Berühmt wurde er mit seinen Fandorin-Krimis, die sich auch in Deutschland großer Beliebtheit erfreuen: Boris Akunin ist weltweit ein Kult-Autor. Dass sich Akunin, der unter Pseudonym schreibt und im wirklichen Leben Grigori Schalwowitsch Tschchartischwili heißt, auch mit Geschichte gut auskennt, das wissen hierzulande die Wenigsten. In Russland jedoch sind in den vergangenen Jahren bereits drei Bände seiner Sachbuchreihe Geschichte des russischen Staates erschienen.
Zum 60. Geburtstag des Autors im Mai 2016 sprach ZNAK mit ihm über Sinn und Unsinn der Geschichte, die Pferde der Goldenen Horde und Elektroautos am Horizont.
Alexander Zadoroshni: So gründlich wie Sie, Grigori Schalwowitsch, die Geschichte Russlands erforschen, haben Sie sicher gewisse Gesetzmäßigkeiten festgestellt und formuliert. Was ist Ihrer Meinung nach der Sinn der Geschichte – und was sind ihre Gesetze?
Boris Akunin: Ganz kurz gesagt … Geschichtswissen hilft einer Nation, die Wiederholung von Fehlern zu vermeiden. Unkenntnis und Unverständnis der Geschichte dagegen lässt sie immer wieder in dieselben Fallen tappen. Jeder andere Umgang mit der Geschichte – als Mittel zur Erziehung der heranwachsenden Generation, als Anregung zu Patriotismus, als Rechtfertigung territorialer Ansprüche et cetera – ist ein gefährlicher Irrtum.
Das Russland von heute braucht dringend westliche Technologien. Europa wiederum ist interessiert an Russlands Rohstoffen und dem hiesigen Markt. Was denken Sie, sind wir zur Kooperation verdammt, zum „Zusammenleben“, oder werden wir es ohne einander „schaffen“?
Was soll das heißen, „verdammt“? Es ist doch wunderbar, wenn wir einander brauchen. Natürlich müssen wir Handel treiben und kooperieren. Sonst müssen wir die Chuch’e-Ideologie übernehmen und uns mit Reisrationen allein an großen staatlichen Feiertagen zufrieden geben.
„Europa geht zugrunde“: Unkontrollierbare Flüchtlingsströme, Terrorismus, der Verlust der Identifikation mit dem Christentum, sexueller Sittenverfall, Finanzkrisen – das ist bekanntlich die Standart-Sichtweise von russischer Seite. Inwiefern entspricht sie der Realität?
Gar nicht. So wie das derzeitige Europa würden wohl alle gern zugrunde gehen. Natürlich gibt es Probleme, doch die sind nicht so katastrophal wie von Journalisten dargestellt. Westeuropa ist heute die beste und am besten versorgte Region der Welt. Freundliche, aufgeschlossene, friedliche Menschen gibt es dort viel mehr als anderswo, und das ist der wichtigste Gradmesser.
Nach dem, was 2014 in der Ukraine passiert ist, werden die Wunden sehr langsam verheilen. Man wird abwarten müssen, bis in Russland das Regime wechselt
Eine Frage konkret zur Ukraine. Über mehrere Jahrhunderte des vergangenen Jahrtausends gehörten die Gebiete der heutigen Ukraine dem katholischen Großfürstentum Litauen an, danach der Königlichen Republik Polen-Litauen.
Tritt also gegenwärtig diese kulturelle Bruchstelle zutage, sind wir gar keine richtigen „Brudervölker“? Die einen Experten sprechen von einem Bruch für immer, die anderen von einem friedlichen Zusammenleben in einem gemeinsamen europäischen Haus.
Nach dem, was 2014 passiert ist, werden die Wunden nur sehr langsam verheilen. Ihre Behandlung hat eigentlich noch gar nicht begonnen. Man wird abwarten müssen, bis in Russland das Regime wechselt. Doch eine neue Regierung wird ein sehr schweres Erbe antreten.
In der russischen Geschichte gab es Institutionen wie die Volksversammlung Wetscheoder die Ständeversammlung Semski Sobor. Was meinen Sie, sind die Russen heute fähig zu einer Demokratie europäischer Qualität?
Natürlich sind sie das. Alles hängt von den Regeln ab, die es in der Gesellschaft gibt. Von den Signalen, die die politischen Machthaber von oben herabsenden. Vom Stand der Entwicklung demokratischer Institutionen. Vom Glauben an ihre Wirksamkeit.
Eine solche Evolution geschieht natürlich nicht von einem Tag auf den anderen. Doch jeder Weg beginnt mit dem ersten Schritt. Wenn du den nicht machst, kommst du generell nirgendwohin.
Von Iwan III. bis heute ist bei uns die Devise aktuell: „Moskau ist das Dritte Rom, ein viertes wird es nicht geben.” Was ist eigentlich das Römische an der russischen Geschichte?
„Römisch“ oder besser gesagt byzantinisch ist bei uns die Orthodoxie, die fast die gesamte russische Geschichte hindurch Staatsreligion war und es jetzt wieder geworden ist. Im strukturell-typologischen Sinn ist Russland allerdings Nachfolger und Erbe des Reichs von Dschingis Khan und der Goldenen Horde und hat immer versucht, sich auf eben jenem Gebiet auszubreiten.
Als Erklärung dafür, warum Volksherrschaft, Selbstverwaltung und Föderalismus in Russland nur schlecht gelingen, wird oft der jahrhundertelange Einfluss dieses mongolisch-tatarischen Jochs genannt.
Die mongolisch-tatarische Phase (der Terminus „Joch“ ist nicht korrekt) hat unseren Staatstyp bestimmt. Übrigens hat dieses Modell auch seine Stärken: eine hohe Widerstandskraft, die Fähigkeit zur Mobilisierung in Zeiten schwerer Bewährungsproben, große Ressourcen an Opferbereitschaft. Erreicht wurde das jedoch auf Kosten von Persönlichkeitsrechten und Gefühlen persönlicher Würde, die wiederum Eckpfeiler des westeuropäischen Modells sind.
Im 21. Jahrhundert werden Zentralisierung und eine ,straffe Machtvertikale‘ zur Entwicklungsbremse
In Ihrer Geschichte des russischen Staates führen Sie an, dass die Zentralisierung der Macht mehr Möglichkeiten zu „kumulativer“ Entwicklung und einem mobilisierenden Ruck biete als Demokratie und Föderalismus. Denn bei letzteren gehe viel Zeit für Abstimmungsverfahren verloren. Ist also jetzt, wo unsere Gesellschaft einen solchen „Durchbruch“ braucht, die Zentralisierung der Macht gerechtfertigt?
Nein. Im 21. Jahrhundert werden Zentralisierung und eine „straffe Machtvertikale“ zur Entwicklungsbremse. Das Staatsmodell der Goldenen Horde hat seine historische Schuldigkeit getan.
Jetzt rückt die sogenannte Soft Power auf den Plan: Lebensstil, wirtschaftliche und technische Entwicklung, Bildungsniveau. Gewinner sind jene Länder, in denen die Entwicklung nicht auf Befehl von oben erfolgt, sondern freiwillig, an Ort und Stelle. Provinz und Peripherie werden wichtiger als das Zentrum. Bei uns dagegen gibt es die umgekehrte Tendenz. Deswegen fallen wir immer weiter zurück.
Kormlenije, Bestechlichkeit, Korruption – das sind unsere „Muttermale“. Dahinter verbirgt sich folgende Logik: Russland hat riesige Flächen, deswegen besteht eine ständige Notwendigkeit, die auseinanderfallenden Gebiete „zusammenzukleben“, daraus ergibt sich eine gewaltige Bürokratie und daraus wiederum Korruption.
Ist Korruption also eine natürliche Folge unserer weiten räumlichen Ausdehnung – und damit eine Gegebenheit, die man am besten einfach so hinnimmt?
Korruption ist der natürliche Begleiter einer nackten „Vertikale“. Wenn es keine echten Abgeordneten gibt, keine unabhängigen Richter, nur Kontrolle von oben, dann lernt der Beamte schnell eine goldene Regel: Sieh zu, dass du der Obrigkeit gefällst – und mach ansonsten, was du willst.
Manchmal scheint es, als würde bei uns alles von irgendwelchen Idioten bestimmt. Doch dem ist nicht so. Minister, Bürgermeister, Gouverneure und sonstige Funktionäre sind keineswegs Idioten, sie haben nur eine andere Priorität: Oberstes Ziel jeder Handlung ist es, der Gunst der Vorgesetzten zu dienen, und nicht dem Interesse an der Sache und schon gar nicht der Gunst der Bevölkerung.
Alles Wichtige müssen die Menschen entscheiden, dort, wo sie leben. Nicht in Moskau. Sonst zischt der Rest der Welt in Elektroautos an uns vorüber und verschwindet am Horizont
Unsere Geschichte kennt sowohl Beispiele der „offenen“ (Nowgorod) als auch der „geschlossenen“, autarken Entwicklung. Was denken Sie, welcher Weg ist für uns der organischste, welcher verspricht den meisten Erfolg?
Im 21. Jahrhundert muss man auf die „Horizontale“ setzen, also auf die Entwicklung der Regionen, auf deren kreatives Potenzial. Das Zentrum muss in diesem Orchester die Rolle des Dirigenten spielen und Arbeiten übernehmen, die für die gesamte Bevölkerung von Bedeutung sind. Punkt.
Und alles Wichtige müssen die Menschen entscheiden, dort, wo sie leben. Nicht in Moskau. Sonst werden wir immer wieder auf das „Pferd der Horde“ steigen und runterfallen – während der Rest der Welt in Elektroautos an uns vorüberzischt und am Horizont verschwindet.
In Russland ist man gern stolz darauf, dass wir weder Westen noch Osten sind, dass wir einen „besonderen Weg“ haben: einen Staat, den Normannen gegründet und Mongolen gestaltet und geprägt haben.
Pah, was wir nicht alles finden, um uns aufzuplustern. „Besonderer Weg“, „wir sind die Besten“, „nein, wir sind die Schlechtesten“. Bei uns klopft man eben gern reißerische Sprüche. Man muss dafür sorgen, dass es zu Hause sauber und ordentlich ist. Damit sich die Menschen im eigenen Land wohlfühlen. Damit der Staat dem Volk dient, und nicht umgekehrt. Damit die Menschen nicht erniedrigt werden. Damit den Schwachen geholfen wird, ein normales Leben zu führen, und den Starken, sich weiterzuentwickeln. Dann wird sich Schritt für Schritt alles bei uns regeln, und die ganze Welt wird uns Respekt zollen.
In der Beziehung zwischen Russland und der EU nimmt Griechenland eine besondere Stellung ein: Die Verbindungen zwischen den orthodoxen Staaten sind traditionell eng, beide betrachten sich als Erben der byzantinischen Welt.
Seit 2014 und den Ereignissen in der Ukraine sind Russlands Freunde in EU-Europa rar geworden. Wohl nicht ohne Grund erinnerte Putin nun, kurz vor seinem zweitägigen Besuch in Athen und dem russisch-orthodoxen Mönchskloster auf dem heiligen Berg Athos, in einem Gastbeitrag in der konservativen griechischen Tageszeitung Katherimini an die historische Verbundenheit der beiden Staaten: Moskau sucht den Schulterschluss mit Athen.
In Griechenland ist das politische Spektrum stark polarisiert, sowohl linke wie rechte Parteien sind einflussreich, bei einer schwachen Mitte. Ähnliche Entwicklungen lassen sich auch in anderen EU-Ländern beobachten. Umso aufschlussreicher kann ein Blick auf die griechisch-russischen Konstellationen sein, wie ihn Leonid Ragosin von The New Times unternimmt: Wie stehen die unterschiedlichen Strömungen der griechischen Politik zu Russland? Ist Athen wirklich der engste Verbündete Moskaus in der EU?
Im Oktober 2015 versammelten sich in einem verqualmten und graffitibedeckten Hörsaal der Athener Technischen Universität Vertreter von 30 linken Organisationen aus 15 europäischen Ländern zum „antifaschistischen Forum" – European Forum for Donbass. Der Stadtteil, in dem das sogenannte Polytechnio liegt, war immer eine Hochburg der Linksradikalen gewesen: Noch vor kurzem wagte sich die Polizei, mit der die jungen Kommunisten und Anarchisten traditionell auf Kriegsfuß standen, kaum hierher. Die Versammelten einte der Wunsch, die Bewohner des Donbass in ihrem Kampf gegen die „ukrainischen Faschisten“ zu unterstützen.
In breiter Front
Auf dem Podium saßen, vor einer mit roten Hammer-und-Sichel-Fahnen behängten Wand, griechische Kommunisten, Gäste aus dem Donbass und ein junger Deutscher in einem grünen Trikot mit einer – russischsprachigen – „Pro Gaddafi“-Aufschrift.
Der Headliner der Veranstaltung, Sergej Marchel, war ein ehemaliger IT-Mann aus Odessa, der die Ukraine verlassen hat und jetzt in ganz Europa Veranstaltungen zur Unterstützung des Donbass organisiert. Er erklärte, die Teilnehmer hätten sich darauf verständigt, ein internationales antifaschistisches Forum zu gründen.
„Wir haben einen Beschluss darüber gefasst, dass weltweit in allen Ländern eigene Untereinheiten für den Kampf gegen den Faschismus aufgebaut werden sollen, damit alle freiheitsliebenden Menschen in Frieden leben können“, erläuterte Marchel.
Der griechische Organisator Andreas Safiris war selbst im Mai 2015 im Rahmen einer humanitären Hilfsaktion in den Donbass gereist. „Dort werden einfache Menschen zu Helden“, erinnerte sich der von der Standhaftigkeit der Donbass-Bewohner begeisterte Safiris in unserem Gespräch. „Sechzigjährige Frauen erklärten uns, sie würden lieber hungern und sterben als unter die Herrschaft der ukrainischen Faschisten zu geraten.“
Wir haben einen Beschluss darüber gefasst, dass weltweit in allen Ländern der Welt eigene Untereinheiten für den Kampf gegen den Faschismus aufgebaut werden sollen, damit alle freiheitsliebenden Menschen in Frieden leben können
Die griechische Delegation hatte damals unter anderem den Lugansker Separatistenführer Alexej Mosgowoi getroffen – die Reise fand zwei Wochen vor dessen Tod statt. Die Mosgowoi-Brigade „Prisrak“ [Gespenst – dek] genoss bei den europäischen Linken Kultstatus, weswegen sich Spanier, Franzosen, Griechen und zahlreiche andere ihren Reihen angeschlossen hatten.
„Ich war aber doch erstaunt, da ein Foto von Mosgowoi mit einem Porträt von Zar Nikolaus II. zu sehen. Ich hatte den Eindruck, der Mann ist Monarchist“, berichtete ein Teilnehmer, der anonym zu bleiben wünschte. Der griechische Donbass-Besucher ließ sich jedoch dadurch nicht weiter beirren, schließlich müsse man „in breiter demokratischer Front gegen den Faschismus kämpfen“, das sei seine Meinung.
Die Frage ist nur: Wen bezeichnet man eigentlich als Faschisten? Diejenigen, die in Griechenland den dortigen Linken als Faschisten gelten, sind schließlich selbst ebenfalls Russland- und Putinfreunde.
Der Goldenen Morgenröte entgegen
Mit Ilias Kasidiaris treffen wir uns an seinem Arbeitsplatz – dem griechischen Parlament, wo er die rechtsextreme Partei Chrysi Avgi vertritt, die „Goldene Morgenröte“. Der zweite Mann in der Organisation (er selbst) sowie weitere Führungsfiguren der Goldenen Morgenröte sind derzeit in ein Verfahren verwickelt wegen Gründung einer kriminellen Organisation, die mit politischem Terror, mehreren Morden und der Verbreitung nazistischer Ideologie in Verbindung gebracht wird. Wobei er letztere auch schon auf seinem eigenen Körper verbreitet: Seine in griechischer Ornamentik gestaltete Hakenkreuz-Tätowierung geriet griechischen Fotojournalisten bereits mehrfach vor die Linse.
Die Goldene Morgenröte ist aus der neonazistischen Subkultur aufgestiegen, und obwohl ihre Mitglieder heute die Verbindung ihrer Ideologie mit dem klassischen Faschismus leugnen, ist die Nachfolge in ihrer Rhetorik und ihren Attributen doch klar erkennbar.
Kasidiaris hat umfangreiche Pläne zur Stärkung des russisch-griechischen Bündnisses. Unter anderem will er, dass Russland Gasleitungen durch griechisches Territorium verlegt und bei der Förderung von Erdgas im griechischen Schelf behilflich ist. Der Mythos von der möglichen Energie-Autarkie Griechenlands ist bei den griechischen EU-Gegnern populär, wird allerdings von Geologen nicht bestätigt.
„Da ja die Amerikaner eine Militärbasis auf Zypern haben – was unseren (den griechischen) Interessen ganz und gar nicht förderlich ist – warum soll man nicht auf [der griechischen Insel] Syros auch eine russische Basis aufbauen, wenn von russischer Seite ein solches Interesse besteht“, sagt der Abgeordnete. Ihm zufolge gab es solche Überlegungen bereits unter der Regierung Kostas Karamanlis, der von 2007 bis 2009 griechischer Ministerpräsident war.
Alle Schuld den Amerikanern
Was den Ukraine-Konflikt betrifft, so gibt Kasidiaris alle Schuld den Amerikanern, die den Kiewer Maidan angezettelt und das Land in den Krieg getrieben hätten. In Russland, so Kasidiaris, arbeite seine Partei eng mit Shirinowskis LDPR und der Partei Rodina [Heimat – dek] zusammen, die ehemals vom heutigen russischen Vizepremier Dimitri Rogosin geführt wurde.
Zwei Vertreter der Goldenen Morgenröte nahmen an einem Kongress politisch weit rechts angesiedelter Organisationen teil, den Rodina im Frühjahr 2015 in Petersburg ausgerichtet hatte. Die Veranstaltung verfolgte in erster Linie das Ziel, eine Koalition zur Unterstützung des russischen Vorgehens und der prorussischen Kämpfer in der Ostukraine zu bilden. So gesehen unterschied sie sich nur wenig von der weiter oben geschilderten Zusammenkunft der Linken in Athen, nur dass hier Leute teilnahmen, die in Fachkreisen für gewöhnlich als Neonazis gelten.
Einer von ihnen war Alexander Miltschakow, Spitzname „Fritz“ – ein bekennender Petersburger Nazi, Anführer des im Donbass aktiven Diversions- und Sturmtrupps Russitschi, der sich aus seinen Nazi- und Neopaganisten-Freunden zusammensetzt.
Ein weiterer extrem wichtiger Kontaktmann der Goldenen Morgenröte in Russland ist der Philosoph Alexander Dugin, eine Kultfigur in Neonazikreisen in ganz Europa. Die Partei teile – so Kasidiaris – seine Überzeugung, dass Russland (und nicht, zum Beispiel, das moderne Griechenland) der Erbnachfolger des Byzantinischen Reiches sei. Allerdings, sagt Kasidiaris, hätten die Goldene Morgenröte und Dugin unterschiedliche Meinungen zur Türkei: Der Russe Dugin betrachte das Land als Verbündeten, während es für die rechten Griechen ein Erzfeind sei.
2014 hatte Dugin, Professor an der MGU, zwei hohe Mitglieder der Goldenen Morgenröte in der Universität empfangen, die zum Abschluss des Treffens erklärten, sie würden Russland als den wichtigsten Verbündeten im Kampf gegen die „amerikanische Expansionspolitik“ betrachten.
Syriza hin …
Dugin – ein Mann von aufgeschlossenem Charakter – ist dabei nicht nur mit den griechischen Neonazis befreundet, sondern auch mit deren Erzfeinden von der linken Partei Syriza, die aktuell in Griechenland die Regierung stellt.
Dugin hatte 2013 auf Einladung von Nikos Kotsiatis, der heute das Amt des griechischen Außenministers bekleidet, einen Vortrag an der Universität Piräus gehalten. Allerdings ließen wiederum die griechischen Grenzbeamten Dugin am 18. Mai 2016 nicht ins Land – „auf ein Ersuchen Ungarns hin“.
Ich verstehe nicht, wie eine Partei, die sich offen für Adolf Hitler begeistert, ein Freund Russlands sein kann, das dermaßen unter dem Nationalsozialismus gelitten hat
Bei Vertretern von Syriza, unter denen viele ehemalige Kommunisten sind, rufen die herzlichen Beziehungen der Ultrarechten mit Russland Eifersucht und Ratlosigkeit hervor. „Ich verstehe nicht, wie eine Partei, die sich offen für Adolf Hitler begeistert, ein Freund Russlands sein kann, das dermaßen unter dem Nationalsozialismus gelitten hat“, sagt Panos Trigazis, Koordinator der Arbeitsgruppe für außenpolitische Fragen im Syriza-Parteivorstand.
Als die Partei im Zuge der Wirtschaftskrise und der Enttäuschung der Griechen über die Europäische Union an die Macht kam, schien es klar, dass dies die russlandfreundlichste Regierung aller Zeit in Europa werden würde. Noch in der Rolle der Opposition war Syriza für eine Aufhebung der Sanktionen eingetreten, die die EU aufgrund des russischen Vorgehens in der Ukraine verhängt hatte. Kurz vor seiner Vereidigung als Premierminister traf sich der Parteichef Alexis Tsipras mit dem russischen Botschafter.
Wenn wir sagen, die Beziehungen zu Russland müssen ausgebaut werden, heißt das nicht, dass wir unserer europäischen Orientierung den Rücken kehren wollen
Den Posten des Verteidigungsministers in Tsipras Kabinett bekam Panos Kammenos, Chef der kleinen rechtspopulistischen Partei Unabhängige Griechen und ein persönlicher Freund des Unternehmers Konstantin Malofejew, der eine Schlüsselrolle bei der Angliederung der Krim durch Russland und der Organisation des bewaffneten Aufstandes im Donbass gespielt hatte.
Informationen verschiedener europäischer und amerikanischer Medien zufolge war Kammenos in Moskau zu Gast bei der Hochzeit von Giannis Karageorgis – einem griechischen Reeder, mit dem Malofejew die Gründung einer TV-Senderkette in Griechenland und anderen Balkanländern plant.
… Syriza her
Doch das anfänglich herzliche Verhältnis zwischen dem Kreml und dem Vorstand von Syriza kühlte allmählich ab. Tsipras erhielt nicht die russischen Kredite und Verträge, mit deren Hilfe er gehofft hatte, das Land aus der Krise zu führen, und sah sich gezwungen, demütigende Kompromisse bei Verhandlungen mit den führenden Ländern der EU einzugehen.
„Ja, die früheren Regierungen haben den Ausbau der Beziehungen mit Russland vernachlässigt“, bemerkt Panos Trigazis jetzt. „Aber wenn wir sagen, die Beziehungen müssen ausgebaut werden, heißt das nicht, dass wir unserer europäischen Orientierung den Rücken kehren oder Europa verlassen wollen.“
Übrigens gibt es innerhalb von Syriza selbst höchst unterschiedliche Sichtweisen auf Russland. Der Anführer der prorussischen Fraktion, Panagiotis Lafazanis, hatte bis Juli 2015 einen Ministerposten in der Tsipras-Regierung inne, verließ dann jedoch die Partei und wechselte in die Opposition. Zur selben Zeit verabschiedete sich Finanzminister Yanis Varoufakis aus dem Kabinett, der – im Gegensatz zu seinem Parteikollegen – Putins Politik wiederholt kritisiert und von diktatorischen Tendenzen in Russland gesprochen hatte.
Griechenland muss viele Faktoren berücksichtigen, unter anderem die Zypern-Frage
Trigazis ist nicht einverstanden mit Varoufakis' Sichtweise. „Wenn Russland eine Diktatur wäre, dann säße die Kommunistische Partei nicht im Parlament“, meint er. Seiner Ansicht nach erfülle Russland die Kriterien eines demokratischen Mehrparteiensystems. Außerdem, fügt er hinzu, spiele Russland eine Schlüsselrolle im Kampf gegen das Bestreben der USA, eine unipolare, auf Washington zentrierte Weltordnung zu errichten.
Die internationale Gemeinschaft muss sich ausreichend flexibel zeigen, damit in Bezug auf derart große Gefüge wie das Kosovo oder die Krim nicht das Gefühl von Rechtlosigkeit entsteht
Im Hinblick auf das russische Schlüsselthema, die Ukraine, äußert Trigazis einen vorsichtig prorussischen Standpunkt: Syriza respektiere die Unabhängigkeit und territoriale Integrität der Ukraine, aber die müsse wiederum „die Gefühle von nationalen Minderheiten respektieren“. Und weiter: „Die ethnischen Russen in verschiedenen Regionen der Ukraine wollen mehr Autonomie. Ich denke, diese Frage kann auf demokratischem Wege gelöst werden.“
Mit der Krim ist es noch vertrackter: Die Halbinsel, führt Trigazis aus, sei Teil eines föderalen Systems gewesen – so wie der Kosovo innerhalb Serbiens und des ehemaligen Jugoslawiens. „Die internationale Gemeinschaft muss sich ausreichend flexibel zeigen, damit in Bezug auf derart große Gefüge wie das Kosovo oder die Krim nicht das Gefühl von Rechtlosigkeit entsteht“, sagt er, und fügt hinzu, man müsse die „historischen Ungerechtigkeiten“ bedenken, unter denen die Krim in der Vergangenheit gelitten habe.
Aber in jedem Fall werde die Syriza-Regierung, offenbart Trigazis, das Thema Krim nicht aktiv vorantreiben oder gar die Krim als Teil der Russischen Föderation anerkennen, denn: Priorität hat es nach wie vor, auf die territoriale Integrität der Insel Zypern hinzuarbeiten, die 1974 teilweise durch die Türkei annektiert worden war.
Zudem erkennt Griechenland auch die Unabhängigkeit des Kosovo nicht an. Insofern tritt die Syriza-Regierung für einen umfassenden Ansatz ein, der sowohl den Zypern- als auch den Kosovo-Faktor zu berücksichtigen hätte.
In der Praxis bedeutet das: Syrizas Unterstützung für die russische Position bezüglich der Ukraine wird sich auf reine Rhetorik beschränken. Bisher jedenfalls hat Griechenland keinen Versuch unternommen, von seinem Veto-Recht bei der Verlängerung der Sanktionen gegen Russland Gebrauch zu machen, und auch in Zukunft wird es das nicht tun.
Der Grad der griechischen Loyalität wird von der russischen Polit-High-Society stark überzeichnet.
Lange war darauf hingearbeitet worden: Am Mittwoch dieser Woche, dem 25. Mai, durfte die ukrainische Militärpilotin Nadija Sawtschenko in die Ukraine ausreisen.
Sie war zwei Jahre in Russland festgehalten und im März zu 22 Jahren Haft verurteilt worden. Nun wurde sie gegen die russischen Staatsbürger Alexander Alexandrow und Jewgeni Jerofejew ausgetauscht. Die beiden waren 2015 im Donbass aufgegriffen worden. Ihnen wurde vorgeworfen, als Angehörige des russischen Militärgeheimdienst gegen die Ukrainische Armee gekämpft zu haben, was Moskau allerdings bestritt. Ein Kiewer Gericht hatte sie noch im April zu je 14 Jahren Haft verurteilt.
Sawtschenko war während ihrer Gefangenschaft zur Ikone in ihrer Heimat aufgestiegen: In Abwesenheit wurde ihr etwa die Auszeichnung „Heldin der Ukraine“ verliehen. Im Fall Jerofejew/Alexandrow dagegen hatte Moskau vor allem betont, dass sie als Freiwillige in der Ukraine gekämpft, ihren Dienst in Russland zuvor quittiert hätten. Offiziell sind keine russischen Einheiten vor Ort.
Entsprechend fiel der Empfang für die drei Freigelassenen in ihren Heimatländern jeweils sehr unterschiedlich aus: Sawtschenko wurde von Präsident Petro Poroschenko und weiteren hochrangigen Politikvertretern geradezu triumphal willkommen geheißen, Jerofejew und Alexandrow dagegen in Moskau lediglich von ihren Frauen begrüßt.
International fand die Freilassung große Resonanz. Hochrangige Politiker, darunter der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier, äußerten die Hoffnung, dass der Gefangenenaustausch sich auch auf die weitere Lösung des Konflikts positiv auswirke.
Rossijskaja Gaseta: Auf Wunsch der Hinterbliebenen
Der Kreml betonte, dass die Freilassung vor allem den Hinterbliebenen der – laut Anklage von Sawtschenko – getöteten Medienleuten zu verdanken sei. Die Witwe und die Schwester zweier Verstorbener hätten Putin bei einem Treffen um Begnadigung Sawtschenkos gebeten und so einen Gefangenenaustausch erst ermöglicht. Die Rossijskaja Gaseta, Amtsblatt der russischen Regierung, berichtet:
[bilingbox]Wie der Pressesprecher des Präsidenten Dimitri Peskow erklärte, „waren dem Treffen Schreiben der genannten Personen vom 22. und 23. März an das Staatsoberhaubt vorausgegangen, in denen sie, Marianna Dimitrijewna und Jekaterina Sergejewna, aus humanitären Erwägungen den Präsidenten darum bitten, Sawtschenko zu begnadigen.“ Das Staatsoberhaupt unterschrieb einen Ukas über die Begnadigung der ukrainischen Pilotin.~~~Как пояснил пресс-секретарь президента Дмитрий Песков, „этой встрече предшествовали обращения на имя главы государства от упомянутых родственниц, которые были написаны еще 22 и 23 марта соответственно, в котором Марианна Дмитриевна и Екатерина Сергеевна исходя из соображений гуманности просят президента помиловать Савченко“. Глава государства подписал указ о помиловании украинской летчицы.[/bilingbox]
Slon.ru: Verlegenes Schweigen
Nun sind auch die beiden Gefangenen Jerofejew und Alexandrow wieder in ihrer Heimat – Russland wisse jedoch einfach nicht, wie es mit ihnen umgehen soll, kommentiert Oleg Kaschin auf dem unabhängigen Portal Slon.ru:
[bilingbox]Jewgeni Jerofejew und Alexander Alexandrow sind für Russland nicht einfach nur keine Helden, sondern es ist völlig unklar, wer sie überhaupt sind – im besten Fall Opfer des ukrainischen, repressiven Systems . […]
Das verlegene Schweigen, mit dem Russland Nadeshda Sawtschenko zum Flugzeug begleitet und mit dem es zwei der eigenen Staatsbürger mit unklarem Status empfängt – das ist vielleicht die wichtigste psychologische Folge des Donbass-Krieges für Russland. Der hat Russland gelehrt, verlegen zu schweigen. Und begleitet von diesem Schweigen müssen wir nun immer weiterleben.~~~Евгений Ерофеев и Александр Александров для России не просто не герои, а вообще непонятно кто, в лучшем случае жертвы украинской репрессивной системы. […]
Неловкое молчание, которым Россия провожает Надежду Савченко и встречает двух своих граждан с непонятным статусом, – это, может быть, главное психологическое последствие донецкой войны для России. Она приучила Россию неловко молчать, и под аккомпанемент этого молчания нам еще жить и жить.[/bilingbox]
Spektr: Nadeshda, halte durch!
Auch der Journalist und Kriegsreporter Arkadi Babtschenko vergleicht die unterschiedliche Art und Weise, mit der Sawtschenko, Jerofejew und Alexandrow in ihren Heimatländern jeweils empfangen werden. Auf dem russischen Exil-Medienprojekt Spektr, das unter dem Dach einer lettischen Medien-NGO firmiert, warnt er Sawtschenko:
[bilingbox]Meiner Meinung nach beginnt für die ukrainische Gesellschaft im Fall Sawtschenko jetzt tatsächlich eine der schwierigsten Zeiten: die Entheiligung. Denn ein lebender Mensch wird niemals dem von der Gesellschaft für ihn erdachten Bild entsprechen – und das ist für viele schmerzhaft und schwer. Für manche mag es gar wie Verrat wirken. Und nach Sawtschenkos Temperament zu urteilen – geradeheraus, harsch und nicht gewohnt, sich in Worten und Taten zurückzunehmen – wird sie diesen Vorgang nur beschleunigen.
Also, Nadeshda, halte durch: Jetzt werden sie dich so richtig in die Mangel nehmen, wie noch nicht mal vorm Kadi in Donezk.~~~На мой взгляд, для украинского общества в вопросе Савченко теперь вообще начинается один из самых трудных периодов — деканонизация. Потому что живой человек никогда не будет соответствовать придуманному ему обществом образу, а это для многих очень болезненно и тяжело. А кем-то воспринимается даже как предательство. И, судя по характеру Надежды — прямому, резкому, не привыкшему сдерживать себя ни в словах, ни в поступках — она этот процесс только ускорит.
Так что, Надежда, держись: как теперь тебя начнут «полоскать» — не полоскали даже на судилище в Донецке.[/bilingbox]
TASS: Guter Anfang
International wurde der Gefangenenaustausch immer wieder mit der Hoffnung auf weitere Fortschritte im Rahmen der Minsker Vereinbarungen verbunden. Ähnlich äußerte sich auch Pawel Krascheninnikow, Chef des Duma-Ausschusses für Gesetzgebung, den die staatliche Nachrichtenagentur TASS zitiert:
[bilingbox]„Wir lassen unsere Leute nicht im Stich. […] Sowohl im Fall Sawtschenko als auch bei unseren Jungs wurden alle Verfahrensweisen eingehalten. Alles wurde im Einklang mit der Russischen Verfassung und den Rechtsnormen durchgeführt“, erklärte Krascheninnikow gegenüber der Nachrichtenagentur TASS.
Ihm zufolge sei das ein Ausdruck für die immer noch bestehende Möglichkeit eines Dialogs zwischen Russland und der Ukraine auf völkerrechtlichem Gebiet. „Es ist durchaus erfreulich, dass es auf juristischer Ebene Kontakt zwischen den Ländern gibt“, fügte Krascheninnikow hinzu.~~~„Мы своих не бросаем. […] А в случае и с Савченко, и с нашими ребятами все процедуры были соблюдены. Все было проведено в соответствии с Конституцией РФ и правовыми нормами“, – заявил Крашенинников ТАСС.
По его словам, это говорит о сохраняющейся возможности диалога между Россией и Украиной в международно-правовой сфере. „Не так плохо, что есть контакт в правовой области“, – добавил Крашенинников.[/bilingbox]
Vedomosti: Kein großer Schritt vorwärts
Die Autoren der regierungsunabhängigen Tageszeitung Vedomosti dagegen warnen vor allzu großen Hoffnungen:
[bilingbox]Die Rückkehr von Sawtschenko sowie Jerofejew und Alexandrowitsch zeigt wohl eher, dass Fortschritt prinzipiell möglich ist. Was die Erfüllung des Minsker Abkommens angeht, ist es ein Schritt vorwärts, aber kein großer. Zumal das Minsker Abkommen einen gleichzeitigen Austausch „aller gegen alle“ vorsieht. Andererseits ist nun auch möglich, dass sich etwas bewegt in den Fällen anderer Gefangener, die es auf beiden Seiten gibt. […] Hat der Kreml Sawtschenko ausgetauscht für eine Lockerung der Sanktionen im Gegenzug? Da wird sich in den nächsten Monaten nichts bewegen. Das ist erst für das Jahr 2017 realistisch, sofern es weitere Fortschritte bei der Konfliktlösung gibt. Vorerst hat sich Russland vor allem damit hervorgetan, dass es Humanität gezeigt hat.~~~Возвращение Савченко и Ерофеева с Александровым скорее обозначает принципиальную возможность прогресса. Это шаг вперед в плане выполнения минских соглашений, но небольшой. Тем более что минские соглашения предусматривают обмен „всех на всех“ и одномоментно. С другой стороны, теперь возможны подвижки в делах других кандидатов на обмен, которые есть с обеих сторон. […] Обменял ли Кремль Савченко на ослабление санкций? Не в ближайшие месяцы. Реалистичный срок при условии прогресса в урегулировании – 2017 год. А пока главная награда для России – ощущение проявленного гуманизма.[/bilingbox]
Im April 2015 war sie angetreten, um bei den Dumawahlen 2016 eine geeinte, breite Front gegen die Kreml-Partei Einiges Russland zu bilden. Doch nur knapp ein Jahr nach ihrem Entstehen zerbrach Russlands Demokratische Koalition wieder. Zu der hatten sich Parteien der nicht-systemischen Opposition zusammengeschlossen – also diejenigen Oppositionsparteien, die nicht in der Duma vertreten sind. Darunter waren auch einige Gruppen, denen bereits bei der offiziellen Registrierung als politische Partei immer wieder Steine in den Weg gelegt werden.
Iwan Dawydow analysiert die Hintergründe in The New Times.
Anfang Mai hat sich endgültig gezeigt: Die Demokratische Koalition um die Partei PARNAS ist gescheitert. Und daran sind keineswegs nur Intrigen des hinterlistigen Kreml schuld.
Das Scheitern dieser Koalition hat natürlich Folgen: vermindertes Vertrauen der potentiellen Wähler in die nicht-systemische Opposition; verlorene Zeit, die die Kandidaten, die behindert worden waren, nun aufholen müssen, wenn sie im Wahlkampf noch irgendwie in Erscheinung treten wollen; schwindende Chancen, dass Abgeordnete mit einer vom Kreml unabhängigen Position in die siebte Staatsduma einziehen werden.
Der Start
Am 27. Februar 2015 wurde in Moskau Boris Nemzow, der Ko-Vorsitzende der Partei PARNAS, ermordet. Daraufhin unternahmen zahlreiche Oppositionspolitiker den Versuch, vor der anstehenden großen Wahlperiode die kremlkritischen Bewegungen in einer Koalition zu vereinen. Im Herbst 2015 standen Wahlen in elf Regionen an, im Herbst 2016 folgen nun die Wahlen zur Staatsduma.
Als die Oppositionellen mit den Verhandlungen über die Bildung einer Koalition begannen, waren sie in einer Krisensituation: Die Demonstrationen in den Städten, die den Kreml 2011/12 so beunruhigt hatten, waren komplett abgeflaut. Putins Beliebtheitswerte wuchsen dank der Krim-Euphorie und weiterer „geopolitischer Erfolge“ unablässig.
EINE CHANCE, DIE KRISE ZU ÜBERWINDEN
Lässt man einmal die systemischen Oppositionsparteien außer Acht und auch die Partei Jabloko, die den Ruf hat, notorisch kompromissunfähig zu sein, dann hatte die Opposition „außerhalb des Systems“ Folgendes zu bieten: Parteien, bei deren Namen und Programmen selbst ihre Anhänger durcheinanderkamen sowie eine Handvoll landesweit bekannter Politiker.
Die Bildung einer Koalition war eine Chance, die Krise zu überwinden. Und – allen russischen politischen Traditionen zum Trotz – gelang es den Oppositionellen, sich zu einigen.
Am 17. April 2015 unterzeichneten die Partei PARNAS, mit Michail Kassjanow an der Spitze, und NawalnysFortschrittspartei ein Koalitionsabkommen. Am 20. April schlossen sich ihnen die Parteien Demokratische Wahl (Wladimir Milow), Bürgerinitiative (Andrej Netschajew) und auch die nicht-registrierte Partei des 5. Dezemberund die Libertäre Partei an. Michail Chodorkowskis Offenes Russland gab seine Unterstützung der Demokratischen Koalition bekannt.
Dabei sein ist alles?
Unter den mit der Demokratischen Koalition sympathisierenden Politologen und Journalisten begann ein Streit: Sollten die Oppositionellen überhaupt an den Wahlen teilnehmen?
Die Argumente derer, die gegen eine Teilnahme sind, brachte Fjodor Krascheninnikow für The New Times auf den Punkt: „An Wahlen sollte man nur teilnehmen, wenn eine Chance auf Erfolg besteht und wenn man Vertrauen in die Wahlkommission hat. Andernfalls spielt die Opposition durch die Teilnahme an den Wahlen nur den Machthabern in die Hände – sie legitimiert sowohl die Wahlen als auch das gewählte Machtorgan.
Wenn man sich einverstanden zeigt, beim Hütchenspiel mitzumachen, macht man damit nicht nur den Hütchenspieler reich, sondern führt auch zufällige Passanten in die Irre: Sie sehen, dass da ein anständiger Mensch mitspielt, und schließen daraus, dass wohl alles rechtens zugeht.“
DIE WAHLEN ALS HÜTCHENSPIEL
Es gibt aber auch starke Argumente für eine Teilnahme an den Wahlen. Denn die Machthaber brauchen nicht nur einfach Oppositionelle, die an den Wahlen teilnehmen. Sie brauchen Oppositionelle, die verlieren.
Und das bedeutet, dass die Machthaber während des Wahlkampfs alle nur denkbaren Verstöße zulassen werden, um eine Niederlage der Opposition sicherzustellen, einfach weil sie nicht anders handeln können.
Ob nun aber solche Skandale dazu beitragen, den Wahlprozess zu legitimieren, darüber ließe sich streiten. Wichtiger ist, dass man selbst bei aussichtslosen Wahlen die Gelegenheit bekommt, größere Bekanntheit zu erlangen und das eigene Wahlprogramm an diejenigen Wähler heranzutragen, die nicht lesen, was die Opposition in den sozialen Netzwerken schreibt.
Unterdessen hat sich gezeigt, dass das Prozedere von Vorwahlen kompliziert und selbst für treue Wähler wenig attraktiv ist. Außerdem greift die Antikorruptionsagenda in den Regionen einfach nicht: Wie Ilja Jaschin, der stellvertretende Vorsitzende von PARNAS, nach mehr als einem Dutzend Treffen mit Bewohnern von Kostroma erzählt, hörten die Omas in den Höfen seinen Erzählungen über die Mehreinnahmen der Osero-Mitglieder zwar interessiert zu. Aber die Nachricht, dass Beamte und der Machtelite nahestehende Bürger in Russland stehlen, ist für Bürger, deren Leben sich fern der Machtzirkel abspielt, keine große oder besonders erschütternde Nachricht.
Der Weg zum Scheitern
Für die Mitglieder der Demokratischen Koalition selbst stellte sich die Frage nicht, ob sie an den Wahlen teilnehmen sollten oder nicht. Sie konzentrierten sich auf die Vorbereitung des Wahlkampfs.
Ihre Listen sollten mit Hilfe von Vorwahlen aufgestellt werden. Im Dezember 2015 wurde bekannt, dass die ersten drei Plätze auf der Liste schon vergeben waren. Den ersten bekam der Vorsitzende von PARNAS, Michail Kassjanow, der zweite und dritte waren für „russlandweit bekannte Leute“ reserviert, deren Namen nicht genannt wurden.
Ilja Jaschin verkündete damals, das sei eine „bewusste Entscheidung der ganzen Koalition“. Die Vorwahlen hätten am 23. und 24. April stattfinden sollen. Später verschob man sie „aus technischen Gründen“ auf Ende Mai.
Ziemlich schnell stellte sich heraus, dass das Problem nicht Störungen auf der Vorwahlen-Website waren. Es war das geringe Interesse am Verfahren, auf das die Vertreter von PARNAS bestürzt reagierten.
Man hatte in der Koalition damit gerechnet, dass rund 100.000 Personen an den Vorwahlen teilnehmen würden, doch nach Informationen, die The New Times vorliegen, hatten sich zwei Wochen vor Abstimmung nur rund 6000 Wähler auf der Website registriert.
Es gab Gerüchte, PARNAS erwäge, die Liste doch nicht auf der Grundlage von Vorwahlen aufzustellen. Damals sagte Alexej Nawalny gegenüber The New Times: „Die Fortschrittspartei kann im Falle einer Nichtanerkennung der Vorwahlen nicht in der Koalition verbleiben.“
Der letzte Schlag war der Film Kassjanows Tag, den NTW am 1. April ausstrahlte: Dass kompromittierendes Material über sie verbreitet und in ihrem Privatleben herumgeschnüffelt wird – daran sind Oppositionelle ja gewöhnt, sollte man meinen. Doch durch die scharfen Bemerkungen, die Natalja Pelewina, eine Parteigenossin Michail Kassjanows, in dem Film über andere Mitstreiter aus dem Bündnis machte, fühlten sich manche Mitglieder der Demokratischen Koalition ernsthaft vor den Kopf gestoßen.
KLEINLICHER ZANK UND SCHULDZUWEISUNGEN
Zunächst machte Ilja Jaschin von PARNAS Kassjanow den Vorschlag, er möge auf seinen ersten Listenplatz verzichten und gleichberechtigt mit allen anderen an den Vorwahlen teilnehmen. Kassjanow lehnte ab. „Als Zeichen des Protests“ zog Jaschin seine Kandidatur für die Vorwahlen zurück.
Später wiederholte Alexej Nawalny die Forderung Jaschins. Darauf folgten lange und offenbar selbst für die Mitglieder der Koalition uninteressante Streitereien darüber, wer als erster welche Abmachungen verletzt hat. Demokratische Wahl und die Fortschrittspartei verließen die Koalition, die dann aufhörte auf zu existieren.
Der vergessene Wähler
Was bleibt übrig statt einem Wahlbündnis der Opposition? Kleinlicher Zank und eine Reihe gegenseitiger Schuldzuweisungen.
Die Kleinlichkeit ist das Traurigste an der ganzen Geschichte. Es ist ja für niemanden ein Geheimnis, dass die PARNAS-Liste ohnehin nicht durchkommen wird. Falls jemand Chancen hatte, waren es die Abgeordneten aus einzelnen Einerwahlkreisen mit einer vornehmlich gebildeten städtischen Bevölkerung.
Doch die Koalitionsmitglieder interessierten sich nicht für die Einerwahlkreise, sondern konzentrierten sich auf das Gefeilsche um die Listenplätze. Sie kämpften, als hätten sie bereits die Duma-Mehrheit inne, als wäre ihnen bei den kommenden Wahlen der Sieg sicher und es ginge nur noch darum, wie man die Mandate aufteilen soll.
WAS ERFÄHRT DER WÄHLER DENN ÜBER DIE OPPOSITION?
Was hat ein potentieller Wähler letztlich über die Opposition erfahren? Ein neuer Wähler, kein treuer, der ergeben die Blogs der Koalitionsleader liest? Nur das, was Pelewina in dem NTW-Film über ihre Kollegen gesagt hat und was man lieber nicht laut wiederholt.
Die Mitglieder der Koalition, die beschlossen hatten, mit der Regierung Wahlen zu spielen, haben die wichtigsten Teilnehmer an diesem Spiel übersehen: die Wähler. Sie haben sich mit Fragen zur Vorgehensweise herumgeschlagen, statt den Wählern zu erklären, warum man eigentlich für die Opposition stimmen soll. Und zwar sowohl bei den Vorwahlen als auch bei den Dumawahlen.
Dem Wähler ist doch egal, wer wen hintergangen hat und wer immer noch mit weißer Weste und stolzem Blick dasteht. Den Wähler interessiert, was ihm die Leute, die „in der realen Politik“ mitmischen wollen, neben Schockmeldungen über die Reichtümer der Brüder Rotenberg tatsächlich anzubieten haben.
Der offizielle Wahlkampf hat noch nicht begonnen, noch bleibt Zeit, die Fehler auszubügeln. Aber dazu gilt es über den eigenen Schatten zu springen, die eigene Makellosigkeit in Frage zu stellen, den schmachvollen Erfahrungen Rechnung zu tragen.
Und es ist überhaupt nicht gesagt, dass das für die Anführer der nicht-systemischen Opposition eine lösbare Aufgabe ist.
Spot an, die halbe Welt schaut zu: Die ukrainische Krim-Tatarin Jamala gewinnt den Eurovision Song Contest 2016 – nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen mit Russland und mit einen Lied, das die leidvolle Geschichte ihres Volkes unter Stalin besingt. „Zu politisch“, kritisierten manche, die den Song auch als eine Anspielung auf die Situation der Krim-Tataren heute verstehen.
Andrej Archangelski befindet auf Colta.ru: Ja, der ESC ist politisch. Und das ist gut so.
Derzeit begegnen Millionen russischer Fernsehzuschauer einmal jährlich dem realen Europa – wortlos, wie Stierlitz seiner Frau. Millionen russischer Fernsehzuschauer haben Gelegenheit – ohne ideologische Interpretation und in natürlicher Umgebung – eben jene Europäer anzuschauen. Die uns unsere Identität nehmen wollen und denen deswegen der Untergang droht. Europa wirkt dabei ziemlich einheitlich: einander ähnelnde Frauen in glitzernden Roben, beziehungsweise Männer in gestreiften Jacketts mit lustigen Fliegen.
Der will uns vernichten? Der mit der Streifenhose und dem lustigen Namen?
Die Bilder vom ESC müssten im Prinzip hart aufeinanderprallen mit dem, was der Fernsehzuschauer täglich von Europa zu sehen und hören bekommt. Im Prinzip müsste er sich fragen: Das also sind unsere Feinde? … Die sollen uns vernichten wollen? … Der da? Mit seinem Propeller und der Streifenhose und dem lustigen Namen? …
Doch die Moderatoren schlagen an diesem Tag tatsächlich einen anderen Ton an als sonst. Als ESC-Kommentator muss man, abgesehen von der grundlegenden Intonation, auch auf die Spielart achten – wie in einer Partitur: „wohlwollend, aber mit leichter Ironie“ oder „mit einem Anflug von Ärger“. All diese Nuancen wurden bereits in der sowjetische Sprecherschule erarbeitet, Vorbilder gibt es also genug. Doch eines ist klar – diese Sendung bleibt harmlos (krass wird’s erst morgen).
Es ist eine heikle Arbeit: Millionen von Zuschauern wissen zu lassen, dass die Eurovision in unserem Fernsehen „eine vorübergehende Erscheinung“ ist, „ein Spiel“, „ein Muss“ – und dabei mit der Stimme regelrecht zu zwinkern. Und all das nur, weil es der russischen Staatsmacht kurioserweise immens wichtig ist, den Wettbewerb derjenigen zu gewinnen, deren Lebensstil sie erklärtermaßen verachtet.
Worte, wie in Bronze gegossen
Der Sieg Jamalas war für alle überraschend (deswegen ist ein Wettbewerb ein Wettbewerb), für das russische Fernsehen aber ganz besonders. Bei der Jurywertung war ja mit riesigem Abstand Australien auf Platz 1 gelandet, beim Publikumsvoting Russland.
„Die Politik war am Ende stärker als die Musik“, so begann der Moderator bei Rossija 1 Boris Kortschewnikow seinen Kommentar zum Ergebnis. Bis zum nächsten Morgen waren diese Worte in Bronze gegossen, wie auch folgende fixe Formulierungen: „Die Völker Europas haben für den russischen Interpreten gestimmt“, und: „Die Abstimmung war politisch“. Für die Propaganda eine tadellose Formel.
Hier können uns Linguisten weiterhelfen: Das Wort „Politik“ gehört in Russland dem Staat. Er hält 99 % der Aktien an diesem Wort. Als psychologischen Abwehrmechanismus auf dieses unnatürliche Monopol entwickeln die Menschen seltsame Konzepte, an die sie irgendwann selbst glauben, wie etwa: „Kultur und Politik existieren unabhängig voneinander“, Kultur oder Sport „sollen nicht politisch sein“.
Wenn man das so sagt, kann man genauso gut sagen: „Kultur und Sport dürfen nicht den Menschen gehören“, denn Politik umfasst sowohl Sport als auch Kultur.
Bei einem Menschen oder einem Ereignis das Politische vom Nichtpolitischen zu trennen, ist äußerst schwierig. Und wozu auch? Wenn das Politische doch ursprünglich das „Menschliche“ bedeutet.
Natürlich ist der ESC politisch – das ist weder ein Geheimnis, noch ein Problem
Die schreckliche Wahrheit ist, dass der Eurovision Song Contest tatsächlich politisch ist – doch ist das weder ein Geheimnis, noch ein Problem. Und zwar genau deswegen, weil Politik eigentlich den Menschen gehört und niemand Angst vor ihr hat.
Der Wettbewerb ist schon allein dadurch politisch, dass jede Abstimmung von Millionen Menschen über eine beliebige Frage auch immer ein Plebiszit ist. Und wird auf einen Staat Einfluss haben. Allein durch seine Existenz glättet der Wettbewerb internationale Wogen, bringt Menschen auf andere Gedanken.
Wenn 26 Länder einander Herzchen und Likes schicken – klar ist das Politik. In ihrer neuen Bedeutung, wo im Zentrum der Mensch steht, und nicht der Staat. Dass einige Länder nie für bestimmte andere voten – auch das ist Politik. Wie im übrigen auch, dass manche Punkte als symbolische „Bitte um Verzeihung“ zu verstehen sind (Deutschland hat seine 12 Punkte Israel gegeben) – auch das wird keine musikalische Bedeutung haben.
Vielleicht geht das als „erster Schritt zur Versöhnung“ in die Geschichte ein
Dass die Ukraine und Russland einander im Publikumsvoting „wieder, als ob nichts gewesen wäre, wie damals“fast die höchste Punktzahl gaben (Russland der Ukraine 10 Punkte, die Ukraine Russland 12) – das zeigt, dass die Eurovision geschafft hat, was bisher niemandem gelungen ist.
Gott sei Dank gibt es diese Art von Politik. Beten sollte man für eine solche Politik, auf die Knie fallen vor ihr. Dass der russische Sänger der ukrainischen Sängerin zum Sieg gratulierte – wer weiß, vielleicht geht das als erster Schritt zur Versöhnung in die Geschichte ein, und insofern ist Sergej Lasarew durchaus ein Sieger, aber in einem anderen, wichtigeren Sinn – dem moralischen.
Der politische Konflikt zwischen Russland und der Ukraine wurde eins zu eins auf die Musik übertragen. Und dabei wohlgemerkt nicht geglättet, dafür ganz und gar ins Menschliche gedreht. Natürlich konkurrierten nicht die Sänger, sondern das Image des jeweiligen Landes. In diesem Wettkampf hat die Ukraine gesiegt. Weil (zumindest) in der heutigen Kultur ein Opferkult und kein Siegerkult vorherrscht, was Michail Jampolski sehr treffend beschreibt.
Heute gewinnt man nicht mit Panzern, sondern mit Liedern
Das ist für die russische Propaganda eine wertvolle Lektion – heute gewinnt man nicht mit Panzern, sondern mit Liedern. Mit dem Ergebnis, dass die Ukraine wieder weltweit im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Der nächste Songcontest ist ein Garant der Sicherheit für die Ukraine, denn jetzt werden alle teilnehmenden Länder, einschließlich Russland, daran interessiert sein, dass die Ukraine ein sicherer Ort ist.
Mit anderen Worten: Der Sieg der Ukraine bedeutet die Legitimität der Ukraine. Und diese Tatsache wird, um es mit dem sowjetischen Agitprop zu sagen, manch heißen Kopf herunterkühlen.
Schon jetzt gibt es rhetorische Figuren: Teilnehmen oder nicht teilnehmen, und wenn ja, mit wem (еine Variante wäre Schnur von der Petersburger Gruppe Leningrad). Das wird nun eine politische Entscheidung, und gefällt wird sie nicht im Fernsehen.
Wenn es heißt, nächstes Jahr braucht Russland einen Künstler „mit so einem Lied, wie Jamala“, der bitte auch von tragischen Vorfällen singt (gemeint sind etwa die tödlichen Ausschreitungen in Odessa 2014), dann vergisst man komplett die unterschiedlichen Auswahlverfahren in Russland und der Ukraine.
Russland will vorerst „weiter mitspielen“
Jamala gewann aufgrund einer landesweiten Abstimmung, sie hatte starke Konkurrenz und setzte sich mit nur wenig Vorsprung durch: Eben weil es riskant ist, mit so einem Lied an einem Wettbewerb für Unterhaltungsmusik teilzunehmen. Doch ein Künstler kann ein solches Risiko eingehen, ein Staat nicht.
In Russland wurde der diesjährige Kandidat von einem TV-Sender ausgewählt; das wird wahrscheinlich auch nächstes Jahr so sein – und die Bürokratie trifft keine riskanten oder extravaganten Entscheidungen. Am ehesten wird es ein Kompromiss werden, eine möglichst neutrale Variante. Für das „Teilnehmen“ hat sich bisher (gleich nach dem Finale, das ist wichtig) die erste stellvertretende Vorsitzende des Kulturausschusses der Staatsduma, Jelena Drapeko, ausgesprochen. Ein gutes Zeichen: Man will also vorerst „weiter mitspielen“ und nicht die Welt ignorieren.
Die Welt ignorieren funktioniert ohnehin nicht. Unmöglich. Das ist das wichtigste Ergebnis des Eurovision Song Contest – für Russland. Natürlich nur, wenn es fähig ist, das zu verstehen.
Es war der Höhepunkt nach immer stärkerem Druck auf eines der wichtigsten investigativen Medien in Russland: Ende vergangener Woche, am Freitag, den 13. Mai, wurde die dreiköpfige Chefredaktion von RBC entlassen. Es habe keinen Konsens bei wichtigen Themen gegeben, hieß es in der offiziellen Begründung der Geschäftsführung.
RBC stand für investigativen Journalismus wie kaum ein anderes Medium in Russland. Neben fundierter Wirtschaftsberichterstattung war die Redaktion berühmt geworden mit Recherchen etwa über Korruption bei Prestige-Bauprojekten, zu Putins familiärem Umfeld oder dem Vorgehen Russlands in Syrien und im Donbass.
RBC hatte auch als eines der wenigen Medien in Russland mit den Recherchen der Panama Papers auf der Titelseite aufgemacht.
Seit 2009 war RBC im Besitz des Oligarchen Michail Prochorow. Büros seiner Onexim Group waren bereits im April von Steuerermittlern durchsucht worden. Außerdem hatte es in den vergangenen Wochen auch Ermittlungen und Razzien gegen einzelne Vertreter des Unternehmens gegeben. Zur Medien-Holding gehören neben der Online-Ausgabe unter anderem noch eine Zeitung sowie ein TV-Sender.
Die Auflösung der bisherigen Chefredaktion hat vor allem in der unabhängigen Presse große Bestürzung ausgelöst: Viele sehen Parallelen zu anderen, ehemals kritischen Medien, die durch Eigentümerwechsel oder politische Einflussnahme „auf Linie“ gebracht worden waren.
Snob.ru: Was wäre wenn
Auf RBC und ihren Herausgeber Michail Prochorow war schon länger Druck ausgeübt worden. Kolumnistin Xenija Sobtschak jedenfalls sagte auf Snob dem Medium schon Ende April ein düsteres Schicksal voraus, nach Durchsuchung von Prochorows Onexim Group:
[bilingbox]Wir müssen uns endlich eingestehen, dass viele von uns eine idiotische und naive Hoffnung hatten: Was, wenn es Michail Dimitrijewitsch [Prochorow] doch auf irgendeine wundersame Weise gelungen ist, Absprachen zu treffen. Was, wenn es den Machthabern doch nützt, dass es im Land zumindest ein Portal gibt, das die Wirtschaft auf diese Art beleuchtet und solche Recherchen betreibt. Was, wenn man wegschaut, sie plötzlich in Ruhe lässt? Denn innerhalb des vergangenen Jahres wurde RBC tatsächlich zum besten Nachrichtenportal im Land, und das, was sie gemacht haben, war megacool.
Aber nix von wegen „was, wenn“. So etwas gibt es nicht mehr.~~~Пора признаться себе, что у многих из нас была безумная и наивная надежда: вдруг Михаилу Дмитриевичу [Прохорову] удалось как-то особым образом договориться? Вдруг власти выгодно, чтобы в стране был хотя бы один такой портал, с таким освещением бизнеса и такими расследованиями? Вдруг пропустят, вдруг не тронут? Ведь за последний год РБК действительно стал лучшим новостным порталом в стране, и то, что они делали, было мегакруто.
Но — никаких „вдруг“. Сейчас так уже не бывает.[/bilingbox]
Novaya Gazeta: Die totale Kontrolle
Auch die kremlkritische Novaya Gazeta weist darauf hin, dass RBC keine Ausnahme sei und zieht Parallelen zum Sender NTW – ihn hatte 2001 ein ähnliches Schicksal ereilt. Und doch gebe es einen bedeutenden Unterschied:
[bilingbox]Im Unterschied zum Jahr 2001 halten die Machthaber die Kontrolle nur über die Fernsehsender nicht mehr für ausreichend. Auch die Presse muss vollends loyal und kontrolliert sein. Im Grunde ist das ziemlich merkwürdig – 2001 gab es intensive Machtkämpfe zwischen mehreren starken Gruppen, aber derzeit ist die Ruhe der Kreml-Bewohner doch durch nichts bedroht: Die Bevölkerung insgesamt befürwortet die Arbeit von Partei und Regierung.
Doch gleichzeitig breitet sich in den Medien das Kasernen-System immer weiter aus: Die Nachricht vom Austausch des RBC-Teams fiel zusammen mit der soundsovielten Verlautbarung des Medienministeriums, dass es bis 2020 in Russland ein eigenes, souveränes Internet geben wird, das völlig unabhängig von ausländischen Kanälen Informationen verbreitet.~~~B отличие от 2001 года, теперь власти считают контроль над телевидением мерой недостаточной. Пресса тоже должна быть полностью лояльной и подконтрольной. На самом деле это довольно странно: в 2001 году шла интенсивная борьба за власть между несколькими сильными группировками, а теперь спокойствию кремлевских обитателей вроде бы ничего не угрожает — народ в целом одобряет деятельность партии и правительства. Но при этом казарменная система в медиа распространяется все шире — новости о смене команды РБК пришли одновременно с очередными реляциями Минкомсвязи о том, что к 2020 году в России будет построен собственный, суверенный интернет, совершенно не зависящий от иностранных каналов распространения информации.[/bilingbox]
Meduza: Das zerstörte Wunder
Das Online-Portal Meduza, das im lettischen Exil sitzt, wurde 2014 von Galina Timtschenko gegründet – nachdem sie als Chefredakteurin bei Lenta.ru gekündigt und durch einen politisch loyalen Nachfolger ersetzt worden war. Viele ihrer Mitarbeiter gingen mit ihr. Die Meduza-Redaktionreagierte sogleich auf die Entlassungen bei RBC:
[bilingbox]Freitag, der 13. Mai – ein wirklich mieser Tag für uns alle, für die Journalisten und für die Leser. Ein Tag, an dem vor unseren Augen ein Wunder zerstört wurde. Es gibt keinen einzigen Grund, der das rechtfertigen könnte. Hinter dieser Entscheidung stehen keinerlei sinnvolle Erwägungen des Besitzers wie auch keinerlei „staatliche Interessen“. Einzig Empfindlichkeiten und Rachsucht – die haben irgendwie komisch geschaut, die haben sich irgendwie komisch benommen, die haben irgendwie komisch geschrieben. Man hat euch doch gesagt, ihr sollt euch nicht einmischen – doch ihr mischt euch ein.
Das, was da mit RBC geschehen ist, ist kein Kampf mit einem ideellen Gegner. Nein, das ist eine Schlägerei in einer Toreinfahrt.~~~Пятница, 13 мая — по-настоящему скверный день для всех нас, и для журналистов, и для читателей. Это день, когда на наших глазах было уничтожено чудо. Нет ни одной причины, которая могла бы это оправдать. Позади этого решения нет никаких взвешенных размышлений собственника, как нет и никаких «государственных интересов». Есть только обидчивость и мстительность — посмотрели не так, вели себя не так, написали не так. Вам же говорили не лезть, а вы лезете. То, что случилось с РБК, — это не борьба с идейным противником. Нет, это разборки в подворотне.[/bilingbox]
Lenta.ru: Das Schweigen der Oligarchen
Auf Lenta.ru weist eine freie Mitarbeiterin auf die Parallelen zwischen RBC, Lenta.ru, NTW und anderen (ehemals) kritischen Medien hin. Und thematisiert vor allem die Rolle der Oligarchen als Herausgeber:
[bilingbox][…] die Oligarchen werden gar nicht mehr gefragt, Fragen aus der Öffentlichkeit fließen an ihnen vorbei wie Bäche an Baumwurzeln. Die Besitzer werden kaum erwähnt, wenn es wieder einmal in einem journalistischen Medium, das ihnen gehört, zu einem Umsturz kommt. Und nicht nur, weil „sowieso alles klar ist“, sondern auch, weil sie – als Besitzer der Medien – die Arbeitgeber der sogenannten „sprechenden Klasse“ sind. […]
Zu den Geschehnissen befragen kann man die Machthaber, die Kollegen, den glatzköpfigen Teufel [Sprichwort – dek], nur nicht den Besitzer. Die Oligarchen sind im Grunde gegen Vorwürfe gefeit, sie können nicht einmal wirklich zur Rechenschaft gezogen werden. Über das Schicksal der sprechenden Klasse entscheidet die schweigsamste soziale Gruppe.~~~[…] с олигархов больше не спрашивают, общественные вопрошания обтекают их, как ручей корягу. Владельцы почти не упоминаются, когда в очередном СМИ, им принадлежащим, происходит переворот. И не только потому, что «и так все ясно», но также и потому, что они, владельцы СМИ, — работодатели так называемого «говорящего класса». […] Спрашивать о происходящем можно у власти, у коллег, у черта лысого — но никак не у владельца. Олигархи почти неприкосновенны для претензий. И практически непризываемы к ответу. Судьбы говорящего класса решает самая молчаливая социальная группа.[/bilingbox]
Rossijskaja Gaseta: Politische Einflussnahme wäre absurd
Die Rossijskaja Gaseta, das Amtsblatt der russischen Regierung, verzichtet auf eigene Kommentare und zitiert stattdessen Kreml-Sprecher Dimitri Peskow, der jede Einflussnahme von Seiten des Staates bestreitet:
[bilingbox]Wir sehen keinen Anlass für eine Beunruhigung seitens internationaler Organisationen in dieser Sache. Behauptungen, dass irgendein Druck staatlicherseits bei den Umbesetzungen im Redaktionsteam der Holding eine Rolle gespielt habe, halten wir für vollkommen grundlos.
Es ist eine private Holding, und so sollten die Entscheidungen des Eigentümers dieser Holding von ihren Vertretern erklärt werden und nicht von Vertretern des Staates. […] Wir können nur voller Gewissheit sagen, dass es absurd ist, hinter dieser Sache irgendeinen politischen Druck zu vermuten.~~~Мы не видим каких-либо оснований для того, чтобы какие-либо международные организации испытывали бы обеспокоенность в этой связи. Мы считаем абсолютно несостоятельными какие-либо утверждения о том, что какое-то давление со стороны властей имеет отношение к кадровым изменениям в редакции холдинга. Холдинг частный, и в данном случае решения владельца этого холдинга должны объясниться именно представителями этого холдинга, а не представителями власти. […] Можем только с уверенностью сказать об одном, что абсурдно увязывать это с каким-то политическим давлением.[/bilingbox]
The New Times: Schlecht, einen guten Job zu machen
Im regierungskritischen Wochenmagazin The New Timesdagegen beklagt Kolumnist Juri Saprykin den zunehmenden Druck, unter dem Journalisten in Russland arbeiten – und vor allem die unausweichlichen Folgen, die dies habe:
[bilingbox]Aber es gibt eine wichtige und unumkehrbare Veränderung: Allen innerhalb dieses Berufsstandes wird immer klarer, dass es schlecht ist, einen guten Job zu machen. Aus dem Nichts die einflussreichste Wirtschaftszeitung zu machen, die meistzitierten und -diskutierten Materialien zu bringen, den Umsatz zu steigern – sogar auf dem Höhepunkt der Krise, das alles ist zweitrangig.
Das Wichtigste ist, dass du dich nicht mit hochrangigen Leuten anlegst. Am besten spannst du dir freiwillig Absperrbänder, begehrst nicht auf und provozierst keine Widerrede, man muss sich auch gar nicht besonders um die Qualität kümmern – dann bleibst du am Leben.~~~Но есть [одно…] важное изменение, которое невозможно развернуть назад: всем внутри этой профессии все больше становится очевидно, что работать хорошо — это плохо. Что сделать из ничего самую влиятельную деловую газету, придумывать самые цитируемые и обсуждаемые материалы, зарабатывать все больше денег, даже на пике кризиса — это все вторично; а главное — ни с кем высокопоставленным не ссориться. Лучше добровольно обложить себя флажками и барьерами, не рыпаться и не нарываться, можно даже не особо заботиться о качестве — и тогда будешь жив.[/bilingbox]
Putin, so soll es Kanzlerin Angela Merkel kurz nach dem russischen Eingreifen auf der Krim gesagt haben, lebe „in einer anderen Welt“. Die Debatte, wie ein Dialog mit Russland zu führen ist, ob er überhaupt geführt werden kann, schwelt seitdem und spaltet zumal die deutsche Öffentlichkeit in die Lager vermeintlicher „Russland-Versteher“ und „Russland-Basher“.
Auf Slon.ru greift Außenpolitik-Experte Wladimir Frolow die Dialog-Frage nun von russischer Seite auf: Russland will mit dem Westen reden, es muss mit dem Westen reden. Erste Signale würden auch schon gesendet. Doch vor allem einen wichtigen Punkt gelte es vorab zu klären.
Schon seit mehr als zwei Jahren haben Russland und der Westen Kommunikationsprobleme. Beide Seiten senden sich immerzu verschlüsselte Signale, doch ein Gespräch kommt nicht zustande. Die Empfangsgeräte laufen auf unterschiedlichen Frequenzen, die Entschlüsselungscodes sind verlorengegangen, man befindet sich in parallelen Informations-Universen.
In der Anfangsphase der Konfrontation ging es noch darum, Unterschiede in der Herangehensweise zu markieren und gegenseitige Vorwürfe zu verschärfen. Es gab gar keine Notwendigkeit, eine gemeinsame Sprache zu finden. Heute dagegen zeigt sich auf beiden Seiten der Wunsch nach einem Ausweg aus dieser Sackgasse der Entfremdung. Jetzt muss man herausfinden aus dem Lost in Translation, damit die Kommunikation irgendwie wieder im gleichen Signalsystem stattfinden kann.
Die Vergangenheit ruhen lassen
Moskau hat in den letzten drei Monaten seine Rhetorik ein wenig korrigiert und sendet dem Westen unzweideutige Signale: Man sei bereit, die Zusammenarbeit wieder aufzunehmen in Bereichen, wo die Interessen übereinstimmen – insbesondere bei der Terrorismusbekämpfung und bei der Lösung des Syrienkonfliktes. Im April gab Wladimir Putin beim Direkten Draht zu verstehen, dass Russland keine weiteren außenpolitischen Abenteuer plane, und lobte Barack Obama dafür, dass dieser seine außenpolitischen Fehler in Libyen eingestehe.
Der Sekretär des SicherheitsratesNikolaj Patruschew und seine Stellvertreter geben keine Interviews mehr mit Verschwörungstheorien, dass das amerikanische Außenministerium insgeheim plane, Russland Sibirien abspenstig zu machen. Im Gegenteil: Kürzlich fand eine Konferenz des russischen Verteidigungsministeriums zu internationalen Sicherheitsfragen statt, auf der Patruschew, der Leiter des FSB Bortnikow, Verteidigungsminister Schoigu und der Generalstabschef der russischen Streitkräfte Gerassimow die Zusammenarbeit Russlands mit den USA bei der Bekämpfung des IS in Syrien als ein Beispiel anführten für das mögliche und notwendige russisch-amerikanische Zusammenwirken auch in anderen Bereichen. De facto gab man so zu verstehen, dass Moskau an einer baldigen vollständigen Wiederherstellung der Zusammenarbeit mit Washington interessiert sei.
Als ersten bedeutenden Schritt hierfür sieht Moskau den Beginn der in Genf beschlossenen Kooperation: Russische und amerikanische Militärs werden bei der Überwachung der Waffenruhe und beim Trennen der kämpfenden Parteien in Syrien zusammenarbeiten. Und gerade eine solche direkte militärische Zusammenarbeit, die nach der Krim von den Amerikanern aufgekündigt worden war, hat die russische Seite nachdrücklich verfolgt. Warum, versteht sich von selbst: Sie ist ein Signal, dass Krim und Donbass der Vergangenheit angehören.
Vom Bestreben des Kreml, „den Ton in der Kommunikation mit der Außenwelt zu ändern“ zeugt auch das symbolträchtige Konzert von Gergijew und Roldugin: in den Ruinen des de facto von Russland befreiten Palmyra.
Doch sobald es um die inhaltliche Seite der Botschaft an die Welt geht, kommt es zu schweren Ausfällen in der Kommunikationsstrategie Moskaus: Der Sinn der Mitteilung erreicht seinen Adressaten nicht.
Schwammige Ziele
Moskau versucht, eine klare Formulierung seiner politischen Ziele zu vermeiden. Sicher ist nur, dass Russlands Hauptinteresse nicht in „Kriegstänzen“ in Syrien und nicht in der „Rettung von Soldat Assad“ liegt. Dies ist nur ein Werkzeug, das ausgetauscht und in etwas wirklich Wichtiges umgewandelt werden muss, etwas, wovon die Zukunft des Landes und der Machthaber abhängt.
Das soll offensichtlich eine Formel für ein neues, stabiles Sicherheitsgleichgewicht in Europa sein. Und gleichzeitig ein neues Paradigma der Beziehungen mit dem Westen, das einerseits Konfrontation und Wettrüsten ausschließt, andererseits jegliche Einflussnahme auf die russische Innenpolitik und die politische Einstellung der Bürger verhindert.
Darum ist aus dem russischen Außenministerium auch zu vernehmen, dass es in den Beziehungen mit dem Westen kein business as usual geben könne, wobei man auch angebliche Forderungen des Westens im Sinn hat, „dass wir allen etwas schulden würden, und vor allem so werden müssten wie sie“, beispielsweise in Bezug auf die gleichgeschlechtliche Ehe.
Den Westen interessiert vor allem, dass Russland bestehende Staatsgrenzen respektiert
In Wirklichkeit interessiert den Westen nur, dass Russland seinen internationalen Verpflichtungen nachkommt, das heißt vor allem, dass es bestehende Staatsgrenzen respektiert. Russland seinerseits möchte eine Form der Zusammenarbeit mit dem Westen, die keine weitere Annäherung oder gegenseitige Integration vorsieht. Genauer gesagt eine Form, die eine Integration Russlands in Europa ausschließt, aber „eine Integration des Westens in Russland“ zulässt, sprich die Übernahme des russischen Systems „traditioneller Werte“.
Wenn das ein Aufruf zu einem „neuen ideologischen Kampf“, zu russischem Messianismus und russischer Einzigartigkeit sein soll, dann ist es dumm. Wenn es die legitime Forderung nach „Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten“ sein soll, warum wird sie dann auf so eine verdrehte Art formuliert?
Das neue Jalta ist gestrichen
Ein weiteres schlecht artikuliertes Ziel der russischen Politik ist, den Westen zu nötigen, russische Lösungswege wichtiger regionaler Probleme zu akzeptieren. Gemeint ist hier offenbar, dass es unzulässig sei, wenn der Westen beim Sturz diktatorischer Regime einseitig eingreife oder auch die Opposition während der sogenannten Farbrevolutionen durch Waffen unterstütze.
Bei der Konferenz des Verteidigungsministeriums gaben die russischen Sprecher zu verstehen, dass die russisch-amerikanische Zusammenarbeit bei der globalen Sicherheit nur dann erfolgreich sein kann, wenn Washington die russischen Rezepte der Konfliktregulierung, also die russischen Bedingungen der Zusammenarbeit, annimmt. Alle anderen Bedingungen werden von Vornherein als „antirussisch“ oder gar „russophob“ abgelehnt.
PATHETISCHE RHETORIK VS. PRAGMATISCHE ÜBEREINKÜNFTE
Sicherlich ist dieses Ziel Moskaus nicht völlig unrealistisch. In letzter Zeit hat sich die Herangehensweise des Westens, und vor allem der USA, in Syrien, Libyen und Ägypten sichtlich der russischen angenähert. Doch daraus irgendwelche langfristigen Abmachungen oder Tauschgeschäfte bei anderen Themen zu machen, ist nahezu unmöglich. Hier folgt der Westen einer einfachen Logik: Warum sollte man Russland für etwas bezahlen, das es aus Eigeninteresse tut?
Deswegen war der „Abtausch“ der Ukraine gegen Syrien seit jeher nicht besonders realistisch. Und die ungeschickten und provokanten Erklärungen aus Moskau, die westlichen Länder würden internationale Terroristen unterstützen und sie zur Destabilisierung unerwünschter Regime benutzen, lassen jegliche Lust auf einen vertrauensvollen Dialog vergehen. Hier muss man sich entscheiden, ob man sich in pathetischer Rhetorik übt, die auf das innere Auditorium abzielt, oder ob man pragmatische Übereinkünfte erreichen möchte.
Russlands wichtigstes strategisches Ziel ist es letztlich, eine Erweiterung der NATO und der EU zu verhindern, insbesondere wenn diese Erweiterung Staaten der ehemaligen Sowjetunion betrifft. Aber nicht nur – wie die Warnschüsse in Richtung Schweden, Finnland und Montenegro gezeigt haben.
In seiner Rede bei der Militärparade am Tag des Sieges erklärte Wladimir Putin, man sei bereit, an der Erschaffung eines „modernen blockfreien Systems der internationalen Sicherheit“ zu arbeiten. Auch zuvor erklangen die Thesen vom Übergang zur „blockfreien Sicherheitsarchitektur“ und vom Prinzip der „unteilbaren Sicherheit“ mehrfach in den Reden und Interviews von Sergej Lawrow.
DAS JALTA-PRINZIP
Aber es bleibt völlig unklar: Was genau wollte Moskau in diese Richtung vorschlagen, abgesehen von der totgeborenen Idee eines Vertrages über europäische Sicherheit? Natürlich kann es nicht um die freiwillige Auflösung der NATO oder der EU gehen. „Die NATO ist Realität“, gestand Sergej Lawrow ein. Aber Moskau hätte gern, dass sie bleibt, wo sie ist, und sich niemals mehr irgendwohin bewegt. Dasselbe gilt für die Erweiterung der EU.
Es gibt nur ein Problem dabei, diese Auffassung in einem internationalen Abkommen zu kodifizieren: Weder die NATO noch die EU oder Russland können für andere Staaten entscheiden, wie sie für ihre Sicherheit sorgen und wo sie sich wirtschaftlich integrieren. Das wäre das Jalta-Prinzip, und darauf lässt sich keiner mehr ein. Das hat man anscheinend auch in Moskau begriffen und aufgehört, vom „neuen Jalta“ zu sprechen, das die Resultate des Kalten Krieges neu festlegen würde.
Die Lehre vom Zerfall der Sowjetunion
Es versteht sich von selbst, dass unabhängige Staaten frei über ihre Neutralität entscheiden dürfen. Andere Staaten und ihre militärischen Bündnisse müssen diese dann respektieren. So lautet das Prinzip des Vertrags von Wien 1955 und der Schlussakte von Helsinki. Doch das setzt hundertprozentige Garantien von Russland voraus. Und deren Glaubwürdigkeit liegt seit der Eingliederung der Krim fast bei Null.
Für den Westen besteht überhaupt keine Notwendigkeit, irgendetwas zu unterzeichnen, dass man von einer Erweiterung absehe – alle Entscheidungen diesbezüglich wurden längst getroffen. Keine einzige der postsowjetischen Republiken hat ernsthafte Perspektiven auf eine NATO-Mitgliedschaft (die geplante Erweiterung bezieht sich nur auf die Balkanstaaten).
Wenn Russland also irgendwelche verpflichtenden Übereinkünfte möchte, die die militärische Aktivität der NATO oder die Expansion der EU regeln, dann muss es dafür in Verhandlungen treten und eine Reihe von konstruktiven Vorschlägen machen. Und wie die aussehen sollten ist, insbesondere im militärischen Bereich, längst bekannt.
Verhandlungen würden die Diskussion um die Ukraine wieder neu aufrollen
Doch neuen ernsthaften Verhandlungen mit dem Westen weicht Russland geflissentlich aus. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Verhandlungen setzen voraus, dass man sich auf eine gemeinsame Verständnisebene eines Problems und seiner Ursachen begibt, dass man Bedenken und Vorbehalte der anderen Partei berücksichtigt und das eigene Verhalten entsprechend an ausgehandelte Kompromisse anpasst. Das würde unweigerlich zurück zur Diskussion führen, weshalb sich Russland im Jahr 2014 in die Ereignisse in der Ukraine eingemischt hat, und darüber, welche Verantwortung es für die Eingliederung der Krim trägt. Genau das versucht Moskau mit allen Mitteln zu vermeiden.
Verhandlungen über Rüstungskontrolle oder Kompromisse betrachtet der Kreml als einen Rückfall in Gorbatschows „neues außenpolitisches Denken“, das angeblich zur „größten geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ geführt hatte. Dieser Logik folgend wären Verhandlungen über eine Normalisierung und Erneuerung der Zusammenarbeit – zum Preis einer notwendigen Korrektur des eigenen Vorgehens, etwa im Donbass – gleichbedeutend mit dem Weg in den Abgrund.
Stattdessen inszeniert man ein Theaterstück über die alleinige Schuld des Westens an der bestehenden Krise, über die von Gott weiß woher aufgetauchten Sanktionen und über die Verlagerung von NATO-Militärstruktur in Richtung russischer Grenze. Gleichzeitig werden scharfe, an Fouls grenzende Aktionen gegen Kriegsschiffe und Flugzeuge der Nato unternommen. Sie sollen der NATO die Unzufriedenheit Russlands signalisieren und sie dazu bewegen, quasi ganz von selbst Russlands Bedingungen und Bedenken anzuerkennen.
Moskau setzt auf Unberechenbarkeit, um die eigene Position zu stärken
Moskau riskiert die Eskalation: Mittels der Demonstration seiner Unberechenbarkeit und mittels jäher Entscheidungen über ein militärisches Eingreifen möchte es seine zukünftige Verhandlungsposition stärken. Es möchte das Gefeilsche mit dem Westen quasi in einer Zeit der Post-Ukraine beginnen, dabei aber die Ukraine selbst ausklammern, liege doch die „Ursache für die Krise im Agieren von Kiew“ – das also seine Position anzupassen habe, und zwar durch Erfüllen der Bedingungen von Minsk-2.
Die Machtkomponente „Unberechenbarkeit“in der Außenpolitikmacht beim Westen allerdings nicht den nötigen Eindruck. Der sieht in Moskaus „pubertärem Verhalten“ viel eher eine Methode, Schwäche und Unsicherheit zu kaschieren. „Den Troll füttern“ möchte keiner. Im Westen gibt es zurzeit eine lebhafte Diskussion darüber, wie man mit Russland am besten kommunizieren soll.
Man ist sich dessen bewusst, was Putin möchte: Nämlich, dass der Westen Russland in Ruhe lässt und sich nicht in innere Angelegenheiten einmischt. Aber gleichzeitig soll er – und zwar verpflichtend – bei allen Fragen Rücksprache halten, die Russlands Interessen betreffen.
Man weiß dort auch, dass nur eine Person in der Russischen Föderation den Inhalt dieser Interessen bestimmt, und man ist bereit mit ihr zu verhandeln. Das Problem besteht offenbar darin, dass Moskau inhaltlich nicht vorbereitet ist auf ein konstruktives Gespräch – wir wissen nicht genau, was wir wollen – und in der psychologisch motivierten Angst, sich auf Verhandlungen einzulassen. Die versteht man als Zeichen der Schwäche.
Doch früher oder später wird man mit dem Westen Gespräche über die Regeln des Zusammenlebens führen müssen. Die Lehre aus der Sowjetunion besteht darin, es zu tun, bevor es zu spät ist.
Wer in Russland ein Unternehmen gründet oder betreibt, gerät immer stärker unter Druck: Die Zahl an Strafverfolgungen von Unternehmern in Russland ist im vergangenen Jahr um 20 Prozent gestiegen. Zu diesem Ergebnis kommt jedenfalls Business-Ombudsman Boris Titow in einem Bericht, den er voraussichtlich Ende Mai dem Präsidenten vorlegen wird. Kreml-Sprecher Peskow ergänzte sogleich, dass der Bericht öffentlichen Zahlen anderer Unternehmensverbände wie der Russischen Union der Industriellen und Unternehmer (RSPP) widerspreche.
Das Online-Magazin Sekret Firmy dagegen klagt darüber, „wie man in Russland Unternehmen zerstört“. Viktor Feschtschenko beschreibt „das Ende einer schönen Epoche“ für Unternehmer anschaulich am Schicksal von dreien von ihnen.
Wie lange sie noch zu leben hat, weiß Jelena Boldyrewa selbst nicht. Sie hat eine Schwerbehinderung zweiten Grades, alle sechs Monate muss sie für eine Woche ins Krankenhaus, doch dort war sie schon seit vier Jahren nicht mehr – erst entließ sie der Ermittler der Staatsanwaltschaft von Armawir nicht aus dem Hausarrest, und jetzt sitzt Boldyrewa sogar in Untersuchungshaft.
Seit all diesen Jahren wird ihr, der Ehefrau eines Einzelhändlers, der Trockenwaren verkaufte, „Verbreitung von Rauschmitteln über den Verkauf von Lebensmittelmohn“ vorgeworfen. Dabei gab es keinen einzigen Schuldspruch. Nur zwei Freisprüche.
Boldyrewa ist eine von Millionen Unternehmern, die ihr Geschäft in Russland aufgegeben haben. Allein seit 2013 ist die Zahl der Unternehmer laut Berechnungen der Assoziation russischer Banken und des Soziologischen Instituts der Russischen Akademie der Wissenschaften (RAN) von 4,3 auf 2,8 Millionen gesunken. Ein Staat, der will, dass möglichst viele seiner Bürger ihm nicht länger auf der Tasche liegen und in die Selbständigkeit gehen, müsste in einer solchen Situation Unternehmern das Leben maximal erleichtern und das Entstehen von Startups fördern.
Doch Russland geht eigene Wege: Die Silowiki sperren Unternehmer weiter hinter Gitter – in den vergangenen drei Jahren hat sich die Zahl der „Wirtschaftshäftlinge“ in den Untersuchungsgefängnissen fast verdoppelt.
Die schönen Zeiten sind vorbei
Jene schöne Epoche, als man ein eigenes Unternehmen gründen, Millionen verdienen und wenigstens halbwegs sicher sein konnte, dass einem ohne schwerwiegende Gründe niemand auf die Pelle rücken würde, ist vorbei.
Das Magazin Sekret Firmy [Firmengeheimnis – dek] ist drei bezeichnenden Geschichten von Unternehmern unterschiedlicher Größe und Ausrichtung nachgegangen, die vom Business in Russland enttäuscht sind.
I. Clubleben
In den 2000er Jahren gründeten die Russen Unternehmen noch freudiger als ein Jahrzehnt zuvor. Sie waren beflügelt durch den wachsenden Konsum, der auf den Aufschwung des Ölpreises folgte – er war zeitweise auf 143 Dollar pro Barrel gestiegen.
Doch im Weiteren wähnten sich die Silowiki und andere Staatsbeamte immer mehr von Strafen ausgenommen. Nach dem Fall YUKOS begannen Unternehmer zu ahnen, dass es ohne unabhängige Justiz keinen Rechtsschutz gibt für Unternehmen, egal welchen Kalibers: Wenn deine Firma einem Beamten oder einem seiner Verwandten gefällt, dann muss man sich entweder davon verabschieden oder sich verständigen.
Das „Tauwetter“ änderte nichts
Das „Tauwetter“ unter Medwedew und sein Slogan als Präsident mit dem iPhone: „Hört auf, das Business zu verschrecken“ konnten niemanden darüber hinwegtäuschen – die Haftbefehle gegen Unternehmer wurden nicht weniger, und in 96 Prozent der Fälle wird ihnen stattgegeben.
Ende der 2000er Jahre entstand der bekannte Butyrka-Blog von Olga Romanowa und Alexej Koslow. Jana Jakowlewa rief nach ihrer Inhaftierung im Chemiker-Fall die Menschenrechtsorganisation Business-Solidarnost ins Leben und unterstützt seitdem Unternehmer, die strafrechtlich verfolgt werden.
Schwarze Pelzrobe, vier Goldringe und ein repräsentativer Nissan
Der Moskauerin Natalja Malinowskaja schienen all diese Zusammenstöße weit weg, jenseitig. Sie hatte nur positive unternehmerische Erfahrungen. Jetzt ist sie 32, hüllt sich in eine schwarze Pelzrobe, trägt vier Goldringe und fährt einen repräsentativen schwarzen Nissan.
2009 hat sie gemeinsam mit ihrem Ex-Mann das Unternehmen Nowy Gorod [Neue Stadt – dek] geleitet. Sie schufen Werbeflächen und errichteten außerdem die Skihalle Snesh.com, ein Volleyballzentrum in Odinzowo und den Eispalast ArenaBalaschicha. Der Vertrag mit LUKOIL über das Design ihrer Tankstellen brachte 50 Millionen Rubel [damals rund 1.140.000 Euro] im Jahr ein.
Die jungen Millionäre verheizten das Geld in Clubs, bis sie sich alle Hörner abgestoßen hatten, aber Malinowskajas Traum vom eigenen Nachtclub blieb. 2009 entdeckte sie geeignete Räume in Balaschicha, in einer ehemaligen Textilfabrik. Inhaber war die Firma Russki Trikotash, die Kleidung der Marke Twojo(Deins) herstellten.
Von Seiten der Firma wurde der Vertrag von Ilja Ussolzew unterzeichnet, dem Generaldirektor der OOO Baumwollspinnwerk Balaschicha, nebenamtlich lokaler Abgeordneter der Partei Einiges Russland.
Beim ersten, recht freundlichen Gespräch erwähnt er Beziehungen zu den staatlichen Machtorganen
Malinowskaja erinnert sich noch an ein Foto in seinem Büro, auf dem Ussolzew Wladimir Putin die Hand schüttelt. Und beim ersten, recht freundlichen Gespräch habe der Abgeordnete beiläufig Beziehungen zu den staatlichen Machtorganen erwähnt.
Der Club Sawod [Fabrik – dek] ging erfolgreich an den Start. Das Partyvolk pilgerte von Moskau nach Balaschicha, auf der Bühne standen die Band Vintage und kleine Stars der 90er Jahre. Unter der Woche fanden im Club Bankette, Firmen- und Geburtstagsfeiern statt. Wie Malinowskaja versichert, habe der Bürgermeister von Balaschicha den Laden regelmäßig an hochrangige Besucher empfohlen.
Aber es nützte nichts. Im August bestellte Ussolzews Assistent Malinowskaja zu sich und schlug ihr vor – so ihre Worte –, seine eigene Security aufzustellen, die nicht so sehr für Sicherheit sorgen sollte als vielmehr dafür, Drogen unter die Besucher bringen.
„Damals hatte ich noch nicht die Angewohnheit, alles, was mir gesagt wird, mit dem Diktiergerät aufzunehmen“, bedauert die Unternehmerin, die diese Aussage nun nicht mehr beweisen kann. Auf eine Gesprächsanfrage von Sekret hat Ussolzew nicht reagiert.
Malinowskaja lehnte ab – und einen Monat später bekam sie die Rechnung: Die Inhaber des Gebäudes drehten ihr den Strom ab. Ussolzew verlangte zunächst 30.000 Rubel [damals rund 680 Euro] von ihr (sie zahlte, der Strom blieb aus), dann 70.000 Rubel [damals rund 1600 Euro] (sie lehnte ab), dann 300.000 Rubel [damals knapp 6800 Euro] (sie lehnte ab).
„Natalja, hier verlangen irgendwelche maskierten Leute, dass wir die Räumlichkeiten verlassen“
Am Morgen des 25. Oktober 2009 überwies Malinowskaja eine weitere Pachtzahlung auf das Konto des Russki Trikotash. Ein paar Stunden später bekam sie einen Anruf von ihren Mitarbeitern: „Natalja, hier verlangen irgendwelche maskierten Leute, dass wir die Räumlichkeiten verlassen.“
Malinowskaja, überzeugt, dass es sich um ein Missverständnis handeln müsse, bat sie keinen Widerstand zu leisten und alle hereinzulassen. Von da an blieb die Fabrik für Gäste geschlossen.
An jenem Tag fuhr sie zum Club, wo sie ein Versiegelung-Protokoll und einen Mahnbescheid wegen Zahlungsverzug ausgehändigt bekam. Malinowskaja rief sofort bei der Bank an und erkundigte sich, ob das Geld eingegangen sei. Dort bestätigte man ihr, dass die Summe bereits auf das Konto des Empfängers überwiesen sei.
Malinowskaja weinte vier Tage am Stück. Am fünften riss sie den Siegel ab und betrat den Club. Nach ihrem Besuch wurden die Türen zugeschweißt.
Zu dieser Zeit traf sich Malinowskaja mit Ussolzew. Sie erzählt, der Abgeordnete habe zu ihr gesagt, er wisse, auf welche Schule ihr Kind gehe, und es sei kein Problem, ein Kilo Heroin bei ihr finden zu lassen, außerdem stehe die Partei hinter ihm und so weiter.
Die Polizei weigerte sich, eine Anzeige aufzunehmen
Die Inhaber des Russki Trikotash drückten sich erfolgreich vor einem Gespräch. Bei der Polizei weigerte man sich, eine Anzeige gegen Ussolzew aufzunehmen, bezeichnete den Konflikt als „Streit unter Wirtschaftssubjekten“. Dann erstattete Malinowskaja Anzeige gegen Unbekannt mit der Bitte um Aufklärung, wer die Türen des Clubs zugeschweißt habe, in dem sich ihr Besitz befinde.
Die Registrierung des Dokuments war ein Problem für sich – die lokalen Beamten nahmen sich mal einen Tag frei, wurden krank oder fehlten am Arbeitsplatz. Doch eines Tages hatte Malinowskaja Glück: Einer der Beamten von Balaschicha hatte vor zu kündigen und somit nichts zu verlieren – er nahm die Anzeige entgegen und holte sogar eine Erklärung von Ussolzew ein.
Der Generaldirektor der Firma behauptete, der Vertrag mit Sawod sei aufgrund von Mietrückständen einseitig gekündigt worden. Bereits im Dezember waren die Räumlichkeiten gegen eine höhere Pacht als Malinowskajas an einen anderen Club vermietet, der teilweise Einrichtung und Möbel benutzte, die die Unternehmerin seinerzeit für das Sawod gekauft hatte.
Alle Höllenkreise der Bürokratie durchlaufen
Erst drei Jahre später konnte Malinowskaja die Einleitung eines Strafverfahrens gegen ihren Widersacher erwirken. So lange hatte sich die Staatsanwaltschaft von Balaschicha geweigert. Malinowskaja legte immer wieder Beschwerde ein, die Moskauer Gebietsstaatsanwaltschaft leitete den Fall zur Prüfung weiter, die Staatsanwaltschaft Balaschicha verlor die Papiere – so ging es endlos weiter.
Irgendwann verkaufte die Unternehmerin ihren gesamten Besitz: „Wenn man vor Gericht ziehen will, braucht man Geld.“
Nachdem sie alle Höllenkreise der Bürokratie durchlaufen hatte, wandte sich Malinowskaja an die Generalstaatsanwaltschaft, und erst mit ihrer Hilfe konnte sie ihr Anliegen durchsetzen.
Vor Gericht ist der Fall zwar noch immer nicht, doch die Chancen, dass es irgendwann mal so weit sein wird, stehen laut Malinowskaja jetzt deutlich besser.
Natalja Malinowskaja will nie wieder in Russland Geschäfte machen
Vor dem Hintergrund dieser Geschichte ist die ehemalige Unternehmerin zur Bürgerrechtlerin geworden. Sie unterstützt Unternehmer aus dem Moskauer Umland und einfache Bürger, studiert und will Rechtsanwältin werden. Sie besucht auch die Schule der Menschenrechtler der Organisation Rus sidjaschtschaja[Einsitzendes Russland – dek] von Olga Romanowa.
In Russland Geschäfte machen will sie nie wieder, und die Schuldigen in Fällen wie diesen sind für sie korrupte Beamte. Die Situation retten könnten ihrer Meinung nach faire Wahlen, auf Landes- und auf regionaler Ebene.
II. Plattmachen, bis zum Schluss
Über Skype spreche ich mit Alexej Sorkin, er lebt in Spanien. Als ich anfange zu fragen, unterbricht Sorkin das Gespräch: „Ich vertraue Skype nicht besonders, lassen Sie uns zu Viber wechseln.“ Vor zwei Jahren ist er aus Russland weggegangen, aus Angst um sein Leben, und Angst hat er noch heute.
Der 46-jährige Sorkin hat die militärisch-ingenieurtechnische Universität in St. Petersburg abgeschlossen, aber bei der Armee dienen wollte er nicht.
Es waren die 90er Jahre, Armeeangehörige fristeten ein ärmliches Dasein, und so begann er als Spediteur beim Konzern Orimi. Bis 2000 war er zum Direktionsleiter aufgestiegen, jedoch zerfiel das Unternehmen nach der Ermordung des Inhabers Dimitri Warwarin.
Sorkin machte sein eigenes Ding
Sorkin machte sein eigenes Ding und gründete die Firma Petro-Sorb-Komplektazija. Er hatte den Plan, Analysegeräte für Sprengstoffe herzustellen. Die Idee war ihm nach den Wohnhausexplosionen in Moskau gekommen – Sorkin hatte den Eindruck, dass die Ermittler nicht besonders sorgfältig arbeiteten.
Mit Sprengstoffen kannte er sich seit der Uni aus, und wie man eine Produktion organisiert, wusste er dank seiner früheren Arbeit. Es fehlten nur noch Kontakte zum Innenministerium, dem potentiellen Hauptabnehmer der Ware.
Sorkin verschickte ein paar Briefe – und es funktionierte, denn nach seinen Angaben hatte sonst niemand Analysegeräte in dieser Qualität und Bedienungsfreundlichkeit.
Der Unternehmer ist sich sicher: Die Silowiki waren damals noch an der Optimierung ihrer Arbeit und nicht nur an korrupten Machenschaften interessiert, deshalb reagierten sie positiv auf das Angebot.
Das Unternehmen machte 3,5 Millionen Dollar Umsatz. Aber irgendetwas ging schief
2011 war Sorkin zum größten Lieferanten von Alkoholmessgeräten aufgestiegen, stellte außerdem Analysegeräte her sowie stationäre Videoüberwachungsanlagen und Dashcams mit eigener Software. Das Unternehmen erreichte einen Umsatz von 3,5 Millionen Dollar, es operierte in 60 Regionen Russlands. Aber irgendetwas ging schief.
Ab 2009 fingen sie an, seine Firma von öffentlichen Ausschreibungen auszuschließen, aus merkwürdigen Gründen: Mal passte das Gewicht des Gerätes nicht, mal die Farbe eines Knopfes, mal die Bauweise (Dokumente, die den Ausschluss von Ausschreibungen belegen, liegen der Redaktion vor).
Ab 2011 kamendie technischen Anforderungen für Ausschreibungen dann aus dem Hauptsitz des Innenministeriums in die Regionen. Und alle waren laut Sorkin im Interesse bestimmter Unternehmen verfasst, die von der Führungsetage des Ministeriums kontrolliert wurden.
„Sorkins Firma plattmachen bis zum Schluss“
Im Büro tauchten immer öfter Inspektoren auf. Bald erreichte den Unternehmer über bekannte Beamte die Verlautbarung einer leitenden Person im Innenministerium: „Sorkins Firma plattmachen bis zum Schluss.“
Im Frühjahr 2013 kam Sorkin aus seinem Petersburger Büro der Petro-Sorb-Komplektazija, als ihm gleich ein grauer Škoda ins Auge sprang, den er schon mal irgendwo gesehen hatte. Als er an seinem Auto war, überprüfte er sicherheitshalber den Unterboden. Er fand nichts, setzte sich ans Steuer und fuhr los zu einem Termin.
Der Škoda hielt sich in einiger Entfernung, aber Sorkin ahnte, dass er verfolgt wird. An einer Ampel konnte er im Auto seinen ehemaligen Mitarbeiter Jewgeni Kuryschew ausmachen. Zusammen mit ein paar anderen Angestellten hatte der erst vor kurzem zum Konkurrenten Alkotektor gewechselt.
Sorkin ist sich sicher, dass das Unternehmen mit den höchsten Führungsleuten im Innenministerium verbandelt ist, er kann sogar konkrete Namen nennen.
Der Geschäftsmann berichtet, er habe sich mit ihnen wegen des Ergebnisses einer Ausschreibung rechtlich angelegt, und sie hätten ihm daraufhin seine Mitarbeiter abgeworben, um Zugang zu Unternehmensunterlagen zu bekommen.
Geräte in Millionenwert gestohlen
Die Mitarbeiter selbst hätten dann eine identische Firma gegründet, Alkotektor – ein Unternehmen, das Alkoholmessgeräte und Anlagen zur Videoüberwachungsanlagen herstellt. Innerhalb eines Jahres habe sie Ausschreibungen des Innenministeriums im Wert von 120 Millionen Rubel [damals rund 2,7 Millionen Euro] gewonnen, und die gelieferten Geräte – so Sorkin – hätten die ehemaligen Mitarbeiter schlicht aus seinem Lager gestohlen.
Die Alkotektor-Mitarbeiterin, die meinen Anruf entgegennahm, teilte Sekret mit, die Geschäftsführung sei auf Dienstreise und habe keine Zeit für Gespräche. Außerdem „wolle der Generaldirektor nicht über Sorkin sprechen“. Auf die Frage „Warum?“ antwortete die Mitarbeiterin: „Wenn Sie die Situation im Ganzen verstehen würden, dann müsste ich Ihnen das gar nicht erklären.“ Diese Äußerung wollte sie nicht näher ausführen.
Bei der Polizei sagte man ihm: „Sie wurden ja nicht umgebracht“
Als Sorkin klar geworden war, dass man ihn beschattete, fuhr er zum Polizeihauptrevier von St. Petersburg und erstattete Anzeige. Dort sagte man zu ihm: „Sie wurden ja nicht umgebracht“, und weigerte sich, die Anzeige aufzunehmen.
Der Unternehmer bekam es jetzt richtig mit der Angst zu tun. Er kannte die leitenden Köpfe im Innenministerium ziemlich gut und zweifelte nicht, dass sie bis zum Äußersten gehen würden. Aus diesem Grund zog er Anfang 2014 nach Spanien, wo er seit längerem ein Haus besaß.
Etwas mehr als ein Jahr lebte Sorkin im Ausland. In dieser Zeit hat man ihm 50 Prozent seines Unternehmens Petro-Sorb-Komplektazija weggenommen, einen neuen Direktor eingesetzt, das Konto geplündert und die Firma faktisch in den Bankrott getrieben. Aber Sorkin gibt die Hoffnung nicht auf, sich die Firma zurückzuholen, und erhebt Klagen beim Schiedsgericht in St. Petersburg.
Ein weitere Art zu kämpfen besteht für ihn in der Unterstützung der Opposition. Nach der Ermordung von Boris Nemzow kehrte er nach Russland zurück, um der Demokratischen Koalition bei den Wahlen in Kostroma zu helfen. Er arbeitete die gesamte Kampagne hindurch und reiste im Oktober zurück nach Spanien, um einige Wochen später wieder nach Russland zu fahren.
Ein Signal, dass seine Anwesenheit in Russland nicht erwünscht ist
Während Sorkin in Spanien war, wurde das Büro seiner neuen Firma durchsucht. Er hatte eine neue Firma mit zwei Büros in St. Petersburg und Spanien gegründet, die lokale Immobilien an Russen verkaufte. Es schien nicht weiter schlimm, es wurden nur Papiere zum Thema Petro-Sorb-Komplektazija entwendet. Aber er fasste dies als Signal auf, dass seine Anwesenheit in Russland nicht erwünscht ist. Deshalb hat er bis auf Weiteres nicht vor, in die Heimat zu reisen.
Sorkin träumt von einer Rückkehr, sobald „Putins Regime gefallen ist“. Er hat keinen Zweifel daran, dass dieser Zeitpunkt in nicht allzu weiter Ferne liegt, und erhofft sich von einer neuen Regierung, dass sie alle Silowiki aus den Ämtern heben und ein unabhängiges Rechtssystem schaffen wird. Er selbst will dann den guten Namen seines Unternehmens wiederbeleben.
Solange das noch nicht passiert ist, will er keine Geschäfte in Russland machen. Sorkin ist der festen Überzeugung, dass Putin und die von ihm geschaffenen Beziehungsstrukturen mit der Wirtschaft die Wurzel allen unternehmerischen Übels sind.
III. Der Mohn-Fall
Eines Tages im Juni 2011 kam Jelena Boldyrewa – sie handelt mit Trockenwaren, darunter auch mit Mohn – aus der Steuerbehörde ins Großhandelslager von Armawir. Graue einstöckige Lagerbauten, aufgetürmte Paletten, Verpackungen, Kartons und Papiermüll lagen auf dem sonnenheißen Asphalt. Sie ging hinter die Verkaufstheke und zwängte sich dort in ein winziges Kabuff, wo ihr Mann Dimitri sie erwartete.
„Jemand von Set war gerade hier. Ich habe Instantnudeln und Makkaroni bestellt. Die haben gesagt, wenn wir noch ein bisschen mehr bestellen, geben sie uns neun Prozent Rabatt.“
„Wir haben doch eigentlich alles.“ Boldyrewa verstand nicht gleich.
„Naja, ich dachte, wir könnten mal was Neues probieren, die Produktpalette erweitern. Sie haben uns Gewürze angeboten, Mohn und so, da hab ich ja gesagt.“
„Mehr gibt es da gar nicht zu berichten. Wir haben einfach angefangen zu handeln“, erinnert sich Boldyrewa. Ich besuchte sie letzten September in Armawir. Während des Gesprächs briet Boldyrewa Kartoffeln: „Der Laden brachte uns 100.000 Rubel [damals 2500 Euro] Gewinn im Monat, zum Jahreswechsel waren es sogar mehr. Jetzt haben wir unseren Porsche Cayenne verkauft, leben von meinen und Mamas 9000 Rubel Rente [120 Euro] und von dem, was mein Sohn hin und wieder verdient. Wir ernähren uns hauptsächlich von den Nudeln, die noch im Lager übrig waren.“
Ein paar Monate nach dem ersten Mohneinkauf waren Mitarbeiter des Föderalen Dienstes für Rauschgiftkontrolle (FSKN) bei Boldyrewa im Lager aufgetaucht. „Sie waren höflich.“ Sie baten sie, am nächsten Tag mit ihren Papieren bei ihnen vorbeizukommen.
Das Angebot, sich „freizukaufen”, lehnte sie ab
Beim FSKN habe man Boldyrewa zunächst erklärt, dass im Mohn Spuren von Rauschgift enthalten sein könnten und der Handel damit deshalb verboten sei, man habe eine Verwarnung ausgesprochen und ihr dann angeboten, sich „freizukaufen“. Sie lehnte ab und man ließ sie gehen.
Bis zum Februar 2012 arbeiteten die Boldyrews weiter, als wäre nichts gewesen. Dann stürzte alles mit einem Mal ein. Zwischen dem ersten FSKN-Besuch und jenem im Februar fiel den Boldyrews langsam auf, dass in ihrem Laden im Großlager regelmäßig vier etwas merkwürdige Kunden auftauchten. „Sie sahen blass aus, wirkten irgendwie lahm, sprachen langsam.“
Die Unternehmerin ahnte, dass sie wahrscheinlich drogenabhängig waren, zumal sie Mohn kauften, aber sie wusste nicht, was sie mit ihnen machen sollte: „Hätte ich etwa ihre Blutwerte testen sollen? Oder vielleicht schreien: Verschwinde hier, du Junkie!?“
Am 6. Februar 2012 verkauften sie gerade fünf Päckchen an einen hiesigen Lagerarbeiter und Alki, als plötzlich bewaffnete Leute ihren Laden stürmen. „Hände auf den Tisch, Telefone aus, und unseren Mitarbeiter packten sie am Kragen und zerrten ihn in das Kabuff“, erinnert sich Boldyrewa.
Am nächsten Tag kamen sie in Vorbeugehaft
Am nächsten Tag nahm das Gericht die Boldyrews, den Lagerwachmann Molotkow und den Fahrer Gadshijew in Vorbeugehaft. Allerdings wurde Boldyrewa wegen ihrer Behinderung nach drei Wochen entlassen und unter Hausarrest gestellt.
Im Juni 2012 erklärte das Berufungsgericht der Region Krasnodar die Verfahrenseinleitung für rechtswidrig. Im Dezember fällte das Gericht in Armawir die gleiche Entscheidung.
Es wurde festgehalten, dass die Boldyrews bei Großhändlern offiziell angekauften Lebensmittelmohn in Plastikverpackungen ohne Öffnungsspuren verkauft hatten und deshalb nicht wissen konnten, dass darin Rauschgiftsubstanzen enthalten waren. Die Angeklagten wurden gleich im Gerichtssaal auf freien Fuß gesetzt.
Nach dem Prozess suchten sie Arbeit in Moskau
Аnschließend machten sie sich auf zu Verwandten nach Moskau, um Arbeit zu suchen. Dort stand Boldyrewa regelmäßig um sechs Uhr in der Früh auf, stieg an der Station Timirjasewskaja in die Monorail und fuhr zu ihrer Arbeit als Kassiererin im Supermarkt Lenta an der WDNCh. Auch ihr Mann war dort untergekommen, als Wachmann.
„Unser ganzes Leben lang waren wir Unternehmer, und jetzt sind wir selbst Verkäufer“, seufzt sie. Nach der Entlassung hatten sie für die Wiedereröffnung ihres Geschäfts kein Geld. In Moskau verdienten sie 2000 Rubel [damals knapp 50 Euro] am Tag.
Eines Tages im Mai wurde Boldyrewa am Supermarkteingang von zwei Passanten in Zivil angesprochen: „Guten Tag, sind Sie Jelena?“ Im ersten Moment dachte sie, dass ihr eine Strafe wegen der fehlenden Anmeldung in der Hauptstadt blühe, aber sie hatte sich geirrt: „Wir würden gerne mit Ihnen über Ihren Fall in Armawir sprechen.“ Die ehemalige Unternehmerin atmete auf: „Ach so, na da wurde ich freigesprochen, alles in Ordnung, nach der Arbeit können wir reden.“ „Leider nein, wir müssen gleich aufs Revier fahren.“
In der Polizeidienststelle teilte man Boldyrewa mit, der Freispruch sei durch das Regionalgericht Krasnodar widerrufen worden. Dasselbe Gericht, das das Verfahren zuvor für rechtswidrig erklärt hatte. Am nächsten Tag wurden sie in mehreren Etappen nach Armawir geschickt. Ihren Mann sperrte man wieder ins Untersuchungsgefängnis, Jelena kam unter Hausarrest …
Jeder weiß alles über die Staatsanwälte und Ermittler hier
Bogdan Boldyrew setzt sich hinter das Steuer seines alten Lada 7 mit störrischem Schaltgetriebe, und wir fahren zusammen zum Großhandelslager Armawir. Er besitzt keinen Führerschein, denn der kostet Geld. Aber er kennt alle Verkehrspolizisten – die Stadt ist klein. Und genauso weiß jeder alles über die Staatsanwälte und Ermittler hier.
Er schildert mir die Legenden, die über die vier Junkies kursieren, die im ersten Prozess gegen seine Eltern mitgewirkt haben und bald nach dem Freispruch unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen sind, und erzählt, dass das FSKN-Gebäude in Armawir vor ein paar Jahren mit einem zwei Meter hohen Zaun abgeriegelt wurde, weil es zu viele gab, die mit den Mitarbeitern ihre offenen Rechnungen nach Knastgesetz begleichen wollten.
Laut Bogdan hat jeder dritte junge Mann in Armawir wegen Paragraph 228 (Drogenbesitz) gesessen – die jungen Leute werden eingesperrt, um gute Zahlen vorzuzeigen.
Sie kämpft weiter. Etwas anderes bleibe ihr sowieso nicht übrig
Nach ihrer Rückkehr aus Moskau im Mai 2013 wurden die Boldyrews erneut freigesprochen. Das Gericht in Krasnodar lehnte den Entscheid wieder ab und gab den Fall zurück an das Gericht in Armawir. Letzteres hat bereits fünf Mal seine Nachuntersuchung angeordnet. Diese ganze Zeit über sitzen Boldyrew der Ältere, Molotkow und Gadshijew in U-Haft.
Im Gespräch mit mir berichtet Boldyrewa nüchtern, dass das Leben ihrer Familie von außen betrachtet zerstört sei, aber sie versuche weiterzukämpfen, еtwas anderes bleibe ihr ohnehin nicht übrig. Die Schuld an ihrer privaten Katastrophe gibt sie – genau wie Sorkin – Putin und der „Willkür, die er angezettelt hat“.
Im Dezember 2015 wurde der vorbeugende Hausarrest für Boldyrewa in eine Inhaftnahme umgewandelt. Nach Aussage ihrer Anwältin Ella Peschnaja habe die Gesundheitskommission die früher diagnostizierte Krankheit nicht feststellen können. Der Behinderungsgrad sei schließlich aufgehoben worden – weil der Ermittler sie nicht zwecks Nachweis zur Untersuchung habe gehen lassen.
Der Fall liegt nun wieder beim Gericht Armawir.
Epilog
Einen Monat nach seiner zweiten Inauguration hat Wladimir Putin das Amt des Beauftragten für Unternehmerrechte eingerichtet und mit dem Inhaber der Weinkellerei Abrau-Djurso Boris Titow besetzt.
Die Befugnisse dieses Beamten blieben allerdings eng begrenzt. Seine einzige Waffe sind Schreiben zur Unterstützung von Unternehmern, die genauso viel Gewicht haben wie Anfragen von Abgeordneten. Titows erfolgreichste Initiative war die Amnestie für Unternehmer im Jahr 2013, auf deren Grundlage 2466 Menschen vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen wurden.
Jana Jakowlewa von Business–Solidarnost meint, dass ein solcher Ombudsmann nicht konkreten Unternehmern helfen müsste, sondern die kriminellen Strukturen offenlegen, die sie erst ins Gefängnis bringen, doch dafür würden seine Kompetenzen nicht ausreichen.
Ein weiterer Bürokrat, aber keine Lösung
Wie auch immer, das Problem wurde nicht gelöst, sondern nur ein weiterer Bürokrat gerufen, der sich dem Krebsgeschwür des Verwaltungssystems annehmen sollte. Mittlerweile konzentriert sich Titow auf seine politische Karriere in der Partei Prawoje delo.
In einer Mitteilung an die föderale Versammlung sagte Putin, dass 2014 200.000 Strafverfahren gegen Unternehmer angestoßen worden seien, von denen nur 30.000 vor Gericht landeten.
Der Trend scheint offensichtlich: Die Verfahren dienen der Einschüchterung von Unternehmern. Und die Erpresser können so offensichtlich die Übernahme des Business oder Freikaufzahlungen erwirken, bevor der Fall vor Gericht kommt.
Aber der Präsident zog aus diesem Trend seine ganz eigenen Schlüsse und er schuf eine Gruppe zur Konfliktlösung zwischen der Unternehmerwelt und den Silowiki – im Grunde eine offizielle Struktur zur „Problemklärung“.
Ein „postfeudales“ Bezugssystem
Der Wirtschaftsexperte Andrej Mowtschan bezeichnete dieses Bezugssystem als „postfeudal“. Grob gesagt ist ein Unternehmen demzufolge etwas, das man zwar unterhalten darf, aber nicht vorbehaltlos besitzen. Und wenn eine einflussreiche Persönlichkeit ein Auge darauf geworfen hat, gibt es keine Rechtsmittel, die dich schützen könnten.
Die Verhaftung des Domodedowo-Inhabers Kamenschtschik, der massenhafte Abriss von Verkaufspavillons sowie – etwas breiter gefasst – die Verschlechterung des Investitionsklimas und das Ausbleiben von Reformen: Mit Blick auf all diese jüngsten Entwicklungen haben Unternehmer immer weniger Lust in Russland ein Geschäft zu gründen.
Der Tag des Sieges am 9. Mai erinnert an den Sieg der Sowjetunion über Hitlerdeutschland und gilt als wichtigster Nationalfeiertag im russischen Kalender. Der Große Vaterländische Krieg, wie der Krieg zwischen 1941 und 1945 auch heute noch in Russland überwiegend genannt wird, hat kaum ein Familienschicksal unberührt gelassen. Die Erinnerung daran sitzt tief im kollektiven Bewusstsein. Daher ist der Tag des Sieges für viele Menschen in Russland ein Tag großer Emotionen – sowohl bei denen, die sich in der offiziellen Form des Gedenkens wiederfinden, als auch bei denen, die sich genau daran reiben.
Insbesondere die Einführung neuer Gedenktraditionen, wie das Tragen von Georgsbändchen oder das sogenannte bessmertny polk (dt. Unsterbliches Regiment), und der Krieg im Osten der Ukraine befördern in der Mediendiskussion ganz grundlegende Fragen: Was ist es eigentlich, was hier gefeiert werden soll? Und ebenso: Wie soll es gefeiert werden?
RBC: SÄULE NATIONALER IDENTITÄT
Olga Malinowa, Professorin für Politikwissenschaften an der Higher School of Economics, sieht im Sieg von 1945 das wichtigste identitätsstiftende Ereignis nach dem Zerfall der Sowjetunion, wie sie auf dem unabhängigen Wirtschaftsportal RBC schreibt:
[bilingbox]Der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg wurde in den 2000er Jahren zu einer zentralen Identitäts-Säule des „Wir“, das hinter dem modernen russischen Staat steht. […]
Dass ausgerechnet der Große Sieg die Hauptstütze einer Erinnerungspolitik wurde, die auf die Bildung einer neuen russischen Identität zielt, ist nur logisch. Es ist fast das einzige Ereignis der russischen Geschichte, welches alle Kriterien der „politischen Tauglichkeit“ erfüllt: Es ist im kollektiven Bewusstsein fest verankert, insofern es auf einer soliden Erinnerungs-Infrastruktur fußt, die hauptsächlich in den 70er und 80er Jahren geschaffen wurde, sowie auf den lebendigen Erinnerungen der älteren Generation; es deckt ein breites Spektrum symbolischer Bedeutungen für die Charakterisierung des „Wir“ ab (und zwar positive) und ist nicht Gegenstand konträrer Bewertungen, die in einem Nullsummenspiel konkurrieren.
Gleichzeitig wurde angesichts knapper „aktualisierter“ symbolischer Ressourcen der Mythos des Großen Siegs in den letzten 15 Jahren buchstäblich unser aller; er gewann eine Vielzahl neuer Bedeutungen und symbolisiert beinahe alle Aspekte der modernen russischen Identität.~~~Победа в Великой Отечественной войне превратилась в 2000-х годах в центральный столп идентичности „нас“, стоящих за современным российским государством. […]
То, что именно великая Победа стала главной опорой политики памяти, нацеленной на формирование новой российской идентичности, вполне закономерно. Это чуть ли не единственное событие российской истории, которое отвечает всем критериям „политической пригодности“: оно актуализировано в массовом сознании, поскольку опирается на солидную инфраструктуру памяти, созданную главным образом в 1970–1980-х годах, и пока еще живую память старшего поколения; имеет широкий спектр символических значений для характеристики „нас“ (причем позитивной) и не является предметом противоположных оценок, конкуренция которых воспринимается по принципу игры с нулевой суммой. Вместе с тем в силу скудости „актуализированных“ символических ресурсов миф о великой Победе за последние 15 лет стал буквально нашим всем; он приобрел множество новых смысловых значений и символизирует чуть ли не все аспекты современной российской идентичности.[/bilingbox]
RUS2WEB: 1945 – PUTINS SIEG
Einen Schritt weiter geht der Journalist und Blogger Oleg Kaschin auf dem unabhängigen Online-Portal Rus2Web: Er sieht in der offiziellen Erinnerungspolitik eine Art Vereinnahmung des Sieges durch den Kreml.
[bilingbox]Die Mythologie des Großen Vaterländischen Krieges, die in den 2000er Jahren entstand, ist eine neue Mythologie. In ihr ist Raum sowohl für imperialistischen Revanchismus („Wir können das wiederholen“) als auch für den Chanson-Pathos als auch für die liberal-intellektuelle Empörung – alles hat seinen Ort und alle sind zufrieden.
Der Witz, dass Putins größte Errungenschaft in den 16 Jahren seiner Herrschaft der Sieg von 1945 sei, ist tatsächlich gar nicht nur ein Witz. Der Sieg ist für den putinschen Staat wirklich von allergrößter Bedeutung – wichtiger geht nicht. […]
Putin hat den 9. Mai tatsächlich völlig mit sich selbst verknüpft: Wenn du gegen Putin bist, bist du – ob du willst oder nicht – naturgemäß auch gegen die Georgsbändchen, dann gegen die Parade und gegen das Unsterbliche Regiment und überhaupt gegen die Großväter, die gekämpft haben.~~~Мифология Великой отечественной войны, сложившаяся в нулевые, — это новая мифология. В ней есть место и имперскому реваншизму („Можем повторить“), и шансонному надрыву, и либерально-интеллигентскому возмущению — все на месте и все довольны. Шутка о том, что главным достижением Владимира Путина за 16 лет пребывания у власти оказалась победа 1945 года, на самом деле не такая уж и шутка. Победа действительно имеет для путинского государства самое важное — важнее нет — значение. […]
Путин действительно привязал 9 мая к себе до такой степени, что, если ты против Путина, ты естественным образом, даже сам того не желая, становишься сначала против георгиевской ленточки, потом против парада, и против „бессмертного полка“, и против воевавших дедов вообще.[/bilingbox]
SPEKTR: AGGRESSIONS-SYMBOLIK
Zu den alljährlichen Stimmen der Empörung, von denen Kaschin spricht, zählt auch die scharfe Kritik des russischen Journalisten und Autors Arkadi Babtschenko. Sein aktueller Text, der in dem in Lettland erscheinenden Medium spektr sowie auf seinem Blog auf Echo Moskwy veröffentlicht wurde, stieß insbesondere in den sozialen Medien auf große Resonanz.
Der Tag des Sieges, so Babtschenko, trage inzwischen eine neue Bedeutung, die der ursprünglichen diametral entgegengesetzt sei: Ging es anfangs bei der Militärparade noch um Verteidigung und nicht um Angriff, sei das Fest für ihn – vor dem Hintergrund der Kriege in Georgien und der Ukraine – mittlerweile ein Ausdruck von Aggression und Okkupation.
Auf drastische Weise äußert er, der als Kriegsberichterstatter in Tschetschenien und Südossetien größtes Unheil hautnah miterlebt hat, sein Unbehagen über den kritiklosen Militarismus:
[bilingbox]„Nun sehen Sie, wie die Mehrfach-Raketenwerfer vom Typ Uragan über den Roten Platz rollen. Sie kamen in Tschetschenien und Georgien erfolgreich zum Einsatz.“ Diesen Satz schnappte ich auf, als ich auf die Live-Übertragung der Parade im Fernsehen stieß. Eine junge Moderatorin sagte den Satz, mit freudig erhobenem Tonfall.
Mein Gott, Mädchen, was erzählst du da? Hast du mal gesehen, was diese Uragans mit Tschetschenien gemacht haben? Hast du je gesehen, in was sie die Dörfer verwandeln? Hast du das tschetschenische Dorf Zony gesehen, in dem nicht ein einziges Haus heil geblieben ist, sondern nur Schornsteinschlote aus Aschebergen ragen?
Ein ganzes Dorf nur mit Schornsteinschloten – eins zu eins wie in den Kriegsfilmen. Nur haben das hier nicht die deutsch-faschistischen Okkupanten angerichtet, sondern diese deine Mehrfach-Raketenwerfer.~~~„Сейчас вы видите, как по Красной площади идут системы залпового огня Ураган. Они успешно применялись в Чечне и Грузии“, — эту фразу я услышал как-то, когда наткнулся по телевизору на трансляцию парада. Произносила её девочка-телеведущая, с приподнято-радостной интонацией. Бог мой, девочка, что ты несешь? Ты вообще видела, что эти Ураганы с Чечней сделали? Ты видела, во что они превращают села? Видела чеченское село Зоны, в котором не осталось ни одного целого дома, а только лишь печные трубы посреди пепелищ? Целое село печных труб — один в один как в кино про войну, только наделали все это уже не немецко-фашистские оккупанты, а вот эти вот твои системы залпового огня.[/bilingbox]
KOMMERSANT: DAS UNSTERBLICHE REGIMENT UND DIE ERSTKLÄSSLER
Zu den umstrittensten Elementen des offiziellen Gedenkens zählt die 2012 initiierte und seitdem regelmäßig durchgeführte Aktion vom Unsterblichen Regiment, in die auch die jüngsten Mitglieder der Gesellschaft einbezogen werden. Im Kommersant berichtet Mascha Traub von den WhatsApp-Gesprächen irritierter Eltern, deren Kinder in der 1. Klasse zur Vorbereitung auf den 9. Mai eine besondere Hausaufgabe bekommen hatten:
[bilingbox]Den Erstklässlern wurde aufgetragen, Portraitfotos [ihrer Vorfahren, die im Krieg gekämpft hatten – dek.] für das Unsterbliche Regiment mitzubringen. Da die Kinder das mit dem Regiment nicht verstanden und auch die Eltern nicht, entbrannte ein wildes Hin-und-her-Geschreibe: – Es müssen Portraits im A4-Format mitgebracht werden, eingerahmt und mit einem Stab zum Hochhalten. Von Großvätern, die im Krieg waren. – Gehen auch Großmütter? – Nein, wohl nur Großväter. – Und wenn wir keinen solchen Großvater haben? – Dann findet einen. – Bei uns waren weder Großvater noch Großmutter im Krieg, sie sind in Rente. – Dann Urgroßväter!!! – Ja, man soll drunterschreiben, wo der Großvater gekämpft hat und welchen Rang er hatte. Möglichst in Paradeuniform und mit Orden. Und er sollte … na, ihr wisst schon … er sollte passen … Die Kinder sollen mündlich vortragen, wo der Urgroßvater gekämpft hat, wo er gefallen ist oder nicht gefallen ist und so weiter.~~~Детям-первоклашкам велели принести портреты для „Бессмертного полка“. Поскольку дети про полк ничего не поняли, родители тоже, началась бурная переписка. – Нужно принести портреты формата А4 в рамке и на палке. Дедушек, которые воевали. – А можно бабушек? – Нет, вроде бы нужны только дедушки. – А если у нас нет такого дедушки? – Найдите. – А у нас ни дедушки, ни бабушки не воевали, они на пенсии. – Прадедушки!!! – Да, нужно подписать, где дедушка воевал, в каком звании. Желательно, чтобы в парадном мундире и с орденами. И чтобы… ну вы понимаете… чтобы подходил… Ребенок должен устно рассказать, где воевал прадед, как погиб или не погиб и прочее.[/bilingbox]
SLON: AUCH STALIN WAR AGGRESSOR
In der Debatte um den Tag des Sieges geht es immer auch um eine allgemeine Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte beziehungsweise um die Vergegenwärtigung von Geschichte. Im Interview mit dem unabhängigen Nachrichtenportal Slonbemängelt der Historiker und Publizist Boris Sokolow, dass gewisse Aspekte im offiziellen Gedenken ausgeblendet oder zumindest nachrangig behandelt werden:
[bilingbox]Die Sowjetunion trat als Aggressor in den Krieg ein. Entsprechende Akte der Aggression waren die Besetzung des Baltikums, Bessarabiens, der nördlichen Bukowina sowie der Angriff auf Finnland. Und nur weil Hitler am 22. Juni 1941 Stalin angegriffen hat, heißt das nicht, dass die UdSSR kein Aggressor mehr war.
Wenn es nämlich umgekehrt gewesen wäre und Stalin hätte es geschafft, Hitler zuerst anzugreifen (und solche Pläne hatte er sowohl 1940 als auch 1941, es gab sogar eine ursprüngliche Angriffsfrist bis zum 12. Juni 1941, festgehalten in den Strategieplänen der Roten Armee vom 11. März desselben Jahres), dann wäre Deutschland in den Augen der Anti-Hitler-Koalition immer noch der Aggressor.
Warum sollten wir die Sowjetunion hier anders behandeln? Nur weil sie unter den Siegern war?~~~Советский Союз вступил в войну как агрессор. Точно такими же актами агрессии были оккупация Прибалтики, Бессарабии, Северной Буковины и нападение на Финляндию. И от того, что 22 июня 1941 года Гитлер напал на Сталина, СССР не перестал быть агрессором. Ведь если бы было наоборот и Сталин успел бы первым напасть на Гитлера (а такие планы у него были и в 1940-м, и в 1941 году, и был даже установлен первоначальный срок нападения на 12 июня 1941 года, зафиксированный в плане развертывания РККА от 11 марта того же года), то Германия после этого все равно не перестала бы быть агрессором в глазах стран антигитлеровской коалиции. Почему же к Советскому Союзу у нас должен быть иной подход? Только потому, что он оказался среди победителей?[/bilingbox]
IZVESTIA: SIEG ÜBER DEN FASCHISMUS
Immer wieder werden Bezüge zu aktuellen weltpolitischen Geschehnissen und insbesondere zum Ukrainekonflikt hergestellt. Entsprechend dem offiziellen Narrativ von der Kontinuität im Kampf gegen den Faschismus schreibt die Schriftstellerin Diana Kadi in der staatsnahen Tageszeitung Izvestia über die Bedeutung des 9. Mai für die Krim:
[bilingbox][…] Der 9. Mai ist heute für die Bewohner der Krim nicht nur der Tag des Sieges über Deutschland. Mit Blick auf die gegenwärtige Ukraine, als Teil derer die Krim all die Jahre ihr Dasein gefristet hat, haben die Menschen auf der Halbinsel begonnen, den friedlichen Himmel über ihren Köpfen wertzuschätzen.
Das, was als gegeben galt. Das, wofür unser Urgroßväter ihr Leben gaben. Wir haben das vergessen, erst jetzt erinnern wir uns wieder. Tragische Ereignisse in einst heimatlichen Randgebieten haben uns dazu verholfen, die Erinnerung aufzufrischen und die Bedeutung des Sieges über die Faschisten. Dort, wo Mitglieder der OUN und der UPA […] nicht nur rehabilitiert, sondern als Unabhängigkeitskämpfer gefeiert werden.~~~[…] 9 мая для крымчан сегодня — не только день победы над Германией. Глядя на нынешнюю Украину, в составе которой Крым влачил существование все эти годы, жители полуострова стали ценить мирное небо над головой.
То, что воспринималось как данность. То, ради чего наши прадеды отдали свои жизни. Мы забыли об этом, а вспомнили только сейчас. Освежить память и значение победы над фашистами нам помогли трагические события, произошедшие в некогда родной окраине. Там, где члены ОУН и УПА […] не только реабилитированы, но и признаны борцами за независимость.[/bilingbox]
In der von der russischen Regierung herausgegebenen Rossijskaja Gasetabeklagt die stellvertretende Chefredakteurin Jadwiga Juferowa, dass durch die individuellen Gedenkformen in der Ukraine und anderen postsowjetischen Ländern das verbindende Element des Sieges vernachlässigt werde. Abgrenzungstendenzen vom sowjetischen Erbe und von Russland würden die gemeinsame Erinnerung gefährden:
[bilingbox]Warum kamen in vielen postsowjetischen Republiken derartige Zentrifugalkräfte zum Tragen? Jedes Volk möchte eine eigene Geschichte haben und ehren. Wir haben sie zum wiederholten Mal zerstört. Im Jahr 1991 genau wie im Jahr 1917 … Bis auf die Grundfesten. Unter dem gemeinsamen Fundament lag Dynamit von solcher Sprengkraft, dass ihm mit Müh und Not einzig der Große Sieg standhielt (mit all seiner Wucht!).
Alle begannen ihre eigene großartige Geschichte zu schreiben, „sowjetlos“. Die Historiker schafften es nicht, diese im Leben mehrerer Generationen so wichtige Periode gedanklich zu erfassen, nachdem sie ebenfalls zu Revolutionären geworden waren.~~~Почему многие постсоветские республики взяли такой центробежный разбег? Каждый народ хочет иметь и уважать свою историю. А мы в очередной раз ее уничтожили. В 1991-м так же, как в 1917-м… До основания. Под общий фундамент был заложен такой силы динамит, что с трудом устояла лишь одна Победа (с ее-то мощью!). Каждый начал писать свою великую историю "без совка". Историки не справились с осмыслением этого очень важного периода в жизни нескольких поколений, став тоже революционерами.[/bilingbox]
NOVAYA GAZETA: LEBEND VERSCHOLLEN
Die Journalisten der unabhängigen Novaya Gazeta haben anlässlich des 9. Mai die Geschichten ihrer eigenen Vorfahren nachrecherchiert und aufgeschrieben, um einen individuellen Blick auf Kriegsschicksale zu geben, die im allgemeinen Gedenken oft untergehen. So schreibt etwa Dmitri Muratow, Chefredakteur und einer der Gründer der Zeitung, über die Probleme seines Großvaters, als einstiger Feldarzt nach dem Krieg in das zivile Leben zurückzufinden:
[bilingbox]Bis zu seinem Tod litt er aufgrund seiner schweren Kriegsverletzungen unter Kopfschmerzen und dämpfte sie mit Wodka. Vor nicht allzulanger Zeit begegnete ich Daniil Granin. Er sagte, dass sie, die Frontsoldaten, nach ihrer Heimkehr nicht wussten, was sie mit dem Sieg anfangen sollten. Mein Großvater wusste es wahrscheinlich auch nicht.
Granin: „Ohne Krieg war alles vorbei, ja, es war ein Glück, dass man noch lebte, ein kurzes Glück, das bald endete. Was würde nun folgen?“
Mein Großvater hat sich nie als Arzt im zivilen Leben wiedergefunden. Er blieb lebend verschollen.~~~До самой смерти его мучили головные боли от тяжелого ранения и контузии, он глушил их водкой. Я совсем недавно видел Гранина, он заметил, что они, фронтовики, вернувшись, не знали, что им делать с победой. Мой дед, наверное, тоже не знал.
Гранин: „Без войны все оборвалось, да, есть счастье, что остался жив, короткое счастье, что кончается. И что дальше?“
Дед не нашел себя на гражданской службе санитарным врачом. Не мог быть без вести живым.[/bilingbox]
Wieso eigentlich Gnose? Was soll das heißen? Wieso benutzt ihr so ein seltsames Wort?
Zugegeben, „Gnose“ war zu Anfang einfach interner dekoder-Slang. Bei uns gibt es ja zwei Typen von Inhalten: übersetzte russische Medienartikel (die wir sinnvollerweise einfach „Artikel“ nennen) und wissenschaftliche Erklärungstexte von Forschern aus Universitätsinstituten. Wie soll man die nennen, im alltäglichen Redaktionsbetrieb, um nicht durcheinanderzukommen? „Wissenschaftliche Hintergrundtexte“? „Erklärstücke“? „Kontextinformationen“? Alles sperrig und nicht wirklich gut, vor allem, wenn das journalistische Pendant einen so griffigen und kurzen Namen hat.
Also musste etwas anderes her, und das ist eben das Wort Gnose. Wie Dia-gnose, wie Pro-gnose, nur ohne Vorsilbe. Das Wort passt perfekt, es kommt von griechisch gnosis, Erkenntnis, und das ist ja, was diese Texte liefern sollen: Einsicht in ein spezifisches Thema, wissenschaftlich fundiert, knapp und gut lesbar.
Der Ausdruck hat sich bei uns in kürzester Zeit eingebürgert. Wir haben eine Gnosenredaktion (Jan Matti und Leonid), wir reden von „Gnosisten“ (die Autoren der Gnosen – Standardfrage: „Haben wir einen Gnosisten für Thema XY?”), Artikel gehen erst online, wenn sie vollständig vergnost sind, und demnächst werden wir die Gnosennavigation auf dem Site verbessern (ja, hier ist ein update geplant, um die Gnosen besser zugänglich zu machen!).
Uns selbst fällt schon überhaupt nicht mehr auf, dass das Wort irgendwie ungewöhnlich sein könnte. Also benutzen wir es auch nach außen hin. Es existiert ja sonst auch tatsächlich kein besonders passender Name für diese Textform (an der wir gemeinsam mit den Gnosisten immer weiter arbeiten, damit sie noch gnosiger wird: inhaltlich vielfältiger, anschaulicher, „aromatischer“ …).
Nun gibt es Leute, die nicht gern gn sprechen am Wortbeginn. Man kann das auch verstehen, die Anlautung erfordert Gaumendruck. Außerdem ist gn in unserem phonologischen Ökosystem recht selten. Doch gerade deshalb möchten wir euch bitten, wohlwollend mit ihm umzugehen. Wie mit einem bedrängten Tier der Savanne – sagen wir: einer südafrikanischen Kuhantilope. Der knappe Bestand an gn ist unbedingt schützenswert. Also: Gnade dem Gnu! (und dem gnatzigen Gnom aus dem Gneis, denn auch der hats nicht leicht). (Und den Gnosen natürlich auch.)