jetzt schon verbaut. 

    Nach seiner Freilassung wird Jegors Name noch acht oder zehn Jahre auf der Liste der Terroristen und Extremisten stehen. Ist Ihnen klar, was das heißt? Ihm werden Rechte vorenthalten: keine Uni, keine Arbeit. Mit 22 Jahren werden ihm hier alle Wege verschlossen sein, wenn sich nichts ändert. Als wir darüber redeten, sagte er: „Ich werde das Land keinesfalls verlassen, wenn ich freikomme. Ich werde es in dieser Lage nicht hängenlassen. Wenn ich rauskomme und alles gut ist, dann denke ich vielleicht über Emigration nach.“ 

    Das ist seine Entscheidung, und er hat ein Recht darauf. Wenn er diesen Weg wählt, werden auch wir hierbleiben. Wir können natürlich unsere Meinung sagen, doch die Entscheidung wird allein er treffen. Wir werden jede seiner Entscheidungen unterstützen. 

    Familie Balasejkin im Juni 2022. Acht Monate später wurde Jegor festgenommen. Er soll versucht haben, ein Rekrutierungsbüro der Armee in Brand zu stecken / Foto © privat
    Familie Balasejkin im Juni 2022. Acht Monate später wurde Jegor festgenommen. Er soll versucht haben, ein Rekrutierungsbüro der Armee in Brand zu stecken / Foto © privat

    Hoffnung, dass Jegor früher freikommt, haben wir nicht. Wir sind in Berufung gegangen und sammeln jetzt die Papiere für die nächste Instanz. Erstens tun wir das, weil wir das Recht dazu haben. Und zweitens zeigen wir damit, dass wir mit der Entscheidung des Gerichts nicht einverstanden sind. Drittens können wir nur darauf hoffen, dass all diese Verfahren revidiert und die betroffenen Menschen rehabilitiert werden. Und dafür müssen wir alle Wege beschreiten, die das Gesetz vorsieht. Obwohl wir keine Hoffnung haben, dass das Verfahren jetzt revidiert wird. 

    * * *  

    Das letzte Mal haben wir uns am 5. Juni gesehen. Er sah aus wie immer, erzählte nur, er habe sich gewogen und habe vier Kilo abgenommen, obwohl er sich wie immer ernährt und wie immer trainiert. 

    Emotional ist es natürlich schwieriger, weil 15 Monate in einer kleinen Zelle mit fünf Leuten schwer zu ertragen sind. Sie haben nur selten Hofgang. Meistens findet der auf dem Dach statt. Der Ort unterscheidet sich kaum von einer gewöhnlichen Gefängniszelle: die gleichen gemauerten Wände, nur anstelle einer Decke ist oben ein Gitter. 

    Jegor ist ein gebildeter, reifer, intellektueller Junge. Ihm fällt es nicht leicht, 24 Stunden am Tag mit Jungs zusammen zu sein, die von nichts eine Ahnung haben. Denen ist schwer begreiflich zu machen, warum man sich wäscht, die Zähne putzt, die Füße wäscht. Er hat jetzt die Funktion eines Erwachsenen, eines Erziehers, der diesen Jungs (die meisten von ihnen sind aus einem Heim oder aus schwierigen Familienverhältnissen) ganz einfache Dinge beibringen soll. Er führt sie ein bisschen ans Lesen heran. Wenn er ein Buch ausgelesen hat, gibt er es weiter. 

    * * *   

    Die Häftlinge brauchen unsere Unterstützung. Sonst lebt man hinter Gittern mit dem Gefühl, dass man alleingelassen wurde. Als Jegor dann Briefe bekam, hat ihn das seelisch unglaublich gestärkt! Er sagte mir: „Du kannst dir nicht vorstellen, was für Leute mir schreiben. Die sind so stark und mutig, dass mein Glaube an die Menschen wiederkommt. Und daran, dass es mit der Zeit wieder gut wird im Land.“ 

    Die Briefe helfen dabei, den Kontakt zur Realität nicht zu verlieren. Die Leute schicken Nachrichten, und man hat mehr oder weniger einen Überblick, was so vor sich geht. Sie schreiben aus aller Welt, aus Montenegro, Deutschland, der Schweiz, Kanada … Sie erzählen etwas über ihre Städte. Das erweitert seinen Horizont. Ich bin in einigen Chatgruppen, in denen sich die Leute austauschen, die Briefe an politische Gefangene schreiben. Und ich bin begeistert, wie viel Energie die da hineinstecken. Die Leute schreiben mitunter 20 Briefe am Tag. Und wieviel Kraft sie haben, dass sie für jeden politischen Gefangenen, mit dem sie im Briefwechsel stehen, Nachrichten zusammenstellen und Geschichten erzählen. 

    Finanzielle Unterstützung ist ebenfalls sehr wichtig: Anwaltskosten, Versorgungspakete, wenn etwas auf dem Konto des politischen Gefangenen ankommt, kann er sich wenigstens ein bisschen was davon kaufen. Mit den Paketen muss man übrigens vorsichtig sein: Für Minderjährige ist deren Gewicht nicht begrenzt. Bei Volljährigen ist alles streng reglementiert, und jedes Paket, das nicht mit der Unterstützergruppe abgesprochen ist, kann den Plan durcheinanderbringen. 

    Auch vom Ausland aus können die politischen Gefangenen unterstützt werden: Man kann Aktionen organisieren, ihre Geschichten bekannt machen und Menschen für sie interessieren. Ich verfolge die Mahnwachen zur Unterstützung für Jegor, auch wenn es nicht viele sind. Vor kurzem fand in Berlin ein Briefeschreibabend für politische Gefangene statt. Wir waren per Video zugeschaltet. Ich berichtete von Jegor, und die Teilnehmer schrieben ihm dann Briefe. Man kann alles Mögliche unternehmen, nur eines darf man gewiss nicht tun – schweigen. 

     

    Tajana Skurichina  

    Ehefrau von Dmitri Skurichin 

    Wir sind beide im Dorf Russko-Wyssozkoje geboren, das liegt hinter Krasnoje Selo, einem Vorort von Petersburg. Ich ging auf die Hochschule für Handel und Wirtschaft, fuhr mit dem Bus zu den Vorlesungen. Er studierte am Wojenmech [Staatliche technische Ostseeuniversität]. Wir haben uns im Bus kennengelernt. Ich musste in dieser Zeit lernen, wie man Integrale berechnet. Und ich versuchte, seine Bekanntschaft zu machen: Er lernte mit mir, wir machten Übungsaufgaben. So wurden wir ein paar und heirateten schließlich. 

    1998 wurde unsere erste Tochter geboren. Das Jahr war ziemlich schwierig: die Rubelkrise, alles. Wir mussten ein Gläschen Babybrei buchstäblich auf mehrere Tage strecken. Nach fünf Jahren kam unsere zweite Tochter. Vor ein paar Tagen haben wir ihren Geburtstag gefeiert. Ich habe meinem Mann ein Festtagspäckchen ins Lager geschickt. 

    Wir haben insgesamt fünf Töchter. Die Älteste lebt schon seit anderthalb Jahren mit ihrem Mann in Montenegro. Die Zweitälteste studiert an der Polytechnischen Universität Sankt Petersburg Werbewirtschaft und Öffentlichkeitsarbeit. Dann kommen die Zwillinge, 13 Jahre alt. Als ihr Papa verhaftet wurde, rief mich jemand an und sagte, dass es im Moskauer Umland ein gutes Internat gebe, wo man sie unterbringen könnte [was ich auch tat]. Ich besuche sie natürlich, packe Päckchen, schicke Leckereien. Die Jüngste geht hier [in Russko-Wyssokoje] zur Schule. 

    Dmitri Skurichin beim Langlauf mit seinen Töchtern / Foto © privat
    Dmitri Skurichin beim Langlauf mit seinen Töchtern / Foto © privat

    Natürlich ist es schwer für mich allein. Als die beiden Mädels ins Internat kamen, konnte ich etwas durchatmen. Jetzt sind aber Ferien, und alle sind zu Hause. Ich habe vor kurzem eine Woche Urlaub genommen. Mir ist klar geworden, wie erschöpft ich bin, selbst im Urlaub. Alle sind zu Hause, alle wollen was essen, alle wollen versorgt werden, damit sie beschäftigt sind, von den Handys loskommen, Bücher lesen, sich bewegen. Manchmal rufe ich meinen Mann an und klage. 

    Wir hatten neulich ein längeres Treffen. Die Besuchszeiten fielen auf Werktage, und das ließ sich auch nicht ändern. Ich musste mich ganz schön ins Zeug legen, um diese drei Tage freizubekommen. Als ich wiederkam, musste ich sofort zur Arbeit. Nach Feierabend begrüßten mich die Mädels mit „Mama, wir haben Hunger!“ Sie hatten den Schokoladevorrat gefunden, den ich zu Hause versteckt hatte, auch die, die für ein Päckchen an Dima vorgesehen war. Die Buletten im Kühlschrank hatten sie „übersehen“. Ich schmiss schnell Nudeln in die Pfanne, versorgte alle und machte mich wieder schnell auf zur Arbeit, um dort alles aufzuholen. So strampele ich mich seit über einem Jahr ab. 

    Jeder Tag ist ein Kampf. Es müssen Alltagsfragen geklärt werden. Und ich reiße mich in Stücke. Wir leben vor der Stadt, im eigenen Haus, und man muss sich um alles selbst kümmern: Die Kinder, das Auto, der Garten. Wer wird bei der Reparatur helfen? Wer bringt das Gewächshaus in Ordnung? Fast immer winde ich mich alleine heraus. Dima ruft aus der Strafkolonie manchmal Verwandte an und bittet sie, mir zu helfen. Es ist gut, dass wir wenigstens per Telefon Kontakt zu meinem Mann halten können. 

    * * *  

    Ende der 1990er Jahre [hatten wir] die Möglichkeit, in unserer Siedlung ein Gebäude zu kaufen. Dima beschloss, daraus einen Laden zu machen. Der gleiche Raum, unser Raum, an den er seine Parolen geschrieben und wo er die Plakate aufgehängt hat. Und als die Kioske von Supermarkt-Filialen abgelöst wurden, baute er das Gebäude ein bisschen um und vermietete es. Ich bin von der Ausbildung her Buchhalterin und habe ihm immer geholfen. 

    Sein Interesse für Politik ging ziemlich an mir vorbei. Es gab ja die fünf Kinder, immer wieder Arbeit, die Buchhaltung [im Geschäft]. Und in den 2000er Jahren kandidierte er für den Kommunalrat. Das hat ihn sehr interessiert. Er wurde in den Kommunalrat gewählt. Es gab zwölf Abgeordnete, elf von Einiges Russland und er allein [als Unabhängiger]. 

    Das war kein Zuckerschlecken: Immer waren elf dafür und er dagegen. Bei jeder Erhöhung der Gebühren für kommunale Dienstleistungen zum Beispiel, die von der Regierung der Oblast aufgedrückt wurden, hoben alle zustimmend die Hand, nur er stimmte dagegen. Es war schwierig für ihn. Psychisch ist das kaum zu ertragen. Er befasste sich mit Fragen der kommunalen Versorgung: Die Leute kamen ja und berichteten von ihren Problemen, dass nicht geheizt wird und es kalt ist in den Wohnungen, dass die Gebühren hoch sind. Und Dima versuchte sich in all das einzuarbeiten. Es gab eine Zeit, da wurde ihm gedroht. Sie sagten: „Schau mal, du hast Familie, Kinder … Wenn du dich weiterhin einmischst, dann müssen wir da was unternehmen.“ Der Kommunalverwaltung war er ein Dorn im Auge, deswegen waren seine Jahre als Abgeordneter [von 2009 bis 2014] sehr schwer für uns. 

    Dima war es wichtig, sich in das öffentliche Leben einzubringen und das Leben in seinem Dorf zu verbessern. Ich belästigte ihn nie mit Fragen, etwa, warum hast du dich bloß darauf eingelassen? Ich habe ihn nicht behelligt. Nur einmal sagte ich: „Besser nicht, lass das lieber“, das war, als er sich mit dem Plakat hinstellte „Vergib uns, Ukraine“ [24. Februar 2023]. Zu dem Zeitpunkt lief bereits ein Strafverfahren gegen ihn, bestimmte Sachen waren ihm verboten (er durfte kein Telefon oder Gadgets verwenden). Ich bat ihn nur, es nicht zu tun, ich hatte ein ungutes Gefühl. Aber er sagte, da wird nichts Schlimmes geschehen – am Abend kamen sie dann, um ihn abzuholen. 

    Es war der Hochzeitstag seiner Eltern. Mehrere Autos fuhren vor, Dima ging raus, um mit ihnen zu sprechen. Sie erlaubten allen Gästen, heimzufahren – übrig blieben ich und die zwei Kinder. Wir stiegen ins Auto, fuhren los und realisierten, dass man uns folgte. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir schon zwei Hausdurchsuchungen hinter uns, ich konnte das nicht mehr ertragen: Sie führen sich bei dir im Hof auf wie die Schweine, rauchen, trinken Kaffee, schauen dir nicht ins Gesicht und fluchen heftig rum… unerträglich. Fiese Visagen, eine Meute, die deine Tür kaputt macht, die Fenster, ohne irgendwelche Dokumente vorzuzeigen. Sie führen sich auf wie eine Horde Banditen. Sie nehmen alles mit. Nach der ersten Hausdurchsuchung war nicht einmal mehr Geld da, um das Auto zu betanken. Sie hatten es mitgenommen, sagten, sie „müssen es überprüfen“. Am Morgen nach der ersten Hausdurchsuchung blieb ich mit kaputter Tür zurück und hatte nicht eine Kopeke in der Tasche. Ich hatte nichts, was ich den Kindern zu essen geben konnte. Nur gut, dass schnell eine Sammelaktion organisiert wurde, sonst hätte ich nicht gewusst, was aus uns geworden wäre. 

    Ich sagte meinem Mann, lass uns nicht nach Hause fahren, ich will keine weiteren Hausdurchsuchungen. Wir fuhren bis Krasnoje Selo, Dima gab mir den Schlüssel und sagte, er fahre nach Petersburg; er wolle ein wenig „spazieren gehen“. Ich fuhr allein mit den Kindern nach Hause, merkte, dass uns ein Wagen folgte, und dachte: „Verdammt, ich bin 46 Jahre alt, Mutter von 5 Kindern, und die treiben mit uns solche Agentenspielchen“. 

    Gegen Abend kam Dima zurück, er kletterte durchs Fenster, und wir blieben in der Dunkelheit sitzen, weil wir wussten, dass das Haus unter Beobachtung stand. Am Morgen nahmen sie ihn mit. Ich war schockiert von diesem Verhalten [der Behörden]. Dass man so mit dir umspringt, obwohl du kein Bandit bist, kein Mörder und mit Drogen nichts zu tun hast. Ich dachte: Wir haben vielleicht einen Staat, toll, wie der sich aufführt. 

    Dmitri Skurichin posiert vor einer Statue der Justitia. Er war seit vielen Jahren politisch aktiv, auch als Abgeordneter. Für seinen Protest gegen den Krieg schickte ihn ein Gericht für anderthalb Jahre in ein Straflager / Foto © privat
    Dmitri Skurichin posiert vor einer Statue der Justitia. Er war seit vielen Jahren politisch aktiv, auch als Abgeordneter. Für seinen Protest gegen den Krieg schickte ihn ein Gericht für anderthalb Jahre in ein Straflager / Foto © privat

    Meine zweite Tochter ist dieses Mal schon wählen gegangen [bei den Präsidentschaftswahlen im März 2024], die kleineren Töchter ahnen angesichts der letzten Ereignisse auch schon was, sie beginnen sich für Politik und das, was im Land passiert zu interessieren. Ich agitiere sie nicht, aber die Umstände beeinflussen sie. Sie sehen, wie schwer das alles für mich ist, wie ich allein am Rotieren bin, und sie verstehen, dass ihr Papa wegen seiner Überzeugung im Gefängnis sitzt. Wenn dich der Staat mal dermaßen erschüttert hat, gehen gewisse Chakren auf, du beginnst, viele Dinge in einem anderen Licht zu betrachten 

    Ich begreife nicht, wofür Dima jetzt seine Gesundheit ruiniert. Wenn sie einen jetzt für seine Meinung ins Gefängnis stecken, dann wäre es besser, das Land zu verlassen. Vielleicht wäre das auch besser für die Kinder. Wir haben viele Kinder. Ich mache mir Gedanken darüber, wie wir das bewältigen, was wir tun können. Ich bin ratlos. Ich bin in Panik, wie sollen wir hier weiterleben, wenn Dima rauskommt Ende Sommer 2024? – ich habe keine Ahnung. Wir stehen schon auf der schwarzen Liste: Wie sollen wir jetzt unser Geschäft weiterführen? Wenn man bedenkt, dass sie einen jederzeit wieder verurteilen können.  

    Über das, was war, beklage ich mich nicht. Aber wie sollen wir damit weiterleben? Ins Ausland gehen will Dima natürlich nicht. Doch ich sage ihm immer wieder, dass wir bereits am Boden sind. Ich weiß nicht, wie es uns ergehen würde, wenn wir ins Ausland gingen, aber ich würde diese Erfahrung gern machen. Denn hier habe ich schon viel gesehen – und mehr davon möchte ich nicht erleben. Dima sagt immer: „Wir beide haben doch gut gelebt“. Doch ich sage ihm, dass wir noch nicht am Ende unseres Lebens sind, dass wir noch die Kinder großziehen müssen. Und ich möchte sie zu normalen Menschen erziehen. 

    * * * 

    Als Dima noch in Untersuchungshaft war, haben wir uns Briefe geschrieben; drei Briefe durften wir einander pro Woche schreiben. Das war natürlich ungewohnt: Wir haben unser ganzes Leben zusammen verbracht, deswegen habe ich nie Briefe geschrieben. Mir war wichtig, sie mit der Hand zu schreiben, das Handgeschriebene vermittelt etwas Persönliches. Ich wusste, dass handschriftliche Briefe länger brauchen, aber ich wollte es genau so – Dima sagte dann, es habe ihn gefreut, meine Handschrift zu sehen, das wärme die Seele. Doch zum Straflager sind Briefe sehr lange unterwegs. Ich versuche ihm Bücher mitzubringen, aber es gibt Probleme: Sie lassen nicht alle Bücher durch. Beim ersten Treffen nahm ich ein Büchlein mit: Fahrenheit 451. Ich hatte es eingewickelt, niemand merkte etwas. 

    Seit er im Straflager ist, telefonieren wir miteinander. Das kostet zwar Geld, aber dafür unterhalten wir uns zehn Minuten täglich, tauschen aus, was es Neues gibt. Letzte Woche war die Verbindung schlecht: Mal verstand ich kaum etwas, mal er. Aber diese täglichen Gespräche sind wichtig. Dima fragt viel nach den Kindern, er fürchtet, wenn er rauskommt, werden sie sich verändert haben. 

    Jetzt kämpfen wir dafür, dass er früher rauskommt, und seien es nur zehn Tage. Er will endlich wieder bei den Kindern sein und ans Meer fahren, das wäre ein Traum. 

    * * * 

    Ich denke nicht, dass Dimas Festnahme besonders starken Einfluss auf die Kinder hatte. Aber ich kriege mit, dass sie neuerdings andere Leute fragen, was sie wählen. Ich habe sie gebeten, vorsichtiger zu sein und nicht solche Fragen zu stellen. Ich hatte die Befürchtung, dass sie das [Dmitris Haft] in der Schule nicht verstehen würden, aber alles ist gut – die Lehrer fragen [die Mädchen]: „Und wann kommt der Papa raus?“ 

    Am heftigsten waren für mich die Hausdurchsuchungen. Die erste Zeit saß ich im Dunkeln, damit niemand sehen konnte, dass ich zuhause bin. Wann immer ich konnte, ging ich arbeiten, nur um nicht zu Hause zu sein. Ich hoffe, dass die Mädchen keinen Schaden genommen haben; sie sind noch klein, sie werden zurechtkommen. 

    Seitdem Dima fort ist, habe ich völlig verlernt zu planen. Ich plane nicht weiter als eine Woche im Voraus, aber ich weiß genau, dass ich auf lange Sicht dazu bereit bin, von hier fortzugehen. Früher hatte ich davor Angst, aber jetzt nicht mehr. Ich weiß jetzt, was Gefängnis bedeutet; mehr brauche ich nicht zu wissen. Ich warte sehnlichst auf Dima. Was dann sein wird, weiß ich nicht. 

     

    Xenia Kagarlizkaja 

    Die Tochter von Boris Kagarlizki 

    Es gibt Eltern, die sehr viel zu tun haben, viel Zeit auf der Arbeit verbringen und den Kindern wenig Aufmerksamkeit schenken. Das ist bei mir nicht der Fall. Papa und ich waren immer zusammen. Wir sind zum Beispiel in verschiedene Länder gefahren. Wir waren in Syrien, 2013, noch vor dem Krieg, drei Mal in Kuba, Papa hatte die Idee, dass ich Kuba noch vor dem Tod von Fidel Castro sehen sollte (Castro starb 2016 – Anm. Meduza). Urlaub mit Papa war immer interessant, weil er ein Wikipedia-Mensch ist: Er weiß zu allem etwas zu sagen, zu jedem Thema, jedem Gebäude. Ich kam immer mit viel neuem Wissen von diesen Reisen zurück. Meine ganze Kindheit habe ich in ständigem Austausch mit meinem Vater verbracht. 

    Für kleine Kinder ist es wichtig, zu verstehen, was gut und was böse ist, wo die Grenze zwischen Schwarz und Weiß verläuft. Für Kinder ist es schwer, die Zwischentöne zu verstehen. Aber Papa war da ganz anders: Er hat mir immer alle möglichen Varianten und Sichtweisen beschrieben, und dann gesagt: „Die Schlussfolgerungen ziehst du selbst“. Einerseits entwickelt sich so kritisches Denken, andererseits ist das etwas schwierig zu akzeptieren, wenn du fünf Jahre alt bist. 

    Mit Papas Sicht auf die Welt im Hintergrund wuchs ich zu einem sehr resoluten Menschen heran. Beispielsweise bin ich bereit, jemandem zu kündigen, wenn er sich einmal voll daneben benommen hat – bei Papa würde er noch 1000 Chancen bekommen. 

    Wenn ich irgendwo Unterstützung bekommen kann, dann bei Papa. Ich habe sogar ein T-Shirt mit der Aufschrift „Ganz der Vater“, seit seiner Verhaftung trage ich es ständig. Wir konnten uns immer blind vertrauen. Wir telefonierten täglich, seit ich volljährig und ausgezogen bin. Wir haben zusammen Fargo, Breaking Bad, Game of Thrones gesehen. Das war unser allabendliches Ritual.  

    Boris Kagarlizki mit seiner Tochter Xenia. Sie half ihm bei den ersten Schritten mit seinem eigenen YouToube-Kanal. Für ein Video verurteile ihn ein Gericht zu fünf Jahren Lagerhaft / Foto © privat
    Boris Kagarlizki mit seiner Tochter Xenia. Sie half ihm bei den ersten Schritten mit seinem eigenen YouToube-Kanal. Für ein Video verurteile ihn ein Gericht zu fünf Jahren Lagerhaft / Foto © privat

    Als Teenager bekam ich genauer mit, was Papa macht, weil ich begann, mich auch für YouTube zu interessieren. Mit der Zeit wurde aus dem Zeitvertreib Arbeit. Damals war der Kanal Rabkor nicht besonders aktiv, aber irgendwann brachte ein Bekannter Papa auf die Idee, zu streamen: „Die Menschen könnten euch ihre Fragen schicken und dafür spenden sie“. Papa kam zu mir und fragte: „Kannst du einen Stream einrichten?“ Ich sagte, nein. Also fanden wir es gemeinsam heraus.  

    Wir streamten das erste Mal, als ich 15 war. Der Stream brach dauernd ab, von Zeit zu Zeit waren wir nicht sicher, ob die Verbindung zu den Zuschauern steht oder nicht. Ich musste immer wieder ins Bild laufen, um etwas auszubügeln. Wir streamten ja mit einer normalen Webcam vom Computer. Und den Leuten gefiel es, dass mal ich im Bild auftauchte, mal unser prächtiger Kater Stepan. Gleich beim ersten Stream spendeten die Menschen.  

    Daraus entstand allmählich das Genre unserer häuslichen Streams: Ich verlas zu Beginn die Fragen aus dem Off und erschien dann immer mal wieder im Bild. Dann nahm ich einen Job bei einer größeren Firma an, die auch mit YouTube arbeitet. Ich trennte mich von Rabkor, aber seit Papa 2023 verhaftet wurde, helfe ich dem Team wieder. 

    * * * 

    Wie gefährlich das ist, was Papa macht, wurde mir klar, als ich in der achten Klasse war. Es gab eine Demonstration auf dem Bolotnaja-Platz [6. Mai 2012], und Papa bestand darauf, dass ich mit ihm hinging. Warum auch immer, ich wollte nicht, obwohl ich schon zuvor auf Demonstrationen gewesen war. Seit der fünften Klasse hatte Papa mich ins Schlepptau genommen.  

    Eine Woche nach dieser Aktion lud man ihn zum Verhör ins Ermittlungskomitee. Er sagte, er fahre in einer Woche nach Deutschland und wenn sie bei ihm eine Hausdurchsuchung durchführen wollen, sollten sie nicht in diesem Zeitraum kommen. Natürlich taten sie genau das. Um sieben Uhr früh kamen komische Typen zu uns nach Hause, Mama stand ihnen Rede und Antwort, in dieser Situation spürte ich zum ersten Mal, wie gefährlich das wirklich war. Danach machte ich mir keine Illusionen mehr. 

    Familienbild mit Katze / Foto © privat
    Familienbild mit Katze / Foto © privat

    Aber so richtig Angst um Papa hatte ich erst nach seiner Verhaftung [im Jahr 2023]. Eine Hausdurchsuchung ist nur eine Hausdurchsuchung: Sie kommen und gehen wieder. Selbstverständlich belastet einen das, aber man kommt darüber hinweg. Nachdem er das erste Mal wieder freigekommen war [Mitte Dezember 2023], kam mir der Gedanke, dass ich mir wünsche, er würde das Land verlassen. Er würde unterrichten, einer ganz anderen Tätigkeit nachgehen, auch auf seinem Gebiet. Aber er würde sich keiner Gefahr mehr aussetzen. Er ist aber nicht ins Ausland gegangen. Und er ist nicht ich, er ist anderer Ansicht. Was ich will oder nicht will, das beeinflusst ihn nicht im Geringsten. 

    * * * 

    Am Tag seiner Verhaftung [26. Juli 2023] kehrte Mama [die Dozentin Irina Gluschtschenko] aus Argentinien zurück, Papa sollte sie am Flughafen abholen. Aber er kam nicht. Für uns gab es zwei Möglichkeiten: Entweder liegt er irgendwo und atmet nicht mehr oder die Staatsmacht steckt dahinter. Als wir erfuhren, dass die Behörden der Grund sind, beruhigten wir uns, denn das ließe sich irgendwie wieder in Ordnung bringen. Ich öffnete den [Telegram-Kanal] Avtozak LIVE und sah, dass bei einem Mitarbeiter von Rabkor eine Hausdurchsuchung läuft. Im ganzen Land gab es Hausdurchsuchungen. 

    Alle waren in Panik, in Angst und Schrecken, wussten nicht, was tun. Aber sie rauften sich irgendwie zusammen, initiierten einen Stream zu seiner Unterstützung und starteten eine Sammelaktion. Rabkor hat seine Übertragung nicht einen Tag ausgesetzt – ich denke, das ist ein großer Erfolg angesichts dessen, dass sie bei den wichtigsten Mitarbeitern die ganze Technik mitgenommen haben, für die wir über Jahre Spenden gesammelt hatten. Zur gleichen Zeit starteten wir eine internationale Kampagne [um Papa und Rabkor zu unterstützen], die enorm viel einbrachte: Ein offener Brief, unterschrieben von vielen bekannten Leuten wie zum Beispiel [dem slowenischen Philosophen] Slavoj Žižek, [dem britischen Politiker] Jeremy Corbyn, [dem französischen Politiker und Journalisten Jean-Luc] Mélenchon.  

    Im Endeffekt wurde Papa [am 12. Dezember 2023] mit einer Geldstrafe [609.000 Rubel; 6500 Euro] entlassen. Wir waren überglücklich, versuchten sofort, ihn davon zu überzeugen, das Land zu verlassen. Er weigerte sich. Er war der Meinung, wenn er ausreisen würde, würde er seine Ideen verraten. 

    Die Staatsanwaltschaft fand allerdings mit der Zeit, dass diese Geldstrafe nicht Strafe genug sei für solche „Taten“, wie ein [aus Sicht der Ermittler] verfehlter Titel eines kurzen Films auf YouTube (im Augenblick der ersten Verhaftung war der Clip über zehn Monate auf dem Kanal zu sehen gewesen). Und so wurden aus der Geldstrafe fünf Jahre wegen „Rechtfertigung von Terrorismus“. 

    Dieser Titel war das Einzige, was sie gegen Papa vorbringen konnten. Papa war immer imstande gewesen, subtile Formulierungen zu finden, hatte sich immer an alle russischen Gesetze gehalten und nie dagegen verstoßen. Offensichtlich hatten sie [die Ermittler] einfach die Aufgabe, irgendetwas gegen ihn zu finden, und dieser Titel erwies sich als das Einzige, was sie auftreiben konnten. 

    Einen Tag vor seiner zweiten Festnahme [am 13. Februar 2024] telefonierten Papa und ich. Ich spürte, dass sie ihn einbuchten würden, sprach mit ihm darüber. Doch er antwortete, das werde nicht passieren. 

    * * * 

    Das letzte Mal haben wir uns vor zwei Jahren gesehen – wie schrecklich, schon zwei Jahre sind seitdem vergangen! Es war im Herbst, nach der Mobilmachung. Wir sprachen über meinen Umzug [von Russland nach Montenegro], aßen gemeinsam zu Abend. Danach haben wir über Video telefoniert. Wir hatten den Termin wie echte Profis in unseren Kalender eingetragen. Wir haben immer alles genau reglementiert. Doch jetzt geht das leider nicht mehr. Jetzt läuft unsere Briefkorrespondenz über den Föderalen Strafvollzugsdienst

    Inzwischen nehme ich kein Blatt mehr vor den Mund, schreibe alles, was ich denke, Zensur hin, Zensur her. Ich mache mir da gar keinen Kopf. Was mich beunruhigt, ist etwas anderes: Was wird, wenn er wieder frei ist? Er ist 65 Jahre alt, und er hat es dort sehr schwer. Das Leben im Straflager ist kein Erholungsaufenthalt im Sanatorium. Ich verfolge die Nachrichten über andere politische Gefangene, und das macht mir Angst. Ich will nicht, dass sie meinen Vater in die Strafzelle stecken. Und außerdem denke ich an den Kater Stepan. Der ist jetzt 11, er liebt Papa, vermisst ihn. Wer weiß, ob er noch so lange leben wird, bis Papa zurück kommt. 

    Und außerdem ärgern mich die Anfeindungen gegenüber Papa wegen seiner Anschauungen oder wegen Äußerungen von vor 100 Jahren. Im Internet schreiben sie häufig abschätzig, er sei Kommunist, sie bringen uralte Äußerungen von ihm aufs Tapet. Darum geht es jetzt überhaupt nicht. Wenn ein Mensch auf freiem Fuß ist, kann man mit ihm diskutieren, wenn er im Gefängnis ist, dann nicht, dann muss man ihn einfach nur unterstützen. 

    Boris Kagarlizki mit seiner Tochter Xenia. „Früher war ich ihm böse, weil er beschlossen hat, zu bleiben“, sagt sie / Foto © privat
    Boris Kagarlizki mit seiner Tochter Xenia. „Früher war ich ihm böse, weil er beschlossen hat, zu bleiben“, sagt sie / Foto © privat

    Früher war ich ihm böse, weil er beschlossen hat zu bleiben. Sind denn diese Ideen tatsächlich wichtiger als wir? Aber so ist er nun mal, für ihn ist das eben wichtig. Das ist sein Leben und er weiß, wenn du dich mit Politik befasst, besteht die Gefahr, dass du im Gefängnis landest. Wenn du Feuerwehrmann bist, kannst du bei der Arbeit verbrennen, und wenn du in der Politik bist, können sie dich einbuchten oder umbringen. 

    Dass Papa seine Überzeugungen voranstellt, ist für mich nichts Neues. Es war immer so: Erst kommt der politische Kampf, dann die Familie. Die Familie ist sehr wichtig, aber der Kampf ist wichtiger. Die Familie ist sein persönliches Interesse, der politische Kampf aber ist im allgemeinen Interesse. Wie kann da sein persönliches Interesse wichtiger sein als das allgemeine Interesse? Aber wie soll ich damit leben und das akzeptieren? Ich bin daran gewöhnt, bin schon abgehärtet. Ich habe, wie mir scheint, aufgehört, irgendetwas zu fühlen. 

    Ich würde mir wünschen, dass Papa Dozent für Geschichte wäre. Aber sich vorzustellen, wie alles hätte anders kommen können, hieße, ihn nicht zu respektieren. Er will der sein, der er ist. Wenn ich ihn liebe, muss ich das akzeptieren. Ich habe wirklich gute Eltern. Wir sind eben nur in eine sehr ungerechte Lage geraten. Nicht nur wir, sondern das ganze Land. 

    * * * 

    Die Arbeit hilft mir, mit der Angst zurecht zu kommen: Ich habe viele Projekte. Neben meiner Hauptarbeit in einem großen Unternehmen, veranstalte ich das Festival Zone der Freiheit zur Unterstützung politischer Gefangener [in Montenegro, Armenien, Litauen, Israel und anderen Ländern], ich fahre zu Abendveranstaltungen, bei denen die Teilnehmer Briefe an politische Gefangene schreiben, helfe bei Rabkor. Ich schlafe wenig, die meiste Zeit arbeite ich. Wenn ich mit meinen Gedanken ganz allein bin, verlässt mich der Mut. Doch solange man Probleme lösen muss, ist der Kopf abgelenkt. 

    Mama hat es schwerer. Nach der zweiten Inhaftierung setzte bei ihr das Gefühl einer Kränkung ein: Warum gerade er? Warum haben sie ihn mitgenommen, wieder freigelassen und dann wieder mitgenommen? Mein Bruder [Georgi Kagarlizki] und ich sind ins Ausland gegangen, und sie ist allein in Russland und ohne Papa. Ich hoffe, sie kommt bald zu uns zu einem langen Wiedersehen. 

    Meine Mama ist ein wunderbarer Mensch. Wir sprechen heute mehr miteinander als früher, sie kommt mich regelmäßig besuchen. So ist sie immerhin öfter am Meer. Man muss ja auch versuchen, irgendetwas Positives zu finden. 

    * * * 

    Papa sagt, er freue sich sehr, wenn er Briefe bekomme [von den Briefschreibabenden für politische Gefangene]. An den Abenden verlese ich seine Briefe, zeige den Menschen, dass er sein Gesicht nicht verloren hat, den Kopf nicht hängen lässt. Und seine Unterstützung durch mich hilft auch anderen Menschen, unter anderem mir.  

    Das Berufungsverfahren war die letzte juristische Möglichkeit, um auf den Staat einzuwirken. Zum jetzigen Augenblick haben wir getan, was wir konnten. Ich weiß nicht, was passieren müsste, um etwas zu verändern. Außer globalen Veränderungen. 

    Ich hoffe, dass das alles für uns nicht erst in fünf Jahren zu Ende sein wird, sondern so bald wie möglich. Ich wünsche uns allen Freiheit. Ich wünsche nicht nur Papa Freiheit, sondern auch mir selbst. Ich will die Möglichkeit haben, nach Russland zurückzukehren, ich will keine Angst mehr haben. Ich will spüren, dass auch ich und mein Papa in unserem Land leben können und das tun können, was wir wollen.

    Weitere Themen

    Das russische Strafvollzugssystem

    FAQ #8: Warum regt sich in Russland so wenig Protest?

    Protest und Widerstand gegen den Krieg

    „Unterschreib oder wir vergewaltigen dich“

  • „Warum haben sie euch noch nicht eingebuchtet?“

    „Warum haben sie euch noch nicht eingebuchtet?“

    Nach der Einführung einer strengen Militärzensur im März 2022 haben viele Kreml-kritischen Journalisten Russland verlassen oder ihre Arbeit eingestellt. Die wichtigsten unabhängigen Medien arbeiten inzwischen aus dem Exil im Baltikum, in Georgien oder auch in Deutschland. Einige wenige Redaktionen wählten derweil einen Zwischenweg: Sie versuchen, sich an die Gesetze zu halten, und dennoch die Wirklichkeit abzubilden so gut es geht.  

    Wie klein der verbliebene Raum für unabhängige Berichterstattung ist, zeigt ein Beispiel aus Saratow an der Wolga. Die lokale Online-Nachrichtenagentur Swobodnyje Nowosti („Freie Nachrichten“) – oft einfach nur Swobodnyje genannt („Die Freien“) – ist es seit zwölf Jahren gewohnt, unter den propagandistischen Medien als weißer Rabe in Erscheinung zu treten. Sie sind die einzigen, die den ehemaligen Vizegouverneur der Region und jetzigen Vorsitzenden der Staatsduma, Wjatscheslaw Wolodin, offen kritisieren. Und sie versuchen weiterhin, auch in Zeiten der Zensur wahrheitsgemäß zu berichten.

    Nach Beginn des vollumfänglichen Krieges gegen die Ukraine wurden sie von Kollegen und Vertretern der Verwaltung der Volksverhetzung beschuldigt. Während die einen beklagen, dass man die Journalisten der Freien Nachrichten „noch nicht sämtlich hinter Gitter gebracht hat“, meinen andere, das Portal sei nicht oppositionell genug. Seit die russische Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor die Webseite der Freien blockiert hat, sind weitere Probleme hinzugekommen. Am 23. Juli dieses Jahres wurden die schlimmsten Befürchtungen wahr: Roskomnadsor wurde beim Obersten Gericht Russlands vorstellig und forderte einen Entzug der Medienlizenz, weil das Portal die Beiträge „ausländischer Agenten“ nicht gekennzeichnet habe. Takie Dela hat eine der wenigen Redaktionen in der Region besucht, die nicht von der Kreml-Partei Einiges Russland gelenkt wird. 

    Die stellvertretende Chefredakteurin Marija Aleksaschina hat ein Poster von Anna Politkowskaja an ihrem Arbeitsplatz aufgehängt. / Foto © privat
    Die stellvertretende Chefredakteurin Marija Aleksaschina hat ein Poster von Anna Politkowskaja an ihrem Arbeitsplatz aufgehängt. / Foto © privat

    Die Redaktion hat ihren Sitz in einem vierstöckigen Gebäude im Stadtzentrum von Saratow. Nur 15 Mitarbeiter arbeiten hier, das Kernteam ist schon viele Jahre zusammen. Die Freien hatten sich dem Rating von Medialogija zufolge seit langem fest in den Top fünf der meistzitierten Medien der Region etabliert. Und das in einer Stadt mit fast einer Million Einwohnern, in der 80 Prozent der Medien unmittelbar oder indirekt der Regierungspartei Einiges Russland gehören. 

    Um halb neun morgens ist die Nachrichtenabteilung der Freien vollständig angetreten. Einer ist schon seit sieben am Arbeitsplatz. Die meisten Mitarbeiter sind hinter der Tür mit dem Schild „Newsroom“ zu finden. 

    Über dem Tisch der stellvertretenden Chefredakteurin Marija Aleksaschina hängt ein riesiges Poster mit einem Portrait der Journalistin Anna Politkowskaja. Ein erster Eignungstest für Volontäre. Ein Menschenrechts-Aktivist aus der Stadt hatte ihr das Poster vor einigen Jahren zur sorgsamen Aufbewahrung überlassen. Nach dessen Tod entschied Marija, dass es an der Wand seinen besten Platz hat. 

    Aleksaschina hat die Augen ständig am Monitor und lässt die Maus nicht aus den Fingern. Ihre Haare sind zu einem Knoten gebunden; sie trägt Jeans, Sportschuhe, auf dem Tisch stehen mehrere Wasserflaschen – es sind heute vierzig Grad in Saratow. Neben dem Computer ein Festnetztelefon. Darüber laufen Termine und Anregungen der Leser ein. 

    „Neulich saß ich hier bis zehn Uhr abends, da klingelte plötzlich das Telefon. Dummerweise ging ich dran“ Marija ahmt eine männliche Stimme nach: „Jetzt sagen Sie mal, weswegen Sie blockiert wurden!?!“. „Er legte erst auf, als ich ihn davon überzeugt hatte, dass wir das selbst nicht wissen!“ 

    Die ersten Nachrichten, die die Journalisten nach ihrer Wiedergeburt brachten, waren: Frost im Mai, die Verluste von Gazprom und eine Verlosung Hunderter Eier zu Ostern.

    Drei Tage nach der Sperrung des Portals startete die Redaktion eine neue Webseite: Bei der Adresse wurde lediglich das Minus weggelassen. Und die Arbeit begann von vorn, als ob es die zwölf Jahre davor nicht gegeben hätte. Jeder Link, der auf die alte Seite führt, würde so ausgelegt, dass es sich bei dem neuen Portal um einen mirror handelt [also um eine Kopie der gesperrten Inhalte – dek.] – das würde eine erneute Sperre nach sich ziehen. 

    Die ersten Nachrichten, die die Journalisten nach ihrer Wiedergeburt brachten, waren: Frost im Mai, die Verluste von Gazprom und eine Verlosung Hunderter Eier zu Ostern. 

    Heute ist es genau zwei Monate her, dass die Redaktion auf der neuen Internetseite aktiv wurde. Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums seien in der Nacht vier Drohnen abgeschossen worden, doch die stehen nicht am Anfang des Nachrichtentickers. „Sind ja keine zwanzig“, erklären die Diensthabenden am Ticker. Vereinzelte Luftangriffe, bei denen niemand zu Schaden kommt, interessieren kaum jemanden.

    Nachdem die Medienaufsicht die alte Seite gesperrt hat, hat die Chefredaktion ein neues Portal gestartet – und nur das Minuszeichen aus der Adresse entfernt. Trotzdem sind die Besucherzahlen deutlich zurückgegangen / Foto © privat
    Nachdem die Medienaufsicht die alte Seite gesperrt hat, hat die Chefredaktion ein neues Portal gestartet – und nur das Minuszeichen aus der Adresse entfernt. Trotzdem sind die Besucherzahlen deutlich zurückgegangen / Foto © privat

    Die Journalisten eröffnen den Nachrichtentag mit der „Spezialität des Hauses“, einem Bericht zu den „verödenden Landschaften“: Den Angaben des Statistikamtes Rosstat zufolge steht die Oblast Saratow hinsichtlich des absoluten Bevölkerungsrückgangs an sechster Stelle aller Regionen Russlands. 

    „Das ist eine merkwürdige Aufgabe, zu belegen, dass die Oblast sich entvölkert“, erklärt Marija. „Angefangen hat es damit, dass einige Journalisten – nicht nur von uns, sondern auch von anderen Medien – anhand der Daten von Rosstat diese Bevölkerungsverluste berechneten. Und für recht lange Zeit lag die Oblast Saratow auf dem ersten Platz. So wurde der Begriff ‚verödende Landschaften‘ geprägt. Und er hängt uns immer noch an.“ 

    Die nächste Nachricht handelt vom Vorstoß eines Abgeordneten aus Saratow, bei den Soldaten der „militärischen Spezialoperation“ IT-Fähigkeiten stärker zu fördern. Niemand diskutiert sie. 

    „Wir sind ein gesperrtes Medium, aber sie schicken uns weiterhin Pressemitteilungen und laden uns zu offiziellen Veranstaltungen ein. Wir werden bald schizophren.“

    Marija wendet den Blick vom Ticker, um einen Anruf auf dem Festnetz entgegenzunehmen. Der Pressdienst des Gouverneurs lädt die Journalisten der Freien zu einer Veranstaltung ein: Wieder einmal stattet der Vorsitzende der Staatsduma, Wjatscheslaw Wolodin, Region Saratow einen Besuch ab. Er stammt von hier. 

    „Bald werden wir noch schizophren.“ Marija reibt müde ihre Schläfen. „Wir sind ein gesperrtes Medium, im Grunde gibt es uns gar nicht. Aber sie schicken uns weiterhin Pressemitteilungen und laden uns zu offiziellen Veranstaltungen ein.“ 

    Einige der letzten Zeilen im „Logbuch“ (so wird in der Redaktion ein Notizbuch mit Leser-Anfragen genannt) sind Roskomnadsor gewidmet. Nach der Sperrung der Webseite haben die Journalisten mehrere Male bei der Behörde nachgefragt: Aus welchem Grund? Sie haben offizielle Anfragen geschrieben und eine Erklärung der Redaktion auf die Webseite gestellt. Aber weder von der Medienaufsicht noch von der Generalstaatsanwaltschaft gab es eine Antwort. In dem Schreiben der Medienaufsicht heißt es nur ominös: „wegen wiederholter Platzierung widerrechtlicher Informationen“. 

    „Sie haben auf einen Paragrafen verwiesen, der rund 25 Punkte umfasst, angefangen von ‚Fernbleiben von der Truppe‘ bis hin zu ‚LGBT-Propaganda‘. Bei der Hotline des Roskomnadsor gab man uns auch keine Antwort – wir hörten nur: Don’t Worry, Be Happy. Sieht so aus, als sei das alles, was wir tun können“, witzelt die stellvertretende Chefredakteurin. 

    Das Einzige, was die Journalisten wissen: Sie wurden von der föderalen Medienaufsicht gesperrt, nicht von der regionalen. „Unser digitaler Gulag arbeitet technisch bemerkenswert, ein menschlicher Faktor ist ausgeschlossen“, fährt Marija fort. „Bei der regionalen Medienaufsicht räumten sie ein, dass man selbst schockiert sei. Der Minister für digitale Entwicklung der Oblast schrieb uns: ‚Was ist passiert?‘ Im Chat mit Kollegen schrieben uns andere Medien: ‚Was habt ihr denn erwartet?‘ Und natürlich fragten alle nach dem Grund der Sperrung, und wie es weitergeht.“ 

    „Wir haben uns derart angestrengt, die Regeln dieses unfairen Spiels einzuhalten.“

    In den ersten Tagen waren viele überzeugt, dass das nur ein Fehler sei und die Freien bald wieder entsperrt werden. 

    „Wir haben uns derart angestrengt, die Regeln dieses unfairen Spiels einzuhalten, dass alle den Eindruck hatten, es wird nicht so weit kommen. Wir waren, wo es angebracht war, mehr als vorsichtig, und sogar da, wo nicht“, erklärt die stellvertretende Chefredakteurin. „Dass wir blockiert wurden, hat alle Kollegen stark erschreckt: Alle begannen zu überlegen, wofür sie dichtgemacht werden könnten. Letztlich wegen allem Möglichen.“ 

    Kurz vor der Sperrung, im Dezember 2023, läutete für die Redaktion die erste Alarmglocke. Die Militärstaatsanwaltschaft schickte eine Anweisung, dass die Liste der Gefallenen aus der Region zu löschen sei, die die Journalisten seit den ersten Tagen der „militärischen Spezialoperation“ führten. Diese Informationen, heißt es in dem Schreiben, stellten ein Staatsgeheimnis dar. 

    „Wenn wir keinen Zugang zu Staatsgeheimnissen haben, wie können wir dann welche verraten?“

    „Uns war klar, dass wir gegen keinerlei Gesetze verstoßen: Wenn wir keinen Zugang zu Staatsgeheimnissen haben, wie können wir da welche verraten? Wir waren trotzdem sehr erschrocken, und unsere Kollegen auch: Schließlich drohen ja Dutzende Jahre Haft“, sagt Marija. Das war das erste Verbot dieser Art. Keines der regionalen Medien führte derlei Listen, auch wenn viele über einzelne Gefallene berichten.“ 

    Die Liste mit den Namen wurde von der Redaktion entfernt. Die Seite, auf der sich die Liste befand, ist aber immer noch auf der alten Version zu finden. Sie ist zwar leer, aber die alte Überschrift steht noch da – und ein Hinweis auf das Verbot durch die Militärstaatsanwaltschaft. 

    Die Freien bringen auf der neuen Webseite weiterhin Nachrichten über einzelne Gefallene. Diese stützen sich auf Pressemitteilungen regionaler Verwaltungschefs oder anderer Offizieller. Die Militärstaatsanwaltschaft hat noch immer nicht beantwortet, ob auch das eine Gesetzesverletzung darstellt, oder eine solche nur bei einer systematischen Aufbereitung der Daten vorliegt.

    Es war bereits mehrere Male vorgekommen, dass die Redaktion wegen neuer Gesetze Artikel entfernen musste. 2023, als Nichtregierungsorganisationen und Medien eine nach der anderen als „unerwünscht“ eingestuft wurden, haben Journalisten den Chat „Deleters“ [nach dem engl. „delete“ – DK] eingerichtet. 

    Viele Beiträge mit Verweisen auf [Nawalnys – dek.] Stiftung zur Bekämpfung der Korruption mussten entfernt werden. Etwa die auf Recherchen zur Datschenkooperative Sosny im Moskauer Umland, bei denen Journalisten eine luxuriöse Datscha von Wolodin aufgespürt hatten. Die Redaktion ließ bestimmte Kommentare in Social-Media-Kanälen automatisch entfernen, und zwar vor allem mit Blick auf die Sicherheit derjenigen, die diese Kommentare schreiben. 

    Die Nachrichtenagentur Freie Nachrichten gehört dem Verlagshaus Energija, einer Medienholding des Unternehmers und Politikers Arkadi Jewstafjew. Jewstafjew war früher Mitarbeiter des KGB und des Innenministeriums der UdSSR, er arbeitete für Anatoli Tschubais und für Boris Jelzin und war Vertrauensperson von Michail Prochorow. Er ist in verschiedenen Branchen tätig, unter anderem durch die Investmentholding Energetitscheskij sojus und das Energieunternehmen Toljattinski transformator

    Die Freien Nachrichten sind 2012 entstanden. Jewstafjew startete sie als eigenständiges Medium: Seinerzeit erschien in Saratow bereits seine Gaseta nedeli [„Wochenzeitung“ –  dek.]. Die erscheint jetzt noch einmal im Jahr – damit sie nicht ihre Medienlizenz verliert. 

    Die Gaseta nedeli heißt zwar „Wochenzeitung“, erscheint aber nur noch ein Mal im Jahr, damit der Verlag die Lizenz nicht verliert / Foto © privat
    Die Gaseta nedeli heißt zwar „Wochenzeitung“, erscheint aber nur noch ein Mal im Jahr, damit der Verlag die Lizenz nicht verliert / Foto © privat

    In den 12 Jahren haben die Journalisten der Freien einiges erlebt: Zerstörte Kameras in Wahllokalen, Überprüfungen durch die Staatsanwaltschaft, Vorladungen von Mitarbeitern zum Verhör, Verhaftungen während einer Live-Sendung: 2018 gab der ehemalige Leiter von Nawalnys Team in Saratow, Michail Murygin, den Freien ein Interview. Das war nach einer Demonstration mit der Parole „Der ist nicht unser Zar“. Direkt während der Sendung wurde er von sechs Polizisten abgeholt, zwei von ihnen waren mit Maschinenpistolen bewaffnet. Nur der Fahrer hatte einen Dienstausweis dabei. Der war es dann auch, der Murygin offiziell festnahm. 

    Die Redaktion wandte sich daraufhin an die Behörden, und verlangte, die Polizisten wegen Behinderung der Arbeit von Medienvertretern zur Rechenschaft zu ziehen. Die Polizisten wiederum verlangten, dass die Redaktion wegen Widerstands gegen Vertreter der Staatsgewalt bestraft werde. Die Geschichte verlief schließlich im Sand. 

    Heute sind die Journalisten des Portals nach wie vor die einzigen in der Region, die sich trauen, ihren Landsmann Wolodin offen zu kritisieren. Derweil verfassen ihre Kollegen [bei anderen Medien] einhellig Lobesstücke über dessen Besuch in der Region. Doch sie können einfach nicht untätig sein: Sie machen bei Frost Straßenumfragen mit der Kamera oder verfolgen penibel, welcher Abgeordnete der Staatsduma für welchen Gesetzentwurf stimmt – auch dafür stehen die Freien

    Die Redaktion hat nur 15 Mitarbeiter. Zu besseren Zeiten – Anfang der 2010er Jahre – waren es noch 33. Nach wie vor gibt es ein Nachrichtenressort und eines für längere Geschichten. Im Dachgeschoss ist das Videostudio untergebracht, in dem Sendungen für den YouTube-Kanal aufgenommen werden. An der Spitze des Ganzen steht die Chefredakteurin Lena Iwanowa. 

    Sie bezeichnet sich selbst als einen „Menschen der Provinz“: Sie lebt seit ihrer Kindheit in Saratow, kam in den Neunzigern zum Journalismus und leitet das Portal seit seiner Gründung. Sie hat kurzgeschnittene Haare, eine Brille mit dickem Rahmen und zwei Tattoos auf dem rechten Arm. 

    Elena Iwanowa, die Chefredakteurin des Nachrichten-Portals Swobodnye / Foto © privat
    Elena Iwanowa, die Chefredakteurin des Nachrichten-Portals Swobodnye / Foto © privat

    Vor zweieinhalb Jahren, nach Beginn der „militärischen Spezialoperation“, gab sie am 4. März zusammen mit den Mitarbeitern eine Erklärung der Redaktion heraus, wie man weiterarbeiten wolle, und dass man jetzt die Gesetze der Militärzensur einhalten müsse. Und dann brach sie in Tränen aus. Ihr war klar: Ehrlichen Journalismus zu betreiben, war jetzt nicht mehr möglich. Trotzdem waren die Journalisten der Freien die ersten, die auf eigene Gefahr von einem 19-jährigen Wehrpflichtigen berichteten, der bei der „militärischen Spezialoperation“ ums Leben kam. Die Behörden bestätigten dessen Tod erst später. Und sie waren es, an die sich vom Kummer zerfressene Mütter von Soldaten wandten, die ihre Kinder nicht finden konnten. Es gab niemanden, an den sie sich sonst hätten wenden können. 

    „Zwei Wochen lang schaute ich mich ständig um, wenn ich unterwegs war. Dann habe ich mich beruhigt“

    Eine Woche nach Beginn der „Spezialoperation“ warfen regionale Telegram-Kanäle und Personen des öffentlichen Lebens den Freien vor, sie seien subversiv tätig und würden feindliche Ansichten verbreiten. Bekannte Persönlichkeiten in der Region, Kollegen, Abgeordnete, Unternehmer und Betreiber von Telegram-Kanälen denunzierten sie und organisierten Hetzkampagnen. 

    Im Februar 2023 bekam Marija Aleksaschina Drohungen per Messenger, mit ihren persönlichen Daten. Anzeigen bei der Polizei blieben vergeblich. Angeblich seien die Drohungen nicht konkret genug gewesen. 

    „Ich habe WhatsApp gelöscht. Zwei Wochen lang schaute ich mich ständig um, wenn ich unterwegs war. Dann habe ich mich beruhigt“, erinnert sich Marija. Im Mai 2023 wurde Anna Muchina, eine Journalistin der Freien, vom Justizministerium aufgrund einer Denunziation als „ausländische Agentin“ eingestuft. Muchina ist eine der wenigen medizinisch versierten Journalistinnen, die nicht nur über Eröffnungen von Polikliniken schreibt. Sie kennt sich aus, weiß, welche Medikamente in der Region fehlen. Darüber hinaus hat sie eine öffentlich zugängliche Facebook-Seite, auf der sie alles schreibt, was sie über das Geschehen in Russland und der Welt denkt. 

    Nach dem Februar 2022 einigte sich Iwanowa mit dem Gründer der Redaktion, dass man äußerst vorsichtig sein solle. Die Sicherheit der Mitarbeiter müsse so gut wie möglich gewährleistet werden. Es sollten weder von der Regierung noch aus dem Ausland Fördergelder angenommen werden. Am besten, man halte sich so weit wie möglich neutral. 

    Ein Blick in das Büro der Chefredakteurin. „Doktor gut“ steht auf dem Zettel an ihrer Türe / Foto © privat
    Ein Blick in das Büro der Chefredakteurin. „Doktor gut“ steht auf dem Zettel an ihrer Türe / Foto © privat

    Geholfen hat es nicht. Nachdem Muchina zur „ausländischen Agentin“ erklärt wurde, kündigten einige Mitarbeiter der Redaktion. 

    „Daraufhin begannen alle, sich darüber auszulassen, was wir für ein fieses Medium seien, wie wir alle hassen würden, dass unsere Träger im Ausland sitzen würden und wir hier überhaupt nicht existieren dürften“, erinnert sich Marija an den vergangenen Sommer. 

    Nach der Sperrung des Portals zogen über den Freien noch mehr dunkle Wolken zusammen: Vor ein oder zwei Jahren hatte in der Redaktion noch eine Stimmung geherrscht, die dem Motto folgte: „Wir beobachten weiter und haben Spaß dabei“. 

    Jetzt, im Sommer 2024, ist das ganz anders. 

    In der Raucherecke wird nur mit halblauter Stimme gesprochen. Die Kaffeebecher werden so gedreht, dass die Aufschriften nicht zu sehen sind, weil sie nach den neuen Gesetzen als wer weiß was ausgelegt werden könnten. Die Redakteure zensieren die internen Chats. 

    „Ändern wir nun das Programm wegen Nawalnys Tod?“

    Das letzte Jahr war das schwerste in der Geschichte der Freien. Der Scherz „wir müssen den Priester rufen“ (damit dieser den Raum gegen den bösen Blick weiht) ist jetzt nicht mehr lustig. 

    „Das schrecklichste Ereignis des vergangenen Jahres war der Tod Nawalnys“, erinnert sich Lena. „An dem Tag hatten wir [die Politikerin Jekaterina – TD] Dunzowa auf Sendung. Sie war nach Saratow gekommen, um hier den regionalen Stab ihrer Partei Rasswet zu eröffnen, und wir hatten sie gebeten, davon zu erzählen. Ich las gerade bei mir im Büro einen anderen Text und war weder im Redaktions-Chat noch beim Newsticker. Da kam der Chefredakteur der Videoabteilung reingestürmt und fragte: „Ändern wir nun das Programm wegen Nawalnys Tod?“ 

    Als Lena nach dem ersten Schock wieder zu sich kam, versuchte sie, den Journalisten zu erklären, wie sie angesichts dieser Nachricht weiter vorgehen sollten. Aber ihre Stimme versagte. Und über drei Wochen lang versagte sie wieder und wieder. 

    Und dann, zwei Monate später, verlor des ganze Portal seine Stimme. Die Freien wurden gesperrt. 

    Die Besucherzahlen der neuen Internetseite lagen gegenüber der alten nur noch bei einem Zehntel. Auch die Erwähnungen und die Suchergebnisse bei Nachrichten-Aggregatoren brachen ein. Yandex nahm die Freien wegen der Sperrung aus dem Nachrichten-Angebot. Das neue Portal würde frühestens nach einem halben Jahr aufgenommen. 

    „Bislang haben wir auf unserer Seite nichts, was die Leute anlocken könnte“, erklärt Marija. „Zum Beispiel ‚Wo kann man in Saratow gut essen gehen?‘ oder ‚Wo kann man in Saratow schwimmen gehen?‘ Das alles blieb auf der alten Seite zurück.“ 

    Die Suchmaschinen hatten die Freien auch früher schon aus ihren Ergebnissen gekickt, als die Journalisten Berichte zu nicht genehmen oder verbotenen Themen brachten. „Wir haben deswegen an Yandex.Novosti geschrieben. Die antworteten: ‚Schlechte Überschrift‘, berichtet Marija. „Sobald wir nicht mehr über etwas ‚Heikles‘ schrieben oder der Aufhänger sich von selbst erledige, kehrten wir problemlos in die Ergebnisse zurück.“ 

    „Wir haben immer weniger Mittel, aber die Risiken werden immer größer“

    „Wir haben immer weniger Mittel, und die Gehälter sind gering“, erklärt Lena. „Aber die Risiken werden immer größer. Die Reaktionen bei Straßenumfragen lassen ebenfalls nach. Wir haben eine Umfrage zur Mobilmachung durchgeführt. Da haben sich viele geweigert, etwas zu sagen. Und diejenigen, die sich offen äußerten, konnten wir nicht senden, weil Strafen drohen.“ 

    Der Raum, den die Zensur und die Propaganda in unserem Land und in unserer Region für unsere Arbeit lassen, wird mit jedem Tag kleiner. 

    „Die Ressourcen von Einiges Russland werden immer größer. Die werden immer stärker“, klagt Marija. „Der örtliche Rundfunk betrieb fünf Radiosender. Jetzt haben sie Lizenzen für fünf weitere gekauft. Und den Lagebericht für den Vizegouverneur haben die eher auf dem Tisch als der Vizegouverneur selbst.“ 

    Zwar gibt es keine offene Hetze gegen das Portal, doch spüren die Journalisten der Freien, dass etwas in der Luft liegt. „Ich hab so ein Gefühl, vielleicht ist das schon Paranoia, dass sie etwas gegen uns vorbereiten“, sagt Iwanowa. „Da wird eine geschlossene Haltung aufgebaut, um dann einen einzigen gezielten Schlag zu setzen.“ 

    Seit Juli setzt sich die Redaktion wegen der Sperrung mit der Medienaufsicht und der Generalstaatsanwaltschaft vor Gericht auseinander. Ende Juni bekam die Chefredakteurin der Freien erstmals zu Hause Besuch. Zwei Vertreter der regionalen Medienaufsicht händigten ihr eine Aufforderung aus, ein Anzeigenprotokoll zu unterschreiben: Die Redaktion habe in einer ihrer Beiträge einen Wirtschaftswissenschaftler erwähnt und dabei nicht kenntlich gemacht, dass dieser als „ausländischen Agenten“ eingestuft wurde. 

    Lena ging darauf nicht ein. In der Redaktion waren sie überzeugt: Roskomnadsor will einen Prozess zum Entzug der Lizenz. Noch während dieser Artikel zur Veröffentlichung fertig gemacht wurde, ging es los. 

    Gleichzeitig versucht man die Redaktion dazu zu bringen, von selbst auf die Medienlizenz zu verzichten. Nach der Sperrung schickte Roskomnadsor einen Brief, in dem den Freien vorgeworfen wurde, sie würden auf der alten Webseite keine Nachrichten mehr veröffentlichen, obwohl sie doch als täglich erscheinendes Internetmedium registriert sind. Das ist aber nicht wahr: Jeden Tag erscheint dort etwas aus dem Ticker. 

    Im Gespräch mit der Chefredakteurin verlangte eine Mitarbeiterin von Roskomnadsor eine schriftliche Erklärung der Redaktion, dass das Portal auf der gesperrten Seite nichts mehr schreiben werde. 

    Wenn wir eine solche Erklärung einreichen, entziehen sie uns die Lizenz“, erläutert Marija. „Wir haben keinen Plan, was wir tun sollen, wenn das passiert. Die Stadt ist recht klein, der Freiraum noch enger, und wo willst du hin, wenn du keine Möglichkeit hast zu emigrieren? Mein Mann und ich haben das nicht mal in Erwägung gezogen. Auch viele Kollegen haben einfach kein Geld, aber sie müssen ihre Hypotheken bedienen. Die Ersparnisse würden gerade einmal zwei Monate reichen, um etwa in Tbilissi zu leben. Außerdem nutzt unsere Reputation hier in Saratow anscheinend gar nichts. Im Gegenteil: Einer unserer ehemaligen Kollegen hat auf der Suche nach einem neuen Job zum Beispiel eine Absage mit der Begründung erhalten, er habe in einem Team zusammen mit einem ‚ausländischen Agenten‘ gearbeitet.“ 

    Seit diesem Jahr werden den Freien keine Studenten mehr für Praktika zugeteilt. Die erzählen, was ihre Betreuer sagen: „Die Universität unterschreibt niemals einen Vertrag mit einer Organisation, die vom Staat blockiert wurde.“ 

    „Das ist das Alltägliche des Schreckens und des Bösen: Die Gesellschaft ist den Repressionen gegenüber tolerant.“

    Bekannte aus Saratow, die jetzt in Moskau lebten, stellten alle dieselbe Frage, erzählt Iwanowa: „Warum haben sie euch noch nicht eingebuchtet?“.  „Das heißt, sie sind uns nicht feindlich gesonnen, sondern sind nur ganz ehrlich verwundert. Das ist das Alltägliche des Schreckens und des Bösen: Die Gesellschaft ist den Repressionen gegenüber tolerant.“ 

    Gleichzeitig wirft ein Teil des Bekanntenkreises den Freien Selbstzensur vor: „Eine meiner Freundinnen redet nicht mehr mit mir, weil wir ‚nicht oppositionell genug‘ seien“, sagt Marija. „Ein anderer aber, der stark in der Öffentlichkeit stand und jetzt aus Saratow emigriert ist, postet in seinem Kanal unsere Berichte – natürlich, ohne uns als Quelle zu nennen – und ergänzt das, was wir zwar eh wissen, aber nicht schreiben können, solang wir in Russland sind. Am Ende fügt er sarkastisch hinzu, die Freien seien ja irgendwie unfrei!“.

    Von den Mitarbeitern ist bislang keiner ins Ausland gegangen. „In einer Redaktion zusammenzuarbeiten ist ein großes Privileg“, findet Marija. „Du kannst jemandem einen Kaffee bringen, mit jemandem quatschen, jemanden umarmen. Weil es in letzter Zeit immer schwerer wird, sich zu erklären, was das Ganze soll.“  

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    Nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine am 24. Februar 2022, der zu jener Zeit auch von belarussischem Territorium aus geführt wurde, gab es zahlreiche Sabotageakte an Eisenbahnstrecken in Belarus. Denn die russische Armee nutzte die Infrastruktur im Nachbarland für den Transport von Militärgerät und Soldaten. Viele der sogenannten Eisenbahnpartisanen wurden schließlich festgenommen und zu drakonischen Haftstrafen verurteilt. Andere versuchten zu fliehen. Für solche Fluchtpläne braucht es mutige Aktivisten, die dafür selbst riskieren, festgenommen zu werden. So ist es Alesja ergangen: Die junge Frau tappte in eine Falle der belarussischen Sicherheitsbehörden und erlebte danach ein Martyrium in verschiedenen Haftanstalten. Das belarussische Online-Medium Mediazona Belarus hat ihre Geschichte aufgeschrieben. 

    Alesja steht entkleidet im Flur der Übergangshaftanstalt in Mahiljou, einer speziellen Ecke ohne Videokameras, wo die „nackte Durchsuchung“ stattfindet. Eine blonde Polizeibeamtin schiebt ihr einen Finger in den Mund, um nachzusehen, ob Alesja dort etwas versteckt. Ihr werden mehrere Artikel des Strafgesetzbuches vorgeworfen, darunter unter anderem Terrorismus. Später wird Terrorismus aus der Anklage gestrichen, Alesja wird zu dreieinhalb Jahren Strafkolonie verurteilt. Sie übersteht die Prügel während der Verhöre und die Haft, flüchtet nach der Entlassung nach Vilnius und erzählt nun Mediazona ihre Geschichte.  

    Alesja Bunewitsch (mittig) mit Swetlana Tichanowskaja und ihrem Mann Oleg Meteliza bei Feierlichkeiten zu Kupalle / Foto © privat 

    Alesja wurde im April 2022 nahe der litauischen Grenze festgenommen. Auf Bitten ihres Mannes, des in Litauen tätigen belarussischen Aktivisten Oleg Meteliza, hatte sie jemandem helfen wollen, die Grenze nach Litauen sicher zu überqueren. Alesja wusste nichts über die Identität dieser Menschen, aus Sicherheitsgründen bekam sie keine Informationen, damit sie „im Fall der Fälle“ im Verhör keine Namen nennen konnte. „Ich sollte das Gelände begutachten, ob man da durchkommt. Allgemeine Informationen sammeln, ob dort Grenzsoldaten sind, wie die Qualität der Wege ist, ob es Kameras gibt, Beleuchtung und so weiter.“ 

    Später stellte sich heraus, dass diese Fluchtvorbereitungen einer Gruppe von Eisenbahnpartisanen aus Babrujsk galten. Allerdings waren sie einige Tage vorher verhaftet worden, einem von ihnen schossen die Silowiki ins Knie. Das Urteil gegen die Eisenbahnpartisanen aus Babrujsk erging im Februar 2023: Dmitri Klimow und Wladimir Awramzew wurden zu je 22 Jahren Freiheitsentzug verurteilt, Jewgeni Minkewitsch zu anderthalb Jahren Haft. Für Alesjas Festnahme inszenierten die Silowiki eine Spezialoperation, für die sie sich als jene Aktivisten aus Babrujsk ausgaben.  

    Alesja erinnert sich: Sie stand an einer Position, an der sie die Umgebung des Dorfes Salatje im Gebiet Hrodna im Blick hatte, sah das Auto, in denen sie die Partisanen vermutete. Allerdings fuhr es im Kreis, was Alesja ziemlich seltsam vorkam, da man sich dort eigentlich nicht verfahren konnte. „Dann hielten sie also an und nahmen mich fest. Ich verstand überhaupt nicht, was da passierte. Sie hatten sich auch nicht vorgestellt. Sie zückten ein Messer, bedrohten mich, ich solle mein Telefon hergeben. Dann schubsten und zerrten sie mich, stießen mir die Ellbogen in die Rippen, obwohl ich gar nichts machte, ich saß nur still da, weil ich unter Schock stand. Irgendwann schrie ich sogar ,Hilfe, Banditen!’. Weil sie ja wirklich so aussahen.“ 

    Sie taserten uns mit dem Elektroschocker 

    Alesja wurde in einen Wald gebracht, in dem bereits einiges los war – bewaffnete Silowiki in Sturmhauben, viele Fahrzeuge – PKWs, Kleinbusse. Auch der Belarusse Alexej Kowalewski wurde dorthin gebracht. Er hatte nichts mit den Eisenbahnpartisanen zu tun, wollte nur zusammen mit ihnen die Grenze überqueren. Zuvor war er wegen der Teilnahme an den Protesten in Minsk zu Strafarbeit verurteilt worden. Alesja fielen deutliche Spuren von Prügel an ihm auf. Die Silowiki stellten sie einander gegenüber, um herauszufinden, ob sie sich kannten. Alexej und Alesja sahen einander zum ersten Mal.  

    „Sie stellten uns zur Durchsuchung nebeneinander auf, die Hände in Handschellen erhoben, sie taserten uns mit dem Elektroschocker, erst ein Bein, dann das andere. Danach schlugen sie uns einfach ins Gesicht. Nicht fest, aber ich hatte vorher nie Gewalt erlebt. Ich wehrte mich nicht, versuchte nur, mit ihnen zu reden – was passiert und warum man mich festhält. Irgendein Ranghöherer kam und behauptete, ich sei eine europäische Prostituierte, die für Geld Verbrechen begehe. Und gab dann den Befehl, mich zu verhören.“ 

    Irgendwann trat ein Mann in Lederhandschuhen an Alesja heran. Er fasste sie am Hals und begann Fragen zu stellen: „Wie viele seid ihr in eurer Bande? Wo sind die anderen? Wer sollte euch hier abholen?“ Alesja antwortete nicht, der Mann würgte sie. Er drückte ihr immer fester die Kehle zu, bis sie fast das Bewusstsein verlor. „Was weiter geschah, liegt völlig im Nebel, ich sagte gar nichts mehr, erst dann beschlossen sie, mich zum KGB zu bringen.“ Die Verhöre dauerten mehrere Stunden, manchmal den ganzen Tag. Aus der Arrestzelle wurde sie zum KGB gebracht. Dort wurde Alesja zwar nicht mehr geschlagen, aber gezwungen, lange mit nach vorn ausgestreckten Armen dazustehen. Einer der Silowiki fuchtelte mit einem eisernen Lineal, als würde er ihr gleich auf die Hände schlagen. 

    „Ich dachte – versuch’s nur. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue, ich nehme dir dein Lineal weg und schlage selbst damit zu. Wieso behandelt ihr mich so, ich benehme mich doch normal, ich wehre mich nicht, leiste keinen Widerstand. Ich will einfach nur verstehen, wo ich hineingeraten bin.“ 

    Im Verhör wurde Good Cop – Bad Cop gespielt: Einer sprach sanfter und stellte persönliche Fragen, der andere fragte nur zur Sache. Trotz allem machte Alesja Aussagen, die auf Video aufgenommen und später auf dem TV-Sender ONT gezeigt wurden. Sie hatte dem Propagandafernsehen ein Interview verweigert, weshalb diese Mitschnitte der Verhöre in dem Beitrag aufgenommen wurden „Das Schlimmste war für mich, dass ich in dem Video einen wirklich hässlichen Hut trug, weil ich einen blauen Fleck im Gesicht hatte, und weil ich überhaupt nicht gut aussah. Ich wollte nicht, dass mein Vater und meine Bekannten mich so sehen.“ 

    Aus der Untersuchungshaft nach Mahiljou 

    Aus Hrodna brachte man Alesja in die Übergangshaft nach Mahiljou. Über die Mitarbeiter dort sagt Alesja: „Bestien, anders kann man es nicht sagen. Die Frauen, die dort arbeiten, behandelten mich, als hätte ich ein Baby gefressen und wäre stolz darauf.“ Als ihre Menstruation begann, verwehrte man ihr die Aushändigung von Hygieneartikeln.   

    „Einmal drohte ich, kein Wort mehr zu sagen, bis ich Binden bekomme. Denn ich bin eine Frau und sitze jetzt in Hosen voller Blut vor euch, weil ich einfach nichts habe. Selbst meine Anwältin bat um Erlaubnis, mir Hygieneartikel zu kaufen und mitzubringen, das sei doch nicht mehr normal. Schließlich brachte mir der Ermittler Kontaktlinsenflüssigkeit, Feuchttücher, Tampons und Binden. Ein Tropfen auf dem heißen Stein, denn ich saß wirklich in vollgebluteten Hosen dort.“ 

    Alesja hatte keine Wechselkleidung, die Schuhe hatte man ihr weggenommen, deshalb musste sie zu den Befragungen und Durchsuchungen in Socken über den Flur. Waschmittel hatte sie auch keines – für sie wurden keine Päckchen angenommen, nicht einmal Seife. Besonders erniedrigend waren die Durchsuchungen, erinnert sich die politische Gefangene. Sie musste sich komplett ausziehen, die Beamtinnen steckten ihr die Finger in den Mund, um zu schauen, ob dort nichts versteckt wäre.  

    „Die Fressluke öffnet sich, du streckst die Hände raus, sie legen dir Handschellen an. Dann öffnen sie die Zelle, du trittst heraus, sie führen dich in die Ecke, wo du dich ausziehen musst. Ich dachte gerade noch: Was für ein hübsches Mädchen, so blond, so gepflegt, das Gesicht und die Nägel. Und da sagte ebendieses Mädchen: ,Na los, Schlampe, zieh dich aus. Stringtanga? Ist der nicht zu klein?´“ 

    Vor der Verhaftung hatte Alesja mit ihrer Familie mehrere Jahre in Vilnius gelebt. Dort wartete auch ihr neunjähriger Sohn auf sie. Er hätte sie im Gefängnis besuchen können, doch die Eltern entschieden sich bewusst dafür, Kastus nicht nach Belarus zu bringen. Sie verschwiegen ihm nichts, aber, so erinnert sich Alesja, begriff er eigentlich bis zuletzt nicht richtig, was das alles bedeutete. „Die ersten Briefe, die er mir schickte, waren ganz kurz und trocken, als wäre ihm nicht klar, wie lange das dauern würde. Er dachte, ich würde bald zurückkommen. Ich hatte das Gefühl, dass er nicht freiwillig schrieb, dabei hatte ich meinen Mann gebeten, ihn nicht zu zwingen. Später verstand er irgendwie von selbst, dass ich nicht so bald nach Hause kommen würde. Da wurden seine Briefe ausführlicher, er schrieb mir, wie sein Tag war, was es zu essen gab, worüber er lachen musste, welche Filme er guckte.“ 

    Oft schrieb der Sohn an die Mutter: „Du bist meine Heldin, ich weiß, dass du Menschen geholfen hast.“ Das beruhigte Alesja – sie hatte sich große Sorgen gemacht, dass ihr Sohn denken könnte, die fremden Leute seien ihr wichtiger gewesen als er. Im Straflager wollte Alesja irgendwann keine Videoanrufe mit ihrem Sohn mehr führen. Der Grund dafür war, dass immer ein Polizeibeamter anwesend war, der in die Kamera schaute und die Gespräche mithörte. Diese Entscheidung fiel ihr nicht leicht.  

    „Ich konnte nicht zulassen, dass einer, der mir so zuwider ist, meinen Sohn sieht und unser belarussischsprachiges Gespräch hört. Belarussisch ist für die alle ohnehin ein schwieriges Thema. Deshalb ging ich einfach nicht mehr hin, entschuldigte mich in Briefen und in den normalen Telefonaten dafür. Ich sagte: Tut mir leid, Kind, ich kann das nicht.“ 

    Von einem Gefängnis ins nächste 

    Alesja wurde aus der Übergangshaft ins Untersuchungsgefängnis von Mahiljou verlegt. Die Bedingungen dort nennt sie „wie im Sanatorium“: frisch renovierte Zellen, viel Platz für persönliche Habseligkeiten und abends Warmwasser. Die „Extremisten” wurden besonders streng gehalten, aber „daran konnte man sich gewöhnen“. Einmal schrieb die Belarussin beim Hofgang den berühmten Satz „Russisches Kriegsschiff, fick dich“ an die Wand. Unter dem Schriftzug tauchten immer mehr Pluszeichen auf. In einem anderen Innenhof stand „Glauben! Können! Siegen!“

    In Mahiljou verbrachte sie fünf Monate. Dann wurde der Anklagepunkt Terrorismus fallengelassen und sie in ein Untersuchungsgefängnis in Hrodna überstellt. „Ich hatte mich gerade an Mahiljou gewöhnt, da ging wieder alles von vorn los – neue Mitinsassen, neue Zelle, sogar ein neuer Ermittlungsbeamter wurde mir zugeteilt.“ Im Untersuchungsgefängnis Hrodna herrschten schlechtere Bedingungen. Alesja erinnert sich an alte, winzige Zellen, die schon lange nicht renoviert worden waren. In einer Zelle für vier Personen konnte man gleichzeitig auf dem Bett sitzen und sich die Hände im Waschbecken waschen. 

    „Das war einfach eine Welt für sich, wie indische Slums. Winzige Zellen, niedrige Decken, alles dreckig. Als ich meine erste Zelle sah, kamen mir direkt die Tränen, aber dann nahm ich das Waschpulver, das ich noch hatte, und irgendeinen Schwamm und begann alles zu schrubben, weil es schon furchtbar war, einen Fuß auf diesen Boden zu setzen.“ 

    Die Gerichtsverhandlung 

    Im Untersuchungsgefängnis Hrodna verbrachte die Aktivistin weitere fünf Monate, dann kam ihr Fall endlich vor Gericht. Alesja machte sich vor dem ersten Gerichtstermin große Sorgen. Sie wurde in Handschellen zur Verhandlung gebracht, da die Begleitpolizei wohl nicht informiert war, dass sie nicht mehr wegen Terrorismus angeklagt war. Beim ersten Termin konnte sie ihre Familie und Freunde sehen, danach wurde hinter verschlossenen Türen verhandelt, da angeblich geheime Informationen zur Sprache kämen. „Lächerlich, wo sie doch alles längst auf ONT berichtet hatten.“ 

    Das Gericht verurteilte Alesja zu dreieinhalb Jahren Strafkolonie. Später wurde ihre Haft per Amnestie auf ein Jahr verkürzt – ihr Vergehen (illegaler Grenzübertritt mit Vorsatz) war nicht politisch, sie stand auf keiner Extremistenliste und die Einzelheiten des Falls schaute sich offenbar niemand so genau an. 

    Haft in der Frauenkolonie 

    Es begann ein „neues Leben“ in der Frauenkolonie IK-4 in Homel. Alesja berichtet nicht detailliert über das Lager, um jene nicht zu gefährden, die noch dort einsitzen. „Jedes Mal, wenn jemand aus der Kolonie entlassen wurde und ein Interview gab, bekamen wir das zu spüren. Einmal wurde zum Beispiel berichtet, dass [die politische Gefangene] Marfa Rabkowa regelmäßig in die Turnhalle geht. Seitdem darf sie da nicht mehr hin, vermutlich bis zum Ende ihrer Haftzeit. Man darf also auch nichts Positives sagen. Und sagst du etwas Negatives, zum Beispiel, dass es im Gefängnisladen keine Gurken gibt, nur Tomaten – dann sind auch die Tomaten weg. So funktioniert das. Und das ist schlimm: Du kommst raus und denkst, jetzt erzähle ich alles, wie es wirklich ist, wie sie die Menschen misshandeln. Aber dann verstehst du, dass es nur schlimmer wird, wenn du darüber sprichst.“ 

    Man degradiert völlig, alle anderen Bedürfnisse sind ausgelöscht

    Am schwersten war für Alesja in der Strafkolonie, dass sie keine Zeit für sich und keine Wahl hatte: Egal, wohin du gehst oder was du machst – du gehörst dir nicht. „Du hörst auf, dich als vollwertiger Mensch zu fühlen. Das System ist darauf ausgerichtet, dass du die ganze Zeit nur darüber nachdenkst, was du essen und wann du dich waschen kannst. Wie ein Tier, du überlegst nicht, welches Buch du lesen willst oder was du in einem Brief schreiben könntest. Die Gedanken drehen sich im Kreis: Morgen sieht es schlecht aus mit Frühstück, also muss ich wenigstens einen Kaffee trinken. Danach habe ich drei Dienste, dann Inventarkontrolle, wann kann ich in den Waschraum, ich muss ein Schlupfloch finden. Man degradiert völlig, alle anderen Bedürfnisse sind ausgelöscht.“ 

    Die Zeit in der Kolonie vergeht schnell, erzählt Alesja, und wenn weniger als hundert Tage bis zur Entlassung verbleiben, tauchen die Gedanken an die Freiheit auf „Du erlaubst dir, dich auf Dinge zu freuen und Pläne zu schmieden. Du lässt dir zwei Monate im Voraus einen Termin zur Maniküre machen und sehnst dich nach gepflegten Haaren und einer neuen Brille. Nach der Rückkehr in ein normales Leben. Aber das verbirgst du vor den anderen, die noch lange dortbleiben müssen, um ihnen nicht wehzutun. Sie freuen sich zwar aufrichtig für dich, aber du fühlst dich trotzdem schuldig.“ 

    Endlich in Freiheit 

    Alesja kam am 3. Mai 2024 frei. Es war ihr nicht gestattet, ihr Uniformkleid mitzunehmen, obwohl sie die Lagerkleidung selbst bezahlt hatte. „Sie nahmen mir alles weg, nicht mal die Socken, die dort ausgegeben wurden, durfte ich mitnehmen. Dabei hätte ich mit dieser Kleidung etwas vorgehabt, ich wollte sie den Leuten draußen zeigen.“ 

    Am Lagertor wurde sie von Freundinnen abgeholt – sie brachten sie in eine Wohnung, wo sie sich duschen und umziehen konnte, dann luden sie sie zu einem leckeren Essen in ein Café ein. „Als ich dann endlich zu Hause war, ging ich am späten Abend, gegen 23 Uhr, entspannt im Hausmantel vor die Tür, zündete mir eine Zigarette an und begriff – das ist es, es ist real. Endlich Freiheit. Ich kann mir das erlauben.“ 

    Einige Tage später kamen Polizisten, um sie zu kontrollieren. Sie kamen immer wieder, auch nachts, und durchsuchten ihr Handy. Später wurde sie unter Führungsaufsicht gestellt, musste zwischen 22 und 6 Uhr zuhause bleiben und durfte die Stadt nicht verlassen. Alesja plante schließlich die Ausreise – in Litauen warteten Ehemann und Sohn auf sie, und die erhöhte Aufmerksamkeit der Silowiki zwang sie zur Eile. Im Juni kam die Belarussin in Vilnius an.   

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  • „Die Repressionen lassen nicht nach“

    „Die Repressionen lassen nicht nach“

     

    Anfang August trafen sich Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlicher demokratischer Organisationen zu einer Konferenz in der litauischen Hauptstadt Vilnius, um zwei Tage lang über Perspektiven für ein demokratisches Belarus zu sprechen. In einem Vortrag stellte Leonid Sudalenko von der Menschenrechts-Organisation Wjasna Zahlen über das Ausmaß politischer Repressionen seit Beginn des Wahlkampfes im Jahr 2020 vor. Als Reaktion auf die gefälschte Wiederwahl von Alexander Lukaschenko hatten Wellen des Protests das ganze Land erfasst. Mit großer Brutalität gelang es dem Regime schließlich, den Protest niederzuschlagen. Viele zentrale Figuren der Demokratiebewegung flohen ins Ausland. Andere verschwanden in Gefängnissen und Lagern.  

    Das belarussische Online-Medium Zerkalo hat die wichtigsten Zahlen und Entwicklungen in Sudalenkos Ausführungen zusammengefasst.

    Der Menschenrechtler Leonid Sudalenko bei seinem Vortrag auf der Konferenz Neues Belarus in Vilnius / Foto © Pressedienst von Swetlana Tichanowskaja
    Der Menschenrechtler Leonid Sudalenko bei seinem Vortrag auf der Konferenz Neues Belarus in Vilnius / Foto © Pressedienst von Swetlana Tichanowskaja

    Den Beobachtungen von Wjasna zufolge wurden seit Beginn des Präsidentschaftswahlkampfes mehr als 50.000 Menschen aus politischen Motiven festgenommen. 

    Im selben Zeitraum wurden mehr als 3.380 Menschen als politische Häftlinge anerkannt. 

    Davon kamen fast 2.000 Menschen wieder frei, sind also jetzt ehemalige politische Häftlinge. 

    Von diesen 2.000 Menschen haben etwa 1.134 ihre Strafe vollständig verbüßt und wurden entlassen (der Rest befand sich in Untersuchungshaft und/oder verließ das Land ohne die Strafe zu verbüßen.) 

    Leonid Sudalenko berichtete weiterhin, dass die Menschenrechtsaktivisten von Wjasna zum jetzigen Zeitpunkt von mindestens 5.472 Personen wissen, die in politisch motivierten Strafverfahren verurteilt wurden.  

    „Dabei handelt es sich sowohl um politische Häftlinge als auch um Personen, die sich bis zum Gerichtsverfahren nicht in Hafteinrichtungen befanden oder eine Strafe erhielten, die nicht mit Freiheitsentzug verbunden war“, sagte der Menschenrechtler. 

    Sudalenko nannte auch die Anzahl politischer Urteile in Strafverfahren in Belarus aufgeteilt nach Jahren: 

    2020: 900 Personen 

    2021: 1.225 Personen 

    2022: 1.242 Personen 

    2023: 1.603 Personen 

    „Wie man sieht, steigt die Zahl derer, die aus aus politischen Gründen verurteilt werden, in den letzten drei Jahren an“, schloss Sudalenko: „Die Repressionen lassen nicht nach, und es spricht auch nichts dafür, dass sie in nächster Zeit aufhören könnten.“ 

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  • „Das Regime driftet in Richtung Totalitarismus und Mittelalter“

    „Das Regime driftet in Richtung Totalitarismus und Mittelalter“

    Was bedeutete die Zeit der Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik für die Ausbildung eines nationalen Bewusstseins in Belarus? Warum blieb dieses dennoch eher schwach? Warum zeigt sich die belarussische Gesellschaft nach den Protesten, die am 9. August 2020 begannen, wieder gespaltener? 

    Im zweiten Teil seines Gesprächs mit dem Online-Medium Gazeta.by reflektiert der belarussische Journalist Alexander Klaskowski vor dem Hintergrund der wechselhaften belarussischen Geschichte über die große Frage der nationalen Identität seiner Landsleute.

    Bahdana Paulouskaja: Der Blick in die Geschichte zeigt, dass bei uns nur sehr wenige Autokraten herrschten. Wie kam es dann, dass die Belarussen bei den freien Wahlen 1994 für einen Diktator stimmten und sich damit auf Jahrzehnte ein Problem schufen? Wann passierte dieser Fehler in der Matrix?

    Alexander Klaskowski: Erstens gab es in der belarussischen Geschichte sehr wohl genügend Autokraten, Tyrannen und Despoten, zum Beispiel den russischen Zaren, der die Aufstände unserer Vorfahren in Blut ertränken ließ. Oder auch Stalin. Natürlich suchten sich die Belarussen damals ihre Herrscher nicht selbst aus, es war immer eine Fremdherrschaft. Und dieser Mangel an eigener Wahlerfahrung schlug sich dann leider bei den ersten mehr oder weniger freien Wahlen in Belarus 1994 nieder.

    Die Leute denken immer zuerst daran, dass der Kühlschrank voll ist 

    Zweitens, und das ist das Beschämendste, wählten die Belarussen keinen Diktator, sondern ihren Saschka, wie ihn damals viele nannten. Es gab Fernsehübertragungen der Sitzungen des Obersten Sowjets im Ovalen Saal, und die Zuschauer sahen diesen einfachen Mann vom Dorf, der die Wahrheit aussprach und sagte, er wolle die Mafia besiegen, wenn er an die Macht kommt. Er wirkte wie ein ländlicher Robin Hood, war aber in Wirklichkeit einfach nur ein talentierter Populist. Zum großen Leidwesen hatten die Belarussen in ihrer Masse nicht genügend politische Erfahrung und kein ausreichendes Maß an nationalem Selbstbewusstsein. 
    Auch der wirtschaftliche Kollaps trug seinen Teil bei. Die Leute denken immer zuerst daran, dass der Kühlschrank voll ist, dass die Kinder Kleider und Schuhe haben, und genau damit spielte Lukaschenka, als er versprach, die guten alten Zeiten zurückzubringen. Danach zog er die Schrauben an, so dass die Belarussen keinen anderen Führer mehr wählen konnten. Sie versuchten es immer wieder, zuletzt 2020, aber leider endete alles in einer riesigen Tragödie, die bis heute andauert. 

    Welchen Einfluss hatte die Sowjetzeit auf uns? Konnten wir uns seit Beginn der Unabhängigkeit von den Spuren der Sowjetisierung befreien? 

    Ich bin kein Freund davon, die sowjetische Zeit nur schwarz zu zeichnen. Wie ich schon sagte, gerade das Bestehen der BSSR war im Jahr 1991 von Vorteil: Belarus erhielt seine Unabhängigkeit, anders als beispielsweise Tatarstan . Oder denken wir an die Zeit der Belarussifizierung der 1920er Jahre, als die Verfechter der Wiedergeburt eifrig den Boden der belarussischen Sprache beackerten. Sicher, viele von ihnen wurden später von Stalins Regime erschossen, aber was sie damals geleistet haben, wirkt bis zum heutigen Tage nach. 

    Des Weiteren muss man die Industrialisierung nach dem Krieg erwähnen, die Urbanisierung, als die Belarussen massenhaft in die Städte übersiedelten – aus ihren dunklen Holzhäusern zogen sie in große Wohnungen mit allem Komfort. Und auch in den Dörfern mehrte sich der Wohlstand. Meine Eltern zum Beispiel – Kriegskinder – erzählten, wie sie in der Kindheit und Jugend hungerten. Meine Mutter konnte während ihres Studiums an der Akademie in Horki nur einmal in der Woche ein Brot kaufen. Sie schnitt es in sieben Teile, aber hatte solchen Hunger, dass sie es trotzdem innerhalb weniger Tage aufaß.

    Minsk, damals die Hauptstadt der BSSR, in den sowjetischen 1970ern

    Aber schon Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre hatten meine Eltern, obwohl sie im Dorf lebten, einen Fernseher, einen Kühlschrank, einen Trog voller Speck, konnten sich gute Wintermäntel kaufen und einen Teppich an die Wand hängen, wie es damals modern war. Mein Onkel Koszja fuhr einen Kirowez-Traktor und verdiente gutes Geld – 350 Rubel im Monat. 

    In der Sowjetzeit gab es also eine Periode, in der Belarus einen großen wirtschaftlichen und sozialen Sprung machte. Lukaschenka beruft sich noch heute darauf, wenn er sich brüstet, wir hätten unser sowjetisches Potential nicht verloren. Dieses hat allerdings nicht Lukaschenka geschaffen, sondern Generationen von Belarussen mit ihrer fleißigen Arbeit davor.

    Belarus war tatsächlich eine der hochentwickeltsten Republiken der UdSSR, was auch negative Aspekte hatte. So konnte Lukaschenka nämlich 1994, mitten in der postsowjetischen Krise, die Erinnerung an Wohlstand und Reichtum für seine Interessen nutzen. Ein weiterer Pluspunkt der Sowjetzeit war, dass die Belarussen eine fundierte Ausbildung erhielten und der soziale Aufstieg in weiten Teilen gut funktionierte. Ich selbst bin beispielsweise ein Junge aus dem Dorf, bekam ohne jedes Vitamin B einen Studienplatz an der Fakultät für Journalismus und später eine Stelle bei einer landesweiten Zeitung mit hoher Auflage. Die Redaktion hatte meine Einstellung beantragt, da ich bereits eng mit ihr zusammengearbeitet hatte und meine Artikel häufig gedruckt wurden. Einige Jahre später war ich bei der Zeitung schon zum Chef vom Dienst aufgestiegen.

    Die schwach ausgeprägte nationale Identität spielte während des Zerfalls der UdSSR eine fatale Rolle 

    Selbst innerhalb der Machtelite gab es Menschen wie Henads Buraukin, der Staatsrundfunk und -fernsehen der BSSR leitete und dort die belarussische Sprache förderte. Natürlich in einem abgesteckten Rahmen, aber er konnte für die belarussische Sache arbeiten. Im ZK der Kommunistischen Partei von Belarus (KPB) saß der Dichter Sjarhei Sakonnikau, der die belarussischen Schriftsteller unterstützte und mit Wassil Bykau befreundet war. Die Kaderauswahl war damals in gewissem Maße vernünftiger als heute unter Lukaschenka, wo wir beobachten können, dass in seiner Umgebung allen voran die Schmeichelhaften reüssieren, zudem ganz offene Adepten der sogenannten Russki Mir.

    Natürlich war die sowjetische Periode auch eine Zeit, in der während der stalinistischen Repressionen sowohl die nationale Elite als auch einfache Belarussen vernichtet wurden. Mein Urgroßvater Wazlau, der sich während der Kollektivierung bei einer Versammlung skeptisch über das Kolchossystem geäußert hatte, wurde wegen „antisowjetischer Agitation“ (analog zum heutigen „Extremismus“) verfolgt und verbrachte viele Jahre in Straflagern und in der Verbannung. Auch die schleichende Russifizierung ist ein Phänomen der Sowjetzeit. Hier kann man aber auch nicht alles auf das kommunistische System schieben, denn viele Belarussen entsagten ihrer Muttersprache ohne jeglichen Zwang, sobald sie in die Stadt gezogen waren. Niemand steckte ihnen Nadeln unter die Nägel, sie wechselten selbst zur russischen Sprache, um nicht wie Kalchosniki zu wirken.

    Diese schwach ausgeprägte nationale Identität spielte während des Zerfalls der UdSSR eine fatale Rolle. Denn im Unterschied zu den Einwohnern der damaligen baltischen Sowjetrepubliken konnten die Belarussen sich nicht entschieden von Moskau losreißen. Wieder etwas, womit Lukaschenka spielen konnte, als er die Schallplatte von der sogenannten brüderlichen Integration auflegte.

    Hat uns 2020 in der Frage der nationalen Identität vorangebracht? Denn natürlich haben wir zunächst diese große Begeisterung gesehen, das Meer der weiß-rot-weißen Flaggen, spürten Nationalstolz und den Wunsch, uns Belarussen zu nennen. Aber jetzt erlebt das Land furchtbare Repressionen, alles Belarussische wird verdrängt, Bücher werden verboten, Lehrbücher umgeschrieben und an russische Narrative angeglichen.

    Das muss man dialektisch betrachten. Einerseits beobachten wir einen furchtbaren Rückschritt, das Regime driftet in Richtung Totalitarismus und Mittelalter. Die Bedingungen, unter denen politische Gefangene festgehalten werden, die Misshandlungen, denen sie ausgesetzt sind, erinnern an finstere Zeiten, als despotische Monarchen ihre Feinde in Gruben und Verliese sperrten, um sie lebendig verrotten zu lassen.

    Aber, um auf die Ereignisse von 2020 zurückzukommen, ich möchte betonen, dass die Geschichte keinen Konjunktiv duldet. Sonst könnte man auch über Kalinouskis Aufstand sagen, er sei verfrüht gewesen, dieser Aufruhr hätte schreckliche Repressionen, die Ausrottung der nationalen Elite, die beschleunigte Russifizierung provoziert – kurzum, es sei zu früh nach der Freiheit gestrebt worden.

    Aber so reden wir nicht. Denn wir verstehen, zum Ersten, dass solche historischen Ereignisse nicht planbar sind, sondern stattfinden, wenn verschiedene Faktoren zusammentreffen, man kann sie nicht mechanisch in eine passendere Zeit verschieben. Zweitens hat der Kalinouski-Aufstand ungeachtet der Tragik des Moments in historischer Hinsicht auch heute eine große Bedeutung für die belarussische Idee und die nationale Identität. 

    Heute kämpft das Kalinouski-Regiment  in der Ukraine. Auf der anderen Seite sehen wir, wie die Lukaschisten auf der Kalinouski-Straße in Minsk schon mit den Zähnen knirschen, wir wissen, dass sie diese Schilder früher oder später abnehmen werden. Das heißt aber auch, dass sie das beschäftigt, denn sie spüren die Kraft der belarussischen nationalen Idee, personifiziert in Kalinouski. Man kann also jetzt über die Ereignisse von 2020 fantasieren, nachträglich irgendwelche scholastischen Modelle entwickeln, wie man hätte gewinnen können, aber das ist sinnlos. Denn ein Sieg war so gut wie unmöglich, die Kräfte waren ungleich verteilt. Hätte man versucht, den Palast der Unabhängigkeit  zu stürmen, hätte das noch mehr Tote gebracht. 


    Ein Protestmarsch am Prospekt der Unabhängigkeit in Minsk im August 2020 / Foto © Dimitri Bruschko

    Könnte man sagen, dass gerade die Figur Lukaschenka, die plötzlich alle satt hatten, 2020 unsere Nation konsolidierte?

    Die These der nationalen Konsolidierung würde ich anzweifeln. Einige Führer des demokratischen Lagers begehen leider den Fehler, vereinfachte Formeln zu benutzen wie „das Volk leidet unter dem Joch der Diktatur“. Ich verstehe, dass das in gewissem Maße eine Exportvariante ist, um westlichen Politikern zu erklären, dass das Regime und die belarussische Bevölkerung nicht ein und dasselbe sind. Aber unabhängige soziologische Befragungen belegen, dass die Nation tatsächlich gespalten ist und 2020 diese Spaltung noch verstärkt hat: Die beiden Lager – Lukaschisten und Regimegegner – hassen einander einfach. Einige Politologen sagen sogar, dass die Bevölkerung sich praktisch im kalten Bürgerkrieg befindet.
    Tatsächlich ist das Bild komplexer, denke ich. Es gibt einen großen Anteil relativ neutral eingestellter Menschen. Das sind Leute, die (zum Großteil) potentiell für Veränderungen sind, sich aber jetzt in ihre Schneckenhäuser zurückgezogen haben und einfach im Hier und Jetzt leben möchten, weil die Frustration sie ermüdet hat. Vor uns liegt also noch ein sehr schwerer und leidvoller Prozess – diese Fetzen der zerrissenen Nation zusammenzunähen.

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  • Gefangenenaustausch: „Belarus wird dem Kreml zum Fraß überlassen“

    Gefangenenaustausch: „Belarus wird dem Kreml zum Fraß überlassen“

    Am gestrigen Donnerstag kam es zu einem großangelegten Gefangenenaustausch zwischen Russland, den USA, Deutschland und anderen Ländern. Insgesamt 24 Personen wurden dabei aus der Haft entlassen und in andere Länder überstellt, darunter die bekannten russischen Oppositionspolitiker Ilja Jaschin und Wladimir Kara-Mursa, sowie der US-amerikanische Journalist Evan Gershkovich. Der sogenannte „Tiergartenmörder“ Wadim Krassikow wurde bei seiner Ankunft in Russland von Wladimir Putin persönlich in Empfang genommen. Aus belarussischer Haft wurde der Deutsche Rico Krieger entlassen, der ursprünglich zum Tode verurteilt und Anfang der Woche von Alexander Lukaschenko begnadigt worden war.  

    In Belarus gibt es fast 1400 politische Häftlinge, keiner wurde bei dem Austausch berücksichtigt. Die Enttäuschung bei der belarussischen Opposition ist groß. Warum spielte sie bei der Aktion keine Rolle? Und welche Signale sendet diese Nicht-Berücksichtigung? Dazu zwei Stimmen aus belarussischen Medien. 

    Bei dem großangelegten Gefangenenaustausch zwischen Russland, den USA, Deutschland und Belarus wurden belarussische Häftlinge, wie die Oppositionspolitikerin Maria Kolesnikowa, nicht berücksichtigt / Foto © Viktor Tolochko/SNA/Imago

    „Der Westen betrachtet Belarus faktisch als russische Provinz“

    In seiner Analyse für das Online-Medium Pozirk äußert der Journalist Alexander Klaskowski die Vermutung, dass Lukaschenko nicht mehr als eigenständig agierender Staatschef wahrgenommen wird. 

    [bilingbox]Ganz offensichtlich schätzt der Westen – in diesem Fall vertreten durch Deutschland – die politische Eigenständigkeit von Alexander Lukaschenko äußerst gering ein. Einerseits könnten sich seine erbitterten Gegner darüber freuen: Seht her, mit dem Diktator will niemand reden. Andererseits wird mehr und mehr deutlich, dass der Westen Belarus mittlerweile faktisch als russische Provinz betrachtet und vorerst keine Möglichkeit sieht, das Land aus den Fängen des Imperiums zu befreien. Mit allen daraus resultierenden Konsequenzen. Gewiss: EU-Politiker unterstützen weiterhin eine europäische Perspektive von Belarus. Aber de facto schließen sie den eisernen Vorhang und überlassen das Land dem Kreml zum Fraß.~~~Oчевидно, что и Запад — в этом случае прежде всего в лице Германии — крайне низко оценивает политическую субъектность Лукашенко. 
     
    С одной стороны, его яростные противники могут порадоваться: вот, с диктатором не хотят разговаривать. С другой стороны, становится все яснее, что Запад фактически стал считать Беларусь российской провинцией, не видит возможности на нынешнем этапе вырвать страну из лап империи. Со всеми вытекающими последствиями. 
     
    Да, европейские чиновники продолжают риторически поддерживать европейскую перспективу Беларуси, но де-факто опускают железный занавес, отдают ее на съедение Кремлю. [/bilingbox]

    erschienen am 1. August 2024, Original 

    „Kolesnikowa wäre eine würdige Kandidatin für einen Austausch gewesen“

    Belarus sei für die verhandelnden Parteien nicht „gewinnbringend“ genug, sagt der Politanalyst und Ex-Diplomat Pawel Sljunkin in einem Interview mit dem Online-Medium Zerkalo

    [bilingbox]Sogar unter rein symbolischen Gesichtspunkten wäre es wichtig gewesen, zumindest einen belarussischen Bürger in den Austausch einzubeziehen. Dies zeigt, dass die westlichen Länder Russland für wichtiger erachten als Belarus. Das höchste der Gefühle, was die europäischen Länder [gegenüber den belarussischen politischen Gefangenen] tun können, ist, ihre Solidarität zu bekunden. In diesem zynischen Sinne waren die belarussischen politischen Gefangenen für den Westen im Gegensatz zu Krieger wahrscheinlich nicht „gewinnbringend“ genug. Die Tatsache, dass der Austausch nicht einmal symbolisch Belarussen umfasste, spricht Bände. Maria Kolesnikowa etwa hat lange Zeit in Deutschland gelebt und kehrte 2020 nach Belarus zurück, um sich an der Demokratiebewegung zu beteiligen. Auch sie wäre doch eine würdige Kandidatin für einen Austausch gewesen. Wie es scheint, hat Deutschland aber nicht versucht, sie auszutauschen. ~~~Даже с символической точки зрения было бы важно попробовать включить в обмен хотя бы одного гражданина Беларуси, — отметил он. — Это говорит о том, что западные страны воспринимают Россию как более приоритетную страну, чем Беларусь. И максимум, что могут делать европейские страны [по отношению к беларусским политическим заключенным], — это выражать солидарность. Наверное, в этом циничном смысле беларусские политзаключенные были для Запада недостаточно «выгодны», в отличие от Кригера. Тот факт, что в обмен не включили ни одного беларуса, хотя бы символически, говорит о многом. Та же Мария Колесникова долгое время прожила в Германии и вернулась в Беларусь в 2020 году, чтобы поучаствовать в демократическом движении. Она тоже была бы достойным кандидатом на обмен — но, видимо, [Германия] не стала [пытаться ее обменять][/bilingbox]

    erschienen am 2. August 2024, Original 

     

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    Jekaterina ist 50 Jahre alt und Mutter von sechs Kindern. Bis zum 24. Februar 2022 hat Politik in ihrem Leben keine Rolle gespielt. So wie bei den meisten Menschen in Russland, die gelernt haben, die Politik dem Kreml zu überlassen. Jekaterina studierte Psychologie und Pädagogik und kümmerte sich um ihre Kinder. Doch mit dem offenen Überfall auf die Ukraine änderte sich ihr Bild von der Welt grundlegend. Seitdem veranstaltet sie regelmäßig Protestaktionen. Auch wenn sie nicht viel bewirken – als gläubige Christin will sie nicht schweigen. Sogar in ihrer Gemeinde hat sie einige Gleichgesinnte gefunden. Nadezhda Beliakova und Kirill Emelianov haben Jekaterina für das Portal Christen gegen den Krieg interviewt – und zu ihrem Schutz auch ihren Namen geändert.

    Blumen am Solowezki-Stein niederzulegen, ist eine der wenigen Möglichkeiten, seine Haltung zum aktuellen Regime auszudrücken. Der Findling steht vor der Zentrale des Geheimdienstes in Moskau und erinnert an die Opfer des Totalitarismus / Foto © shaltnotkill.info

    Christen gegen den Krieg: Wann sind Sie erstmals öffentlich aktiv geworden? 

    Ich bin nie politisch aktiv gewesen. Ich habe studiert, dann habe ich gearbeitet. Nach zehn Jahren Ehe, nach vielen vergeblichen Versuchen, ein Kind zu bekommen, kam unser erstes Kind zur Welt. Drei Jahre später kam das zweite. Und dann im Abstand von jeweils einem Jahr zwei weitere, schließlich die Zwillinge … Ich war rundum mit der Familie beschäftigt und habe bis zum 24. Februar 2022 gedacht, dass alles in dieser Welt ohne mich entschieden wird. Ich war ehrlich der Ansicht, dass wir im 21. Jahrhundert leben und die Menschen human sind. Dass man sich mit Worten streiten, sich missverstehen kann, und dennoch niemals diese Grenze überschreitet, nämlich einen Angriff auf einen Nachbarstaat zu unternehmen. Und ich hatte gehofft, dass in der Politik die dort Verantwortlichen entscheiden und ich einfach gute Kinder großziehe, für unsere Zukunft. Jetzt erscheint mir das fast lächerlich, so zu reden. Aber bis zum Mittag des 24. Februar konnte ich nicht glauben, dass so etwas überhaupt möglich ist! Ich versuchte allen – vor allem mir selbst – einzureden, dass das manipulierte Videos sind, dass das Fake ist und einfach nicht wahr sein kann … Es war niederschmetternd für mich, für meine Weltsicht. Ich konnte einfach nicht glauben, das so etwas möglich ist. Ich setzte mich an den Computer und schaute nach … Ich fand die Orte, die beschossen wurden. Und ich fand Videos von dort vor dem Angriff. Ich verglich sie mit den aktuellen Bildern … und mir wurde schließlich klar: Die Videos waren keine Montage.

    Und schon am Abend des 24. Februar nahm ich zum ersten Mal in meinem Leben an einer Protestaktion teil. Obwohl wir (die Protestierenden) recht schnell eingesammelt und in einen Gefangenentransporter gesteckt wurden, waren wir absolut glücklich. Wir waren überzeugt, dass sich nach uns das gesamte riesige Land erheben würde, dass dieser Irrsinn, der Krieg, beendet wird. Unser Transporter war bis zum Anschlag gefüllt – und er war bei Weitem nicht der einzige. Doch alle waren gehobener Stimmung und überzeugt, dass uns viele andere folgen würden. Während wir zum Polizeirevier fuhren, sangen wir Lieder, scherzten und freuten uns, dass wir zusammen sind und nicht allein.

    Wie lang hielt diese Euphorie an?

    Ja, Euphorie ist wohl das richtige Wort. Weil einfach niemand damals begriff, was vor sich geht. Von da an ging ich jeden Tag zu den Protesten, die immer um sieben Uhr abends stattfanden. In Telegram-Kanälen wurden ständig wechselnde Routen vorgeschlagen, damit die Polizeistreifen es nicht schaffen, rechtzeitig vor Ort zu sein.

    Die einen haben Briefe gegen den Krieg geschrieben oder unterschrieben, andere trugen Antikriegssymbole – weiße Tauben oder Buttons. Warum wollten Sie sich ausgerechnet an Straßenaktionen beteiligen?

    Ich trage seit dem 24. Februar Antikriegssymbole. Das ist sozusagen meine Erfindung, die „wandelnde Mahnwache“. Am Rucksack habe ich eindeutige Symbole befestigt, die nicht misszuverstehen sind: Bändchen, Buttons, Friedenszeichen. Gerade baumelt da auch eine Nawalny-Ente. Und ein Button mit dem durchgestrichenen Wort FREIHEIT. Es gab auch noch gewagtere: das durchgestrichene Wort „Krieg“. Wegen dieses Zeichens wurde ich dann auch festgenommen und der Diskreditierung der Streitkräfte Russlands beschuldigt. Dann noch die Aufschrift „Ich bin für Frieden“. Mit der bin eine ganze Weile rumgelaufen. Doch schließlich haben sie mich festgenommen und mir noch eine „Diskreditierung“ aufgebrummt. Mit diesen Zeichen und Symbolen bin ich auf den Roten Platz gegangen, auf den Manegenplatz, über die Twerskaja, in den Sarjadje-Park. Und ich sah, dass die Leute auf die Symbole reagieren. Einige kamen näher und gaben mir mit ihrer Mimik oder mit Gesten zu verstehen, dass sie das gut finden und unterstützen. Insgesamt gab es sehr viele positive Reaktionen. Und ich trage diese Symbole bis heute.

    Kann man Sie als christliche Aktivistin bezeichnen? Kann man sagen, dass Ihre Haltung auf Ihren christlichen Überzeugungen beruht? 

    Ja, unbedingt. Eine der Mahnwachen fand vor der Christ-Erlöser-Kathedrale statt, mit dem Plakat: „Gewöhnt euch nicht an den Krieg!“. Ich bin mit diesem Plakat eigens zur Kathedrale gekommen, weil es mir sehr wichtig war zu versuchen, wenigstens einige ein bisschen wachzurütteln, damit sie, wenn sie die Kathedrale besuchen, ins Nachdenken kommen.

    Kam jemand auf Sie zu? Gab es Reaktionen?

    Ich habe dort eigentlich nur acht Minuten gestanden. Sie haben mich recht schnell festgenommen. Aber wissen Sie, in diesen acht Minuten gab es doch einige Kontakte. Obwohl die Leute Angst hatten, zu mir zu kommen. Sie zeigten Ihre Solidarität aus der Distanz. Zwei auf einem E-Scooter – ein junger Kerl und seine Freundin – hielten an, machten das Victory-Zeichen, lächelten und winkten. Die Leute, die in die Kathedrale gingen, hielten inne, kamen aber leider nicht zu mir her. Darauf hatte ich da auch schon nicht mehr gehofft. Ich wollte nur, dass irgendwer vielleicht doch ins Grübeln kommt, dass wenigstens ein Samen gesät wird.

    Und was denkt man in Ihrer Gemeinde, in Ihrer Kirche über Ihre Aktionen? Gehen Sie immer in dieselbe Kirche, oder in unterschiedliche? 

    Wir gehen mit der ganzen Familie seit 17 Jahren in dieselbe Kirche. Ich fing an, dort hinzugehen, als ich schwanger war. Die Kirche war damals gerade erst gebaut worden, nicht weit von unserem Haus. Nach dem 24. Februar habe ich in der Sonntagsschule sofort allen freudig berichtet, dass ich bei der Mahnwache war und festgenommen wurde. Und was war ich schockiert darüber, wie negativ  das aufgenommen wurde! Die Lehrer und der Direktor der Sonntagsschule zeigten ganz deutlich ihre kategorische Ablehnung.

    Wie haben sie denn argumentiert? Gab es eine inhaltliche Diskussion? 

    Ich weiß nicht, ob man das eine Diskussion nennen kann? Sie reden nur von „acht Jahren im Donbass“, von gekreuzigten Jungen … Und so geht es bis heute weiter; leider hat sich in diesen zweieinhalb Jahren nichts geändert. Gleichzeitig hat sich in der Gemeinde eine Gruppe gebildet, wobei sich die Leute erst gewissermaßen „abgetastet“ und sich dann zusammengefunden haben. Das ist eine Gruppe von Kirchgängern, die kategorisch gegen den Krieg sind. Wir treffen uns und beten zusammen. Wir lieben unsere Gemeindemitglieder, unsere Gemeindepriester. Wir sind traurig und beten für sie; wir hoffen, dass ihnen die Augen geöffnet werden.

    Ist das eine große Gruppe?

    Nein, sie ist ganz klein, vier Leute. Aber wenn man die Kinder mitzählt, sind es sehr viel mehr. Eine Frau hat fünf Kinder, eine andere drei und noch eine zwei. Es sind nämlich alles Mütter. Und es war ein interessanter Prozess, wie wir einander „abtasteten“. Wir haben uns nicht sofort einander offenbart, wir waren uns nicht sofort im Klaren, dass wir auf der gleichen Seite stehen. Nachdem ich mir an der extrem negativen Haltung der Lehrer der Sonntagsschule die Finger verbrannt hatte, hatte ich Angst bekommen, dass mich auch andere enttäuschen würden. Deswegen tastete ich mich da ganz behutsam vor. Sehr vorsichtig. Und schließlich stellte sich heraus: Es gibt sie! Es gibt doch Leute, die den Krieg ebenfalls kategorisch ablehnen. Besonders deutlich wurde das beim ersten Osterfest nach Kriegsbeginn, als ich sah, wie die Leute ihre Kulitsche gestaltet hatten: Bei einigen war die Dekoration gelb-blau und einige Eier waren ebenfalls in dieser Weise gefärbt. Was für eine Freude! Ich habe es nicht geschafft, irgendwie zu reagieren. Ich hätte so gern mit diesen Leuten gesprochen. Aber ich wusste ja nicht, von wem welcher Kulitsch oder welcher Eierkorb kam! Jedes Mal, wenn du in blau und gelb geschmückte Oster-Gaben siehst, wird dir klar, dass du nicht allein bist. Ich kann kaum beschreiben, wie wichtig dieses Gefühl ist!
     

    Symbole für und gegen Krieg: Das orange-schwarze Sankt-Georgs-Band ist seit 2014 Erkennungszeichen russischer Militaristen. Die gelbe Badeente war ironisches Symbol in Alexej Nawalnys Wahlkampf 2018 / Foto © Shaltnotkill.info

    Zurück zu Ihren Protestaktivitäten. Sind Sie jedes Mal, wenn Sie auf Demonstrationen oder zu Mahnwachen auf die Straße gingen, festgenommen worden? 

    Nein, natürlich nicht. Es haben ja viele protestiert, die konnten unmöglich alle eingesammelt werden. Meine zweite Festnahme war am 6. März. Und am 13. März wurde ich zum ersten Mal mit Hilfe von Sfera in der Metro festgenommen. Da wurde klar, dass ich bereits auf irgendwelchen Listen stehe, von Personen, die regelmäßig an Protesten teilnehmen. Bis zum 21. September 2022 sind gegen mich acht Verfahren wegen Ordnungswidrigkeiten eröffnet worden. Darüber hinaus wurde ich drei Mal aufgrund von Sfera in der Metro festgenommen.

    Was passierte mit Ihnen nach den Festnahmen in der Metro? Gab es Verhöre, Anzeigen? Ließ man Sie einfach gehen?

    Unterschiedlich. Einmal ließen sie mich einfach gehen. Ein anderes Mal brachten sie mich aufs Revier und bedrängten mich lange mit Fragen. Sie wollten meine Fingerabdrücke nehmen und mich moralisch unter Druck zu setzen. Das dritte Mal hielten sie mich vier Stunden fest, zwei in der Metro und zwei auf dem Revier.

    Und was war währenddessen mit Ihren Kindern?

    Die Kinder sind meine verwundbare Stelle, und die Polizei weiß das genau! Gerade da können sie ihren Druck ansetzen. Jedes Mal, wenn ich [zu Protesten] aufgebrochen bin, hatte ich alles bis ins Detail durchgeplant. Jedes Mal waren mein Mann und die Oma (meine Mutter) zu Hause. Und im Kühlschrank standen Töpfe mit Essen. Die Schuluniformen der Kinder waren gebügelt und die Zimmer perfekt aufgeräumt. Sie drohten mehrfach mit dem Jugendamt und einer Pflegschaft. Ich habe alles so eingerichtet, dass sie [die Leute vom Jugendamt], wenn sie doch auftauchen sollten, ein ideales Zuhause vorfinden würden: ideale Kinder, die Hausaufgaben gemacht, der Kühlschrank gut gefüllt … Deshalb war ich, wenn beim Verhör das Thema auf meine Kinder kam und die Drohungen mit Entzug des Sorgerechts losgingen, gut vorbereitet: Kommen Sie nur, Sie werden erwartet! Von der Oma, meinem Mann, den Kindern … Das heißt, ich habe jede Mahnwache vorher intensiv zu Hause vorbereitet. Einmal war es so, dass einer unserer Freunde zu uns kam. Er hatte zufällig bei OWD-Info meinen Namen gelesen und dann meinen Mann angerufen, weil er wissen wollte, ob das stimmt. Er blieb dann bei den Kindern, während mein Mann zu mir aufs Revier fuhr. Unser Freund half der Oma dann, die Kinder ins Bett zu bringen, kam mit dem Auto zum Revier und wartete mit meinem Mann bis Mitternacht, bis mich die Polizei frei ließ.

    Ihre Verwandten unterstützen Sie also. Teilen sie Ihre Einstellung zum Krieg? 

    Meine Mutter steht felsenfest hinter Putin. Nach dem Tod meines Vaters haben wir sie zu uns genommen. Sie hat außer mir niemand mehr. Um die ohnehin angespannte Lage nicht noch weiter zuzuspitzen, reden wir nicht über Themen rund um den Krieg. Wenn ich in die Küche komme, schaltet sie das Radio einfach aus.

    Ihre Kinder hören wahrscheinlich auch Radio? Oder gibt es eine Abmachung, dass das Radio nur ohne Kinder läuft?

    Die Kinder sind ganz auf meiner Seite. Wenn sie in die Küche kommen, schalten sie sofort auf den Kinderkanal um. „Wenn wir in die Küche gehen“, erzählen sie mir, „sagen wir: Oma, Oma, es gibt jetzt ein super interessantes Märchen auf dem Kinderkanal. Wir schalten jetzt um, OK?“ Und sie schalten um, obwohl doch klar ist, dass sie längst aus dem Alter raus sind, in dem sie den Kinderkanal gehört haben. Einerseits kämpfen sie für reine Luft „in einer Wohnung“ [im Original eine Anspielung auf „Sozialismus in einem Land“ – dek]. Andererseits vermeiden alle Streit. Manchmal fragen sie: „Mama, wie kann Oma das alles nur glauben?“. Sie lieben ihre Oma, sie tut ihnen leid, sie finden, dass sie getäuscht wurde. Dass unsere gute, liebe Oma einfach getäuscht wurde. Und deswegen wollen sie nicht, dass sie weiterhin diese Lügen hört. Es war übrigens ihre Idee, diese Tricks mit dem Radio zu veranstalten. Ich habe sie zu nichts aufgefordert. Und dafür haben sie meine Hochachtung, dass sie einen wirklich sehr menschlichen Weg gefunden haben, der Lüge entgegenzutreten.

    Ihr Mann ist solidarisch mit Ihnen?

    Mein Mann ist einer von den „Uneindeutigen“. Wissen Sie, einer von denen, die oft sagen: „Krieg ist natürlich etwas Schlechtes, das ist schrecklich, aber alles ist nicht so eindeutig …“ Einerseits sieht er meine kategorische Haltung und meine Unbeugsamkeit, und er versucht, das zu akzeptieren. Andererseits, wenn wir dann doch mal darüber reden, dann gerät er wieder in die eingefahrene Spur, nach dem Motto: „Ja, Krieg ist schon schlecht, aber dir ist ja wohl klar, dass wir provoziert wurden. Es stimmt zwar, dass wir angefangen haben. Aber andernfalls hätten sie uns doch angegriffen …“ Er ist gegen die Luftangriffe, gegen eine Konfrontation; er ist für Verhandlungen. Ich dagegen bin für einen vollständigen Sieg der anderen Seite! Manchmal scheint mir, dass er eher auf der anderen Seite steht. Für ihn ist die NATO ein Feind, Amerika ist ein Feind … Putin hat er aber nie gemocht. Na immerhin.

    Hat dieser Krieg die Haltung Ihrer Familie zu Putin verändert? 

    Das kann man eigentlich nicht sagen: Mein Mann hat ihn nie gemocht, meine Mutter hingegen fand ihn immer gut.

    Haben Sie sich vor dem Krieg an Protestbewegungen beteiligt? Etwa an Nawalnys Bewegung gegen Korruption, oder haben Sie vielleicht an Protesten im Zusammenhang mit der Ermordung Nemzows teilgenommen?

    Es ist mir peinlich …, peinlich, das zu sagen, aber ich … ich habe mich ausschließlich um die Kinder gekümmert.

    Warum ist Ihnen das peinlich?

    Ich schäme mich vor mir selbst, weil ich nichts gesehen, nichts gemerkt habe. Schließlich hat der Krieg ja nicht aus dem Nichts begonnen. Und jetzt fragen mich viele, wo ich denn eigentlich früher war? Früher habe ich in einer Idealwelt gelebt.

    Haben Sie keine Angst, hinter Gittern zu landen? Sie haben in Gefangenentransportern gesessen, wurden auf dem Polizeirevier festgehalten. Haben Sie keine Angst vor dem russischen Gefängnis? 

    Natürlich habe ich Angst, aber längst nicht in dem Maße, wie ich Angst um meine Kinder habe. Es gab einen Augenblick, während einer der Festnahmen, da dachte ich, dass sie mich diesmal nicht wieder frei lassen. Das dauerte nur zwei Stunden. Aber ich dachte: Das war’s jetzt! Ich erinnere mich genau an meinen Zustand in diesen zwei Stunden, wenn man an die Kinder denkt. Als das Schloss der Zellentür eingerastet war und ich auf dem Boden lag und mit aller Kraft versuchte, Gedanken an die Kinder zu vermeiden, daran, was mit ihnen passieren wird. Weil mir ganz schrecklich zumute war: Was wird aus ihnen, wer wird ihnen bei den Schulaufgaben helfen, wer bringt sie zu den AGs, wer wird sie in ihrer Entwicklung fördern, und vor allem – wer wird sie vor der Propaganda schützen?

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  • Im Gestern einer neuen Zeit

    Im Gestern einer neuen Zeit

    Uladsimir Njakljajeu, 1946 in der westbelarussischen Stadt Smarhon geboren, ist einer der bekanntesten belarussischen Dichter und Schriftsteller. In jungen Jahren verbrachte er mehrere Jahre im Fernen Osten Russlands, bevor er Anfang der 1970er Jahre am Moskauer Literatur Institut studierte. Danach arbeitete er in unterschiedlichen Positionen bei journalistischen und literarischen Publikationen. 1976 debütierte er mit dem Gedichtband Adkryzzjo (dt. Entdeckung). Seitdem hat er zahlreiche weitere lyrische Arbeiten und Romane veröffentlicht. 2010 gründete er die gesellschaftspolitische Initiative Sag die Wahrheit! (belaruss. Hawary praudu!), als deren Kandidat er im selben Jahr bei den Präsidentschaftswahlen antrat. Am Wahlabend wurde er von maskierten Männern verprügelt und im Krankenhaus schließlich verhaftet. Nach den Protesten von 2020 und infolge der Repressionen ging er ins Exil. 

    In seinem Essay für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft geht Njakljajeu der Frage nach, ob die Belarussen in ihrer Geschichte genug getan haben, um die Unabhängigkeit ihres Staates zu sichern. Ein Schlüsselfaktor für das weitere Bestehen von Belarus ist für ihn der Ausgang des Krieges, den Russland gegen die Ukraine führt. „Die Zukunft von Belarus ohne die Ukraine“, schreibt er, „das bedeutet die Eingliederung in die Russische Föderation.“

     

    беларуская версія

    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla
    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla

    Mein Feld ist die Literatur, deren Objekt der Mensch ist, und so betrachte ich für gewöhnlich die Geschichte weniger als Geschichte der Ereignisse, sondern als Geschichte der Menschen, die die Ereignisse schaffen. Das Jahr 2020 war für Belarus ein Ereignis mit hunderttausenden, ja Millionen Menschen. Das Jahr der Augustrevolution, die in Freiheit und Demokratie münden sollte, aber in Unfreiheit und Tyrannei endete. Warum ist es so gekommen, und nicht anders? Wie konnten wir in den 33 Jahren unserer (wenn auch größtenteils formalen) Unabhängigkeit an den Abgrund des Verlusts unseres Vaterlandes gelangen?

    Um eine Antwort auf diese Fragen zu finden, fing ich an, einen Roman zu schreiben, über die Ereignisse, deren Zeuge ich war, über die Menschen, die diese Ereignisse initiiert hatten. Ich begann 2021 – und schob es dann auf. Alles war zu nah und zu schmerzhaft, mein Herz krampfte, Tränen flossen. Unter Tränen kann man nicht schreiben. Keinen Roman, und noch viel weniger die Geschichte einer mitleidlosen Zeit.

    Nach den Ereignissen von 2020 konnte ich schon deshalb nicht mehr mit ansehen, was in Belarus geschieht, weil mein Herz es nicht verkraftete. Mit anzusehen, wie Sprache, Kultur und Geschichte vernichtet werden, wie das Volk sich über die Welt verteilt, um den Repressionen zu entgehen, das ist keine Emigration mehr, das ist ein Exodus. Wie der historische Auszug der Israeliten, die durch die Wüste und die Herausforderungen des Schicksals gingen und doch zu sich selbst zurückkehrten. Denn sie hatten etwas und jemanden, zu dem sie zurückkehren konnten. 

    Haben wir das auch? Und wenn ja, wird es noch bestehen, wenn wir uns auf dem Rückweg befinden? Dass der Weg lang sein wird, ist schon jetzt absehbar. Aber werden wir als Belarussen zurückkehren? Nicht nur diejenigen, die im Ausland sind, sondern auch die, die zu Hause geblieben sind – auch dort findet ein Exodus statt. Denn alles, womit wir, wie Wasser und Brot, das Gott mit den Ausgestoßenen teilt, überleben könnten, um unseren Weg durch die Wüste zu gehen, wird vernichtet und ausgemerzt.

    Das Schrecklichste daran war, nicht die geringste Möglichkeit zu haben, der Vernichtung entgegenzutreten. Der Schmerz war so groß, dass ich sogar meine älteren Freunde zu beneiden begann, die in die andere Welt gehen durften, ohne sehen zu müssen, wie alles ruiniert wird, wofür sie schrieben – und lebten. Als mir also in Polen angeboten wurde, ein Buch herauszugeben, das in Belarus nicht gedruckt werden konnte, nutzte ich die Gelegenheit. Ich ging nach Polen und setzte mich wieder an den in Minsk begonnenen Roman.

    Bis zum Krieg in der Ukraine war etwa die Hälfte des Textes fertig. Mit Kriegsbeginn wurde klar, dass ohne die Ergründung seiner Ursachen keine Antwort auf die Frage möglich war, warum es bei uns so ist, wie es ist. In meinem Text sah ich dieselben konzeptuellen Fehler, die auch in der Politik gemacht worden waren, und musste ihn wieder verwerfen. Ich begann neu, direkt beim Krieg.

    Das Schicksal Belarus‘ wurde von jeher durch Kriege bestimmt. So war es im 18. Jahrhundert nach dem Siebenjährigen Krieg und den Teilungen der polnisch-litauischen Adelsrepublik, im 19. Jahrhundert nach den Napoleonischen Kriegen und im 20. Jahrhundert nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Auch das 21. Jahrhundert ist keine Ausnahme, über das belarussische Schicksal entscheidet der Krieg Russlands gegen die Ukraine. Ein Krieg, in dem Menschen einander töten, die sich bis vor Kurzem Brüder nannten – eine antike Tragödie. Man muss nicht nur ihre Regisseure, Akteure und Dekorateure verstehen, sondern, und das ist das Schwierigste, den antiken Chor, der in den klassischen Tragödien des Euripides, Aischylos und Sophokles das Volk verkörpert, dessen Rolle es ist, die Handlung zu erklären und die Helden vom Standpunkt der Moral her zu beurteilen. Wenn also der antike Chor in Russland dem brüdermordenden Krieg ein Loblied singt, und das Volk in Belarus zuhört und scheinbar zustimmend schweigt (geht mich nichts an), was ist das dann für ein Volk? Maxim Bahdanowitschs Worte „Belarussisches Volk, du bist wie ein Maulwurf, blind und trist“ sind ein emotionaler Seufzer, der nichts zu bedeuten hat. Das Volk ist weder trist noch blind. Es ist einfach historisch so gekommen, dass es noch nicht zum Volk geworden ist. Es hat sich noch nicht lieb genug gewonnen, um ein Volk werden zu wollen.

    Wir leiden an Oikophobie. An Unliebe zu uns selbst. Unsere Sprache, Kultur, Geschichte … Fast alles, was nicht Unseres ist, ist in unserer Vorstellung viel besser. Tatsächlich ist das eine Krankheit, an der verschiedene Völker zu verschiedenen Zeiten litten, bei den Belarussen aber ist sie chronisch. Und solange wir uns nicht von dieser Krankheit befreien, uns und alles, was unseres ist, nicht lieben, solange kann uns nichts und niemand dabei helfen, ein Volk, eine vollwertige Nation zu werden. 

    Letztlich betrifft das nicht nur uns, sondern auch unsere östlichen Nachbarn. Und vielleicht sogar in größerem Maße. In jedem Fall hat niemand je über Belarus geschrieben, wie es die Russen über Russland tun: „Russlands Bestimmung liegt lediglich darin, der ganzen Welt zu zeigen, wie man nicht leben und was man nicht tun sollte.“ (Pjotr Tschaadajew)

    Natürlich ist es nicht sehr wissenschaftlich, über die Rolle der Liebe im historischen Prozess der Nationsbildung zu sprechen. Aber ich bin Schriftsteller, kein Wissenschaftler. Und als Schriftsteller weiß ich, dass die beste Literatur diejenige ist, die von der Familie handelt – nehmen wir die Forsyte Saga von Galsworthy oder Krieg und Frieden von Tolstoi. Und nicht nur in diesen Romanen, in allen, die ich las, ob nun von Briten oder Chinesen verfasst, ist die Familie dann Familie, wenn sie auch Liebe ist. Und das Volk ist eine Familie, die Welt ist eine Familie der Völker, alles gründet auf der Liebe – und plötzlich wurde diese Grundlage vom brudermordenden Krieg zerrüttet.

    Gott sei Dank sind wir nicht direkt in diesen Krieg eingetreten. Aber die seit Stalins Zeiten ungekannten Repressionen, die nach den Augustereignissen von 2020 begonnen haben – sie sind ein direkter Krieg des Staates gegen sein Volk. Ein Krieg gegen sich selbst. Entweder wir halten ihn auf, oder er wird uns in den nationalen Selbstmord führen. Wie es auch unser Krieg gegen die Ukraine getan hätte. 

    Die Zukunft von Belarus ohne die Ukraine, das bedeutet die Eingliederung in die Russische Föderation. „Freiwillige Angliederung“ an Russland, „entweder als sechs Gouvernements oder als Belarus im Ganzen“, wie es Putin schon im Jahr 2000 vorschlug, kurz nachdem er Präsident geworden war. Natürlich kann man auch angegliedert existieren (immerhin hatten wir fast zweieinhalb Jahrhunderte irgendwie Bestand, erst im Russischen Imperium, dann in der UdSSR), doch stellt sich in diesem Fall die Frage, ob die Belarussen zur vollwertigen Nationswerdung fähig sind. 

    In meinem Roman Gej Ben Ginnom, den ich noch vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine (den damals alle Wissenschaftler, Politiker und Politologen als unmöglich betrachtet hatten) schrieb, gibt es einen Dialog zwischen Stalin und Janka Kupala, unserem Nationalgenie. Stalin sagt: „Das russische Volk ist ein großes Volk, Genosse Kupala. Hätten die Belarussen die Deutschen besiegen können? Oder auch nur die Georgier? Nein. Aber die Russen haben gesiegt. Sie könnten sogar die Ukraine besiegen, wenn sie wollen.“ Kupala fragt: „Warum sollten sie die Ukraine erobern?“, woraufhin Stalin antwortet: „Was heißt hier warum? Weil sie Russen sind.“

    Das ist natürlich weder Politik noch Politologie, sondern Literatur. Für die Handlung des Romans ist dieser Dialog gar nicht so bedeutsam, er könnte genauso gut nicht dastehen. Und doch – Kunstwissenschaftler nennen es kreative Intuition – wurde er geschrieben, am Vorabend des Krieges. 

    Was hat zu diesem Krieg geführt? Es geht bei diesem Krieg gar nicht so sehr um Territorium, nicht um die Krim und den Donbas. Die Ursache liegt viel tiefer: Sie ist zivilisatorisch. Wie schrieb mir ein ukrainischer Dichterfreund in seinem Brief: „Wir sind für sie existenzielle Feinde, und sie auch für uns. Dieser Krieg ist – jenseits seiner tiefen Wurzeln und seiner Tragik – von biblischem Charakter … Entweder wir sie oder sie uns. Nicht mehr und nicht weniger.“

    „Westen ist Westen, und Osten ist Osten – sie kommen nie zusammen“, formulierte der russische Dichter Alexander Blok in Anlehnung an den Engländer Rudyard Kipling. Und wenngleich sich diese Formel auf der Welt langsam verwäscht (wie beispielsweise in Südkorea, wo Ost und West augenscheinlich zusammengehen), so geschieht das in Russland nicht. Von Beginn seiner Staatlichkeit an hat Russland den Osten und sein Postulat „Alle Macht in einer Faust“ gewählt. In der „russischen Welt“ heißt das heute „russische Macht“, ein Konzept, das in der Mitte der 1990er Jahre entwickelt wurde und auf eine Person zugeschnitten ist, die über dem Gesetz steht. Ebenso war es bei den Zaren, bei den Generalsekretären und so blieb es bei den Präsidenten, deren letzter verlauten ließ, die Goldene Horde sei Russland näher gewesen als die „westlichen Eroberer“. Die Ukraine versuchte entschlossen, vorbereitet durch ihre Geschichte, in die Spur der westlichen Zivilisation mit dem Prinzip der Gewaltenteilung zu treten. Das mag nicht der erste Grund sein, aber sicher auch nicht der letzte, der zum Kampf der Zivilisationen führte. Russland hat seinen Weg gewählt, die Ukraine ihren. Belarus hat sich nicht entschieden. Es steht noch immer zwischen den Wegen. 

    Das führte direkt dazu, dass die Republik Belarus die errungene Unabhängigkeit in keiner Weise nutzte. Ganz am Anfang gab die Unabhängigkeit die Möglichkeit, eigenständige Entscheidungen zu treffen (unabhängig vom stark geschwächten Russland). So konnten die baltischen Staaten Entscheidungen treffen, die sie auf den Weg in die EU führten und dadurch retteten. In Belarus wurden solche Vorschläge weder vom konservativen (kommunistisch-prosowjetischen) Teil der Bevölkerung akzeptiert noch vom demokratischen Teil noch von der Belarussischen Volksfront (damals die stärkste oppositionelle Kraft). Deren Anführer trat für ein völlig unabhängiges Belarus ein, das sich weder der Russischen Föderation noch der Europäischen Union anschließt. In jener Zeit veröffentlichte ich den Artikel Zwischen den Polen, in dem ich fragte: wie kann ein metallisches Körnchen zwischen zwei Magneten im Gleichgewicht schweben? Es ist unmöglich. Ich bekam zur Antwort, das sei in der Physik unmöglich, in der Politik könne das vorkommen. 

    Das war der erste politische Fehler, den man historisch nennen kann, denn er wurde tatsächlich zum ersten Schritt auf dem Weg zum Verlust der eben erst gewonnenen Unabhängigkeit. Und wie viel Zeit musste vergehen, bis der ukrainische Präsident Selensky, der Belarus der Zusammenarbeit mit dem Aggressor beschuldigte, endlich erklärte: „Europa – das ist der Balkan, das ist Moldau, und es wird auch der Tag Europas kommen für Georgien und der Tag Europas für Belarus.“ Natürlich hätte man Belarus 1991 nicht sofort in die EU aufgenommen. Wie in den baltischen Staaten wäre Zeit nötig gewesen, um die notwendigen Bedingungen zu erfüllen. Aber das wäre für unsere Geschichte keine verlorene Zeit gewesen, so wie es jetzt der Fall ist. Es wäre der gewählte Weg.

    Hier kann man nun fragen: Und was ist mit dem Unionsstaat? Ist das nicht der Weg nach Osten? Ist das keine Wahl? Ja, es ist eine Wahl. Aber kein Weg. Denn es ist keine zivilisatorische Entscheidung, sondern eine politische. Und die Politik ist ebenso wechselhaft, wie das Wetter. Den zweiten Fehler machte die Staatsführung des unabhängigen Belarus bei der Unterzeichnung des Belawescher Abkommens. Ich kannte den damaligen Staatssekretär der Russischen Föderation, Gennadi Burbulis, recht gut; wir hatten uns Anfang der 1980er Jahre in Swerdlowsk (heute Jekaterinburg) kennengelernt, wo ich den Studenten der Polytechnischen Hochschule Gedichte vortrug, er Vorlesungen über marxistisch-leninistische Philosophie. Ich fragte ihn also, ob während der Unterzeichnung des Belawescher Abkommens (an der er direkt beteiligt war) in irgendeiner Weise die Folgen dieses Dokumentes umrissen wurden? Politisch, wirtschaftlich, sozial? Er antwortete, nichts davon sei besprochen worden, es sei ein „freies Gedankenspiel“ gewesen. Genauso sagte er es, ich werde es meinen Lebtag nicht vergessen: „Es war ein freies Gedankenspiel.“ Und in diesem Spiel entstand die Formulierung: „Die UdSSR als völkerrechtliches Subjekt sowie als geopolitische Realität beendet ihre Existenz.“ 

    Nun gut, sie beendet ihre Existenz. Und danach? Die Vereinbarungen wurden ohne jegliche weitere Absprachen unterzeichnet, ohne Ergänzungen, ohne irgendwelche Garantien seitens der Initiatoren dieses Dokumentes (der russischen Staatsführung). Allem voran Garantien für die Unverletzlichkeit des Staatsgebietes der Ukraine und Belarus‘. Vielleicht haben Jelzin und Burbulis nicht daran gedacht, sie wollten ausschließlich die Machtfrage klären: Sie konnten den Führer der UdSSR, Gorbatschow, nicht absetzen, also nahmen sie ihm das Land, das er führte. Die Unterzeichnenden von belarussischer und ukrainischer Seite, Schuschkewitsch und Kebitsch sowie Krawtschuk und Fokin, hätten aber daran denken müssen. Sie kannten die Geschichte, sie kannten Russland, dessen Außenpolitik zu jeder Zeit entweder Eroberung oder Rückführung „angestammter russischer Gebiete“ gewesen war. Vielleicht stand ihnen zu Zeiten der politischen und wirtschaftlichen Krise nicht der Sinn danach. Aber dennoch hätte man die Frage stellen müssen: Was kommt danach? Welche Garantien gibt es, dass Russland nicht wieder zur imperialen Idee der „Sammlung russischer Erde“ zurückkehrt?

    Jetzt ist es dahin zurückgekehrt, Russland „sammelt Erde“. 

    Man könnte nun sagen: Russland würde ohnehin jegliche Garantie brechen, so wie es auch das Budapester Memorandum missachtet hat. Vielleicht. Aber ich spreche nicht über die Verantwortung Russlands, sondern über die Verantwortung der Menschen, denen die Völker der Ukraine und Belarus‘ ihr Schicksal anvertraut hatten.

    Jelzin wollte Gorbatschow, mit dem er noch persönliche Rechnungen offenhatte, so sehr loswerden, dass er jede Garantie unterzeichnet hätte. Aber weder die Staatsführung von Belarus noch die der Ukraine machten Vorschläge. Und hinterher erzählten sie, was für kluge Politiker sie seien, wenn es die von ihnen unterzeichneten Vereinbarungen nicht gäbe, hätte es Krieg gegeben. Dabei haben sie 1991 im Wald von Belawescha den Krieg in der Ukraine 2022 unterzeichnet.

    Der dritte historische Fehler wurde bei der Durchführung der ersten Präsidentschaftswahlen gemacht. Anstatt sich auf einen einzigen Präsidentschaftskandidaten der demokratischen Kräfte zu einigen, führte die Opposition einen zwischenparteilichen Kampf, infolgedessen der Abgeordnete des Obersten Sowjets Henads Karpenka (russ. Gennadi Karpenko) seine Kandidatur zurückzog. Genau der Politiker, der Charisma und zudem als Werksdirektor und Kommunalpolitiker die notwendige Autorität einer Führungsperson hatte, um die Wahl zu gewinnen. Dann hätte Belarus gewonnen.

    Viele Stimmen behaupten (so zum Beispiel Sjarhej Nawumtschyk in seinen Erinnerungen an das Jahr 1994), Belarus hätte siegen können, wenn bei der ersten Wahl Sjanon Pasnjak gewonnen hätte, bei der zweiten dann Henads Karpenka. Aber das ist politische Fantasy. Wie hätte in einem sowjetisierten Staat ohne Nationalbewusstsein sofort ein Nationalist gewinnen können? Keinesfalls. Es hätte nur umgekehrt kommen können: zuerst der tolerante Karpenka, danach der radikale Pasnjak. Aber keine von beiden Varianten ist eingetroffen, denn alle anderen Beteiligten dieser Ereignisse dachten nicht an Belarus, sondern an sich selbst. Und überlegten, wie sie Karpenka nicht zur Wahl zulassen könnten, noch dazu auf eine, gelinde gesagt, nicht ganz schickliche Weise.

    Aleh Trussau, Vorsitzender der Initiativgruppe von Stanislau Schuschkewitsch, agitierte 14 Mitglieder der sozialdemokratischen Partei Hramada, ihre Unterstützungsunterschriften für Karpenkas Aufstellung als Präsidentschaftskandidat zurückzuziehen. Dem Wahlrecht nach war eine solche „Initiative“ unzulässig. Von den Gesetzen der Moral ganz abgesehen. Gemeinsam mit Aljaxej Dudarau, dem Vorsitzenden von Karpenkas Wahlkampfstab, überredeten wir Karpenka, seine Rechte zu verteidigen, vor der Wahlkommission und vor Gericht, das damals noch ein Gericht war. Aber er lehnte es kategorisch ab (obwohl er sonst kein kategorischer Typ war), vor Gericht zu gehen oder überhaupt mit jemandem über Trussaus „Initiative“ zu sprechen. Er sagte: „Was mit Niedertracht beginnt, endet auch mit Niedertracht. Damit will ich nichts zu tun haben.“

    Warum halte ich mich an dieser fast privaten Episode aus unserer jüngeren Geschichte auf? Weil aus ihr, wie aus einer Krebsgeschwulst, die Metastasen der Unmoral gestreut haben. Die Situation mit dem Widerruf der Unterschriften wiederholte sich im dramatischen Jahr 1996, als wieder ein Umbruch möglich gewesen wäre. 73 Abgeordnete unterschrieben einen Antrag an das Verfassungsgericht für ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten wegen Verletzung der Verfassung. Aber zwölf von ihnen widerriefen ihre Unterschriften. Dem Gesetz nach hatte ein solcher Widerruf, wie auch im Fall Karpenka, keine juristische Wirkung, was das Verfassungsgericht auch feststellte. Aber während die Richter mit der Entscheidungsfindung befasst waren, führte Lukaschenka sein Referendum bereits durch, und seine Macht war von nichts und niemandem mehr beschränkt, weder Gericht noch Gesetz galten mehr für ihn. Keiner von denen, die damals erst unterschrieben und dann widerrufen hatten, hat seine Schuld je eingestanden.

    Es ist bezeichnend, dass von den 14 Personen, die Karpenka zunächst unterstützten und ihn später verrieten, nur eine Person um Entschuldigung bat, der Dichter Anatol Wjarzinski. Von allen anderen perlte es einfach ab. Bei allen folgenden Wahlen manipulierten und fälschten nicht nur die Machthaber, sondern auch die Opposition. Bei den Präsidentschaftswahlen 2010 sammelte nur einer von neun Oppositionskandidaten die notwendigen 100.000 Unterschriften. Vielleicht auch zwei. Aber auf Grundlage von gefälschten Listen wurden auch alle anderen registriert. So war es auch 2015, als alle Oppositionskandidaten gefälschte Listen einreichten, und 2020, als nur für Swjatlana Zichanouskaja echte Unterschriften gesammelt wurden. Dadurch beteiligte sich die Opposition an der totalen, das Land beherrschenden Täuschung. 

    „Mit der Lüge kommst du durch die ganze Welt, aber nicht mehr zurück“, sagt der Volksmund. Und genau die Täuschung des Volkes bei den Präsidentschaftswahlen 2020 war es, die die Proteste in eine Revolution verwandelte. Die Revolution mag das politische System und die Regierung nicht geändert haben, aber sie veränderte das Bewusstsein der Bevölkerung, die nicht mehr mit der Lüge leben wollte. Warum hat die Revolution nicht gesiegt? Es gibt mehrere Gründe für die Niederlage – einer davon ist, dass es bei den früheren Massenprotesten (z. B. beim Ploschtscha 2010) zahlreiche politische Führungspersonen anwesend waren, aber zu wenig Kraft des Volkes, um zu siegen. 2020 war es umgekehrt: Es war ausreichend Kraft der Masse, aber es fehlte an Führungspersonen. Diejenigen, die auftauchten, waren unvorbereitet, nicht gewappnet, die Last der Führungsrolle auf sich zu nehmen. Und es fällt schwer, ihnen daran die Schuld zu geben (aus persönlicher Erfahrung weiß ich, wie schwierig es ist), aber …

    Die „neue“ belarussische Opposition grenzte sich von der „alten“ Opposition ab, indem sie Polittechnologien einsetzte, wie sie bei der Konfrontation zwischen Macht und Opposition in Armenien erfolgreich gewesen waren, zum Beispiel die Dezentralisierung der Proteste. Keinem der früheren Oppositionspolitiker, die Erfahrung mit der Organisation von Massenprotesten hatten, wurde eine Mitarbeit im Koordiniernationsrat angeboten, obwohl dort niemand solche Erfahrungen mitbrachte. Alle Vorschläge, die auf dieser Erfahrung beruhten, wurden als Bestrebungen betrachtet, die Strategien des Ploschtscha 2010 aufzuzwingen, wovon niemand der neuen Politiker mehr etwas hören wollte: „Wir kommen auf friedlichem Wege an die Macht, ohne Gewalt“. Aber die Mechanismen der Selbstorganisation funktionierten nicht ohne einen Anführer (den es in Armenien damals gab und der nach dem Sieg der Revolution zum Staatschef wurde). 

    Ploschtscha – das bedeutet nicht unbedingt Gewalt, Barrikaden und Schießerei. Der ukrainische Maidan, zwang den damaligen Staatschef Janukowitsch, der Opposition den Posten des Premierministers anzubieten und neue Parlamentswahlen anzusetzen, noch bevor Barrikaden errichtet wurden. Die Opposition lehnte dieses Angebot ab, was ein Fehler war, der zur Verschärfung des Konfliktes führte – und am Ende zu Schießereien. Das hätte vermieden werden können, hätte man die Angebote der Staatsmacht akzeptiert und den Maidan als Druckmittel verwendet, damit das Versprochene auch umgesetzt wird. Ähnlich hätte man im August 2020 in Belarus vorgehen können (oder es wenigstens versuchen). Aber jetzt ist offenbar, dass darin ein enormes Risiko gelegen hätte.

    Russland plante damals wohl bereits den Einmarsch in die Ukraine (was wir nicht wussten), und Belarus war notwendig als Aufmarschgebiet. Daher hätte ein Ploschtscha-Aufstand zu einem Angriff führen können. Bei Smolensk standen russische Panzer in Warteposition, der Krieg hätte bei uns statt in der Ukraine beginnen können. Aber wer weiß schon, was hätte passieren können. Es ist, wie es ist. In der jetzigen Situation ist die Gefahr, Belarus zu verlieren, nicht geringer als in einem Krieg.

    Vielleicht hat uns der Versuch der Opposition, auf friedlichem Weg an die Macht zu kommen, vor Blutvergießen bewahrt. Höchstwahrscheinlich ist es so. Aber wo und wann wurde der Weg zur Freiheit je ohne Opfer beschritten? Wann gab es je einen Fall, in dem die Freiheit wie gewonnen so auch gleich wieder zerrann? Weil sie nicht geschätzt wurde, denn sie hatte keinen Preis gehabt?

    In meinem Roman sagt eine Person: „Wie wenig wir die Unabhängigkeit schätzten, die uns einfach von Gottes Hand gegeben worden war. Die Mehrheit bemerkte nicht einmal, dass sie da war. Da dachte Gott: ‚Wenn ich ihnen nur aus Liebe die Freiheit schenke, werden sie mit ihr dann so umgehen, wie sie mit der Unabhängigkeit umgegangen sind?‘ Und er sandte uns auf den Opferweg. Gefängnisse, Folter, Exil … Und wer kann sagen, ob dieser Weg leichter oder schwerer ist als der, der nicht gewählt wurde?“

    Im Leben geschieht nichts einfach so. Nichts geschieht grundlos. Alles – groß wie klein – hat eine Bedeutung. Die Revolution hat das Bewusstsein verändert, und Gott hat uns auf die Probe gestellt: Den Weg zur Freiheit zu gehen. Auf diesem Weg stehen wir vor einer Vielzahl von Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Diese erste ist: Wann wird es sich ändern? … Wann wird sich ein neues Fenster der Möglichkeiten für uns öffnen?

    Unsere Geschichte ist noch nicht zu Ende geschrieben, wie auch mein Roman. Als ich begann ihn zu schreiben und die Handlungsfäden, die Charaktere und Ereignisse festlegte, anhand derer sich die Gründe für unsere heutige Situation erschließen lassen sollten, kamen etwa ein Dutzend zusammen. Folgenderweise würde ich sie umreißen:

    MOTIVATION (sie war bei denen, die an der Macht waren und dortbleiben wollten, um ein Vielfaches höher als die Motivation derer, die an die Macht kommen wollten);

    NATION (die noch nicht reif genug ist, um das Nationale als das Eigene zu verteidigen);

    UMSONSTKULTUR (Vieles wurde nicht aus eigener Kraft, sondern „kostenlos“, mit russischen Finanzspritzen, erreicht, die letztlich – wie zu erwarten – doch nicht kostenlos waren) und so weiter. 

    Aber von all diesen Gründe wiegt einer am schwersten, einer, den schon vor langer Zeit Alexander Herzen als prägend für das Schicksal Russlands benannt hat (heute zu lesen als: und für das Schicksal von Belarus, wo das Konzept der russischen Macht, einer über dem Gesetz stehenden Person, in die Verfassung geschrieben wurde): „Der Staat hat sich in Russland wie eine Okkupationsmacht eingenistet. Wir sehen den Staat nicht als Teil von uns, als Teil der Gesellschaft. Der Staat und die Gesellschaft führen einen Krieg. Der Staat – mit Bestrafung, die Gesellschaft – mit Partisanentum.“

    Geschrieben vor langer Zeit, aber doch tagesaktuell.

    Wissend, dass Herzen den Nagel des zentralen Problems Russlands auf den Kopf getroffen hat, versuchen sich die russischen Propagandisten darin zu übertreffen, das als Fake herauszustellen: Herzen habe das niemals gesagt oder geschrieben. Erstens, selbst wenn Herzen es nicht geschrieben hätte, bliebe es dennoch eine Tatsache. Zweitens kann man es schwarz auf weiß im Sammelband der Zeitung Kolokol lesen, die Herzen im Exil herausgab. Es ist so viel Zeit vergangen, das Russische Imperium hat zwei Mal seinen Namen geändert, aber das, was hinter dem Namen steckt, ist unverändert geblieben. Und genau diese Unverändertheit, wie paradox es auch sein mag, wird zu grundlegenden Veränderungen führen, denn dieses Staatsmodell steht ganz offensichtlich im Widerspruch zur Zeit – und muss aus der Zeit verschwinden. 

    Verschwinden wird die Russische Macht aus Russland durch zivilgesellschaftliche Aufstände – die unausweichlich sind nach dem ungerechten, brudermordenden Krieg, den nicht das Volk führt, sondern der Staat: eine in Russland installierte Besatzertruppe. Wenn sie verschwindet, öffnet sich auch für uns ein neues Fenster der Möglichkeiten, das wir nutzen müssen, ohne die Fehler zu machen, die am Anfang der Geschichte der unabhängigen Republik Belarus gemacht worden sind.

    Warum haben wir diese Fehler nicht vermieden? Die Gründe sind mannigfaltig, einige sind offensichtlich, andere bis heute nicht bewusst. Zu den offensichtlichen Ursachen gehört, dass es bei uns keine Menschen gab, keine Politiker, die für entscheidende historische Ereignisse vorbereitet gewesen wären. Der Staatschef des unabhängigen Belarus war Physiker, zudem gingen Archäologen, Historiker und Literaten in die Politik. Zum allergrößten Teil waren es Menschen mit den besten menschlichen Qualitäten, aber ohne politische Schulung. Nicht nur in der Opposition, sondern auch in der Staatsführung und im Ministerkabinett gab es keine Erfahrungswerte für eine eigenständige Politik, die nicht nach Ost oder West blickt.

    Ohne Frage ist das ein wesentlicher Grund, er beeinflusste die Qualität der politischen Entscheidungen, war jedoch nicht der wichtigste. Der bestand darin, dass wir in einer neuen Zeit lebten, aber im Gestern stehengeblieben waren. Das Volk versuchte mehrfach, aus der Vergangenheit herauszutreten, aber der Staat, der bis heute im Gestern existiert, weil er in seiner Form nicht in der neuen Zeit überleben würde, schlug alle Versuche nieder. Die Zukunft von Belarus hing damals und hängt auch heute davon ab, wie schnell das Volk die Vergangenheit hinter sich lässt und dabei den Staat hinter sich herzieht.

    „Wie lange dauert es noch? Wann wird das sein?“ – diese Fragen bestimmen unser Schicksal. Nicht morgen. Und ich zitiere noch einmal Herzen: „Man kann das Volk nicht mehr befreien, als es im Inneren frei ist.“ Dieser einzige Weg zur Freiheit ist an keinem Ort und zu keiner Zeit je kurz gewesen. 

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  • „Heimat, kehr zurück nach Hause“

    „Heimat, kehr zurück nach Hause“

    Im Frühjahr 2010 trifft sich Wladimir Putin mit Kulturschaffenden in Sankt Petersburg. Einer der Anwesenden erhebt sein Glas: „Ich möchte auf unsere Kinder anstoßen. Darauf, in was für einem Land sie leben werden: in einem finsteren, bösen, korrupten, totalitären, autoritären, mit nur einer Partei, einer Hymne, einer Denkweise … Oder in einem hellen, demokratischen Land, in dem wirklich alle gleich sind vor dem Gesetz. Mehr muss es nicht sein. Leider haben wir all das noch nicht. Aber ich wünsche sehr, dass unsere Kinder in diesem Land leben und gesund werden.“ Der Redner ist Juri Schewtschuk – eine Ikone der russischen Rockmusik, der mit seiner Band DDT Geschichte geschrieben hat.

    Für den Blog Inymi slowami hat Denis Bojarinow ein Porträt verfasst über den Rockstar und prominenten Kriegsgegner Schewtschuk, der seine Heimat über alles liebt und an ihr leidet.

    „Heimat, kehr zurück nach Hause … Werde nicht verrückt, das ist nicht dein Krieg“, beschwört Juri Schewtschuk auf seinem aktuellen Album / Foto © Imago, Scanpix

    In den engsten Kreisen des Leningrader Rock-Klubs erzählte man sich über Juri Julianowitsch Schewtschuk folgende Geschichte: Eines Nachts spazierte er mit ein paar Leuten über den Platz vor dem Winterpalast. Inspiriert startete er mehrere beharrliche Versuche, auf die Alexandersäule zu klettern, also auf ein mit den Armen nicht zu umfassendes Monument aus poliertem Granit. Er schaffte es nicht einmal auf den Sockel, brüllte aber laut über den ganzen Schlossplatz: „Ich fühle die Kraft in mir!“  

    Es gibt auch eine andere Geschichte. Ungefähr aus derselben Zeit, aber bereits dokumentiert. Bei einem Rock-Festival in Tschernogolowka bei Moskau im Juni 1987 trat Juri Schewtschuk mit seiner Band DDT in neuer Besetzung als Shootingstar des Undergrounds auf: Das ganze Land überspielte sich in dieser Zeit die Alben Periferija (dt. Peripherie) und Ottepel (dt. Tauwetter) auf Kassetten, und DDT galt als größte Entdeckung auf dem fünften Festival des Leningrader Rock-Klubs, das ein paar Wochen zuvor stattgefunden hatte. Frontman Schewtschuk – Bürstenschnitt, Militärhemd mit drei Oktjabrjata-Sternchen – eroberte mit seinem elektrisierten Auftritt die in Tschernogolowka versammelten Rockfans. Am Morgen mussten ihn die Festivalveranstalter aus einer Gefängniszelle befreien. Da war er hineingeraten, weil er in den frühen Morgenstunden in seinem Hotelzimmer eine klassische Rock’n’Roll-Aktion hingelegt hatte: Er warf Möbel aus dem Fenster und schrie: „Wer hat was zu trinken für den großen Sänger Juri Schewtschuk?“ Als die Polizei kam, schlief der Bandleader bereits; sie rüttelten ihn wach, und mit den Worten „Ich glaube, ich träume“ gab er dem nächststehenden Polizisten eins auf die Schnauze. So landete er im Tschernogolowker Kittchen, wo später eine Gedenktafel angebracht wurde: „Hier war vom 27. bis 28. Juni 1987 Juri Schewtschuk.“ Die ist aber heute bestimmt nicht mehr da.  

    Ungestüme Wildheit und eine unerklärliche Herzlichkeit

    Diese beiden Geschichten illustrieren die enorme Energie, die Juri Schewtschuk und seine Songs bis heute ausstrahlen: Zu so hochgradigem Übermut und ungestümer Wildheit waren nur wenige seiner zeitgenössischen Rock-Kollegen fähig. Ganz zu schweigen von den Nachfolgern; der Maßstab von Geste und Tat war später – tja, einfach nicht mehr derselbe. Das humanistische Pathos in Schewtschuks Songs, sein treuherziges Charisma und die unerklärliche Herzlichkeit, die ihm anhaftet, milderten die rockige Hochspannung immer schon ein wenig ab. Gänzlich verschwand sie aus den DDT-Songs aber nie. Mit den Jahren wurde Juri Schewtschuk vielleicht so etwas wie ein Lew Tolstoi des russischen Rock, doch Aufstand, Chaos und göttlicher Wahnsinn leben immer noch in seinem Herzen; jeden Moment kann in seinen Augen ein kecker Funken aufglühen und seiner Brust ein wilder Schrei entfahren. 

     
    Juri Schewtschuk singt den DDT-Song Swoboda (dt. Freiheit) von 1997

    Mit seinem dichten Bart, der unmodischen Frisur, der Intellektuellenbrille und dem bürgerbewussten Pathos in seinen Liedern sah Schewtschuk erwachsener aus als all die anderen Stars des Rock-Klubs. Sogar älter als Boris Grebenschtschikow, von [Rocksänger] Konstantin Kintschew oder Viktor Zoi ganz zu schweigen. Vor dem Hintergrund der Leningrader Rockszene, die stets die westlichen Trends im Blick hatte, wirkte Schewtschuk wie aus einer anderen Welt und einer anderen Zeit. Angeblich witzelten die hippen Petersburger Rocker hinter seinem Rücken und nannten ihn etwas abfällig den „Barden aus Ufa“. Irgendwie blieb er immer mit einem Bein in den 1970er Jahren – einem Jahrzehnt, in dem in der UdSSR die Subkulturen der Barden und der Hippies verbreitet waren. Schewtschuk schaffte es, diese beiden Richtungen in einer Person zu vereinen. 

    Ein Hippie aus der Provinz

    Seiner Abstammung nach ist Juri Schewtschuk ja wirklich ein Hippie aus der Provinz. Er singt auch oft von Hippies, Hippari, Hippany – mit besonderer Zärtlichkeit. Die sowjetischen Hippies waren Kinder aus der Mittelklasse, da war Schewtschuk keine Ausnahme; er ist ein Vertreter der „goldenen Jugend“, Sohn eines hochrangigen Parteifunktionärs im Regionalkomitee und einer Universitätsdozentin, die ihr Kind zum Künstler erzogen. „Ich bin selbst einer von denen“, gab Schewtschuk in seiner Satire Maltschiki-mashory (dt. Bonzenkinder) zu. Als Jugendlicher hing er auf dem Broadway von Ufa ab (der Lenin-Straße), hörte westliche Schallplatten, schrieb Lieder, die von Wyssozki und Okudshawa inspiriert waren, und versuchte sich als Rockmusiker. Einen ersten Konflikt mit der Polizei hatte er bereits als Schüler: Weil er ein T-Shirt mit dem selbst aufgemalten Schriftzug „Jesus war ein Hippie“ trug, wurde er auf die Wache mitgenommen.

    Schewtschuk ist und bleibt ein treuer Bekenner zum Weltbild der Blumenkinder. Seine Philosophie beruht auf den Maximen All you need is love und Make love, not war. Der erste Song von DDT, aufgenommen im Studio des baschkirischen Fernsehens, war die pazifistische Hymne Ne streljai (dt. Schieß nicht). Wie Schewtschuk sich erinnert, schrieb er dieses Lied, als er von einem aus Kabul zurückkehrenden Schulkollegen erfuhr, dass die UdSSR ihre Soldaten nach Afghanistan in den Krieg schickte und nicht, damit sie dort Kindergärten bauen, wie die Propaganda behauptete. Predigten vom Widerstand gegen das Böse mit Liebe und Güte sind in jedem DDT-Album zu hören, angefangen von Periferija aus dem Jahr 1984, mit dem Schewtschuk sich in Ufa Probleme mit dem KGB einhandelte. 

     
    Am 10. April 2022 spielt DDT Ne streljai (dt. Schieß nicht) im russischen Woronesh

    Die ersten, die den DDT-Sänger nach seinem erzwungenen Umzug von Ufa nach Leningrad schätzten und willkommen hießen, waren alteingesessene Hippies rund um Gena Saizew – dem ersten Vorsitzenden des Leningrader Rock-Klubs. Er vermutete in dem bärtigen Landei einen Nachfolger für Shora Ordanowski mit seiner Band Rossijane, der Anfang der 1980er Jahre der Star der Leningrader Hippieszene war. Gena führte Schewtschuk in die Bohème ein, machte ihn in der Puschkinskaja 10 bekannt und half ihm, in Leningrad neue Mitglieder für seine Band DDT zu finden, deren Manager er dann wurde. In Alexej Utschitels Dokumentarfilm Rok (dt. Rock), der die zukünftigen Idole kurz vor dem richtigen Durchbruch verewigte, sehen Schewtschuk und seine Clique wie eine happy Hippie-Kommune aus: Sie spazieren mit Frauen und Kindern durch die Natur, lachen von Bäumen herunter, machen Lagerfeuer und grölen Zigeunerlieder zu Gitarre und Geige. Häuptling dieses Camps ist Jurka Schewtschuk, noch mit langer Mähne wie der König der Löwen. 

    Er erzählt, wie wichtig ihm die Anerkennung seines Vaters war, der mit siebzehn Jahren als Soldat an die Front musste. Er hatte das, was sein Sohn tat, lange nicht verstanden und nicht akzeptiert, doch dann war er auf einem der ersten Konzerte von DDT in Leningrad, befragte das Publikum streng nach seiner Meinung und war mit den Reaktionen zufrieden. „Na, Papa, wie hat’s dir gefallen?“, fragte Schewtschuk ihn. „Wie auf dem Panzer nach Berlin!“, war die stolze Antwort des Vaters. 

     
    Ljubow (dt. Liebe) war der erste Song nach Schewtschuks Rückkehr aus dem kriegszerstörten Tschetschenien 1996. Später sagte der Musiker, dieser Song sei seine Rettung gewesen

    Im Herzen ein Hippie und bekennender Anarchist und Pazifist, kennt Juri Schewtschuk den Krieg nicht nur aus Erzählungen. Im Winter 1995 zog er mit seiner Gitarre los nach Grosny, das die russische Armee gestürmt hatte. Er sang für die Soldaten, machte sich als Pfleger nützlich und beteiligte sich am Austausch von Kriegsgefangenen. Als 1996 das Waffenstillstandsabkommen von Chassawjurt geschlossen wurde, gab DDT in Tschetschenien drei Konzerte: Im Stadion von Grosny für die Stadtbewohner und auf russischen Militärstützpunkten. Diese Touren machten auf Schewtschuk großen Eindruck. In Tschetschenien schrieb er seine eindringlichsten Songs – Mertwy gorod. Roshdestwo (dt. Tote Stadt. Weihnachten) und Pazany, und er trug ein posttraumatisches Belastungssyndrom davon. Doch seinem Glauben an die heilende Kraft der Liebe blieb er treu – das erste Lied nach seiner Rückkehr aus dem Krieg hieß Ljubow (dt. Liebe). Das gleichnamige Album erschien im selben Jahr, 1996. Später sagte der Musiker, dieser Song sei seine Rettung gewesen.      

    „Alle meine Lieder handeln von der Liebe und der Heimat“ 

    Liebe ist in Schewtschuks poetischer Welt mehr als eine philosophische Kategorie. Oft tritt sie als personifiziertes Wesen auf, meist als göttliche Natur. Oder als Mensch, dann trägt sie einen Frauennamen (Galja, Antonina, Jekaterina, Marina, Nacht-Ljudmila). Es kann auch ein reales Vorbild geben, wie im Fall von Aktrissa Wesna (dt. Schauspielerin Frühling), das Schewtschuk seiner ersten Frau Elmira widmete, die auf tragische Weise ganz jung an Krebs gestorben ist. Schewtschuks Glaube an die Kraft der Liebe, die auch das Ende aller Zeiten überleben wird, kommt in seinen Texten nicht nur in platonischer Form, sondern auch in sinnlichen Bildern zum Ausdruck, was für die sowjetische Rock-Tradition völlig untypisch ist, die von der westlichen Formel „Sex, Drugs & Rock’n’Roll“ abweicht. So ausgiebig wie er sang da wohl keiner über die irdische Liebe.

    Sein lyrisches Ich hatte niemals Potenzprobleme – in seiner Jugend faszinierte ihn der Körper („Ich falle von den Gipfeln deiner Brust. Ich irre durch die Taiga deines Haars“) genauso wie die Augen („Arterhaltung fordern diese Teufelsaugen!“). Sein Bett blieb nicht kalt: Schewtschuk sprach poetisch von einem „Hochofen zwischen den Beinen“, und dessen Hitze loderte in seinen Liedern. Bei den unschuldigsten Themen schwang der Eros mit, auch wenn es scheinbar um naturphilosophische Betrachtungen ging – wie etwa in dem Dauerhit Weter (dt. Wind): „O, schöne Weite, die den Himmel verschluckt / Wolken, die sich wie an die Geliebte an die Erde schmiegen / Wo du und ich unter einem einfachen Dach / aneinander Wärme suchen.“ Mit den Jahren denkt dieses Ich zwar mehr und mehr an das Ende des Lebens, doch seine Vitalität lässt trotzdem von sich hören: Im Album Twortschestwo w pustote – 2 (dt. Kreativität in der Leere – 2) aus dem Jahr 2023 heißt es: „… und die Alte mit der Sense will Sex mit mir“. 

     
    Weter (dt. Wind) aus dem Jahr 1995 zählt zu den Dauerhits von DDT

    „Alle meine Lieder handeln von der Liebe und der Heimat“, sagt der DDT-Leader gern mit einem Augenzwinkern, wobei das nicht nur ein Witz ist. Seine Heimat hat Schewtschuk sogar noch lieber als die Frauen. Sie ist die Heldin seiner feurigsten Romanzen und Grund für bittere Beobachtungen voller Enttäuschungen. Wie wir aus seinem berühmten Song wissen, der jetzt am Ende von Konzerten im Ausland immer auf besondere Weise erklingt, ist die Heimat grad „ein Dornröschen, das Arschlöchern vertraut“, und davon kommt alles Übel. 

    „Heimat – das ist nicht der Arsch des Präsidenten“ 

    Schewtschuks Gedanken über sein Land sind der Grund dafür, warum die russische Kultband mit hunderttausenden Fans heute nur mehr außerhalb der Russischen Föderation auftreten darf. Während eines Konzerts in Ufa im Mai 2022 teilte Juri Schewtschuk, der sich wenig überraschend gegen den Krieg positioniert, dem Publikum mit, was er vom aktuellen Geschehen hält. Im Internet verbreitete sich daraufhin ein Video, in dem Schewtschuk zum applaudierenden Publikum sagt: „Heimat, liebe Freunde, das ist nicht der Arsch des Präsidenten, den man ständig bespeicheln und küssen muss. Heimat, das ist das arme Großmütterchen am Bahnhof, das Kartoffeln verkauft. Das ist Heimat.“ Das sagte er auch früher schon – etwa ein paar Tage zuvor beim Konzert in Jekaterinburg, doch die Polizei holte ihn erst in seiner Heimatstadt Ufa. Sofort nach dem Auftritt, als er vor dem Beifall klatschenden und skandierenden Publikum die Bühne Richtung Backstage verließ, sperrten ihm die Ordnungshüter den Weg ab. Am 16. August 2022 verhängte ein Bezirksgericht in Ufa gegen Schewtschuk eine Geldstrafe in Höhe von 50.000 Rubel [530 Euro]. Der Einspruch, den er dagegen erhob, wurde abgewiesen. Das Konzert in Ufa wurde somit das Letzte, das die Band in Russland gab.

     
    Schewtschuk beschreibt im Interview mit Katerina Gordejewa, wie 2022 bei einem Konzert in Ufa Ordnungshüter in den Backstage-Bereich kamen, nachdem er sich auf der Bühne kritisch geäußert hatte

    In ihrem 40-jährigen Bestehen war es nicht das erste Mal, dass DDT auf einer schwarzen Liste stand. Schewtschuk hatte seit 2010 immer wieder bei Protestaktionen gesungen, weswegen des Öfteren DDT-Konzerte gecancelt wurden. Doch dieses Verbot tat ihm weh. Im Interview mit Katerina Gordejewa kommentierte er die aktuelle Situation so: „Russland würde DDT momentan mehr denn je auf seinen Bühnen brauchen. Wir sind eine extrem soziale Band. Wir haben viele Songs und Betrachtungen – über Heimat, Vergangenheit, Zukunft … Wir müssen in Russland spielen. Im Westen gibt es genug Friedensstifter, hier fehlen sie. Dass sie uns die Konzerte abgedreht haben, das ist ein schwerer Schlag. Weil sie uns unsere wichtige und notwendige Arbeit genommen haben. Da geht es gar nicht um Geld. Wir können unsere Pflicht gegenüber Russland nicht mehr erfüllen: unsere Gedanken formulieren, unsere Wärme mit den Menschen teilen.“    

    2023 hatte Juri Schewtschuk einen Herzinfarkt, im Januar 2024 ging er aber schon wieder auf Tournee – im Ausland: Bulgarien, Serbien, Türkei und Emirate. Generell verlassen hat er Russland aber nicht; er lebt nach wie vor als Einsiedler in einem Dorf bei Sankt Petersburg.

    Unmissverständliche Anti-Kriegs-Botschaften

    Man kann Juri Schewtschuk zwar verbieten, in seiner Heimat aufzutreten, aber nicht, über sie zu singen. Im Juli 2023 kam sein neues Album Wolki w tire (dt. Wölfe im Schießstand) heraus. Er nahm es nicht mit DDT auf, sondern mit dem jungen Gitarristen und Producer Dimitri Jemeljanow, der in den letzten Jahren immer mit Zemfira zusammenarbeitete. Schewtschuks Begründung war, dass er ein wenig experimentieren und einen „analogen Tube Sound im Stil der 1970er Jahre“ erzielen wollte. „Uns verbindet die Liebe zur Blütezeit der echten Rockmusik“, sagte er. Die Anti-Kriegs-Botschaft von Wolki w tire ist auffällig und unmissverständlich wie ein Plakat: Schon als Kunststudent hatte Schewtschuk ein Händchen für einprägsame Agitation, er kann Dinge auf den Punkt bringen. Das Album, das lauter Lieder enthält, die nach der Invasion in der Ukraine entstanden, wird von dem Appell eröffnet: „Heimat, kehr zurück nach Hause.“ „Werde nicht verrückt, das ist nicht dein Krieg“, beschwört Juri Schewtschuk im Refrain. 

     
    „Heimat, kehr zurück nach Hause“ heißt es in dem aktuellen Song von Juri Schewtschuk und Dimitri Jemeljanow

    Darauf folgen bissige Botschaften an den Präsidenten: Tanzy (dt. Tänze) mit dem Refrain „Solang er nicht verreckt ist, der Onkel im Betonsack“ und die tintenschwarzen Lieder Nadeshda (dt. Hoffnung) und Dron (dt. Drohne). Am Schluss kommt ein ritueller Reigentanz anlässlich einer imaginierten Bestattung des Krieges, in dem Schewtschuk sich selbst oder jene anspricht, die auf seine Worte hören: „Sing ein schönes Lied, Alter, sing von der Liebe – dann kommt es auch so.“ Und er demonstriert selbst, wie man das tun kann und soll: Das Album Wolki w tire enthält mit Tschaikowski und Potop (dt. Flut) wahrscheinlich die erhabensten Liebeslieder, die er in den letzten Jahren verfasst hat. Der Hippie vom Land, Barde aus Ufa, Jura mit der Gitarre, der irre Klassiker des russischen Rock glaubt immer noch an die messianische Idee des Rock’n’Roll und versucht wieder und wieder, seine unerschöpfliche Heimat mit Salven von Liebe und Güte zu wärmen. Und auch wenn das ein aussichtsloses Unterfangen zu sein scheint – Hauptsache, er fühlt die Kraft in sich. 

     
    Aus einer Zeit, in der die Band noch in Russland auftreten konnte: DDT spielt 2017 in Moskau den zeitlosen Klassiker Eto wsjo (dt. Das ist alles)

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