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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Hilflose Helfer

    Die Stiftung Nushna pomoschtsch (dt.: Hilfe gesucht) war die größte nichtstaatliche Hilfsorganisation in Russland. Ihren Ursprung nahm die Organisation nach einer Flutkatastrophe in Südrussland im Juli 2012: Nach heftigen Regenfällen kam es damals zu Überschwemmungen und Erdrutschen in Krymsk im Gebiet Krasnodar. Mehr als 160 Menschen kamen ums Leben. Weil die Hilfe durch staatliche Institutionen nur schleppend anlief, organisierten Bürgerinnen und Bürger in Moskau und anderen Großstädten Hilfstransporte. Sie konnten dabei auf Strukturen zurückgreifen, die im Protestwinter 2011/2012 gewachsen waren, als Hunderttausende gegen den Ämtertausch zwischen Dimitri Medwedew und Wladimir Putin auf die Straßen gingen. Die Netzwerke aus dem Protestwinter und die Reichweite in Social Media halfen jetzt, schnelle Hilfe in einer Situation zu organisieren, in der der Staat seinen Aufgaben nicht nachkam. Eine Besonderheit war, dass bei der Organisation der Krymsk-Hilfe Aktivistinnen und Aktivisten aus der Protestbewegung und Vertreterinnen und Vertreter Kreml-freundlicher Jugendorganisationen punktuell zusammenarbeiteten. 

    Eine zentrale Rolle spielte damals der Moskauer Fotograf und Aktivist Mitja Aleschkowski. Aus der Erfahrung mit der Krymsk-Hilfe entwickelte er Nushna pomoschtsch. Ziel der Initiative war es, soziale Projekte dabei zu unterstützen, professioneller zu arbeiten. Dazu gehörten Fortbildungen zu Fundraising, Workshops zu wirksamer sozialer Arbeit, zu Transparenz und dazu, sich im Dschungel russischer Gesetze zurechtzufinden. Nushna pomoschtsch entwickelte zugleich eine Art Gütesiegel für private und zivilgesellschaftliche Initiativen: Einer Initiative, die von Nushna pomoschtsch empfohlen wurde, konnte man vertrauen.  

    Als Nebenprojekt entstand das Online-Medium Takie Dela, das über soziale Themen in allen Regionen des Landes berichtet und Spenden für die vorgestellten Projekte sammelt. Bis 2024 sammelte Nushna pomoschtsch nach eigenen Angaben mehr als zwei Milliarden Rubel (heute etwa 19 Millionen Euro) an Spenden. Damit wurden Hunderte, meist kleine Initiativen unterstützt.  

    Am 7. August 2024 gab Nushna pomoschtsch ihre Schließung bekannt. Im März hatte das Justizministerium die Organisation als „ausländischen Agenten“ eingestuft. Das toxische Label macht eine Zusammenarbeit mit der Stiftung für andere zur Gefahr. Meduza fasst zusammen, was das Ende von Nushna pomoschtsch für den sozialen Bereich und für die Bedürftigen in Russland bedeutet. 

    Im Juli 2012 sammelten Freiwillige in Moskau Hilfsgüter für die Bewohner der überfluteten Stadt Krymsk. Viele hatten vorher an Protesten teilgenommen. Soziales Engagement schien eine Möglichkeit zu sein, jenseits der Politik etwas zum Besseren zu verändern / Foto © ITAR-TASS Imago

    Die Nachricht ist für den Sozialbereich in Russland niederschmetternd. Besonders stark sind kleinere Stiftungen betroffen. Die Stiftung Nushna pomoschtsch ist 2015 zu einer eigenständigen Organisation geworden. Sie leistete selbst keine konkrete Hilfe für Bedürftige, was in jener Zeit eine Seltenheit war. Stattdessen unterstützte sie nichtkommerzielle Organisationen (im Weiteren: NGOs) in ganz Russland dabei, effektiver zu arbeiten und Spenden zu akquirieren. Theoretisch können Stiftungen auch selbst die Erstellung von Rechenschaftsberichten, das Etablieren von Prozessen, das Akquirieren neuer Spenderinnen und Spender und die Ausbildung von Mitarbeitern übernehmen. Doch das ist alles schwer zu organisieren, insbesondere, wenn es sich um eine kleine NGO handelt, die kaum über genügend Ressourcen verfügen. Daher musste eine Stiftung, die bei all diesen Fragen hilft, schnell und unweigerlich zu einer der wichtigsten Strukturen für den Sozialbereich in Russland werden. Die Stiftung Nushna pomoschtsch unterstützt nicht nur bei Verwaltungsfragen, sondern setzte auch Qualitätsstandards und half Organisationen dabei, neue Gruppen von Spendern zu erschließen. 

    Die Stiftung bewertete die Transparenz russischer NGOs und führte eine Liste jener Organisationen, die sauber arbeiten. Das war eines der wenigen Verzeichnisse, denen man vertrauen konnte. 

    Die Stiftung unterstützte NGOs mit Infrastruktur. Dabei handelte es sich um IT-Dienstleistungen zur Analyse von Spendenstatistiken und zur Berichterstattung gegenüber Förderern. Darüber hinaus bot die Stiftung Online-Schulungen an, die NGOs dabei unterstützten, die Kompetenzen ihrer Mitarbeiter zu erhöhen (mit der Ausbildung von Menschen, die im Nonprofit-Bereich arbeiten wollen, gibt es nach wie vor große Probleme). Die Stiftung verfügte auch über ein gleichnamiges Medium zu karitativer Arbeit, eine Forschungsabteilung zum Nonprofit-Sektor und eine Plattform, mit deren Hilfe jedermann eine Initiative empfehlen oder Bekannten vorschlagen konnte, Geld an eine Stiftung zu überweisen. Das alles brauchen NGOs. Theoretisch können sie das auch selbst machen, doch zweifellos dürften nur wenige die Ressourcen dafür haben. 

    Die Stiftung half Hunderten NGOs, ein zuvor nur schwer zugängliches Publikum zu erreichen und die Zahl der Zuwendungen zu erhöhen. Nushna pomoschtsch hat Aktionen durchgeführt, durch die Spendensammlungen unterstützt wurden, darunter auch regelmäßige Spenden. Selbst weniger bekannten NGOs wurde so geholfen. Es gab zum Beispiel die Aktion Ein Rubel am Tag, bei der man eine ganz kleine Dauerspende einrichten konnte („Ein Rubel am Tag ist viel, wenn wir viele sind“). Oder die Aktion Einer für alle, deren Sinn darin bestand, dass man nicht eine einzelne NGO auswählte, der das Geld zugutekam, sondern die allgemeine Richtung der Hilfe (für Tiere, Kinder, die Natur…); die Spende wurde dann zwischen denjenigen NGOs aufgeteilt, die in diesem Bereich tätig sind. Laut Angaben der Stiftung wurden in all den Jahren über zwei Milliarden Rubel gesammelt. 

    Seit Kriegsbeginn sind die Spenden stark zurückgegangen 

    2023 wurde Jelisaweta Wassina Direktorin von Nushna pomoschtsch. Sie hat im Oktober des gleichen Jahres in einem Interview von den Plänen der Organisation erzählt: 

    „Einer der Orientierungspunkte ist jetzt die Begleitung von NGOs. Wenn wir uns früher eher der Überprüfung von Stiftungen gewidmet haben, so geht unsere Arbeit jetzt dahin, sie bei der Weiterentwicklung zu unterstützen. 

    Darüber hinaus ist unser Ziel, bereits bestehende Produkte und Angebote bekannter zu machen und den NGOs zu helfen, sie einzusetzen. So vermitteln wir NGOs, wie Freiwillige Fundraising betreiben können, indem unsere Plattform Polsujas slutschajem [dt. Bei der Gelegenheit] behilflich sein kann, mehr Mittel für ihre Klientel zu sammeln. […] 

    Jetzt arbeiten wir erfolgreich mit Dienstleistungen für Unternehmen. Wir helfen ihnen, Sozialprogramme aufzulegen und Aktionen zu starten. Hier ergibt sich ein dreifacher Effekt: Wir selbst verdienen als Berater, die Unternehmen können ihren Mitarbeitern oder Kunden verschiedene soziale Aktionen vorschlagen. Und die NGOs bekommen die Gelegenheit, Unterstützung durch große Unternehmen zu erhalten. Wir planen aktuell, ein Projekt für den Einzelhandel zu entwerfen. Wir wollen dort helfen, Discounts und Prämienpunkte in Spenden umzuwandeln.“ 

    Nach Beginn des Krieges sind die Spenden stark zurückgegangen. Nushna pomoschtsch weigerte sich, die Armee zu unterstützen, und einige der Mitarbeiter unterzeichneten einen Brief gegen den Krieg. 

    „2023 war für den Nonprofit-Bereich ein Jahr der Stagnation; diese hatte bereits 2022 eingesetzt. Einige Gebiete der sozialen Arbeit erlebten eine Krise, die durch äußere Faktoren ausgelöst wurde“, schrieb Nushna pomoschtsch in ihrer Spendenanalyse über 2023. 

    Um ihre Arbeit fortzuführen, kürzte die Stiftung ihre Ausgaben. Unter anderem wurde die zusätzliche Krankenversicherung für die Mitarbeiter gestrichen. Den Partner-Stiftungen werden die Gebühren für Zahlungssysteme nicht länger erstattet. 

    Ein Teil der Projekte musste aus der Stiftung ausgegliedert werden: 

    Das Publikationsprogramm Jest smysl [dt. Es hat Sinn] hatte in der Vergangenheit eine Vielzahl von Büchern über karitative Arbeit und soziale Probleme veröffentlicht. Nach dem Finanzierungsstopp durch die Stiftung erschienen einige Bücher gemeinsam mit einem anderen Verlag.  

    Der Marktplatz, auf dem NGOs ihre Merchandising-Artikel verkauften, wurde geschlossen. 

    Das Online-Medium Takie Dela trennte sich von Nushna pomoschtsch. 

    Das Projekt Jesli byt totschnym [dt. Um genau zu sein], das offen zugängliche Daten zu sozialen Problemen sammelt und analysiert, arbeitet jetzt ebenfalls eigenständig und mit Hilfe selbst gesammelter Spenden weiter. 

    Die Stiftung weigert sich, Geld für militärische Zwecke zu sammeln. Im Frühjahr wurde sie als „ausländischer Agent“ eingestuft 

    Nach Beginn des großangelegten Kriegs gegen die Ukraine unterschrieben 470 NGOs einen Brief gegen den Krieg (die Unterschriftensammlung wurde am 4. März wegen der Einführung von Zensur und repressiver Gesetze gestoppt). Zu den Unterzeichnenden gehörten auch einige Mitarbeiter der Stiftung Nushna pomoschtsch, unter anderem deren damalige Direktorin Sofja Shukowa. Sie hat diesen Schritt in einem Interview mit Meduza im November 2022 folgendermaßen kommentiert: 

    „Ich bedaure kein bisschen – nicht eine Sekunde! – dass ich unterschrieben habe. Ich denke, ich habe richtig gehandelt: Das ist die Position von Sofja Shukowa! Ich habe vollends das Recht darauf, und dieses Recht habe ich deutlich gemacht. Was hat sich für uns verändert? In diesem Jahr wurde uns drei Mal nahegelegt, meine Unterschrift unter den Brief zurückzuziehen. Das haben wir nicht getan.“ 

    „Wer hat Ihnen das nahegelegt?“ 

    „Ein hervorragender Mensch, ich werde den Namen nicht nennen. Das war die Bedingung dafür, dass wir bekannter, populärer werden können. Damit wir die Zahl der Kontakte und Spender zurückholen können. Ich bin von dem begeistert, was von diesen Leuten für den Nonprofit-Bereich getan wurde [die forderten, die Unterschrift zurückzuziehen]. Die haben gerade selbst ihre eigenen Probleme. Kurz gesagt, wir haben es nicht gemacht. 

    Wir haben bei den letzten Ausschreibungen keine Fördermittel bekommen. Ob das an den Unterschriften unter dem Brief liegt? Das kann ich nicht sagen. Ich vermute aber, es hängt damit zusammen. Ich meine, unsere Mitarbeiter haben gute Anträge geschrieben. Und ich kann garantiert sagen, dass in 90 Prozent der Fälle NGOs, die mit den Behörden zusammenarbeiten und Fördermittel erhielten [auch nach Kriegsbeginn – Meduza], keine Briefe unterschrieben haben. Ich weiß aber auch von Organisationen, die einen Brief gegen den Krieg unterschrieben haben und Fördermittel erhielten.“ 

    Die Haltung der Stiftung bestand grundsätzlich darin, kein Geld für Waffen und andere militärische Zwecke zu sammeln: „Es gibt NGOs, die soziale Probleme lösen wollen. Für die Sicherheit des Landes zu sorgen, ist die Aufgabe des Staates“, heißt es auf der Internetseite der Stiftung. 

    Andere NGOs fürchten, ebenfalls als „ausländische Agenten“ eingestuft zu werden. Also beendeten sie die Zusammenarbeit mit Nushna pomoschtsch 

    2024 wurde die Stiftung zum „ausländischen Agenten“ erklärt, worauf sie geschlossen wurde. 

    „Eines der Projekte, das unserer Prüfung nicht standhielt, schwärzte uns 2023 an“, schreibt die ehemalige Direktorin Sofja Shukowa. „Ich denke, das ist einer der Gründe, warum das Justizministerium auf uns aufmerksam wurde. In dem Beschluss stand geschrieben, dass wir ausländische Agenten seien, weil wir Studien zu professioneller karitativer Arbeit durchführen, oder weil wir ausländische Agenten unterstützen, was grundsätzlich nicht verboten ist.“ 

    In dem Augenblick, als die Stiftung als „ausländischer Agent“ eingestuft wurde, gab es auf der Liste von ihr verifizierter NGOs 787 Organisationen. Fünf Monate später, im August 2024, waren es nur noch 385. Obwohl die Zusammenarbeit mit einer zum „ausländischen Agenten“ erklärten Stiftung legal ist, kann sie unerwünschte Folgen haben. Unter anderem den Status eines „ausländischen Agenten“. Deshalb nahmen NGOs Abstand von einer Zusammenarbeit mit Nushna pomoschtsch. Das Gleiche galt für Förderer. Die Tinkoff–Bank [seit Juni 2024: T-Bank – dek.] stoppte die Möglichkeit, Cashback-Zahlungen in Spenden zugunsten der Stiftung umzumünzen. 

    Die Organisation versuchte, mit Hilfe der Aktion „Nushna pomoschtsch braucht Hilfe“ Gelder zu sammeln. Das gelang jedoch nicht. Seit März 2024 sind die Spenden von monatlich 28 Millionen Rubel bis Juni dieses Jahres auf 2,6 Millionen Rubel zurückgegangen. 

    Eine neue Organisation soll die Arbeit fortsetzen 

    Der diskriminierende Status brachte eine Vielzahl offizieller Beschränkungen für die Arbeit mit sich. Vor allem die Rechenschaftslegung ist erheblich komplizierter geworden. Das Risiko von Geldstrafen wächst, und auf staatliche Förderung ist nicht zu hoffen. 

    Schließlich beschloss der Stiftungsrat von Nushna pomoschtsch, dass die Organisation geschlossen werden müsse. Das wurde am 7. August 2024 bekannt gegeben. Tatsächlich war die Entscheidung den Worten der ehemaligen Direktorin Sofja Shukowa zufolge bereits einen Monat früher gefallen: In einem Rundschreiben an Geldgeber wurde das allerdings recht nebulös formuliert. In dem Schreiben wurde mitgeteilt, dass Spenden an Stiftungen jetzt über die neue Stiftung Prodolshenije (dt.: Fortsetzung) abgewickelt werden, die ihre Tätigkeit im Juni 2024 aufnahm. Prodolshenije plant, eine Verifizierung von NGOs vorzunehmen (was bereits bei 400 NGOs geschehen ist) und dann deren Arbeit zu unterstützen. Ein Teil des Teams von Nushna pomoschtsch wird dort weitermachen. 

  • Soll der Westen wieder mit Lukaschenko reden?

    Nach wie vor kommt es in Belarus fast täglich zu politisch motivierten Festnahmen und Verurteilungen mit langen Haftstrafen. Gleichzeitig wurden in den vergangenen Monaten dutzende politische Gefangene freigelassen.  

    Experten deuten dies als Signale von Alexander Lukaschenko, den Kontakt zur EU und zu den westlichen Demokratien zu suchen. Warum passiert dies gerade jetzt? Ist eine neuerliche Annäherung nach der brutalen Niederschlagung der Proteste 2020 und der Flucht von hunderttausenden Belarussen tatsächlich denkbar? Welches Interesse könnte die EU daran haben? 

    Über diese und andere Fragen haben wir mit dem belarussischen Ex-Diplomaten und Politanalysten Pavel Matsukevich von der Initiative Center for New Ideas gesprochen.

    Alexander Lukaschenko bei einem Treffen mit Wladimir Putin im Mai 2024 in Minsk / Foto © xPavelxBednyakovx/ IMAGO 

    dekoder: Lukaschenko hat in den vergangenen Wochen dutzende politische Gefangene freigelassen. Warum? Der Diktator wird doch wohl nicht altersmilde? 

    Pavel Matsukevich: Noch nicht. Ein klares Anzeichen dafür sind die Repressionen in Belarus, die weiterlaufen. Aber die Freilassungen sind ein deutliches Signal, dass Lukaschenko bereit ist, weicher zu werden. Es könnte ein gewisses Tauwetter geben, und zwar aus dem einfachen Grund, weil es in Belarus schon mehr als einmal solche Perioden gegeben hat. Die gesamte Geschichte der 30-jährigen Herrschaft Lukaschenkos ist die Geschichte des Wechsels von Zeiten des Tauwetters und des verstärkten Drucks. Dank dieser Tauwetterperioden konnte sich auch die Zivilgesellschaft entwickeln, die 2020 ihre Bürgerrechte eingefordert hat.  

    Aber zu der Zeit vor 2020 lässt sich kaum zurückkehren, wenn man an das Ausmaß der Repressionen denkt. 

    Kein Tauwetter war wie das andere. Ich glaube also nicht, dass wir in das Jahr 2018 zurückkehren können, einer Zeit der weitreichenderen Liberalisierung. Aber wir könnten zu einer insgesamt besseren Situation im Vergleich zum heutigen Klima kommen, nicht zu einer idealen natürlich, zu einer besseren, indem die Leute endlich aus den Gefängnissen entlassen werden und die brutalen Repressionen aufhören. Die belarussischen Behörden können theoretisch fast allem zustimmen, solange es nicht ihre Macht betrifft. In dieser Hinsicht wird es keine Öffnung oder Kompromisse geben. Darüber muss man sich im Klaren sein. Lukaschenko wird sich nicht zum Demokraten entwickeln. Aber andere Öffnungen sind zumindest denkbar. In der Zeit, als die Existenz unabhängiger Medien geduldet wurde, hat das Regime beispielsweise auch eine gewisse öffentliche Kritik zugelassen.  

    Gleichzeitig wurden Kritiker aber auch weggesperrt und in früheren Zeiten sogar umgebracht. 

    Ja, auch das passierte: Politiker verschwanden, Proteste wurden niedergeschlagen. Aber dann gab es eben wieder Phasen des Tauwetters. Lukaschenkos Regime ist de facto nicht das Regime Stalins, wo es nur Repression und Terror in einem unvorstellbaren Ausmaß gab.  

    Warum sendet Lukaschenko gerade jetzt solche Zeichen? 

    Es gab in den vergangenen drei Jahren immer wieder Anzeichen dafür, dass das Regime den Kontakt zur EU und zum Westen sucht. Zum Beispiel der Brief des damaligen Außenministers Wladimir Makei im Frühjahr 2022, mit dem er sich an seine Kollegen, die Außenminister der EU-Länder, wandte und vorschlug, einen Neuanfang zu versuchen. Seine Begründung: Andernfalls würden die Repressionen weitergehen, die Zivilgesellschaft werde in der Folge vernichtet und Europa würde schließlich vollkommen aus Belarus verschwinden und Belarus selbst in Russland aufgehen. 

    Eine Situation, die wir aktuell fast so vorfinden in Belarus.  

    Und diese schafft ein sehr gefährliches Ungleichgewicht, nicht nur für Lukaschenkos Macht, sondern auch für die Souveränität von Belarus und die belarussische Gesellschaft. Der Wunsch, in einen Dialog einzutreten, hat für das Regime vor allem eine Motivation: die eigene Macht zu stärken. Denn wenn der Westen auf den Vorschlag zum Dialog eingeht, haben die belarussischen Behörden die Möglichkeit, ein Gleichgewicht, eine Balance herzustellen – zwischen Russland und der EU. So konnte Lukaschenko auch in der Vergangenheit seine Macht sichern – durch das Lavieren zwischen Ost und West. Das gilt auch für Belarus aufgrund der geopolitischen Lage des Landes: der Ausgleich zwischen Ost und West ist sozusagen eine Formel für die Wahrung der Unabhängigkeit, der Souveränität.  

    Warum sollte die EU Interesse daran haben, die Macht von Lukaschenko zu stärken? 

    Das ist eine Frage der Abwägung. Und hier geht es nicht um moralische Faktoren. Hier treffen sich die Regime-Interessen einerseits und Interessen, Belarus als souveränes Land zu erhalten, andererseits. Die Isolierung von Belarus steigt stetig. Wir haben heute bereits einen Zaun an der Grenze zur EU. Belarus wird immer abhängiger von Russland, vor allem im Bereich Wirtschaft, der Finanzkredite und so weiter. Die Unabhängigkeit von Belarus ist tatsächlich ernsthaft bedroht. Die EU hat Interessen, die sich über ein souveränes Belarus besser realisieren lassen, wo man zumindest etwas Einfluss geltend machen könnte, als über ein Belarus, das in Russland aufgeht.  

    Welches Interesse hätte die EU daran, in einen Dialog einzutreten? 

    Es gibt gemeinsame Interessensbereiche, in denen Belarus eine bedeutende Rolle spielen kann. Der erste ist die Sicherheit. Die EU hat Interesse daran, das Risiko einer Wiederholung des Jahres 2022 zu verringern, als Russland das Territorium von Belarus nutzte, um in die Ukraine einzumarschieren. Wenn Russland an die EU-Grenze heranrückt, steigt die Unsicherheit für die EU. Der zweite Bereich ist das Thema Migration. Lukaschenko hat die Migrationskrise an den Grenzen zur EU als Reaktion auf den Sanktionsdruck organisiert. Bei einer Dialogaufnahme könnte also die gemeinsame Sicherung der EU-Grenze verhandelt werden. Und die dritte gemeinsame Interessensphäre ist der Warentransit zwischen der EU und China. Der Eisenbahntransit stellt eine gute Alternative zum Seetransport dar, besonders wenn er wie aktuell am Roten Meer bedroht ist.  

    Würde die EU nicht die demokratische Opposition diskreditieren, die sich im Exil befindet und die derart unter den Repressionen leidet, wenn man auf Lukaschenko zugehen würde? 

    Der Dialog zwischen den belarussischen Machthabern und den westlichen Ländern ist im Prinzip unvermeidlich. Es ist nur eine Frage der Zeit, da es, wie gesagt, um drängende regionale und globale Interessen geht. Die demokratischen Kräfte können sich nur die Frage stellen, ob sie diesen Prozess unterstützen oder ob sie bei ihrem Versuch bleiben, ein Regime zu demokratisieren, das sich nicht demokratisieren lässt. Es ist denkbar, dass sich das Regime als Bedingung für einen Dialog zumindest auf die Frage eines perspektivischen Machttransits gegen 2030 einlässt. Lukaschenko weiß, dass er nicht unsterblich ist. Aber nochmal: Eine schnelle Demokratisierung wird dabei nicht herausspringen. Und es besteht auch die Gefahr, dass das Regime, wenn es sich bedroht fühlt, wieder mit Repressionen reagiert. Das ist sogar sehr sicher. Es geht aktuell darum, die Menschen aus den Gefängnissen freizubekommen, und eine weitere Verschlechterung der Lage zu verhindern. 

    Was will denn eigentlich die belarussische Bevölkerung? 

    Soweit man das anhand der Umfragen von Chatham House beurteilen kann, wünschen sich die Menschen die Rückkehr zu einer gewissen Normalität in den Beziehungen zwischen Belarus und dem Westen. Sie leben ja unter diesen Repressionen und haben deshalb ihre eigenen Interessen. Wir hier draußen denken darüber nach, wie wichtig es ist, Belarus zu demokratisieren, während die Belarussen im Land vielleicht eher darüber nachdenken, wie wichtig es ist, einen Krieg zu vermeiden. So entsteht natürlich eine Diskrepanz der Interessen. 

    Putin wird es nicht gefallen, wenn Lukaschenko auf den Westen zugeht. 

    Das stimmt. Es ist wichtig zu verstehen, dass jeder Dialog mit den westlichen Ländern in der aktuellen Situation seine Grenzen haben wird. Er muss ja auch nicht öffentlich passieren. Das Regime hängt an der Leine Russlands und die Leine ist sehr kurz. Lukaschenko ist kein Selbstmörder. Er weiß, was passiert, wenn er sich dem Westen zu sehr nähert. Russland würde ihm das nicht durchgehen lassen. Aber aktuell ist Putin mit dem Krieg in der Ukraine beschäftigt, viele Kräfte und Ressourcen sind konzentriert. Wenn es zu Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland kommt, werden die Kräfte neu gemischt. Es wird neue Dynamiken geben, auf die sich Lukaschenko möglicherweise jetzt schon vorbereiten will, um seine Macht zu stärken. Dafür könnte er den Dialog mit dem Westen gut gebrauchen. Und der Westen könnte ihn gut gebrauchen, um Belarus nicht ganz zu verlieren, um dafür zu sorgen, dass Europa auch künftig noch eine Rolle in Belarus spielt.  

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  • Christlicher Untergrund

    Christlicher Untergrund

    Die Russisch-Orthodoxe Kirche ist ein wichtiger Stützpfeiler des Putin-Regimes. Patriarch Kirill rechtfertigt den russischen Überfall auf die Ukraine als „Heiligen Krieg“ und ehrt den Chefpropagandisten Dimitri Kisseljow mit einem Orden. Der Klerus unterstützt diesen Kurs mehrheitlich. Priester reisen mit wundertätigen Ikonen an die Front. Viele waren früher selbst Offiziere der russischen Armee. Es gibt aber auch in der Russisch-Orthodoxen Kirche Einzelne, die ihrem Gewissen folgen und es ablehnen, das obligatorische Gebet für den Sieg zu sprechen. Angehörige des Klerus, die sich offen gegen den Krieg aussprechen, riskieren viel. Von Deutschland aus versuchen Glaubensbrüder, sie zu unterstützen.  

    Der Fotograf Vadim Braydov hat einige von ihnen in ihren neuen Gemeinden in Deutschland und den Niederlanden besucht und sie für OVD-Info porträtiert. Er selbst ist im Frühjahr 2022 mit Unterstützung von Reporter ohne Grenzen aus Russland geflohen und lebt jetzt in Köln. 

    „Flieht! Hier gibt es keinen Gott mehr!“ 

    Ein Birkenwäldchen, wie es viele gibt in Russland. Es liegt aber im Grenzgebiet zwischen Deutschland und den Niederlanden. Hier geht Pater Andrej Kordotschkin häufig spazieren / Foto © Vadim Braydov
    Ein Birkenwäldchen, wie es viele gibt in Russland. Es liegt aber im Grenzgebiet zwischen Deutschland und den Niederlanden. Hier geht Pater Andrej Kordotschkin häufig spazieren / Foto © Vadim Braydov

    „Im Koordinatensystem dieses faschistischen Regimes sehe ich für mich keinen Platz[…] Passen Sie auf sich auf, und auf Ihre Familie. Es wird niemandem leichter ergehen, wenn Sie eine Geldstrafe erhalten oder ins Gefängnis wandern. Flieht! Hier gibt es keinen Gott mehr.“ Damit endet die Videobotschaft des Priesters Nikolai Platonow. Nach diesem Clip wurde er beschattet. Er selbst rechnete mit „Bettelsack und Kerker“, aber er fand Beistand. OVD-Info sprach mit den Begründern eines Projektes, das Priestern der Russisch-Orthodoxen Kirche hilft, die wegen ihrer Haltung gegen den Krieg zu leiden haben. Und mit Menschen, die dort Hilfe fanden. 

    Vater Nikolai ist ein ehemaliger Priester der Diözese Tscheljabinsk. Er postete seinen Antikriegsclip, als er schon in Armenien war, nämlich am 16. April 2022. Darin erklärt der Priester, er habe selbst um Entlassung gebeten, weil er nicht mehr länger zum Krieg schweigen konnte. Nach dem Video werde „die kirchliche Obrigkeit mich aufgrund irgendeines schändlichen Paragrafen entfernen wollen“. 

    „Ich erinnere mich sehr genau an den Tag nach Kriegsbeginn“, erzählt er. „Mein Vater hat am 25. Februar Geburtstag. Es war der letzte Tag, an dem wir uns gesehen haben. Seit mehr als zwei Jahren habe ich jetzt schon keinen Kontakt mehr zu meinem Vater und meinem Bruder. Für sie bin ich ein Verräter. Mir war damals noch nicht klar, dass der Einmarsch zu hunderttausenden Toten führen würde, mir war aber klar, dass man von mir verlangen würde, die Soldaten zu segnen, damit sie in einen verbrecherischen Bruderkrieg ziehen. Ich verstand, dass der Diktator endgültig den Verstand verloren hat und es Zeit ist, sich einen Reisepass zu besorgen. Was ich dann auch machte.“ 

    Die Gemeinde von Vater Nikolai in Tscheljabinsk war klein. Er kannte alle Mitglieder persönlich. Er versuchte mit jenen zu reden, die den Einmarsch unterstützten. Er traf aber, so formuliert er es, „auf eine absolute Ablehnung der Bergpredigt Christi“. Es gab allerdings auch solche, die durch das Geschehen genauso erschrocken waren wie er. Es dauerte nicht lange, da riefen ihn Bekannte aus dem Bergwerks– und Metallurgie–Kombinat Tominski an, das seine Kirche unterstützt hatte. Sie warnten ihn, dass eine Aktion in Vorbereitung sei, und man ihm die Priesterwürde entziehen werde. 

    „Die Zeit lief. Der Reisepass war fertig. Ich verabschiedete mich von der Gemeinde und setzte mich ins Flugzeug“, erinnert sich Platonow. 

     

    Videobotschaft des Priesters Nikolai Platonow, aufgezeichnet im Frühjahr 2022 

    So kam er nach Armenien. Nach dem Video wurde ihm sofort untersagt, Gottesdienste abzuhalten. Und er bekam Drohungen: Andrej Remisow, der stellvertretende Generaldirektor des Tominski-Kombinats, schrieb ihm, nannte ihn ein hinterhältiges Arschloch und verlangte das Geld zurück, das das Kombinat für den Bau der Kirche gespendet hatte. 

    „Remisow sagte, dass ich es bereuen werde, und dass er mir das nie verzeiht“, erinnert sich Platonow. „Er forderte, dass ich das Video aus dem Netz nehme. Stattdessen habe ich seine Drohungen veröffentlicht.“ 

    Später erzählten ihm Bekannte, dass ihn an seiner neuen Wohnung gewisse Leute gesucht hätten. Er musste mit einer fremden SIM-Karte leben und in Jerewan ständig umziehen. „Drei Monate habe ich in Armenien gelebt“, sagt der Priester. „Dann bin ich zurückgekehrt, weil ich kein Geld mehr hatte und meine Mutter krank geworden war. Mir war aber klar, dass ich nicht lange bleiben konnte. Schon am Flughafen hielten sie mich zwei Stunden lang fest. Sie veranstalteten eine zusätzliche, strengere Überprüfung, fragten: ‚Warum bist du zurückgekommen?‘…“ 

    Doch auch in Russland hörte er nicht damit auf, Videos gegen den Krieg aufzunehmen und seine Haltung öffentlich zu äußern. Er wurde nun beschattet. Unbekannte folgten dem Priester und fotografierten ihn aus einem Auto heraus, wenn er ans Fenster trat. 

    „Ich habe mir eine Wohnung genommen und bin praktisch nicht mehr auf die Straße gegangen. Egal, in welches Geschäft ich ging, immer wurde ich ‚begleitet‘ “, erzählt er. „Menschenrechtler, die ich kenne, sagten mir, das sei ein Anzeichen dafür, dass ich bald verhaftet werde. Ich bereitete mich innerlich auf das Gefängnis vor, weil in Russland für ähnliche Äußerungen schon andere Priester verurteilt wurden. Es gab aber auch jene, die mich überredeten, nicht zu warten, bis ich eingesperrt werde.“ 

    „Die Menschen konnten überhaupt nicht verstehen, was das für einer ist: ein Priester, der den Krieg ablehnt… Das gibt’s doch gar nicht!“ 

    Nikolai Platonow war der erste Schützling der neuen Organisation Mir Vsem [dt. „Friede für alle“ oder auch „Der Friede sei mit euch“]. Sie entstand im Oktober 2023 und hilft Dienern der Kirche, die wegen ihrer Ansichten verfolgt werden oder schlichtweg die Ideologie des Staates nicht teilen. Das Projekt wurde von drei Männern und einer Frau gegründet: den Priestern Andrej Kordotschkin und Walerian Dunin-Barkowski, dem Musiker Pawel Fachrtdinow und der Journalistin Swetlana Neplich-Tomas. 

    „Die Menschen konnten überhaupt nicht verstehen, was das für einer ist: ein Priester, der den Krieg ablehnt… Das gibt’s doch gar nicht! Also mussten wir aller Welt erklären: Doch, das kann sehr wohl sein!“, erklärt Dunin-Barkowski. 

    Vater Walerian Dunin-Barkowski spendet während eines Gottesdienstes der orthodoxen St. Nikolaus–Gemeinde in Düsseldorf die Heilige Kommunion / Foto © Vadim Braydov
    Vater Walerian Dunin-Barkowski spendet während eines Gottesdienstes der orthodoxen St. Nikolaus–Gemeinde in Düsseldorf die Heilige Kommunion / Foto © Vadim Braydov

    Vater Walerian dient als Priester in einer Düsseldorfer Kirche des Erzbistums der orthodoxen Gemeinden russischer Tradition in Westeuropa. Vor Empfang der Priesterwürde war er Mitglied einer Menschenrechtsorganisation, die unter anderem Aktivisten half, humanitäre Visa zu erlangen. 

    „2023 sprach mich eine der Leiterinnen dieser NGO an: ‚Wir haben da einen Priester und wissen nicht, was wir mit dem machen sollen. Es gibt Stiftungen, die Journalisten, Aktivisten und Künstlern helfen. Aber was sollen wir mit euren Popen tun? Sie sind doch einer, kümmern Sie sich bitte darum‘…“ erinnert sich Walerian. Der Priester, um den es ging, war Nikolai Platonow. 

    Nach diesem Gespräch begann Vater Walerian, Aktivisten zu suchen, die russischen Priestern helfen. Es stellte sich jedoch heraus: Das tut niemand.“

    Vater Walerian schwenkt in seiner privaten Kapelle das Weihrauchfass / Foto © Vadim Braydov
    Vater Walerian schwenkt in seiner privaten Kapelle das Weihrauchfass / Foto © Vadim Braydov

    „Der Krieg, die Morde, die Besetzung fremden Landes – Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal Menschen erklären muss, dass das etwas Böses ist“ 

    Vater Nikolai Platonow, mit dem die Geschichte von Mir Vsem begann, erhielt kürzlich in Frankreich politisches Asyl, wurde wieder in die Priesterwürde erhoben und möchte jetzt seinen Dienst in der Kirche fortsetzen. Er ist jetzt Priester der Orthodoxen Kirche der Ukraine.

    „Ich war der Meinung und bin es weiterhin, dass es meine pastorale Pflicht ist, meine Haltung deutlich zu machen“, sagt er. „Es ist unsere Pflicht, dem Bösen offen entgegenzutreten. Denn wie sagte Maximus Confessor doch: ‚Über die Wahrheit zu schweigen kommt ihrer Leugnung gleich.‘ Der Krieg, die Morde, die Besetzung fremden Landes – Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal Menschen erklären muss, dass das etwas Böses ist.“ 

    Es gibt aber auch andere Geschichten bei Mir Vsem – allerdings mit tragischem Ausgang: Sie haben mit den besetzten Gebieten der Ukraine zu tun. Vater Feognost Puschkow ist ein Priester der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche (Moskauer Patriarchat) aus dem Ort Markiwka in der Oblast Luhansk, das 2022 von den russischen Streitkräften besetzt wurde. Die Hilfe des Projektes hat er ausgeschlagen. Er ist seit 2014 offen gegen die russische Invasion in die Ukraine aufgetreten. Er unterhält einen Blog und einen YouTube-Kanal.  

    Am 20. Juni schrieb er auf seinem Telegram-Kanal: „Mir geht es miserabel, Zittern und Husten in der Brust. Habe eine Tablette gegen meinen Blutdruck genommen. Die Polizei hat mich vorgeladen…“. 

    Fast sieben Stunden später ein weiterer Post: „Ich bin im Krankenwagen. Die wollen mich in der Polizei einsperren… Ich steh zwischen Leben und Tod… Helft, wer kann. Meine Mutter überlebt das nicht! Es bleibt mir nur Selbstmord…“ 

    Seitdem schweigt sein Kanal.

    Vater Feognost Puschkow / Foto ©: Telegram-Kanal „Stein, den die Bauleute verworfen haben

    „Man hätte ihn natürlich sofort da rausholen müssen“, sagt Vater Walerian niedergeschlagen. „Die Polizeibehörden [der „Volksrepublik Luhansk“] haben ihn geschnappt, zwei Wochen schon gibt es keinerlei Nachricht von ihm, und wir haben keine Ahnung, wo er ist. So etwas passiert in den besetzten Gebieten; dort herrscht völlige Gesetzlosigkeit. Wir hätten ihm gern geholfen, aber jetzt bleibt uns nichts anderes mehr übrig, als die gesamte zivilisierte Welt auf die Situation aufmerksam zu machen. Er hat nur noch seine bettlägerige Mutter, die er als einziger pflegte. Was mit der wird, wissen wir nicht. Die Situation ist mehr als fürchterlich.“ 

    „Wenn der Priester zu einem Beamten und zu einem Teil der Staatsmaschine wird, dann stimmt etwas nicht“ 

    Ich kenne noch einen anderen Priester, der war früher fast schon das Klischee von einem Popen: ein rundlicher, gütiger Vater. Er hat 50 Kilo abgenommen, während er im Keller saß. Weil der einzige Ort, wo man sich vor den Bombenangriffen verstecken konnte, der Kirchenkeller war. Ein Jahr hat er dort verbracht, jetzt ist er dünn wie ein vertrockneter Stängel, nur die Augen sind noch so groß wie früher. Er war wie der Priester aus dem Märchen über den Popen und seinen Arbeiter Balda; jetzt wirkt er wie ein fastender Mönch aus den Heiligenbüchern. Er hat sehr vielen Menschen geholfen. Er hat den Keller nicht verlassen, ging nicht nach draußen, kümmerte sich um die Kranken, weil er rund um die Uhr seinen Dienst versah.“ 

    Vater Walerian Dunin-Barkowski ist studierter Physiker, war früher Musiker und arbeitet neben seiner Tätigkeit als Seelsorger als IT-ler. Er sagt, dass es in Westeuropa nicht üblich ist, sein Geld ausschließlich durch den Dienst als Priester zu verdienen. Alle Priester haben auch noch eine weltliche Arbeit: „Das ist im Christentum nichts Neues: Der Apostel Paulus hat ebenfalls gearbeitet. Es ist eher so, dass das System nicht stimmt, wenn der Priester zu einem Beamten und zu einem Teil der Staatsmaschine wird.“ 

    Vater Walerian Dunin-Barkowski beim Gebet in seiner Kapelle / Foto © Vadim Braydov
    Vater Walerian Dunin-Barkowski beim Gebet in seiner Kapelle / Foto © Vadim Braydov

    Ihm zufolge gibt es unter Physikern viele Gläubige, auch solche, die in den Priesterstand eingetreten sind. Weil der Mensch, „wenn er die Welt zutiefst ergründet, früher oder später versteht, dass sie mit physikalischen Gesetzen allein nicht gänzlich beschrieben werden kann. Und dass das geistliche Leben in diesem Sinne nicht nur an die Geisteswissenschaften grenzt, sondern auch an die Physik und die Biologie.“ Auch unter den Unterstützten von Mir Vsem gibt es einen Priester, der Astronom ist. 

    „Der Beginn des Krieges war ein tiefer Schock – nicht nur für unsere ukrainischen Gemeindemitglieder, sondern auch für die russischen“ 

    Vater Walerian ist mit seiner Familie vor sechs Jahren nach Deutschland gekommen, aus politischen Gründen: „Mein Sohn war in der Organisation von Alexej Nawalny aktiv“, erzählt er. Unsere ganze Familie hat Alexej Anatoljewitsch Nawalny unterstützt. Ich habe viele Bekannte in Nawalnys Stiftung zur Korruptionsbekämpfung und war Freiwilliger in einem seiner Stäbe. 2018 drohten sie meinem Sohn, meiner Frau und mir selbst mit Strafverfahren. Da wurde uns klar, dass wir gehen müssen.“ 

    Auch Andrej Kordotschkin lebt jetzt in Deutschland. Er hat einen Bachelor in Theologie an der Universität Oxford gemacht und einen Magister im gleichen Fach an der Universität London. Nach 2002 wurde er Priester und diente als Vorsteher einer Gemeinde der Russisch-Orthodoxen Kirche in Madrid. Die Gemeinde war klein und national sehr gemischt; die meisten waren Ukrainer. Im Laufe von zwanzig Jahren wurde eine Kirche gebaut; die Gemeinde ist gewachsen. 

    Vater Andrej Kordotschkin in einem T-Shirt der russischen Rockband DDT. Er betreut jetzt eine kleine Gemeinde in Tilburg in den Niederlanden, die von Gläubigen verschiedener Nationalitäten besucht wird / Foto © Vadim Braydov
    Vater Andrej Kordotschkin in einem T-Shirt der russischen Rockband DDT. Er betreut jetzt eine kleine Gemeinde in Tilburg in den Niederlanden, die von Gläubigen verschiedener Nationalitäten besucht wird / Foto © Vadim Braydov

    „Der Beginn des Krieges war ein tiefer Schock – nicht nur für unsere ukrainischen Gemeindemitglieder, sondern auch für die russischen“, erinnert sich Kordotschkin. „Im Laufe der ersten Tage und Wochen wurde klar, dass es nicht nur um einen Einmarsch auf das Territorium eines anderen Staates geht, sondern auch um tiefgreifende und schnelle Veränderungen auf dem Gebiet Russlands. Die Gesetze wurden zielstrebig verändert und machten jetzt praktisch jede kritische Haltung zum militärischen Vorgehen zu einem Verbrechen. 

    Auch in meiner Gemeinde kam es zu einer Spaltung. Allerdings verlief die nicht nach nationaler Zugehörigkeit. Sie war sehr viel tiefgehender und komplexer: Es gab in unserer Gemeinde Ukrainer, die die russische Regierung unterstützten. Und es gab auch eine Reihe von Russen, die nicht für den Einmarsch waren.“ 

    Nicht nur in Russland werden Priester verfolgt. Es gibt auch im Ausland Gemeinden, die dem Moskauer Patriarchat unterstellt sind 

    Nach Informationen der Zeitung Nowaja Gazeta Europe haben seit dem 24. Februar 2022 bis zum Mai dieses Jahres 59 Priester wegen ihrer Haltung gegen den Krieg Repressionen von Seiten der Russisch-Orthodoxen Kirche oder des Staates erlitten. Und diese Zahl wächst. Von Seiten der Kirche wurde den Priestern untersagt, den Gottesdienst zu feiern, sie wurden ihrer Priesterwürde enthoben und aus den Reihen der Kirche entfernt. Von Seiten des Staates wurden ihnen wegen „Diskreditierung“ der Armee Geldstrafen auferlegt oder Strafverfahren gegen sie eröffnet. Priester wurden nicht nur in Russland verfolgt: Es gibt auch im Ausland Bistümer und Gemeinden der Russisch-Orthodoxen Kirche, die dem Moskauer Patriarchat unterstellt sind.  

    Vater Andrej hat zwanzig Jahre in der Kirche der Heiligen Maria Magdalena in Madrid gedient. Im Februar 2023 wurde ihm für drei Monate untersagt, Gottesdienste zu zelebrieren. Und im Herbst reichte Kordotschkin dann ein Gesuch über die Entlassung aus dem Dienst ein. 

    „Da ich nach Beginn des russisch-ukrainischen Krieges öffentlich auf eine Art Stellung bezogen habe, die mit der von der russischen Regierung verkündeten Position unvereinbar war, musste ich meine Gemeinde in Spanien Ende letzten Jahres verlassen“, berichtet er. 

    Jetzt befindet sich Vater Andrej nicht mehr unter der Jurisdiktion des Moskauer Patriarchats, sondern unter der des Patriarchen von Konstantinopel. Seine Gemeinde befindet sich in den Niederlanden. 

    „Das Jüngste Gericht erwartet jeden“ 

    Gottesdienst der orthodoxen St. Nikolaus–Gemeinde in Düsseldorf. Die Gemeinde ist in der katholischen Sankt Josephskapelle im Stadtzentrum untergekommen / Foto © Vadim Braydov
    Gottesdienst der orthodoxen St. Nikolaus–Gemeinde in Düsseldorf. Die Gemeinde ist in der katholischen Sankt Josephskapelle im Stadtzentrum untergekommen / Foto © Vadim Braydov

    „Das Jüngste Gericht erwartet jeden. Keine irdische Macht, kein Arzt, kein Wächter bewahrt vor diesem Gericht. In der Sorge um die Rettung jedes Menschen, der sich als Kind der Russisch–Orthodoxen Kirche begreift, wünschen wir nicht, dass jemand vor dieses Gericht tritt und mit einem mütterlichen Fluch belastet ist. Wir erinnern daran, dass das Blut Jesu Christi, das der Erlöser für das Leben der Welt vergoss, im Sakrament der Eucharistie von jenen, die mörderische Befehle erteilen, nicht zum Leben, sondern zu ewiger Pein empfangen wird. Wir sind in Trauer um die Prüfungen, denen unsere Brüder und Schwestern in der Ukraine ohne Schuld unterzogen werden.“ 

    Das ist ein Auszug aus einem offenen Brief russisch-orthodoxer Priester „mit einem Aufruf zur Versöhnung und Beendigung des Krieges“. Initiiert wurde der bereits am 1. März 2022 veröffentlichte Brief von Andrej Kordotschkin. Bis heute haben ihn 293 Geistliche unterzeichnet, auch Vater Walerian. 

    „Was soll man mit Menschen tun, die die Fakten leugnen? Für sie beten, weil sie fehl gegangen sind und der Lüge folgen“ 

    „Ganz zu Beginn haben wir noch nicht verstanden, was vor sich geht. Es gab ja keine massenhafte Verfolgung von Priestern“, sagt er. „Dass wegen der Haltung gegen den Krieg Verbote ausgesprochen werden, Gottesdienst zu feiern oder die Priesterwürde entzogen wird, hatte noch nicht begonnen. Das begann alles 2023. Anfangs gab es spontanen Protest von Priestern, die sagten, dass der Krieg den Geboten, der Heiligen Schrift und dem Willen Gottes widerspreche. Es sei Frevel und Gotteslästerung, den Krieg mit geistlichen Begründungen zu rechtfertigen. Es gibt Menschen, die einen Krieg begonnen haben, und es gibt einen Staat, der den Krieg entfesselt hat. Es gibt Fakten, die das belegen. Was soll man mit Menschen tun, die die Fakten leugnen? Für sie beten, weil sie fehl gegangen sind und der Lüge folgen.“ 

    Einige russische Priester predigen aggressiv den Krieg. Andrej Tkatschow zum Beispiel, der von einem heiligen Krieg spricht und sagt, wenn es den Krieg nicht geben würde, „wären wir alle zugrunde gegangen“. Oder Artemij Wladimirow, der im Fernsehsender Sojus von einer „wundersamen Heilung“ eines chinesischen Soldaten im Krieg erzählt, wo seinen Worten zufolge „der Chinese und seine Familie den orthodoxen Glauben annahmen und Jünger der Russisch-Orthodoxen Kirche wurden.“ 

    „Es gibt aber auch das direkte Gegenteil“, sagt Vater Walerian: „Menschen, die ihrem Bekenntnis folgen und offen ihre Haltung gegen den Krieg kundtun. Sie gehen praktisch den Weg des Kreuzes und der Leiden. Es gibt viele Menschen, die fernab in den Regionen der Kirche dienen, etwa einer meiner Freunde. Er unterstützte nicht den Krieg und hat keinerlei Illusionen. Er ist mit Ukrainern befreundet und will das auch bleiben. Allerdings ist er noch nicht so weit, sich heldenhaft zu bekennen. Ihm ist klar, dass er dort, wo er sich jetzt befindet, mit seinen Möglichkeiten helfen kann und wird daher nicht in eine offene Konfrontation gehen. 

    Er verliest zwar das Gebet über die Heilige Rus. Er versucht aber, in seinen Predigten nicht über Politik zu sprechen und niemanden zu etwas aufzurufen. Menschen wie diesen Freund kann ich nicht verurteilen. Das steht mir nicht zu, schließlich befinde ich mich in Sicherheit. Ich weiß, dass es in seinem Herzen kein Hass gegen die Ukraine und die Ukrainer gibt. Es stimmt, aus geistlicher Sicht sollte er das Gebet nicht lesen. Ich hoffe aber, dass der Herrgott ihm verzeiht.“ 

    „Wir legen Zeugnis davon ab, dass sich nicht alle dem Teufel verschrieben haben“ 

    Vater Walerian und Vater Andrej feiern regelmäßig den Gottesdienst in ihrem Düsseldorfer Exil in der St. Josephskapelle / Foto © Vadim Braydov
    Vater Walerian und Vater Andrej feiern regelmäßig den Gottesdienst in ihrem Düsseldorfer Exil in der St. Josephskapelle / Foto © Vadim Braydov

    Die Gründer des Projekts Mir Vsem sammeln über die Plattform Saodno (dt.: Gemeinsam) Mittel für die Priester und helfen bei der Erlangung europäischer Visa für diejenigen, die das Land verlassen wollen. Diese sind, den Worten der Priester zufolge, jedoch in der Minderheit. Mit Erlaubnis der Priester werden ihre Geschichten auf der Internetseite von Mir Vsem veröffentlicht, in der Rubrik Bekenner

    „Einigen ist es sehr wichtig, dass ihre Haltung gegen den Krieg öffentlich wird“, sagt Vater Walerian Dunin-Barkowski. „Wir veröffentlichen ihre Beiträge, wir geben ihnen eine Stimme. Unter jedem unserer Videos und Posts schreiben die Leute: ‚Wir haben ja nicht gewusst, dass es noch eine Geistlichkeit gibt, die den christlichen Prinzipien treu ist.‘ 

    Für uns ist es eine existenzielle Frage: Wir legen Zeugnis davon ab, dass sich nicht alle dem Teufel verschrieben haben, sondern in diesen schweren Zeiten weiterhin ihren Glauben predigen. Für uns ist wichtig, dass diese Flamme in ihnen nicht erlischt, dass sie ihrerseits Menschen inspirieren, ihre Gemeinde, die sie nicht im Stich lässt. Dadurch bewahren wir dieses Licht des Friedens und der christlichen Liebe.“ 

    Vater Wadim Perminow ist 48 Jahre alt. 27 Jahre schon trägt er die Robe. Er hat das Priesterseminar Tomsk absolviert. Nach der Schule hat er eine Weile als Tischler gearbeitet, bevor er dort eintrat. Wadim war Vorsteher einer orthodoxen Kirche in Kuibyschew (Oblast Nowosibirsk). Er ist einer der Priester, die sich weigerten, das Gebet über die Heilige Rus zu verlesen. Am 3. Juli wurde bekannt, dass ihm der Gottesdienst untersagt wurde. 

    „Im März 2022 erging aus dem Patriarchat die Anordnung an alle Gemeinden über die verpflichtende Verlesung des Gebets über die Wiederherstellung des Friedens während der Gottesdienste, und wir haben gebetet“, erzählt er. „Und bereits im September ersetzte der Patriarch Kirill es durch das Gebet über die Heilige Rus. Im ersten Gebet wurde Frieden erbeten, im zweiten jedoch der Sieg.“ 

    „Es ist unchristlich, vom Herrgott den Sieg in einem Bruderkrieg zu erbitten. Das wäre so, als ob Kain Gott um Hilfe bittet, während er dabei ist, seinen Bruder Abel zu erschlagen“ 

    Den Worten des Priesters zufolge wussten die Gemeindemitglieder praktisch nichts über das neue Gebet, einige vermuteten allerdings etwas. Es gab ja Meldungen, dass Priester wegen ihrer Haltung gegen den Krieg ihrer Priesterwürde enthoben wurden. Einmal kamen Angehörige russischer Soldaten zu ihm und baten, dass regelmäßig für diese gebetet werde. Perminow war einverstanden, wandte aber ein, dass das kein Gebet für den Sieg der einen und die Niederlage der anderen sein werde. Vielmehr werde es um die schnellstmögliche Rückkehr der Soldaten zu ihren Familien und die Genesung der Verwundeten gehen. 

    „Es ist unchristlich, vom Herrgott den Sieg in einem Bruderkrieg zu erbitten. Das wäre so, als ob Kain Gott um Hilfe bittet, während er dabei ist, seinen Bruder Abel zu erschlagen“, erklärt er. „Die Laien haben auf das Geschehen überwiegend so reagiert, wie es ihnen der Fernseher eintrichterte. Der ist hier stärker gewesen als das Evangelium. Ich habe nicht versucht, jemanden umzustimmen. Psychologen sagen, dass das nicht möglich ist, wenn jemand durch Propaganda vergiftet ist und weiter damit gefüttert wird. Das wäre genau so, als wolle man einem nichtgläubigen Menschen beweisen, dass es Gott gibt.“ 

    Vater Wadim glaubt, dass irgendjemand aus der Gemeinde ihn denunziert hat. Als das Bistum im Frühjahr einen neuen Bischof bekam, lud dieser den Priester zum Gespräch vor. Perminow zufolge sei der Bischof dabei laut geworden und habe „merkwürdige Fragen“ gestellt: Warum er und seine ältesten Söhne nicht in der Armee gedient hätten? Warum seine Eltern keine echten, vollwertigen Kirchgänger seien, wo doch die Familie von der Gemeinde einen Unterhalt erhält, der über dem Existenzminimum liege? Warum er das Gebet des Patriarchen über den Sieg nicht verlese? Und schließlich, ob er gleichgeschlechtliche Ehen unterstütze? 

    Vater Wadim Perminow will seine Heimat nicht verlassen. In seiner Gemeinde in Kuibyschew in Sibirien darf er nicht mehr Gottesdienst feiern / Foto: istories, YouTube
    Vater Wadim Perminow will seine Heimat nicht verlassen. In seiner Gemeinde in Kuibyschew in Sibirien darf er nicht mehr Gottesdienst feiern / Foto: istories, YouTube

    „Es wurde mir verboten, Gottesdienste abzuhalten, den Segen zu spenden und das Kreuz zu tragen. Mehr ist ihnen wohl nicht eingefallen“ 

    „Zu meinen Argumenten, dass der Unterhalt eines Priesters nach der Anzahl der zu versorgenden Familienmitglieder berechnet wird, lachte er mir nur ins Gesicht“, erinnert sich Vater Wadim. „Auf jedes Familienmitglied entfallen rund 25.000 Rubel, das ist etwas mehr als das Existenzminimum in der Oblast Nowosibirsk. Der Bischof hielt das für ungerechtfertigten Luxus.“ 

    Es kam der Moment, dass Perminow auf Druck des Bischofs einfach den Mund hielt. Nach dem Gespräch wurde er in ein Dorf versetzt. Dann schrieb der Priester eine offizielle Weigerung, „für den Sieg in einem Bruderkrieg zwischen orthodoxen Christen zu beten“. 

    „Als ich der Metropolie Nowosibirsk und dem Patriarchat die offizielle Weigerung schrieb, dieses verfehlte Gebet des Patriarchen zu verlesen, fuhr ich noch weiterhin in die neue Gemeinde. Und dann trat der Diözesenrat des Bistums zusammen. Ich war beim Rat nicht dabei, da ist mir die Gesundheit wichtiger… Dort wurde ich freigestellt, es wurde mir verboten, Gottesdienste abzuhalten, den Segen zu spenden und das Kreuz zu tragen. Mehr ist ihnen wohl nicht eingefallen“, sagt er. 

    Im Bistum erklärte man, dass Perminow der Gottesdienst verboten wurde, weil er „seine Vollmachten als Kirchenvorsteher missbraucht“ und „einen unberechtigt großen Unterhalt“ bezogen habe. Weiter hieß es: „Ja, es gab einen Moment, dass Besucher der Kirche sich zu Wort meldeten, weil Vater Wadim das Gebet über die Heilige Rus nicht gelesen hat. Es gab Äußerungen von ihm, die sich gegen die ‚militärische Spezialoperation‘ richteten. Das war aber nur eine der Fragen. Nicht die wichtigste.“ 

    Im Text des Erlasses über das Gottesdienstverbot für Vater Wadim ist weder von Unterhalt noch von Missbrauch der Vollmachten die Rede: „Sie werden von den Pflichten des Vorstehers der Kirche des Heiligen Sergius von Radonesh im Dorf Ubinskoje (Oblast Nowosibirsk) entbunden, aus den Reihen des Bistums entlassen, und Ihnen wird die Feier der Heiligen Liturgie untersagt, weil Sie sich geweigert haben, den kanonisch festgelegten Gottesdienst zu halten und die Pflichten eines Kirchenvorstehers zu erfüllen.“ 

    „Üblicherweise wird in derartigen Erlassen nicht als Grund genannt, dass das Gebet über die Heilige Rus nicht gelesen wurde. Es wird auf mangelnden Gehorsam gegenüber der kirchlichen Obrigkeit oder disziplinarische Gründe verwiesen“, sagt Perminow. „Im Erlass über die Versetzung in eine dörfliche Gemeinde wurde überhaupt kein Grund genannt; einfach eine Versetzung ohne Angabe von Gründen. 

    Im Dorf Ubinskoje [wo sich die neue Gemeinde befand] habe ich den Unterhalt nur einmal erhalten: 30.000 Rubel für die ganze Familie. Eine entlegene dörfliche Gemeinde ist nicht in der Lage, eine Familie mit mehreren Kindern mit finanziellem Unterhalt zu versorgen. Daher konnte ich an Werktagen die Kirche nicht aufsuchen und versuchte in der Stadt, in einem weltlichen Beruf Geld zu verdienen. Ich habe mich nicht geweigert, Gottesdienste abzuhalten, wie dort geschrieben steht. Wir haben zusammen mit den Gemeindemitgliedern gebetet, die heiligen Gaben empfangen, Oblaten backen gelernt. Ich habe getauft, Trauermessen gelesen, die Strafkolonie besucht.“ 

    „Solidarität gibt genauso viel Kraft wie das Gebet“ 

    Wie Vater Walerian berichtet, verlieren die meisten Priester, die mit Verboten belegt sind, ihren Lebensunterhalt. Die Mehrheit von ihnen braucht Zeit, einen neuen Beruf zu erwerben und ein weltliches Leben zu beginnen. In dieser Phase hilft Mir Vsem. So geschah es auch mit Wadim Perminow. 

    „Auf der Internetseite von Mir Vsem gab es einen Artikel über einen mit Verboten belegten Priester; da habe ich in den Kommentaren geschrieben: ‚Mich hat man gestern auch entlassen und unter Verbot gestellt‘ “, erzählt Wadim darüber, wie er das Projekt kennenlernte. „Vater Andrej Kordotschkin bat mich in seiner Antwort, meine Geschichte zu erzählen. Auch Vater Walerian schrieb mir, der Mitbegründer der Organisation. Daraufhin hatte ich etwa 400 neue Abonnenten auf meinem Telegram-Kanal. Ich hatte noch nie derartige Worte der Unterstützung gehört. Eine solche Solidarität gibt genauso viel Kraft wie ein Gebet. Ich habe ein wenig finanzielle Unterstützung bekommen, weswegen mich die ‚Patrioten‘ schon des Verrats und der Käuflichkeit beschuldigt haben.“ 

    Vater Walerian meint, das größte Problem seien jene, die Priester, die gegen den Krieg sind, denunzieren: „Das Umfeld ist das Problem: Gibt es dort einen Judas, einen Verräter, oder nicht? In dieser Hinsicht hat sich seit 2000 Jahren nichts geändert.“ 

    Vater Andrej Kordotschkin hat die Organisation Mir Vsem gegründet, weil es sonst niemand gab, der Priester unterstützte, die von ihrer Kirche verstoßen wurden / Foto © Vadim Braydov
    Vater Andrej Kordotschkin hat die Organisation Mir Vsem gegründet, weil es sonst niemand gab, der Priester unterstützte, die von ihrer Kirche verstoßen wurden / Foto © Vadim Braydov

    Von offiziellen Vertretern der Russisch-Orthodoxen Kirche erhalten die gegen den Krieg eingestellten Priester keine Unterstützung. Nach dem offenen Brief erklärte Wachtang Kipischidse, der stellvertretende Vorsitzende der Abteilung des Moskauer Patriarchats für die Beziehungen der Kirche zur Gesellschaft und den Medien, dass in dem Schreiben mit dem Aufruf eine Gefahr enthalten sei, weil die Unterzeichner versuchen, „Konflikte zu schüren“. 

    „Die Kirche wird nicht Teil einer politischen Opposition werden, weil sie jenseits der Politik steht. Sie befindet sich auf der Seite des Volkes, sie befindet sich auf der Seite jener, denen sie ihre pastorale Fürsorge gewähren muss. Und unter diesen Menschen stehen Militärangehörige nicht an letzter Stelle“, erklärte er. 

    „Wenn gesagt wird, die Popen mischen sich in die Politik ein, ist das oft ein schlecht maskierter Versuch, den Menschen den Mund zu verbieten.“ 

    Vater Andrej Kordotschkin widerspricht dem: „Die Kirche ist keine Partei, wo die da oben im Namen der da unten sprechen. In ihr haben alle eine Stimme: Priester wie Laien, und auch jene Leute, deren Ansichten von der offiziellen Position abweichen. Es gibt die verbreitete Ansicht, dass die Kirche sich nicht in die Politik einmischen dürfe.  

    Wenn wir von Politik als Kampf um die Macht sprechen, so kann die Kirche in diesem Spiel natürlich nicht als Akteur auftreten. Wenn wir aber von Politik als aktiver Beteiligung am Leben des Landes sprechen, und von der Kirche nicht nur als einer administrativen Struktur, sondern einer Gemeinschaft von Menschen, so gibt es keinerlei Grund, warum die Menschen nicht am Leben ihres Landes teilhaben sollen. Wenn gesagt wird, die Popen mischen sich in die Politik ein, ist das oft ein schlecht maskierter Versuch, den Menschen den Mund zu verbieten.“ 

    In der Kirche sollten alle eine Stimme haben, Priester wie Laien, findet Vater Andrej / Foto © Vadim Braydov
    In der Kirche sollten alle eine Stimme haben, Priester wie Laien, findet Vater Andrej / Foto © Vadim Braydov

    Der Priester meint, dass die Russisch-Orthodoxe Kirche bereits gespalten sei. Es gebe dort keine „totale Unterstützung für die Diktatur und den Krieg, obwohl der offizielle Diskurs mit dem des Staates übereinstimmt.“ Das werde längst nicht von allen Laien und Priestern geteilt. Eines der Ziele des Projektes Mir Vsem bestehe darin, das zu zeigen. Damit nicht nur die bekannten, öffentlich auftretenden Priester zu Wort kommen, sondern auch jene fernab in den Regionen. Allerdings bitten viele von ihnen, da sie sich weiterhin in Russland befinden, dass ihre Namen und Lebensgeschichten nicht genannt werden. Sie wollen nicht unter noch größeren Druck von Seiten kirchlicher oder staatlicher Institutionen geraten. 

    „Ich bin von der Standhaftigkeit derjenigen beeindruckt, die uns aus abgelegenen Regionen schreiben“, sagt Andrej Kordotschkin. „Diese Menschen können nicht mit Medienpräsenz und damit auch nicht auf größere Unterstützung rechnen. Joseph Brodsky erinnerte sich, wie er im Zug in ein Dorf bei Archangelsk unterwegs war, wohin er wegen ‚Schmarotzertums‘ verschickt wurde. Dabei traf er einen Menschen, der mit ihm verlegt wurde. Das war ein Bauer, der wegen einer Nichtigkeit verurteilt worden war. Brodsky schreibt, dass niemand dessen Namen kannte und deshalb niemand ihm je helfen konnte. 

    Für einen Priester in der Provinz ist es schwierig, für sich und seine Familie eine andere Unterhaltsquelle zu finden. Und es sind Menschen, die oft nicht zu einer Emigration bereit sind. Sie haben eine große Familie, viele Kinder, und sie können sich nicht so recht vorstellen, in einem anderen Land zu leben. Ihr Mut begeistert mich. Diesen Leuten helfen wir über die Plattform Saodno.“ 

    Die Organisation ist jetzt dabei, sich als juristische Person in Deutschland registrieren zu lassen. Die Gesprächspartner von OVD-Info berichten, dass keiner der Gründer der Organisation Geld für seine Arbeit bekommt, und dass das Projekt in dieser Zeit auch keine Fördermittel erhielt. Es lebt von privaten Spenden. 

    Eine vertraute Hierarchie 

    „Es hat sich herausgestellt, dass der Fernseher stärker ist als das Evangelium“, sagt Vater Wadim Perminow resigniert. In der St. Nikolaus-Gemeinde in Düsseldorf hat die Heilige Schrift noch Wirkung / Foto © Vadim Braydov
    „Es hat sich herausgestellt, dass der Fernseher stärker ist als das Evangelium“, sagt Vater Wadim Perminow resigniert. In der St. Nikolaus-Gemeinde in Düsseldorf hat die Heilige Schrift noch Wirkung / Foto © Vadim Braydov

    „Leider kamen in den 2000er Jahren, als die Personalstärke der Streitkräfte zurückgefahren wurden, kamen viele ehemalige Offiziere des Militärs zur Kirche“, erzählt Walerian. Die haben ein System des Gehorsams verinnerlicht: Was der Chef sagt, das ist richtig. Die sind nur sehr schwer von etwas anderem zu überzeugen: Der Patriarch sagt, man müsse für den Krieg sein, also sind sie für den Krieg. Für sie ist das eine vertraute Hierarchie: Es gibt Generäle und den Oberkommandierenden. Ich kenne viele Priester, die ehemalige Militärs sind. Viele von ihnen unterstützen tatsächlich die „militärische Spezialoperation“ und „unsere Jungs“. Das ist für sie ganz selbstverständlich. Nur haben sie übersehen, dass das absolut dem Evangelium widerspricht.“ 

    Andrej Kordotschkin erinnern die Repressionen im heutigen Russland zum Teil an die Situation in der Sowjetunion: „Erinnern wir uns nur an markante Figuren wie Vater Alexandr Men: Wenn die Menschen damals nicht zu Protesten auf die Straße gingen, bedeutete das absolut nicht, dass sie den Diskurs teilten, unter dem sie sich befanden. Der kirchliche Untergrund, den es in der UdSSR gab, den gibt es auch jetzt. Es ist noch nicht genug Zeit vergangen, um zu vergessen, wie man das macht.“ 

    Vater Wadim Perminow, dem Mir Vsem seit kurzem hilft, hat bereits angefangen, eine Umschulung zu machen. Nachdem er in das Dorf kam, hat er werktags Arbeit gesucht. Sonntags fuhr er über hundert Kilometer mit dem Auto seines Vaters zu den Gottesdiensten. Seine Familie hat kein eigenes. So ging es bis zum Verbot. Die Familie hat fünf Kinder. Sie haben nicht vor, das Land zu verlassen. 

    „Ob ich mich vor 2022 mit dem politischen Geschehen beschäftigt habe? Natürlich!“, sagt er. „Ich war Anhänger von Solowjow, Kisseljow und Skabejewa. Ich habe keine einzige Sendung verpasst. Als ich aber dann mal einen Recherchefilm von Alexej Nawalny sah, habe ich den Fernseher für immer ausgeschaltet. 

    Ich erinnere mich an die Meldung, dass russische Truppen die Grenze zur Ukraine überschritten haben. Das konnte ich für mich im Kopf nicht klarkriegen, habe aber geschwiegen. Mein Schweigen war nicht mit Angst verknüpft. Die ganze Zeit versuchte ich, die Informationen zu verarbeiten, war Beobachter. Mit den Gemeindemitgliedern habe ich das nicht diskutiert und vom in meinen Predigten bat ich nur um eines, nämlich den Fernseher auszuschalten. Weil die Gemeindemitglieder über eine unerklärliche Gereiztheit und Schlafstörungen klagten.“ 

    Von den Priestern haben nur drei angerufen und ihn unterstützt. Sein geistlicher Vater war nicht dabei. Perminow führt weiter seinen Telegram-Kanal Kainsker Pavillon

    „Die Gemeindemitglieder verhalten sich wie immer und überall. Sie werden laut, sie klagen, und dann gewöhnen sie sich an alles. Auf die Frage ‚Wie geht’s?“ würde ich mit einer Zeile von Puschkin antworten: ‚Mir ist so schwer und leicht ums Herz, licht ist mein Schmerz‘.“

    Weitere Themen

    Patriarch Kirill

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    Dimitri Kisseljow

    Russisch-Orthodoxe Kirche

    Wladimir Solowjow

    Joseph Brodsky

  • „Der Belarusse im Exil befindet sich in einem Kokon der Vieldeutigkeit“

    „Der Belarusse im Exil befindet sich in einem Kokon der Vieldeutigkeit“

     

    Viele Belarussen, die mittlerweile im Exil in Polen, Litauen oder Georgien leben, engagieren sich für die Demokratiebewegung. Im Belarus selbst ist Engagement gefährlich und öffentlicher Protest nicht mehr möglich. Lukaschenko hat seinen Machtapparat vor allem auf eines eingeschworen: auf politische Verfolgung. Verlässliche Informationen darüber, wie es sich unter derart hochrepressiven Bedingungen lebt, wie sich die Sichtweisen der Belarussen seit 2020 entwickelt haben, gibt es kaum. 

    Im Interview erklärt der Soziologe Andrei Wardomazki vom Belarusian Analytical Workroom die Tücken seiner Arbeit: Wie lassen sich die Einstellungen und Stimmungen der Belarussen ermitteln? Tut sich tatsächlich eine Kluft zwischen den Belarussen im Exil und denen im Land auf? 

    Der belarussische Soziologe Andrei Wardomazki im Gespräch / Foto © GasetaBY
    Der belarussische Soziologe Andrei Wardomazki im Gespräch / Foto © GasetaBY

    dekoder: Die Belarussen in ihrem Land und außerhalb ihres Landes nehmen die Situation in Belarus unterschiedlich wahr, einige Experten nennen die Differenz zwischen den Sichtweisen sogar „katastrophal“. Woher kommt das? 

    Andrei Wardomazki: Der Begriff „Katastrophe“ hat eine subjektive emotionale Aufladung. Ich sage lieber „bedeutender“ oder „wesentlicher Unterschied“.  

    Unterschiedliche Meinungen gibt es immer. In den USA zwischen Republikanern und Demokraten, in Großbritannien zwischen Tories und Whigs … Das gilt auch für Belarus. Seit wann es diesen bedeutenden Unterschied in der Wahrnehmung der Belarussen gibt – es ist schwierig, hier einen Anfangspunkt zu markieren. Ein Faktor war bestimmt die zunehmende Emigration nach 2020. Damals tauchten einige Merkmale auf, die auf eine erhebliche Differenz zwischen der Sichtweise der Belarussen im und außerhalb des Landes hindeuteten. Erhebliche Unterschiede, die sich vielleicht irgendwann zu wesentlichen entwickeln.  

    Der nächste Meilenstein war der Beginn des großangelegten russischen Angriffs auf die Ukraine. Ab da prägten sich zwei unübersehbare Informations- und Weltanschauungskokons heraus. 

    Wie kann man diese Kokons beschreiben? 

    Ich nenne sie „Nein zum Krieg“ und „Es gibt keinen Krieg“. Es gibt auch Kokons zu anderen weltanschaulichen Positionen. Zum Beispiel zur geopolitischen Ausrichtung, zur Einstellung zu Europa. Die Menschen sehen verschiedene Realitäten. Während ein Belarusse im Exil das Lächeln der westlichen Politiker vor Augen hat, sieht man von Belarus aus den Gesichtsausdruck eines EU-Grenzbeamten beim Grenzübertritt. 

    Der nächste Kokon betrifft das Thema Wirtschaft. Jenseits von Expertenkreisen (die die Situation nüchtern beurteilen) besteht unter den Durschnittsbelarussen im Ausland die Vorstellung vom wirtschaftlichen Niedergang in Belarus, dass es immer schlimmer wird. Die Bevölkerung im Land bewertet die wirtschaftliche Lage anders, sie nimmt keine Verschlechterung wahr. Die Statistik gibt ihnen übrigens recht. 

     

    Der nächste Unterschied ist, dass die Exil-Belarussen von extremen Repressionen und der totalen Entbelarussifizierung in Belarus ausgehen. Aus dem Land selbst hingegen gibt hört man immer wieder, dass Gras darüber gewachsen sei. Aus verständlichen Gründen führe ich keine Beispiele an. 

    Die Auswanderer sind im Jahr 2020 steckengeblieben, in Belarus herrscht schon eine „neue Normalität“ 

    Worin liegt der Unterschied im Denken der Belarussen innerhalb und außerhalb des Landes, wie und warum bilden sich diese Kokons? 

    Es gibt den Parameter der sozialen Zeit. In vielerlei Hinsicht kann man die Diaspora charakterisieren als erstarrt im Jahr 2020. Alles blieb dort und damals stehen – die Menschen, das Weltbild, die Psychologie. Aber innerhalb von Belarus passieren Veränderungen, die zu einer Art „neuen Normalität” führen. Der Belarusse im Exil befindet sich in einem Kokon der Vieldeutigkeit, mit vielen Interpretationsmöglichkeiten. Er bewegt sich in einem Informationsstrom, der ihm vielfältige Interpretationen anbietet, verschiedene Perspektiven auf ein und dasselbe Phänomen.  

     

    Der Belarusse in Belarus bewegt sich im Strom der Zensur und Begrenzung. Putin soll man nicht kritisieren, über Selensky lieber nichts Gutes sagen. Das Jahr 2020 darf man nicht positiv bewerten, und zu manchen Persönlichkeiten sollte man sich gleich gar nicht äußern. Das ist Zensur, vermischt mit Selbstzensur. 

    Generell sind der Grund für solche Kokons einerseits diese verschiedenen, manchmal diametral entgegengesetzten Informationsströme, andererseits gehen die persönlichen Erfahrungen auseinander. Die Kombination aus beiden erzeugt eine Kluft. Ein wichtiger Grund hat mit Sicherheit damit zu tun: mit dem Überleben. In Belarus ist es schlicht gefährlich, blockierte ausländische Medien und nichtstaatliche belarussische Auslandsmedien zu lesen oder zu konsumieren, die Mehrheit ist als „extremistisch“ gelistet. Man richtet daher seine Aufmerksamkeit auf andere Quellen, wechselt den Kokon. 

    Sie sprechen über die Belarussen im In- und Ausland, erwähnen aber diejenigen nicht, die in Belarus geblieben sind und dennoch dasselbe lesen und schauen wie die Emigrierten. 

    VPN-Dienste verringern das Problem der Blockierungen erheblich, aber die Gefahr bleibt bestehen. Ich denke, den Anteil derer, die dieselben Medien konsumieren wie die Emigranten, kann man bei 30 Prozent verorten. Übrigens ist das Vertrauen in die unabhängigen belarussischen Medien genauso hoch wie das in die russischen Medien. Trotz aller Einschränkungen bleibt das Interesse also bestehen. Das ist ein wichtiger Indikator.  

     

    Es wirken aber auch psychische Schutzmechanismen. Manche Menschen sind nicht in der Lage, Fotos aus Butscha anzusehen oder viel negative Information aufzunehmen. Hält ein Mensch das nicht aus, zieht er sich zurück in einen ruhigeren, positiveren Kokon. Beim Entstehen dieser Kokons wirken also zwei Arten von Selbstschutz. Erstens das existenzielle, lebensnotwendige Sicherheitsbedürfnis – sich die Freiheit zu bewahren, die man verlieren kann, wenn man Medien nutzt, die in Belarus blockiert sind oder als extremistisch gelten. Zweitens der psychische Selbstschutz – die Unfähigkeit, das Negative in den Medien auszuhalten. 

    So bewegt man sich in einer Art Korridor zwischen dem gerade noch Erträglichen und dem Interesse daran, informiert zu bleiben. In diesem Korridor zwischen Unerträglichkeit und Neugier wird alles genutzt, was an Medien zugänglich ist.  

    Welche Gründe gibt es noch, dass Leute aus einem Kokon in einen anderen wechseln? 

    Wenn die Interessen auseinandergehen und die Probleme, die die Menschen beschäftigen, nicht den Themen entsprechen, die die nichtstaatlichen Medien anbieten. Zum Beispiel interessiert man sich für Wirtschaft, aber hört nur von politischen Gefangenen. Dann entfernt man sich von dieser Information und landet in einem anderen Kokon. 

    Kann man einen Point of no Return prognostizieren, an dem die Belarussen im In- und Ausland einander endgültig nicht mehr verstehen werden? 

    Bei sozialen Phänomenen gibt es keine „hundert Prozent“, kein „absolut schlecht“ und „absolut gut“, kein „endgültig”. 

    Gab es bei den Deutschen einen Point of no Return? Gibt es ihn in Nordkorea? Dort sind die Menschen überzeugt, dass sie besser als der Rest der Welt leben, das habe ich mit eigenen Augen gesehen. Aber das heißt nicht, dass sich die Situation nicht irgendwann, in einer langen Zeitspanne, ändern kann. Über die russische öffentliche Meinung sagt man heute: „Das ist der Point of no Return, du kannst sie nicht mehr ändern.“ Aber das gibt es nicht. Was es gibt, sind Punkte, die eine Annäherung schwieriger oder leichter machen, die Veränderungen wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher machen. 

     

    Hier muss man noch die gegenseitigen Vorbehalte zwischen Emigranten und Gebliebenen erwähnen. Beide Seiten beschuldigen die jeweils andere, konform mit dem Regime zu sein, meinen damit aber unterschiedliche Dinge. Die Emigrierten sagen, ihr seid geblieben und zahlt Steuern, ihr unterstützt das Regime. Die Gebliebenen wiederum sagen, ihr Konformisten seid abgehauen, wer wird dann unser Land erhalten oder sogar kämpfen? Nach demselben – sozialpsychologischen und logischen – Prinzip haben sich die gegenseitigen Anschuldigungen schon 2020 eingebürgert, damals zwischen den Unterstützern des Wandels und den systemtreuen Jabatki. Heute beschuldigen einander Inlandsbelarussen und Auslandsbelarussen. 

    Es ist ein einzigartiges Phänomen: Dass die einen Belarussen die anderen Belarussen zu erforschen beginnen. Darin liegt die Besonderheit dieser Untersuchung, sowohl für die Wissenschaft als auch insgesamt für die belarussische Gesellschaft. Ich wiederhole, es gibt keinen Point of no Return. Es gibt eine Verweildauer in einem Zustand, die länger oder kürzer sein kann. Aber dass eine Situation für immer festfriert, das gibt es nicht. Dasselbe gilt für Konformismus- und Kollaborationsvorwürfe. 

    Erzeugen die Informationskokons die Trennlinie oder verstärken sie sie nur? Zum Beispiel Präferenzen bei der außenpolitischen Orientierung oder bei ökonomischen Veränderungen. 

    Das sind so Stimmungen, die schwanken und sich nicht stabil in eine Richtung bewegen. Einmal reagiert Europa anders auf die Situation in Belarus – schon ändert sich die Einstellung in Belarus. Grafiken, die diese Schwankungen der geopolitischen Präferenzen illustrieren, zeigen keine kontinuierliche, lineare Ausrichtung, es gibt ein Auf und Ab. 

    Nur ein Parameter bleibt konstant: Belarus und seine Armee sollen nicht direkt am Krieg in der Ukraine teilnehmen. Die Haltung zur Nutzung belarussischer Infrastruktur oder zur Stationierung russischer Truppen kann sich hingegen ändern. Sie kann sich auch verschlechtern. 

    Welche Stereotype über die Sichtweisen von Emigrierten und in Belarus Gebliebenen wurden im Verlauf der Studie aufgebrochen? 

    Jede Forschung ist in gewisser Weise ein Brechen mit Stereotypen. Ich habe schon das Beispiel der Repressionen angesprochen. Von außen besteht die stereotype Ansicht, dass die Situation in Belarus maximal schlimm ist und sich noch weiter verschlimmert. Aber die Befragten in Belarus geben nicht nur negative Einschätzungen ab. Und trotz der zahlreichen katastrophalen Wirtschaftsprognosen empfinden die Einwohner die Lage nicht als absoluten Zusammenbruch. 

    Alles ist vielfältiger und komplexer als die Stereotype polarisierter Meinungen 

    Was die geopolitische Ausrichtung angeht, so nehmen die Belarussen beispielsweise Europa ganz unterschiedlich wahr, meist je nach persönlichen Erfahrungen und je nach Informationsquellen. Ich möchte hier keine Antworten zitieren, aber es gibt viele Details abseits von Stereotypen. 

    Über Russland sagen die einen, dass davon die Kriegsgefahr ausgehe, die anderen, dass die Freundschaft mit Russland Garant dafür sei, dass das belarussische Territorium von den Kämpfen verschont bleibe. 

    Im Rahmen unserer Forschungen, unter anderem zum Thema „Informationskokons in Belarus und im Ausland“, tragen wir Berge von detaillierten Informationen zusammen und denken bereits über die Entwicklung einer Kokontheorie nach. Alles ist vielfältiger und komplexer als die Stereotype polarisierter Meinungen. 

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  • Hass im Donbas

    Hass im Donbas

    Dieses Warum beschäftigt mindestens Europa seit mehr als zehn Jahren: Warum haben russische Propaganda, Geld und Waffen in den ukrainischen Donbas-Regionen Donezk und Luhansk so viel stärker verfangen als in anderen Gebieten? Es kann nicht nur an der russischen Sprache oder dem früher hohen Anteil der sich als Russen identifizierenden Menschen liegen, betonen ukrainische Wissenschaftler und Publizisten. Denn dies trifft auch auf Teile der Regionen Odesa, Charkiw und Saporischschja zu.  

    Vielmehr sei schon der Begriff eines vermeintlich homogenen Donbas’ ein Teil der (pro-)russischen Propaganda, während die gesamte Region vielfältiger sei, sich im ländlichen Raum viel mehr ukrainische Traditionen und Sprache sowie Minderheiten wie etwa die griechische Gemeinschaft fänden. Das Warum-im-Donbas erklären sie mit einer besonders aggressiven Propaganda, die eine laute Minderheit zum Volkswillen erhebt.  

    Wie sich das genau entwickelt hat, skizziert auch Konstantin Skorkin: In seinem Artikel für die russischsprachige Ausgabe von The Moscow Times beschreibt er die Ursprünge und Entwicklungsstufen der russischen Einmischung in die politische Entwicklung der ostukrainischen Regionen bis zum Beginn des Kriegs 2014. Der Journalist Skorkin stammt selbst aus Luhansk und berichtet seit Jahren aus seiner Heimat, später aus Moskau, mittlerweile aus dem westlichen Ausland über den Donbas. 

    Graffiti mit dem Schriftzug Noworossija und PTN und den Farben der sogenannten Volksrepublik Donezk © ZUMA Press / Imago

    Dem Krieg im Donbas ab 2014 ist eine jahrelange mediale Hassspirale vorausgegangen. So sehr der Euromaidan selbst auch polarisiert haben mag, ohne ein schrittweise gefestigtes ideologisches Fundament hätte es nie zu diesem durch Russland militärisch unterstützten Separatisten-Aufstand kommen können. Der Donbas wird in die Geschichtsbücher eingehen als Paradebeispiel: So erzeugt man künstlich einen bewaffneten Konflikt – durch Missbrauch lokalpatriotischer Bewegungen und medialen Hass. 

    Bergmann im Donbas statt Bürger der Ukraine  

    Beim Referendum 1991 stimmte noch die Mehrheit der Bewohner des Donbas für die ukrainische Unabhängigkeit – jeweils fast 84 Prozent in den Oblasten Donezk und Luhansk. Doch diese anfängliche Unterstützung wich schnell einer wachsenden Unzufriedenheit. Dafür gab es mehrere Gründe:  

    Erstens litt der Donbas stärker als andere Regionen unter dem Zusammenbruch der sowjetischen Wirtschaft. Viele Unternehmen hier waren stark auf den gesamtsowjetischen Absatzmarkt ausgerichtet und erwiesen sich als ineffizient für den geöffneten Weltmarkt.  

    Zweitens spielte – aufgrund der industriellen Prägung der Region [die viele Arbeiter aus allen Teilen der Sowjetunion in die industriellen Zentren des Donbas’ brachte – dek] – die sowjetische Ideologie eine große Rolle. Später erfasste die verarmte Bevölkerung dann schnell eine UdSSR-Nostalgie. Bis 2004 galten die meisten Sympathien dort der Kommunistischen Partei der Ukraine.  

    Drittens: Es überwiegt eine russischsprachige Bevölkerung mit einer verwaschenen Identität, die stärker in einem lokalen oder beruflichen Selbstverständnis wurzelt – „Wir aus dem Donbas“, „Wir Bergleute“ – als in einer Identifikation mit der Gesamtukraine. Ebenso in Bezug auf Russland. 

    Der japanisch-amerikanische Historiker Hiroaki Kuromiya, der sich auf den Donbas spezialisiert, bezeichnete die Region einmal als „Problemkind“ von Kyjiw und Moskau. 

    Was lockt den Donbas gen Osten? 

    Bereits in den späten 1980er Jahren strebten im Donbas erste Organisationen eine Autonomie oder sogar Abspaltung der Region von der Ukraine an, etwa die Internationale Bewegung des Donbas in Donezk oder die Volksbewegung der Region Luhansk – häufig unterstützt von lokalen Gruppen der Kommunistischen Partei, die versuchten, ein Gegengewicht zur ukrainischen national-demokratischen Bewegung zu schaffen. Sie blieben jedoch eine marginale Kraft, die nach der Gründung der unabhängigen Ukraine wieder verschwand.  

    Mit der Stabilisierung der sozioökonomischen Lage des Landes ging dieser regionale Separatismus zurück, verschwand aber nie völlig. 

    Mit der Zeit aber nutzten die lokalen Eliten die zunehmende Unzufriedenheit der Bevölkerung für ihre Zwecke: Während der Bergarbeiterstreiks 1993/94 forderten sie unter anderem die Schaffung einer ostukrainischen Autonomie und die Erhebung des Russischen zur Amtssprache. Es gab sogar ein regionales Referendum zu diesen Fragen, dessen Ergebnisse jedoch nie offiziell anerkannt wurden. Mit der Stabilisierung der sozioökonomischen Lage des Landes ging dieser regionale Separatismus zurück, verschwand aber nie völlig. 

    Später räumten die Donbas-Aktivisten selbst ein, dass der wichtigste Faktor für das Scheitern der ersten Abspaltungsversuche die fehlende externe Unterstützung durch Russland gewesen sei. In den Beziehungen zwischen Kyjiw und Moskau war in den 1990er Jahren eher die Krim der Zankapfel. Erst 2004 änderte sich die Situation dramatisch. 

    Wahlen, Angst und Hass im Donbas 

    Da standen sich bei den Präsidentschaftswahlen der regierungsnahe Kandidat Viktor Janukowytsch, ehemaliger Gouverneur der Oblast Donezk, und Oppositionskandidat Viktor Juschtschenko gegenüber. Die Kandidaten verkörperten zwei gänzlich unterschiedliche Entwicklungsrichtungen der Ukraine: Juschtschenko setzte sich für eine europäische Integration ein, während Janukowytsch sich an Russland orientierte.  

    Der Kreml machte Juschtschenko das Leben schwer: Ein Trupp Polittechnologen unter der Leitung von Gleb Pawlowski reiste nach Kyjiw. Da Juschtschenko in den westlichen Regionen der Ukraine mehr Unterstützung genoss, setzte Janukowytschs Stab unverfroren auf eine Spaltung des Landes, indem er den russischsprachigen Südosten gegen den national ausgerichteten Westen ausspielte. 

    Die Propaganda machte aus Viktor Juschtschenko – einem gemäßigt liberalen Banker mit einer Leidenschaft für ukrainische Geschichte – einen radikalen Nationalisten. Als Juschtschenko dann zu einem Treffen mit Anhängern nach Donezk kam, erwarteten ihn in den Straßen riesige Plakate, die ihn in Nazi-Uniform zeigten. 

    Ein regionaler Fernsehsender in Luhansk zeigte zweiminütige Hass-Sendungen à la Orwell.  

    Die Flut der „schwarzen“ Negativ-PR nahm nach Beginn der Proteste auf dem Maidan im Herbst 2004, die als Orangene Revolution in die Geschichte eingehen sollten (Orange war die Wahlkampffarbe Juschtschenkos), noch weiter zu. Während die landesweiten Medien nach und nach auf die Seite der Revolution wechselten, verbreiteten die von Janukowytsch-Anhängern kontrollierten regionalen Fernsehsender in den südöstlichen Regionen Hass und Propaganda.  

    So zeigte beispielsweise ein formell staatlicher regionaler Fernsehsender in Luhansk zweiminütige Hass-Sendungen à la Orwell: Protestierende Ukrainer wurden mit wilden Tieren und Nazis verglichen. Bilder vom Maidan wurden zu einer suggestiven Videosequenz zusammengeschnitten. „Da wurden heulende Wölfe gezeigt, marschierende Militäreinheiten, eine Gottesanbeterin in Angriffshaltung, springende Affen, Obst, das im Zeitraffer verfaulte“, erinnert sich ein Luhansker Journalist. Viele zweifelten schon damals, ob solch ausgefeilte Beispiele hybrider Kriegsführung wirklich von einem Provinzsender produziert werden konnten. 

    Gleichzeitig wurden lokale Oppositionelle massiv unter Druck gesetzt. So wurde [Ende November 2004 – dek] Juschtschenkos Hauptquartier in Luhansk angegriffen. Einige Tage später ging eine Gruppe angeheuerter Hooligans mit Baseballschlägern auf eine „orange“ Kundgebung im Zentrum von Luhansk los. Im Grunde wurde im Donbas 2004 eine Strategie angewandt, die 2014 landesweit ausgeweitet wurde: Ihr Ziel war organisiertes Chaos und Polarisierung. 

    Trotz allem: Juschtschenko gewann die Wahlen, Janukowytsch verlor. 

    Die Spaltungsideen nahmen neue Formen an. Am 28. November 2004 fand in Sewerodonezk (Oblast Luhansk) ein Kongress mit Lokalpolitikern statt, auf dem eine neue autonome Südost-Republik konzipiert wurde – ihre vorgesehenen Grenzen deckten sich übrigens mit dem vom Kreml 2014 verkündeten Konzept Noworossija (dt. Neurussland). Am Kongress nahm auch der damalige Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow teil. Russische Sender, die im russischsprachigen Teil der Ukraine traditionell beliebt waren, präsentierten diesen Kongress als Ausdruck des Volkswillens.  

    Vom Maidan zum Euromaidan – eine Eskalation  

    Den Sieg des ersten Maidan fasste der Kreml als existenzielle Bedrohung auf. Der amerikanische Politikwissenschafter Paul D’Anieri schrieb, die orange Revolution habe der Erwartung vieler Russen, die Ukraine würde eines Tages doch „wieder heimkommen“, einen Dämpfer verpasst und ihren möglichen, unwiederbringlichen Verlust vor Augen geführt. Daher erhielten von nun an alle prorussischen und separatistischen Bewegungen im Donbas jede größtmögliche Unterstützung vonseiten Moskaus. Der Donbas gilt seitdem – wie die Krim – als Vorposten des russischen Einflusses. 

    Einschlägige Organisationen schossen wie Pilze aus dem Boden – wie Donezkaja respublika (dt. Donezker Republik) in Donezk, Molodaja gwardija (dt. Junge Garde) in Luhansk. Trotz ihrer verfassungsfeindlichen Rhetorik drückten die regionalen Behörden ein Auge zu und förderten sie sogar heimlich. Alle diese Organisationen bekamen Unterstützung von ultrarechten Bewegungen in Russland, die wiederum vom Kreml gesteuert wurden – allen voran von Alexander Dugins Eurasische Union. Pawel Gubarew, später Mitbegründer der selbsternannten „Donezker Volksrepublik“, ließ sich in Lagern der Russischen Nationalen Einheit ausbilden.  

    Die Region wurde von einer massiven Propagandawelle überschwemmt, die den lokalen Donbas-Patriotismus über den gesamtukrainischen Patriotismus setzte und ständig die angeblich besonderen Beziehungen des Grenzgebiets zu Russland unterstrich. So wurde zum Beispiel in Luhansk ein Denkmal für „die Opfer der UPA“, errichtet. Dabei waren OUN–UPA praktisch nie im Donbas aktiv gewesen (abgesehen von episodischen Ausflügen, die Vertreter dieser Organisation während des Zweiten Weltkriegs unternahmen). Das war eine zutiefst propagandistische Geste. Sie zielte darauf ab, die Bewohner des Ostens und des Westens, die die dunklen Kapitel der ukrainischen Geschichte auf unterschiedliche Weise wahrnehmen, gegeneinander aufzuhetzen.  

    Eine Partei provoziert medialen Schlagabtausch 

    Zur wichtigsten Plattform dieser spalterischen Ideen entwickelte sich die Partei der Regionen, die im Donbas praktisch ein Machtmonopol innehatte. Der Rat der Oblast Luhansk beschloss zum Beispiel das regionale Programm Patriot Luganschtschiny (dt: Patriot des Luhansker Landes), in dem eine ganze Reihe kultureller Symbole aus Sowjetzeiten als Alternative zum nationalen Projekt der Ukraine präsentiert wurden.  

    Solche lokalen Bemühungen stützten sich auf Beistand aus Russland: Regelmäßig fanden im Donbas runde Tische zu Themen wie „Föderalisierung des Landes“ [als Kontra-Forderung gegen den Euromaidan – dek] oder „Schutz der russischen Bevölkerung“ statt, an denen immer auch Gäste aus Moskau teilnahmen. Die Stiftung Russki Mir (dt. Russische Welt) eröffnete in Luhansk eine Filiale.  

    Die über die Jahre entstandene Entfremdung des Donbas und das hohe Maß an Identifikation mit der Region boten diesen polittechnologischen Übungen eine gute Angriffsfläche. 2014 verstanden sich laut einer Studie der Luhansker Nationalen Universität 35,8 Prozent der Bevölkerung der Oblaste Donezk und Luhansk in erster Linie als Bewohner ihrer Region, während sich nur 28,1 Prozent als ukrainische Staatsbürger fühlten. Ein weiterer beliebter Identitätsmarker war die Antwort „Sowjetmensch“ mit 14,4 Prozent.  

    Zur Verstärkung dieser Spaltung übten sich Wortführer der Partei der Regionen in einer Rhetorik der feindseligen und diskriminierenden Sprache. Der Regionen-Politiker Nikolaj Lewtschenko aus Donezk sagte: „Ukrainisch ist die Sprache der Folklore. Wenn Russisch Amtssprache ist, dann gibt es einfach keine Notwendigkeit mehr, Ukrainisch zu sprechen. […] Seien wir doch realistisch. Die zweite Amtssprache ist lediglich pro forma. In der Ukraine soll es nur eine Amtssprache geben, nämlich Russisch.“ Sein Kollege Juri Boldyrew formulierte es noch radikaler: „Ich bin dafür, dass die Ukraine Galizien loswird. Wenn man Galizien aus meinem Land entfernt und die echte Ukraine mit dem Donbas und der Krim übrig lässt, dann wird sie jenes erste [und echte] Russland sein […] Galizien ist eine Geschwulst am Leib der Ukraine.“  

    Darauf folgte eine Welle negativer Reaktionen aus der patriotischen ukrainischen Intelligenzija und von Vertretern des westlichen Teils der Ukraine. Diese Konfrontation verhärtete sich besonders nach Janukowytschs erfolgreicher Revanche bei den Präsidentschaftswahlen 2010, die er größtenteils den Wählerstimmen aus dem Süden und Osten zu verdanken hatte.  

    Durch ihr Misstrauen, ihre Geringschätzung und Verachtung gegenüber der Bevölkerung und Kultur des Donbas‘ hatte Russland leichtes Spiel.

    Der prominente ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch, gebürtig aus Iwano-Frankiwsk, erklärte 2010, die Ukraine solle eher den Donbas und die Krim abschütteln, deren Bevölkerung die Ukraine fremd sei. Sein mit dem Schewtschenko-Preis ausgezeichneter Kollege Wassyl Schkljar schlug noch schärfere Töne an: „Wenn die Nation krank ist und dieses Territorium nicht verträgt, nicht verdauen kann, dann ist es besser, sich davon zu verabschieden.“  

    Der Historiker Hiroaki Kuromiya sieht darum auch bei den ukrainischen Intellektuellen einen Teil der Schuld an der ukrainischen Spaltung: „Durch ihr Misstrauen, ihre Geringschätzung und Verachtung gegenüber der Bevölkerung und Kultur des Donbas‘ – als ob das, sozusagen, die unzivilisierten Hinterhöfe der Ukraine wären –, hatte Russland leichtes Spiel.“ 

    So verstärkte sich die Spaltung. Bis kurz vorm Euromaidan Russlands Bemühungen praktisch offene Formen annahmen: Im September 2013 fuhr Putins Berater Sergej Glasjew nach Luhansk zu einer bizarren Parade prorussischer Kräfte, nämlich einer Konferenz über die Perspektiven der Ukraine, der Eurasischen Zollunion beizutreten. Die Veranstaltung wurde von Viktor Medwedtschuks Bewegung Ukrajinski wybor (dt. Ukrainische Wahl) organisiert. Viele der Delegierten sollten ein halbes Jahr später zum aktiven Kern der selbsternannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk gehören. 

    Wichtigster Destabilisierungsfaktor: Russland 

    Im Laufe eines Jahrzehnts hatte sich im Donbas immer mehr Hass angestaut. Feindselige Rhetorik und eine Politik der Polarisierung führten zu einem bewaffneten Konflikt. Dabei trafen unterschiedliche Faktoren aufeinander: Politiker und Intellektuelle, die aus einem Zwiespalt politisches Kapital schlagen wollten, alte Traumata und Komplexe, Probleme bei der Entwicklung des ukrainischen Staates. Doch der schwerwiegendste Destabilisierungsfaktor war eine externe Macht: Putins Russland. Ohne dessen Einmischung hätten sich selbst die heftigsten Spannungen zwischen Kyjiw und dem Donbas, zwischen Osten und Westen gelöst – nämlich im Zuge der Evolution einer vielfältigen ukrainischen Gesellschaft. 

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  • Maria Kolesnikowas Haft: „Die Situation ist extrem gefährlich“

    Seit anderthalb Jahren gab es keine direkten Informationen über den Zustand der belarussischen Oppositionellen Maria Kolesnikowa, die zu elf Jahren Haft verurteilt wurde. Nun sind Informationen durchgedrungen, die von ehemaligen Mitgefangenen stammen sollen. Demnach soll sich der Zustand der 42-Jährigen rapide verschlechtert haben, sie werde buchstäblich ausgehungert und wiege nur noch 45 Kilogramm.  

    Der belarussische Ableger des Onlinemediums Mediazona hat mit einem anonymen Informanten über die menschenunwürdigen Haftbedingungen gesprochen.  

    Seit mehr als eineinhalb Jahren haben Maria Kolesnikowas Angehörige keine Briefe mehr von ihr erhalten. Fast die gesamte Zeit befindet sie sich in einer Isolationszelle, in der es kein warmes Wasser gibt und nach Kanalisation riecht. Aufgrund ihres Magendurchbruchs kann sie kein Gefängnisessen zu sich nehmen, für Einkäufe im Gefängnisladen darf sie nur 40 Belarussische Rubel (ca. 11 Euro) im Monat ausgeben. Ihre Schwester Tatjana Chomitsch teilt mit, dass Kolesnikowa nur 45 Kilogramm wiege. Eine Quelle, die mit Kolesnikowas Haftbedingungen vertraut ist, hat Mediazona erzählt, was darüber bekannt ist.

    Verleihung des Karlspreises in Aachen, 26.05.2022. Bild von Maria Kolesnikowa, Preisträgerin in Abwesenheit / Foto © UtexGrabowsky/photothek.de/ IMAGO

    „Als würdest du im Klo leben“. Die Bedingungen in der Isolationszelle 

    Maria Kolesnikowa befindet sich seit dem 10. März 2023 in einer Isolationszelle (russ. PKT) der Frauenstrafkolonie Nr. 4 in Homel. Sie kam in die Isolationszelle. Drei Monate zuvor war sie mit Bauchfellentzündung aufgrund eines Magengeschwürs (Durchbruch der Magenwand) in die Notaufnahme eingeliefert worden war. 

    Die Isolationszelle hat eine Größe von etwa 1,60 mal 2,50 Metern. An den Wänden sind zwei Pritschen für je zwei Personen befestigt, die nur zur Nachtruhe von 20:30 bis 5:00 Uhr heruntergelassen werden. Die Toilette ist ein Loch im Boden einer Zellenecke, ein Blech von der Größe einer aufgeschlagenen Zeitung soll als Sichtschutz dienen. Diese Trennwand erfüllt ihren Zweck nicht: Egal, wie man sich hinhockt, man wird entblößt zu sehen sein. 

    „Der Gestank bleibt im Raum, du atmest ihn täglich ein. Du wohnst also quasi auf dem Klo“, sagt der Gesprächspartner Mediazona. In der Mitte der Zelle stehen am Boden befestigte schmale „Sitze“ und eine aus Metall geschweißte Truhe, die man ebenfalls nicht verschieben kann. Am Waschbecken gibt es nur kaltes Wasser, einmal pro Woche darf man in den Duschraum. Das einzige Fenster befindet sich direkt unter der Decke und ist auf der Innenseite vergittert. Zwischen dem Gitter und dem äußeren Fensterrahmen liegen etwa 60 Zentimeter Mauer. 

    Aufgrund ihrer Erkrankung müsste Maria eine spezielle Diät einhalten, doch in der Isolationshaft bekommt sie das, was auch die anderen Gefangenen essen. Als Maria nach dem Krankenhausaufenthalt in die Strafkolonie zurückkehrte, bat sie ihre Angehörigen, sie mit Breiflocken zu versorgen – die einzige Nahrung, die sie essen durfte. In der Isolationszelle darf sie jedoch nur einmal alle sechs Monate ein Päckchen oder kleines Paket erhalten (Art. 114 der Strafvollzugsordnung). 

    Dem Gesprächspartner von Mediazona zufolge verschlechtert sich Marias Gesundheit aufgrund der Mangelernährung und der unmenschlichen Bedingungen, denen sie seit anderthalb Jahren ausgesetzt ist. Das hat sie der Gefängnisverwaltung bereits mitgeteilt. 

    Bei einer Zellenkontrolle sagte Maria im Beisein des Leiters der Kolonie: „Ich mache mir Sorgen um meine Gesundheit“, und fragte, wo ihre Medikamentensendungen und ihre Briefe seien. Der Leiter antwortete, alle hätten sie vergessen. Einer Quelle von Nowy Tschas zufolge erhielt Maria trotz ihrer Bitten lange keine medizinische Hilfe, und Briefe wurden vor ihren Augen zerrissen. 

    Der Tagesablauf 

    In der Isolationszelle steht Maria jeden Morgen um fünf Uhr auf, klappt das schwere „Bett“ hoch und befestigt es an der Wand. Dann öffnet sich die Tür – die Gefangene nimmt den Abfalleimer und verlässt in Begleitung eines Vollzugsbeamten die Zelle, um einen Lappen und Chlorwasser zu holen. Zum Putzen hat sie etwa 15 Minuten, dann sammelt eine Gefangene aus der Hauswirtschaftskolonne alle Lappen wieder ein. 

    Gegen sechs Uhr morgens wird das Frühstück gebracht. Gewöhnlich ist es Brei mit Fettzusatz, ein Stück Weißbrot und süßer Tee. „Der Brei ist mit Milch. Er hat definitiv eine Fettbeigabe, damit er einigermaßen nahrhaft ist. Der Tee ist so extrem süß, dass man ihn nicht trinken kann“, erzählt der Gesprächspartner. Manchmal gibt es zum Frühstück auch ein gekochtes Ei oder – im Fall der Aufbaunahrung, die Maria nach der Operation bekam – Quark. Während der Mahlzeiten verteilt ein Arzt die Medikamente, die den Insassinnen verschrieben wurden. Manchmal wird bei Maria morgens ein EKG gemacht. Nach dem Frühstück ist Zellenkontrolle. Wieder geht die Tür auf, die Vollzugsbeamten kontrollieren ihr Äußeres und die Sauberkeit der Zelle. 

    Von 8:30 bis 9:00 Uhr wird sie zum Spaziergang in einen Innenhof geführt, der 1,50 mal 1,50 Meter groß und oben übergittert ist. Wer in Isolationshaft ist, dem steht nur eine halbe Stunde täglich zu. „Spaziergang ist zu viel gesagt. Eher eine halbe Stunde draußen stehen. Um diese Zeit kommt dort auch keine Sonne hin.“ 

    Nach dem Spaziergang sitzt Maria den ganzen Tag in der Zelle. Sie hat ein Handtuch, eine Zahnbürste und Zahnpasta, Toilettenpapier, (vielleicht) einen Becher und ein Buch. In der Isolationszelle kann man während der Mahlzeiten mit Erlaubnis der Mitarbeiter Wasser kochen – aber nur, wenn es einen Wasserkocher gibt und man einen eigenen Becher hat. 

    Um zwölf Uhr wird das Mittagessen verteilt. Es gibt Fruchtkaltschale oder Kompott aus Trockenfrüchten, eine Suppe und ein Hauptgericht (zum Beispiel Plow). Abendessen gibt es um 18:00 Uhr, das kann zum Beispiel Kartoffelbrei und gebratener Fisch sein. Um 20:30 Uhr beginnt die Vorbereitung auf die Nachtruhe – Maria klappt ihr „Bett“ aus. Um 21:00 Uhr ist Schlafenszeit, das Licht in den Zellen bleibt jedoch an. 

    40 Rubel pro Monat für Einkäufe im Laden 

    Maria darf pro Monat 40 Rubel (eine Basiseinheit laut Art. 114 der Strafvollzugsordnung) von ihrem Konto für Einkäufe im Laden der Strafkolonie ausgeben. Lagerinsassen, die sich nicht in Isolation befinden, werden in den Laden begleitet und dürfen sich dort die Waren selbst aussuchen. Maria schreibt eine Liste, das Geld wird von ihrem Konto abgezogen, und die Vollzugsbeamten bringen ihr die Produkte in die Zelle. Da Maria das Angebot nicht so genau kennt, kann es vorkommen, dass es das Gewünschte nicht mehr gibt. 

    Wir haben im Online-Shop der Strafkolonie 4 die Preise studiert und uns überlegt, was Maria dort für 40 Rubel kaufen könnte: 

    – 10 Rollen Toilettenpapier: 4,60 BYN 

    – 1 Packung Damenbinden: etwa 4 BYN 

    – Zahnpasta und Zahnbürste: 10 BYN 

    – Duschgel: 6,50 BYN 

    – Shampoo: fast 8 BYN 

    Wenn sie in einem Monat alle Hygieneprodukte kaufen muss, bleiben ihr etwa sieben Rubel für Essen: 

    – Tee und Kaffee: etwa 15 BYN 

    – Buchweizenflocken: 3,50 BYN 

    – 1 Packung Quark: 2 BYN 

    – Dorschleberkonserve: 20 BYN 

    – 1 Kilo Orangen: etwa 7 BYN. 

    Sie könnte zum Beispiel auch Chinakohl kaufen, für 7 Belarussische Rubel das Kilo. Oder Weißkohl für 1,5 Belarussische Rubel das Kilo, der aber schwerer und daher pro Stück teurer ist. 

    Dem Gesprächspartner von Mediazona zufolge kann Maria sich von den Hygieneprodukten Seife (die auch als Shampoo dient), Duschgel und Deodorant leisten. Toilettenpapier braucht man auf Vorrat, es ist vielseitig verwendbar, auch als Taschentuch und Slipeinlage“. Von den Nahrungsmitteln kauft sie die billigsten Kekse und Tee, Kaffee ist hingegen ein „großer Luxus“. „Letztlich muss sie sich entscheiden: entweder essen oder Haare waschen oder Toilettenpapier“, sagt der Gesprächspartner.

    „Die Situation ist nicht hart, sondern extrem gefährlich“ 

    Für den Aufenthalt in einer Isolationszelle legt die Strafvollzugsordnung eine maximale Dauer von sechs Monaten fest. Maria wurde jedoch weder nach einem halben noch nach einem Jahr entlassen. Unter gewöhnlichen Haftbedingungen – also nicht in Isolationshaft oder in der Strafzelle – leben die Frauen zu mehreren Dutzenden in sogenannten Baracken. Sie werden zur Arbeit, in den Speisesaal, in den Klub, in den Laden geführt. 

    Den Informationen von Mediazona zufolge wird Maria Kolesnikowa noch immer in Isolationshaft gehalten – bereits anderthalb Jahre lang. Fast die gesamte Zeit hat sie allein in der Zelle verbracht. Bekannt ist, dass einmal eine „zänkische“ Insassin in ihre Zelle einquartiert wurde. Kurz bevor Maria eigentlich aus der Isolation in ihre Gruppe zurückkehren sollte (am 10. März 2024), wurde sie wegen Respektlosigkeit dem Personal gegenüber mit drei Tagen Haft in der Strafzelle (SCHISO) bestraft. Ehemalige politische Gefangene erzählen, dass man im Grunde für alles gerügt werden kann, was man zum Gefängnispersonal sagt. Zum Beispiel für die Anrede „junger Mann“. Nach der Strafzelle kam Maria wieder in die Isolationszelle (PKT). 

    „Diese Situation ist nicht hart, sondern sie ist extrem gefährlich. Natürlich warten sie auf ein Reuebekenntnis von Mascha“, mutmaßt der Gesprächspartner. Den letzten Brief von Maria erhielten ihre Angehörigen am 15. Februar 2023. Sie selbst darf keine Post erhalten, ein Anwalt wird nicht vorgelassen. 

    Marias Schwester Tatjana Chomitsch schrieb dazu [auf Facebook]: „Meines Wissens leidet Maria in der Kolonie an Hunger. Sie wiegt 45 kg bei einer Größe von 1,75 m. Ihre Krankheit erfordert eine Diät, daher kann sie von der Gefängnisverpflegung nicht viel essen. […] Jemandem mit Magengeschwür Lageressen zu geben, ist praktisch Folter und ein langsamer Mord. Jemandem das Recht zu entziehen, seiner Familie zu schreiben, beschleunigt diesen Tod.“ 

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  • „AntifaschiZmus“ – Früher linker Straßenkampf, heute Kriegsfront

    „AntifaschiZmus“ – Früher linker Straßenkampf, heute Kriegsfront

    Zur Geschichte der linken Subkulturen im postsowjetischen Russland gehört viel Gewalt: von Straßenschlachten gegen brutale Neonazis bis zur zunehmenden Verfolgung durch den staatlichen Sicherheitsapparat. Der Krieg bietet den Antifa-Veteranen von damals nun eine Chance weiterzukämpfen. Viele nutzen sie und melden sich zur ukrainischen Armee, andere aber gehen für Russland an die Front. 

    Das russische Online-Portal no Future hat sich die Gewaltgeschichte der Antifa-Szene genauer angeschaut und mit einigen selbsterklärten Antifaschisten über ihre Motivation gesprochen, teils Seite an Seite mit russischen Neonazis in den Krieg gegen die Ukraine zu ziehen. 

    Collage mit Bildern von Antifaschisten und ihren rechtsextremen Gegnern in Straßenkämpfen in Russland seit dem Zerfall der Sowjetunion, Illustration © Pascha Barli/no Future
    Collage mit Bildern von Antifaschisten und ihren rechtsextremen Gegnern in Straßenkämpfen in Russland seit dem Zerfall der Sowjetunion, Illustration © Pascha Barli/no Future

    Kaum jemand erinnert sich noch an die Antifa-Ära der 2000er und 2010er Jahre. Die Antifa selbst ist gealtert, hat sich Kredite und Bauchspeck zugelegt oder sitzt immer noch im Knast. Die mit Mutters billigem Haarspray aufgestellten Irokesen, der Straight-Edge-Lifestyle, die Nebelgranaten, die in die Stadtverwaltung von Chimki flogen, weil man den örtlichen Park abholzen wollte, die Demos im Moskauer Zentrum unter Antifa-Parolen wie „Nein zu Faschismus aller Art, vom Hinterhof bis zur Regierungsmacht“ – all das existiert nur noch in ihrer Erinnerung. Genau wie die Straßenkämpfe und bewaffneten Zusammenstöße mit Neonazis, die eingeschlagenen Schädel und toten Genossen, die wildesten Hardcore-Konzerte und die Bullen, die am Ende doch sämtliche Subkulturen plattgemacht haben.  

    Noch vor ein paar Jahren hörte man die Alt-Antifa sagen, das alles würde der Vergangenheit und einer fernen Jugend angehören, als alles noch einfacher, klarer, eindeutiger war: Die Einen schlachten Nicht-Russen ab und schüren Fremdenhass, die Anderen setzen sich zur Wehr und helfen den Schwachen. Manchmal unter Einsatz ihres Lebens. Doch der Krieg in der Ukraine hat nicht nur entlang der „Kontaktlinie“ für ein Aufflammen von Mord und Gewalt gesorgt, sondern auch auf Russlands Straßen. Wobei heute nicht mehr alles so klar und eindeutig ist. So manche, die vor 15 Jahren noch für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und gegen Faschismus protestiert haben, ziehen heute in den Krieg, um Ukrainer zu töten.  

    Anna Worobjewa hat für no Future mit selbsterklärten Antifaschisten – im Text sind alle Namen geändert – darüber gesprochen, warum sie Seite an Seite mit Neonazis in Schützengräben gegen sogenannte „Ukronazis“ kämpfen und darin nichts Schlechtes sehen.

    Irokesen, Hakenkreuze und Blut auf dem Asphalt 

    Eine kleine Kreisstadt an der Wolga. Eine verlassene Bauruine. Anfang der 2010er Jahre. Die Wände vollgeschmiert mit Hakenkreuzen, ein ebenso geformtes Lagerfeuer. Jeden Abend versammeln sich hier um die 30 Leute in schwarzen Bomberjacken mit orangefarbenem Innenfutter (so erkennt man im Kampf schneller die eigenen Leute) und Hosen mit heruntergelassenen Hosenträgern (ein Zeichen für Kampfbereitschaft), in DocMartens, Springerstiefeln oder Billigtretern vom Markt mit weißen Schnürsenkeln (heißt: Ich habe Nicht-Russen auf dem Gewissen). 

    Hier werden Attacken geplant: Wer ist als nächstes dran? Das „Schlitzauge“ vom Gemüsestand oder der obdachlose Usbeke, der auf der Bank am Bahnhof schläft? Jeden Tag konnte man zusammengeschlagene „Nichtarier“ auf den Straßen finden. Hier kloppte man sich mit den hiesigen Informellen, Alternativen, einer Handvoll Jugendlicher mit Irokesenschnitt, die bei den Zusammenstößen unweigerlich unterlegen waren und danach blutüberströmt nach Hause krochen. 

    Die Alternativen nannten sich Antifaschisten, oder kurz: Antifa. Eines Tages, nach einer weiteren Niederlage, baten die jungen Antifas die älteren und stärkeren um Unterstützung. Am Tag darauf fuhr im Morgengrauen ein nicht mehr ganz neuer Neuner [Lada – dek] an der Bauruine vor. Ein paar Typen mit Schlagstöcken und Leuchtpistolen stiegen aus. Ein Skinhead im „Ich bin Russe“-Shirt kam auf sie zu. Die Männer aus dem Neuner umzingelten ihn, zogen ihm das Shirt aus, verdrehten seine Arme, zerrten ihn unter Schlägen ins Auto und fuhren los. 

    Der Lada hält an, die Antifas springen raus, die Schlacht beginnt.  
    „Ich-bin-Russe“ muss vom Auto aus zuschauen und die nächsten Adressen verraten. 

    Der erste Halt ist ein normaler Innenhof. An einem Hauseingang rauchen drei. Allesamt kahlrasiert. Der Neuner hält an, die Antifas springen raus, die Schlacht beginnt. „Ich-bin-Russe“ muss vom Auto aus zuschauen und die nächsten Adressen verraten. Den ganzen Tag kreuzen sie so durch die Wohnviertel. Als es dunkel wird, bringen sie den „Führer“ zur Baustelle zurück. Bei der großen Versammlung, die dort geplant war, tauchen nach dem Streifzug nur wenige Leute auf, die die Antifa sogleich mit Schüssen aus den Leuchtpistolen und Schlagstöcken begrüßt. Der „Führer“ bettelt inzwischen um Gnade. Die Antifas lassen ihn erst gehen, nachdem er sich vor der Kamera entschuldigt und versprochen hat, dass er „nie wieder andere Leute belästigen und die Antifa beleidigen wird“. 

    Antifa schlägt zurück, bis Silowiki kommen 

    Einer jener jungen Antifas damals war Denis Chromow. Er ist in der Kreisstadt aufgewachsen und schon als Teenie zu der Clique gestoßen. Die nach außen hin so gefährlich wirkenden Punks verbrachten ihre Zeit meist mit harmlosen Dingen, besprühten Wände mit Antifa-Slogans, kochten und verteilten vegane warme Mahlzeiten an Obdachlose. Diese Aktion hieß Essen statt Bomben. So protestierten Antifaschisten in aller Welt gegen Krieg und Autoritarismus. Außerdem gingen sie viel auf Konzerte. Kein Gig lief ohne Angriffe bewaffneter Neonazis ab. Die wurden auch „Bones“ genannt, vom englischen „Bonehead“, das als „Glatze“ oder auch „Volltrottel“ übersetzt werden kann. 

    Die Bones bewarfen die Antifa mit Steinen und Flaschen, verdroschen sie mit allem, was sie finden konnten, sprühten ihnen Pfefferspray in die Augen. Sie machten weder vor Messern noch vor selbstgebauten Bomben halt. 

    Ende der 2000er Jahre verübten Neonazis bis zu 500 Morde im Jahr. Die Subkultur der Pazifisten begann sich zu organisieren und zu wehren, bis sie selbst gefährliche Straßenbanden hervorbrachte. Genau die wurden schließlich mit dem Begriff Antifa assoziiert. Die Bewegung entstand also als Reaktion auf die Aggression der Rechtsradikalen, die in den 2000er Jahren unkontrolliert im ganzen Land wütete.  

    Irgendwann übernahmen die Antifaschisten selbst die Initiative; mindestens ein Neonazi wurde dabei getötet. Innerhalb der Bewegung wurde die Gewalt verurteilt, aber Iwan Chutorskoi, genannt Kostolom (Knochenbrecher) – ein bekannter Antifa, der seinen Spitznamen dem erfolgreichen Einsatz in Straßenkämpfen verdankte – befand, es sei besser „jetzt als Unmensch zu gelten, als später vor der Tür zur Gaskammer über die richtige Taktik zu diskutieren“. 2009 wurde Chutorskoi am Eingang seines Hauses durch einen Genickschuss getötet. 

    Anfang der 2010er hörten die Schlägereien praktisch auf.  
    Es gab niemanden mehr, der sich hätte prügeln können. 

    Denis Chromow dagegen machte sich zu seinen Antifa-Zeiten keine Gedanken über Humanismus. Er ging regelmäßig „Glatzen klatschen“ und hielt das für den einzig richtigen Weg. Parallel schloss er die Berufsschule ab, verlobte sich, nahm in Moskau einen Schicht-Job auf dem Bau an.  

    Anfang der 2010er Jahre dann hörten die Schlägereien praktisch auf. Es gab schlichtweg niemanden mehr, der sich hätte prügeln können: Die Silowiki hatten in dem Straßenkrieg zwischen Neonazis und Antifa bald eine handfeste Bedrohung erkannt und waren dazu übergegangen, die Einen wie die Anderen konsequent einzubuchten

    Wohin mit dem Hass der Antifa-Veteranen? 

    Die Frage war nun: Wohin mit der ganzen Energie und all den Überzeugungen? Die Einen verfielen dem Alkohol, die Anderen – so wie Denis – gingen in die politische Opposition. „Ich bin nach Moskau zu den ‚Märschen der Millionen‘ gefahren, lernte dort Anarchisten und Antifas kennen“, erzählt Chromow. „Ich hab schon als Kind die ganze Ungerechtigkeit der herrschenden Klasse, der Sicherheitsorgane usw. kapiert. Ich hatte Hass auf die jetzige Regierung, das ganze Regime. Wirklichen Hass.“ 

    Den Krieg im Donbas [ab 2014 – dek] hat Chromow dann so ähnlich verstanden wie die Straßenschlachten mit den Neonazis: Mutige, knallharte Jungs organisieren sich und kämpfen gegen „Glatzen“, die sie allein deshalb vernichten wollen, weil es sie gibt. „Ich hatte dann im Fernsehen gesehen, dass Neonazis die Zivilbevölkerung angreifen und dass die Leute sich zu Bürgerwehren zusammenschließen und dagegenhalten. Also habe ich mich auch dazu entschlossen … Na, wegen der Faschos, Nationalisten halt, weiß nicht …“, erinnert sich Denis. Er fuhr im Herbst 2014 als Freiwilliger in den Donbas – ohne Vertrag, ohne Wehrpass, ohne ärztliches Attest, ohne Geld. Er war 20 Jahre alt. 

    Denis wurde der Drohnenaufklärung zugeteilt. Er soll feindliche Stellungen aufspüren und deren Koordinaten an die Artillerie übermitteln.  

    „Männer wie wir“ und „Vögel des Todes“ 

    Auf dem Laptop erscheint ein Bild: rechteckige Felder mit grünen Waldflächen. Über den Wäldern blinken blaue Symbole, dort sind Handys aktiv. Wenn es drei oder mehr sind, ist das eine „Anhäufung“. Eine Anhäufung im Wald bedeutet Schützengräben und Unterstände: Erdbunker, in denen die Soldaten an forderster Front leben. Um einen Treffer zu landen, muss man nun möglichst nah ran, dorthin, wo man vom Artilleriedonner fast taub wird. Dann einen guten Startplatz suchen, eine Wiese vom Gestrüpp befreien, eine möglichst ebene Fläche für besseren Halt schaffen. Dann bastelt man den „Vogel“ zusammen, schraubt die drei Meter langen Flügel an und den Schweif, legt einen Fallschirm hinein, um ihn später sicher zu landen, wenn das Ziel erledigt ist. Außen, vorne oder unten trägt der „Vogel“ eine Kamera, ein Wärmesichtgerät und einen Fotoapparat. Die Koordinaten der Handy-Signale werden an die Artillerie übermittelt. Die beschießt dann die Bunker mit Grad (Hagel, Mehrfachraketenwerfer – dek] oder Haubitzen wie der D-30er. Aus der Vogelperspektive sieht man, wie dicker Rauch aus den Schützengräben quillt, Bretter in die Luft fliegen, eine Hose sich in einem Baum verfängt. Man hört wildes Geschrei, einer ist bis zum Hals mit Erde verschüttet, aus einem anderen pulsiert eine Blutfontäne. Einem drittem hat es den halben Körper weggerissen.  

    „Wir wurden ganz nah bei den Ukropy abgesetzt, und dann ging die Arbeit los. Wir ließen den Vogel fliegen, holten ihn zurück, gaben die Koordinaten an die Artillerie weiter. Die machen ihren Job, wir schicken den Vogel wieder los und bestätigen“, berichtet Denis. 

    Ich weiß es bis heute nicht. Aber ich glaube, ich hab das Richtige gemacht.

    „Und waren dort Nazis?“ 

    „Ich persönlich habe eigentlich keine gesehen … So eingefleischte wie die in Mariupol bei Asowstahl gab es da nicht [Die Rede ist hier von der Brigade Asow, die die russische Propaganda als „Nazis“ bezeichnet, für die ukrainische Seite sind sie die „Verteidiger Mariupols“ – No Future]. Dort kämpfen Männer wie wir, die wurden dorthin abkommandiert. Der Staat hat gesagt, die Donezker Volksrepublik will sich illegal abspalten usw. Die sind genauso kämpfen gegangen wie die Jungs, die nicht mehr zur Ukraine gehören wollten.“ 

    „Hast du den Sinn verstanden? Warum bist du dahin gegangen?“ 

    „Das kann ich nicht beantworten, ich weiß es bis heute nicht. Aber ich glaube, ich hab das Richtige gemacht. Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich wieder als Freiwilliger hinfahren. Mit denselben Jungs.“ 

    Solche wie Denis werden von vielen Antifas als „Z-niki“ „Watniki“ und „Raschisten“ bezeichnet. Der Großteil der Bewegung unterstützt im Krieg die Ukraine, einige haben sich sogar den Ukrainischen Streitkräften angeschlossen. 

    „Ich will Action“ 

    Igor Schmelew, der früher auch bei Straßenschlachten gegen Skinheads mitmischte, erklärt das damit, dass die meisten Beteiligten jung und auf Action aus gewesen seien. „Viele sind zur Antifa gekommen, weil sie den Kick suchten. Später hing die Position davon ab, welche Vorlieben man hatte. Die Einen sympathisierten mit der Ästhetik der Republiken [gemeint sind die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk und ihre von Russland unterstützten und ausgerüsteten „Volksmilizen“ – dek], die gegen die ‚neonazistische Bandera-Junta‘ [Ausdruck der russischen Propaganda für die legitime ukrainische Regierung – dek] aufbegehrten. Anderen war die Ästhetik des Volksaufstands näher, der die Regierung gestürzt hatte und nun sein Land gegen das imperialistische Russland verteidigt“, sagt Schmelew. „Manche finden im Krieg einfach sich selbst, einen Lebenssinn. Manche glauben aufrichtig an dieses ganze Zeug. Welchen Sinn hat es da, sie vom Gegenteil überzeugen zu wollen?“ 

    Für die Antifaschisten, die für Russland kämpfen, gehört auch die proukrainische Antifa an die Front – vom Sofa aus könne ja jeder klug daherreden. Einer von ihnen ist Wadim Krasnow. Er nimmt in Kauf, dass er an der Front seine ehemaligen Kumpels erwischen könnte. 

    „Man kann viel erzählen, wenn der Tag lang ist. Sollen sie doch zur ukrainischen Armee gehen, wenn sie sich trauen.“ 

    „Das tun sie doch. Du könntest also auch Antifa aus Wolgograd oder Kaliningrad treffen …“ 

    „Tja, dann haben sie Pech gehabt.“ 

    Propaganda trifft Mitleid 

    Wadim hat im Herbst 2023 einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium unterschrieben. In den wilden 2000ern war er zur Antifa gegangen, weil er „die Nazis nicht hinnehmen“ wollte. Als die Silowiki später für Ordnung gesorgt hatten, distanzierte er sich von der Subkultur und wurde Elektriker in einer kleinen russischen Provinzstadt. 

    Die Ereignisse von 2014 im Donbas betrachtet Wadim als „Säuberungsaktionen durch ukrainische Nationalisten“ [ein beliebtes und weltweit verbreitetes Narrativ der (pro-)russländischen Propaganda – dek]. „Das war quasi der Anfang. Wir müssen jetzt die russischsprachige Bevölkerung mit der Waffe beschützen. Wir haben nur auf die Situation reagiert. Acht Jahre haben wir gewartet, und dann ist endlich was passiert“, sagt Krasnow. Als seine Heimatstadt 2022 beschossen wurde, zog er in den Krieg. „Ich habe begriffen, dass ich selbst 700 Kilometer von der Front entfernt nicht mehr sicher wäre. Es war ein spontaner Impuls“, erklärt er. 

    Zunächst diente Wadim als stellvertretender Stabschef eines Panzerbataillons bei Kreminna. „Fünf Kilometer von uns stand Asow. Aber ich habe keine ‚Asowzy‘ gesehen. Die ukrainische Armee besteht nicht nur aus Nazis. Leider haben sie dort Leute mobilisiert, die nicht freiwillig dort sind, die genauso wenig auf diesen Krieg vorbereitet waren, irgendwelche Pazifisten, also Leute, die nicht kämpfen können und wollen. Die wurden eingezogen und hatten keine Wahl. Ich habe solche Leute gesehen. Sie waren verängstigt, weinten. Das ist ein schrecklicher Anblick. Für solche Menschen empfinde ich keinen Hass, nur Mitleid“, sagt Krasnow. 

    „Was ist das Schlimmste am Krieg?“ 

    „Die Toten.“ 

    „Auf unserer Seite?“ 

    „Ganz egal, auf welcher Seite. Auf unserer, auf der ukrainischen. Ich weiß, dass man jeden toten ukrainischen Soldaten feiern muss, aber ich kann mich nicht freuen. Ich könnte ihm nicht die Ohren abschneiden oder irgendwas in dieser Richtung, oder seinen Anblick genießen.“  

    „Warum muss man jeden toten ukrainischen Soldaten feiern?“ 

    „Weil er mich nicht mehr umbringen kann. In diesem Sinne. Ist doch klar, dass ich das gut finde.“ 

    Langeweile in der Kriegsbürokratie 

    In den ersten Monaten war Wadim nicht im Kampfeinsatz, sondern kümmerte sich in der dritten Verteidigungslinie im Hauptquartier um Papierkram. Er sagt, er habe sich den Krieg wie einen Blockbuster vorgestellt, aber in Wirklichkeit war es nur ein Hin- und Herschieben von Dokumenten. 

    Der bürokratische Aufwand ist enorm: Auszahlung von Militärgehältern, Transport von Lebensmitteln und Granaten zu den Stellungen. Und von den Stellungen kommen die Toten zurück. Sie werden von der Front in Säcken geliefert, manchmal direkt in die Einheit, wo sie identifiziert werden müssen. Aus den zerbombten Panzern werden die Leichen an Seilen herausgezogen. Mit geschwollenen, dunkelvioletten Beinen, die in grotesken Winkeln verdreht sind, die Uniformen zerfetzt. Die schwarzen Nasenlöcher, Ohren und Münder mit einer dicken Blutkruste verklebt. Manchmal gibt es nur noch Asche und Knochen, manchmal auch gar nichts: Ein Panzer brennt wie eine Fackel, und wenn die Munition explodiert, werden die Menschen aus dem Fahrzeug geschleudert und bleiben auf Stromleitungen oder Dächern der benachbarten Häuser hängen. 

    Zwei Monate nach unserem Gespräch schrieb mir Wadim, er habe einen Antrag auf Versetzung in eine Sturmkompanie gestellt. 

    „Warum willst du da hin?“ 

    „Ich will Action.“ 

    „Hast du keine Angst?“ 

    „Ein bisschen vielleicht. Aber ich langweile mich hier zu Tode.“ 

    „Und wenn du ohne Beine im Krankenhaus liegst, und der mobilisierte Ukrainer, mit dem du, wie du sagst, Mitleid hast, im Sarg? Macht das dann Spaß?“ 

    „Vielleicht bin ich frustriert oder so. Ich weiß nicht. Mein Leben war echt ziemlich langweilig. Ich will irgendwie nützlich sein. Von jemandem gebraucht werden.“ 

    Wadim ist jetzt seit Monaten verschwunden. Er antwortet nicht auf Nachrichten, auf Telegram war er „zuletzt vor langer Zeit online“. Drei Monate vor Erscheinen dieses Texts habe ich zum letzten Mal von ihm gehört: 

    „Haben sie deinen Antrag genehmigt?“ 

    „Ja, ich bin versetzt worden.“ 

    „Und, Schluss mit Langeweile?“ 

    „Das kannste laut sagen …“ 

    Von „No Putin, No War“ zur Söldnertruppe Wagner 

    „Wir leben einfach in einer anderen Welt als die Zivilbevölkerung. Vor allem die, die lange an der Front sind. Das verändert das Denken. Und manchmal verstehen wir euch nicht mehr richtig. Wir sind froh, wenn wir noch leben. Und wenn wir von einem Einsatz lebendig wiederkommen, wenn sogar niemand verletzt wurde – weder man selbst, noch ein Kamerad – dann ist das das Größte. Und ihr sitzt einfach rum und beschwert euch“, sagt der Antifaschist Sergej Sashin.  

    In seiner „Straßenkampfzeit“ war Sergej oft aktiv auf Neonazis losgegangen, hatte in einer Punk-Band gespielt. 2014 sprach er sich noch öffentlich für den Maidan und die ukrainische Antiterroroperation aus, demonstrierte mit „No Putin, no War“-Plakaten. „Ich habe Leute unterstützt, die für die Freiheit und für Veränderungen zum Besseren waren. Die Fortschritt wollten. Ist doch super, oder? Nur, was bringt’s im Endeffekt? Das ging vom Regen in die Traufe. Nur, dass die Traufe noch schlimmer war“, sagt Sashin. „Warum haben die Donezker überhaupt rebelliert? Na, fahrt doch mal hin und seht euch an, was sich da seit dem Ende der Sowjetunion getan hat. Gar nichts nämlich! Ich bin vor 2014 in Kyjiw gewesen – da war alles superschick renoviert. Die anderen Städte auch: Tipptopp saniert! Nur Donezk, Luhansk, der ganze Osten, der das Land ja ernährt hat, der hat die Riesenarschkarte gezogen.“  

    Anstelle einer Armee erwartete sie ein Trüppchen Kosaken und Offiziere, die tagsüber soffen und sich abends prügelten. 

    2015 ist Sergej als Freiwilliger in den Donbas gefahren. Er war in eine „krasse Gang“ diverser Antifas geraten, die an die Front wollten, und ist einfach mitgezogen. Gefechte erlebte er aber keine: Anstelle einer Armee erwartete sie ein Trüppchen Kosaken und Offiziere, erzählt Sashin, die tagsüber zusammen soffen und sich abends prügelten. Sashin blieb zwei Wochen. Anfangs wartete er noch darauf, dass Waffen verteilt würden, dann reichte es ihm. Er packte seine Sachen und fuhr nach Hause.  

    2022 zog er wieder in den Krieg: Zuerst schloss er einen Vertrag mit der Gruppe Wagner, dann mit einer anderen Söldnertruppe, deren Namen er nicht nennen will. Auf die Frage, ob er Menschen getötet habe, antwortet Sergej: „Wahrscheinlich schon.“ 

    Im August 2022 kämpfte Sergej bei Saizewe, 20 Kilometer südöstlich von Bachmut. Die Russen bereiteten ihren Vormarsch vor, es gab schwere Grabenkämpfe, die Wagner-Truppe stürmte Positionen der ukrainischen Streitkräfte. Am 22. September wurde Sergej bei einem solchen Sturm schwer verwundet, musste lange behandelt werden, zog dann aber wieder an die Front.

    „Ich war eigentlich immer gegen Krieg gewesen, aber wenn er, wie man so sagt, nun schon mal da ist – sorry, da gibt es kein ‚Aaaa, ich will keinen Krieg!‘ mehr. Die Fahne schwenken, das ist für’n Arsch. Das machen nur Debile.“  

    „Aber wenn Krieg ist, heißt das doch nicht, dass man unbedingt daran teilnehmen muss?“ 

    „Wie soll man ihn sonst beenden?“ 

    „Darüber könnten wir uns stundenlang unterhalten. Wie hast du dich für die russische Seite entschieden? Du hast sicher keine Münze geworfen?“ 

    „Sorry, aber ich bin in Russland geboren, das ist mein Land … Das war sozusagen nicht meine Entscheidung.“  

    Der Gute, der Böse und der Nazbol 

    Sergej ist Anarcho-Nationalist. Er ist gegen den Staat, aber für die Nation. Mitte der 2010er Jahre war er bei der nationalistischen Bewegung Narodnaja wolja (dt. Volkswille). Dort herrschte die Auffassung, dass zur Nation nur die Arbeiterschaft, die Werktätigen gehören. Die Parasiten an der Spitze, die sich auf deren Kosten bereichern, seien Volksverräter. Die Anarcho-Nationalisten unterstützten lokale Proteste, positionierten sich öffentlich gegen die Staatsmacht, wollten sie stürzen. Manche Antifas waren der Meinung, dass in ihrer Bewegung für solche Leute kein Platz sein sollte – sie seien zwar anarchistisch eingestellt, aber doch zu sehr rechts. 

    Die Antifa war allerdings nie eine politische Bewegung, sondern eher eine Plattform, auf der sich Leute ganz unterschiedlicher Anschauungen versammelten: Kommunisten, Sozialisten, Marxisten, Anarchisten und sogar Nationalisten. Alle waren auf die eine oder andere Weise gegen Kapitalismus, gegen autoritäre Herrschaft, gegen Ungleichheit und Diskriminierung. Für manche von ihnen war die Unterstützung für Russland im Krieg eine Frage der Ideologie.  

    „Für mich ist Nationalismus die Liebe zur Heimat, zum eigenen Land. Das ist gut und richtig. Ich lebe in diesem Land, ich liebe die Menschen hier. Alle meine Mitbürger. Ich wünsche mir für alle Wohlergehen. Gleichzeitig will ich aber auch nicht, dass es anderen schlecht geht. Ich finde nicht, dass Russen, Weiße oder wer auch immer besser sind als Mexikaner, Amerikaner oder sonst jemand – das wäre dann schon Nazismus, wenn du nämlich deine Nation über alle anderen stellst. Das ist bescheuert, totaler Blödsinn“, sagt ein anderer Antifa namens Oleg Kotow, der sich selbst als Nationalbolschewik bezeichnet. Kurz: Nazbol.

    Ich bin lieber ein Watnik als so ein doppelzüngiger Abschaum

    Deren Losung ist: „Russland ist alles! Der Rest ist nichts!“ Sie finden, dass alle Territorien mit russischsprachiger Bevölkerung an Russland angegliedert werden sollen. Oleg fährt öfter mit den Interbrigady 2022 in den Donbas, einem militanten Flügel der nationalbolschewistischen Partei Das andere Russland E. W. Limonows. Er sieht keinen Widerspruch darin, gleichzeitig Antifa und Nationalist zu sein. Er hat sich schon mit Bones geprügelt und für Tierschutz eingesetzt. Szeneinternes Geplänkel zum Thema „Wer ist die echte Antifa“ interessiert ihn nicht. Seit fast anderthalb Jahren bringt er humanitäre Hilfe in das Dorf Toschkowka in der Oblast Luhansk, das von der russischen Armee kontrolliert wird. „Ich bin lieber ein Watnik als so ein doppelzüngiger Abschaum“, meint Kotow. „Die Leute haben nichts zu essen, sie frieren in ihren zerstörten Häusern, weil sie keinen Strom, kein Gas und kein Wasser haben. Manchen muss man eben helfen, wo man kann, die müssen einem leidtun, auf die anderen können wir alle scheißen.“  

    In Toschkowka ist kein Stein auf dem anderen geblieben. Das Dorf wurde schon ab 2014 beschossen, und seit Juni 2022 hält es die russische Armee besetzt. Im Herbst brachte Oleg zum ersten Mal Kissen und Decken hin, Taschenlampen und Generatoren zur Stromerzeugung, damit die Menschen in ihren Häusern ohne Dach den Winter überleben konnten.  

    „Wir helfen auch den freiwilligen Kämpfern. Aber vor allem den Mobilisierten – ihr wisst ja, wie das bei uns läuft mit der Ausstattung der Mobiki. Die werden ohne Schutzwesten gleich in den Sturm geschickt, gehen dort allesamt drauf. Das sind doch meine Nachbarn, auch ein entfernter Verwandter von mir wurde eingezogen“, sagt Oleg. „Zu denen kannst du doch nicht sagen: ‚Pech gehabt, du bist kein Freund, keiner von uns, du bist nur ein Raschist, ein Faschist.‘ Nach Kasachstan flüchten wollte er nicht, das würde seiner Erziehung widersprechen. Ihm muss man doch helfen, ihn unterstützen, den kann man doch nicht im Stich lassen.“ 

    V wie ReVolution 

    „Wie sieht es bei uns überhaupt mit Nazis aus? Gibt es noch welche?“, frage ich Oleg. 

    „Natürlich gibt es noch welche. Rennen doch genügend Sieg-Heil-schreiende Kids voller Aufnäher rum, so als Straßen- und Subkultur.“ 

    „Aber finden Sie nicht, dass auch der Kreml einen Rechtsdrall hat? Wir haben ja den Sänger Shaman, der da singt: ‚Ich bin Russe, ich gebe nicht auf. Ich bin Russe, mit dem Blut meines Vaters‘ …“ 

    „Das ist widerlich. Mein Sohn kommt jetzt in die zweite Klasse, die hatten da auch schon diese ‚Gespräche über Wichtiges‘ und so, müssen irgendwelche Lieder lernen. Wie eine Parodie auf die Oktjabrjata, also so Brigaden, bei denen sie mitmachen sollen, aber das ist pure Idiotie. Die Pioniere waren stolz, Pioniere zu sein. Heute gibt es leider absolut keinen Grund, stolz zu sein.“  

    „Wie soll man damit umgehen?“ 

    „Keine Ahnung, ich bin ja kein Politiker. Hab noch nicht mal drüber nachgedacht. Zuerst muss der Krieg vorbei sein, erst danach kann man bei uns was Ordentliches aufbauen.“ 

    Ein Antifaschist mit dem Spitznamen „Communist Sam“ sagt: „Im Fall einer Niederlage wird es in Russland keine Revolution geben, findet euch damit ab! Wenn Russland verliert und schwächer wird, oder schlimmer – wenn es auseinanderfällt, dann entsteht auf unserem Gebiet, auf dem aktuellen Territorium des russischen Staates, ein ‚weißes Afrika‘. Im Vergleich zu dem, was dann passiert, werden uns die Neunziger wie ein Muster an Ordnung und Rechtsstaatlichkeit vorkommen. Ich will Russland rot sehen, weil Russland stark genug sein muss, um die Revolution zu erleben, sie zu verteidigen und ihr Bollwerk zu werden. Friede den Hütten, Krieg den Palästen! Ich diene der Sowjetunion.“ 

    Schützengräben sind der beste Ort für Gespräche über Politik, der Krieg ist ein unbestelltes Feld für revolutionäre Agitation.

    Sam ist der Meinung, momentan könne von einer Revolution keine Rede sein, weil die Arbeiter mit ihrer Situation zufrieden seien. Solange genug Brot da sei, würden sich die Massen nicht zum Aufstand erheben. Er sagt, die Schützengräben seien der beste Ort für Gespräche über Politik, und nennt den Krieg ein „unbestelltes Feld“ für revolutionäre Agitation: „Da bist du in einem Kollektiv, in dem du dich beweisen kannst. Und dann bedeutet deine Meinung auf einmal etwas für Leute, die gestern noch über nichts anderes als ihr täglich Brot nachgedacht haben. Dann ist es auch an der Zeit zu fragen, wozu und warum wir überhaupt da sind. Man darf sich für seine Kraft nicht schämen, man darf keine Angst haben, sie einzusetzen.“ 

    Fraglich bleibt, ob diejenigen, in die Sam den Keim der Revolution säen möchte, diese dann noch erleben werden. 

    Am Ende das Blut im Schützengraben 

    Denis Chromow ist nicht mehr erreichbar. Beim letzten Gespräch Mitte Februar 2024 sagte er, dieser Bericht sei „vielleicht das Letzte, was je über mich erscheinen wird“. Denn Chromow ist krank. 

    Er hat sich 2014 an der Front mit Tuberkulose angesteckt. Das erfuhr er vom Arzt in der Musterungsbehörde. Drei Jahre später zog er wieder in den Krieg. Er sagt, im Zivilleben konnte er nicht zu sich finden. „Es hat mich da hingezogen, und Punkt. Wahrscheinlich ist das wie eine Droge. Wenn du mit den Jungs zusammen im Schützengraben sitzt, wenn du unter Beschuss handeln musst, wenn alle mit demselben Löffel essen, keine Ahnung … Man hilft einander. Und zwar nicht aus irgendeinem Eigeninteresse, sondern aus reiner Kameradschaft. Hier draußen musst du dich ständig mit Arbeit und wegen der Kohle rumplagen, mit den sauren Visagen der Chefs, den ätzenden Kollegen. Na ja, hab ich gedacht, was soll ich machen? Ich musste wieder hin“, erzählte Denis. Er nahm Medikamente, die wirkten aber nicht: Das Röntgenbild war unverändert. Um wieder an die Front zu kommen, besorgte er sich ein fremdes, gesundes Bild.  

    Beim zweiten Einsatz kämpfte Denis acht Monate lang für die Donezker Volksrepublik. Dann kehrte er nach Hause zurück, weil es ihm nicht gefallen habe: „Da ist nichts mehr wie früher. Lauter hirnrissige Befehle, die Waffen waren der reinste Schrott, und dieses ‚das [die Waffen – dek] könnt ihr euch im Gefecht besorgen’, fickt euch. Die Stabsoffiziere tun nichts anderes als sich den Wanst vollzufressen und zu ficken, was ihnen über den Weg läuft. Du kommst fix und fertig zurück, hast zwei Tage nicht geschlafen, aber meinst du, dann ist Ruhe? Denkste, sie brummen dir irgendeine Kacke auf. Sagt mal, habt ihr sie noch alle?“, sagt Chromow. 

    Danach schlug sich Denis irgendwie durch: Er verlegte Stromleitungen und Parkettböden, bekam mit seiner Freundin einen Sohn. Er fühlte sich gesund, bis auf einen schleimigen Auswurf: Kaum hatte er den abgehustet, setzte sich der nächste Klumpen in der Kehle fest. Als er zum dritten Mal an die Front wollte, wusste er bereits, wo er ein manipuliertes Röntgenbild bekommen würde.  

    Seinen ersten offiziellen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium unterzeichnete Denis am 10. August 2023, doch er blieb nicht bis zum Schluss. Eines Tages wurde er „gestrichen“ und bei Luhansk direkt aus dem Schützengraben geholt. Davor hatte er einen Monat lang mit seinem Zug im Wald Gräben geschaufelt und auf Befehle von oben gewartet. Sein Tagesablauf sah so aus: Nachts im Schlafsack auf gefrorener Erde liegen, von früh bis spät mit der Schaufel hacken. „Wie ein verfickter Maulwurf“, schimpft Denis, „und für wen, wozu? Einfach, um die Soldaten zu schikanieren.“  

    Als er zum ersten Mal Blut auf dem Boden sah, dachte er, es käme von einem Zahn. Dann stieg das Fieber, er stützte sich schweißgebadet auf die Schaufel, konnte nicht mehr. Er sagte allen, er sei einfach völlig fertig. Kein Wort von der Tuberkulose. Mit jedem Tag wurde der Husten stärker, das Blut immer mehr. Ein Röntgenbild, das Denis im Krankenhaus in Rostow am Don machen ließ, zeigte riesige Entzündungsherde in der Lunge. Er wurde in seine Heimatstadt geschickt und musste Bedaquilin nehmen, ein Tuberkulosepräparat neuerer Art. Denis sagt, es sei das stärkste Medikament, das es gibt.  

     Wer soll denn noch auf die Straße gehen, wenn die Hälfte tot auf dem Schlachtfeld liegt?

    In den Krieg wird er nie wieder ziehen. Selbst wenn er wollte, würde er mit seiner Diagnose nicht genommen. Denis will aber auch gar nicht: „Ich hatte einfach eine Überdosis Zombieglotze und wollte dieses Abenteuer. Und dann war ich da ganz in diesen Zusammenhalt der Männer eingetaucht. Aber das war einmal, jetzt ist alles ganz anders.“  

    Am meisten ärgert sich Denis über den Staat. Und er findet, dass es für die Russen keinen Ausweg gibt. „Ich habe sehr viel darüber nachgedacht. Erinnerst du dich an den Bolotnaja-Platz? An die ‚Märsche der Millionen‘. Ich war selber dabei, als so wahnsinnig viele Leute in Moskau demonstriert haben. Und dann auf einmal der Maidan. Und im Fernsehen immer nur: Krieg! ‚Da seht ihr, was ihr habt von euren Umstürzen!‘ Und dann kamen heimlich, still und leise die Demonstrationsgesetze, wo es verboten ist, was verboten ist … Weil ihnen klar war, diesen Arschlöchern, dass das Volk sich echt zusammentut und sie so langsam die Kontrolle verlieren. Und dann haben sie alles so eingefädelt: Ihr habt es nicht anders gewollt – dann kämpft eben und geht drauf dabei. Diese dummen Wichser – die Freiwilligen und Vertragssoldaten –, die kapieren nicht, dass das nichts als ein verdammter Fleischwolf ist. Um solche wie uns loszuwerden, die bei den ‚Märschen der Millionen‘ mitmarschiert sind – damit wieder alles schön still ist. Wer soll denn noch auf die Straße gehen, wenn die Hälfte tot auf dem Schlachtfeld liegt? Ich bin enttäuscht, echt.“ 

    Zum Abschied bat uns Denis, seinen Namen nicht zu nennen, weil er für das, was er im Interview gesagt hat, eingebuchtet und als „Vaterlandsverräter“ gelten würde: „Sorgt bitte dafür, dass ich wenigstens zum Schluss noch meine Ruhe habe.“  

    Seitdem herrscht Funkstille. 

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  • „Die Belarussen müssen verstehen, dass unsere Zukunft von uns selbst abhängt”

    „Die Belarussen müssen verstehen, dass unsere Zukunft von uns selbst abhängt”

     

    Belarussische Freiwillige kämpfen schon seit 2014 auf Seiten der Ukraine, mittlerweile sind es so viele, dass sie ihre eigene Einheit unter der ukrainischen Armeeführung haben: das Kastus Kalinouski-Regiment

    Was bringt Belarussen dazu, sich diesem Kampf im Nachbarland anzuschließen und ihr Leben aufs Spiel zu setzen? Welche Konsequenzen hat dies für sie selbst, aber auch für ihre Familien in Belarus? Die ukrainische Journalistin Anhelyna Straschkulytsch hat einen freiwilligen Soldaten getroffen: Pawel Schurmei ist ein ehemaliger belarussischer Ruderer, der 2004 und 2008 für sein Land an den Olympischen Spielen teilnahm. Dem Online-Medium Ukraijanska Prawda hat Schurmei, der mittlerweile Kommandant des Kalinouski-Regiments ist, in Charkiw seine Geschichte erzählt.  

    Meine Mutter ist im August 2022 gestorben. Leider konnte ich mich nicht verabschieden 

    Die Frage, ob ich für die Ukraine in den Kampf ziehe oder nicht, stellte sich für mich im Februar 2022 gar nicht. Ich habe mich von klein auf für Geschichte interessiert. Die meisten Bücher, die ich darüber las, behandelten die Geschichte der UdSSR. Zum Großfürstentum Litauen, das Gebiet des heutigen Belarus, gab es nur ganz wenig im Sinne von: „Unterjocht von den polnischen und litauischen Feudalherren strebte das belarussische Volk einen Bund mit dem brüderlichen Russland an“.

    Mit der Zeit bekam ich mehr Wissen und ich begriff, dass alles, was ich früher gelesen hatte, eine Lüge war. Die sowjetische Macht hatte versucht, die belarussische Geschichte zu vernichten. Wir sollten nur von unserem „großen Bruder“ wissen, der alles für uns entschied: unser Schicksal, unser Leben, unseren Weg. 

    Bereits zu Beginn der russischen Aggression im Jahr 2014 überlegte ich, mich der ukrainischen Armee anzuschließen, tat es aber nicht, weil ich mir um meine Mutter in Belarus Sorgen machte. Das war ja eine Einbahnstraße. Die belarussischen Freiwilligen, die sich der Verteidigung der Ukraine anschlossen, konnten nicht mehr nach Hause zurückkehren. 2022 konnte ich nicht mehr anders, als für die Ukraine in den Krieg zu ziehen. Und nicht etwa wegen meiner ukrainischen Frau und die Familie – diese Horde muss einfach in die Schranken gewiesen werden. Die Russen waren schon in der Ukraine. Sind einfach einmarschiert, als wären sie da zu Hause. Haben Türen eingetreten, Menschen in die Knie gezwungen, ihnen Waffen an die Köpfe gehalten, Frauen, Mütter, Kinder vergewaltigt und umgebracht. Man hätte diese Wilden schon viel früher aufhalten müssen. 

    Ich war seit dem 24. Februar 2022 nicht mehr in Belarus. Meine Mutter ist im August 2022 gestorben. Leider konnte ich mich nicht von ihr verabschieden. Ein paar Tage nach Beginn des großangelegten Kriegs bin ich aus den USA nach Polen geflogen und am 1. März in Warschau gelandet. Im dortigen belarussischen Zentrum versammelten sich Freiwillige. Belarussen im Warschauer Exil halfen mir, Ausrüstung und Medikamente zu besorgen. Polnische Sportruderer organisierten einen Kleinbus für mich, mit dem wir in die Ukraine fuhren. Bereits am Abend des 8. März kamen wir in Kyjiw an. 

    Wer seine Muttersprache nicht lernen will, lernt die Sprache der Unterdrücker 

    Am nächsten Tag verkündeten die belarussischen Freiwilligen die Gründung des Kastus-Kalinouski-Bataillons. Der Kommandant Jorik forderte alle auf, sich einen Kampfnamen auszusuchen. Hätte ich nicht Dzjadzka (dt. Onkel) genommen, hätte ich Babaj (dt. Waldgeist) geheißen. Aber das ist mir erst später eingefallen. Heiße ich also „Onkel“. Wenigstens nicht Tante. (lacht) Ich bin in einer großen Familie aufgewachsen und hatte viele Onkel. Sie waren kaum älter als ich, aber ich nannte sie trotzdem Onkel. Daraufhin begannen sie auch, mich Onkel zu nennen. So ist dieser Spitzname entstanden. 

    Zu Beginn waren die belarussischen Freiwilligen zusammen mit einer Einheit der Territorialverteidigung von Asow in Kyjiw stationiert. Man wollte uns nicht sofort als Kanonenfutter in den Kampf schicken, sondern ließ uns zuerst ein mehrwöchiges Anfänger-Training absolvieren. Nur wenige von uns hatten militärische Erfahrung, aber wir gaben uns Mühe, alles so schnell wie möglich zu lernen. Ich habe gute physische Voraussetzungen dafür, mit einer schweren Waffe zu laufen. So wurde ich MG-Schütze. Ich bekam ein leichtes Maschinengewehr und wurde zu meinem ersten Einsatz nach Irpin geschickt – das war zwischen 20. und 30. März. 

    Wir verbrachten dort sechs Tage. In der Region Kyjiw erlebte ich etwas, das ich nie vergessen werde. Zusammen mit einem ukrainischen Soldaten sollte ich ein Gebäude bewachen, aber nach einer halben Stunde starb er vor meinen Augen. Er wurde in der Leistengegend verletzt und verblutete innerhalb weniger Minuten. 

    Ende März kehrten wir aus Irpin zurück. Am nächsten Morgen unterschrieben wir unsere Verträge für den Dienst in den Streitkräften der Ukraine. In unserer Einheit bemühen wir uns, belarussisch zu sprechen. Wer seine Muttersprache nicht lernen will, lernt die Sprache der Unterdrücker. Dass ein Teil der belarussischen Bevölkerung die Landessprache nicht spricht, ist die Folge der systematisch auf die Vernichtung der Identität abzielenden russischen Politik. Russland versucht, alles Nationale auszurotten, damit seine Panzer problemlos durch unser Land rollen können. 

    Pawel Shurmei, Kommandant des Kalinouski-Regiments / Foto © privat
    Pawel Shurmei, Kommandant des Kalinouski-Regiments / Foto © privat

    Lukaschenko ist ein Leibeigener Putins. Putins Regime hat Belarus okkupiert, und Lukaschenko hat seine Heimat verkauft, um an der Macht zu bleiben. Solange Lukaschenko an der Macht ist, wird die Ukraine in Gefahr sein. Denn am 24. Februar 2022 fuhren von Belarus aus Militärkolonnen in die Ukraine ein. Raketen wurden von belarussischem Boden aus abgefeuert. Am Anfang schrie Lukaschenko: „Kyjiw in drei Tagen“. Ich glaube, er hätte sich dem Krieg angeschlossen, wenn Putin schnell Erfolg gehabt hätte. Und er wäre zur Parade der Russen in Kyjiw gekommen. Aber als er sah, dass Russland vorerst scheiterte, mischte er sich lieber nicht ein und wartete ab, wohin das Ganze führen würde. Er versucht, auf mehreren Hochzeiten gleichzeitig zu tanzen, aber das kann sich jeden Moment ändern. Zudem kann Russland ihn jederzeit gegen einen angenehmeren Leibeigenen austauschen. Lukaschenko ist ein Monster, das sich alle Optionen offenhalten will, um so lange wie möglich an der Macht zu bleiben. Und solange er an der Macht ist, ist die Ukraine nicht vor Panzern und Raketen aus dem Norden sicher. Das Training russischer Soldaten und die Stationierung russischer Atomwaffen auf belarussischem Gebiet sind zumindest dazu da, den Ukrainern, Europäern und der NATO Angst einzujagen. Und im schlimmsten Fall dazu, die Ukraine oder Litauen von belarussischem Gebiet aus mit taktischen Kernwaffen anzugreifen. 

    Wenn wir gefragt werden: „Wollt ihr Kalinouski-Kämpfer den Krieg etwa nach Belarus bringen?“, verneinen wir das natürlich. In der Ukraine sehen wir, was Krieg bedeutet, im Gegensatz zu Lukaschenko und seinen Generälen, die der Meinung sind, die alles nur für ein Spiel halten. Indem sie sich in Putins Leibeigenschaft begeben haben, haben sie Belarus in eine Lage gebracht, in der das Volk erleben kann, was Krieg bedeutet. 

    In Wahrheit war Lukaschenkos Position 2020 mehr als wackelig 

    Wenn die Belarussen denken, es hänge nicht von ihnen ab, riskieren sie, den Krieg am eigenen Leib zu erfahren. Nach der Präsidentschaftswahl in Belarus 2020 war das Volk irrtümlich der Meinung, die Situation im Land mit friedlichen Protesten ändern zu können. Die Menschen hofften, Lukaschenko und der ganzen Welt zeigen zu können, dass er keine Mehrheit hinter sich hat. Aber die Leute müssen kapieren, dass nichts im Leben gratis ist. Sie müssen endlich den entscheidenden Schritt tun. Der kann sie die Freiheit kosten, die Gesundheit, das Leben, aber ohne diesen Schritt wird nichts passieren. Die Ukraine ist an diesem Punkt angelangt. Ich weiß nicht, ob die Belarussen schon verstanden haben, dass in Belarus ohne Blutvergießen leider keinen Machtwechsel geben kann. 

    In Wahrheit war Lukaschenkos Position 2020 mehr als wackelig. Eine Woche nach den Wahlen stattete er einer belarussischen Fabrik einen Besuch ab. Die Arbeiter schrien ihm entgegen: „Hau ab! Du kannst uns mal!“ Lukaschenko reagierte schockiert: „Wie kann das sein? Wie könnt ihr so was sagen?“ Manche denken, dass Russland damals bereit war, seine Truppen nach Belarus zu schicken, um die Proteste niederzuschlagen. Aber dann wäre diese Geschichte ganz anders verlaufen. Die Belarussen müssen verstehen, wenn sie nach dem Prinzip leben: „Das hängt nicht von mir ab, das geht mich nichts an, das ist nicht meine Entscheidung“, dann werden die Entscheidungen tatsächlich von anderen getroffen. 

    In unserer Einheit sind viele Freiwillige, denen das Jahr 2020 im Bezug auf die Situation in Belarus und den russischen Einfluss auf Belarus die Augen geöffnet hat. Damals wanderten viele von ihnen in die Ukraine aus und schlossen sich später den Ukrainischen Streitkräften an. In meinem Leben gab es noch einen bezeichnenden Moment. Ich hatte in Belarus einen Freundeskreis, in dem ich einer der Jüngsten war. Viele meiner Freunde hatten in der Sowjetarmee gedient. Sie waren mit Lukaschenko immer unzufrieden, fanden aber Putin ganz in Ordnung. Nach 2014 fingen unsere Treffen oft friedlich an, es kam aber dann fast zu Schlägereien. Auch wenn sie es nicht ganz ernst meinten, nannten sie mich „Ukro-Yankee-Schwein“ und „Bandera-Jude“. Aber nach 2020 verstanden fast alle – acht bis neun von zehn Leuten – dass Putin noch schlimmer als Lukaschenko ist. Sie haben es am eigenen Leib erfahren. 

    Wissen Sie, wenn man überlegt, wieso man für den Nachbarn kämpfen soll, muss man sich bewusst machen, dass man selbst als Nächster dran ist. Es gibt eine Redewendung: „Jedes Volk hat den Führer, den es verdient“. Das trifft leider auch auf Belarus zu. Belarus ließ sich 1994, als nach dem Zerfall der Sowjetunion alle Stabilität, medizinische Versorgung und anständige Löhne forderten, von einem Kolchosendirektor die Ohren vollschwafeln: „Ich hole alles zurück. Ihr werdet alles haben.“ Tja, seit mehr als 30 Jahren „haben wir alles“ … 

    In Belarus herrscht derzeit ein rechtsstaatlicher Bankrott 

    Die Familien der belarussischen Freiwilligen, die für die Ukraine kämpfen, sind in Gefahr. Sobald der belarussische Geheimdienst von so etwas erfährt, fängt es an mit Hausdurchsuchungen, die Familien werden verhört und strafrechtlich verfolgt, es werden Anklagen erhoben, Eigentum wird konfisziert, sie werden gezwungen sich vor der Kamera von ihren Familienmitgliedern loszusagen – und diese Videos werden im Fernsehen gezeigt. Sogar die Eltern oder die 70-, 80-jährigen Großeltern unserer Jungs und Mädels werden zu Verhören geladen. 

    Die Repressionen in Belarus sind brutal. Die Freiwilligen können Anrufe vom Handy des Vaters oder der Mutter bekommen, und dann zeigt man ihnen, wie diese gefoltert werden – wie man ihnen die Fersen verbrennt oder sie schlägt. Sie können mit den Menschen absolut alles machen, können sie sogar totschlagen, ohne dass ihnen etwas passiert. In Belarus herrscht derzeit ein rechtsstaatlicher Bankrott. Unabhängigen Rechtsanwälten wurde die Lizenz entzogen. Man kann sich keinen rechtlichen Beistand mehr holen. In Belarus ist es immer sehr brutal zugegangen, aber seit 2020 haben sich die Repressionen noch weiter verschärft. 

    Die belarussischen Freiwilligen stehen unter besonderer Beobachtung der Geheimdienste. Denn oppositionelle bewaffnete Verbände sind für Lukaschenko die Gefahr Nummer 1. Die belarussische Führung hat große Angst vor dem Kastus Kalinouski-Regiment. Deshalb haben Lukaschenkos Agenten es besonders im Visier. Im März 2023 wurde ich in Belarus angeklagt – „wegen Extremismus und der Teilnahme an den Kampfhandlungen auf der Seite der Ukraine“. Und Anfang Juni 2024 in Russland. Wie ich davon erfahren habe? Im März letzten Jahres bekam ich plötzlich Anrufe von meinen Bekannten, die mir gratulierten und sagten, ich sei nun ein Belarusse mit Gütesiegel. Bei uns gibt es einen Witz: Wenn du in Belarus vor Gericht kommst, hast du alles richtig gemacht.  

    Später begannen mir Journalisten zu schreiben und baten mich zu kommentieren, baten mich um Stellungnahmen und fragten, wie es mir gehe. Wie soll es mir schon gehen? Wir sitzen hier beisammen, unterhalten uns, und jeden Moment kann eine Rakete einschlagen. Was soll eine Anklage in Belarus oder Russland schon ändern? Manchmal scherze ich, dass ich gerade nicht persönlich nach Russland fliegen kann, deshalb schicke ich stattdessen eine Drohne. 

    Die Belarussen müssen verstehen, dass unsere Zukunft von uns selbst abhängt. Es hat keinen Sinn, darauf zu warten, bis die Ukraine, Europa oder Amerika unser Schicksal entscheiden. Wir sind selbst die Herren unserer Zukunft. Geholfen wird nur denen, die kämpfen. 

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  • „Unser liebster, wundervoller Don Quichote“

    „Unser liebster, wundervoller Don Quichote“

    Am 27. Juli verstarb in einem Untersuchungsgefängnis in Birobidschan der 39-jährige russische Pianist, Schriftsteller und Antikriegs-Aktivist Pawel Kuschnir, offizielle Todesursache: Folgen eines fünftägigen trockenen Hungerstreiks. Verhaftet wurde Kuschnir wegen seines YouTube-Kanals mit vier Videos und fünf Abonnenten. Der Vorwurf lautete „öffentliche Anstiftung zu Terrorismus“.


    In den Medien tauchte der Name Kuschnir erst nach seinem Tod auf. Bis dahin waren seine Geschichte und die Umstände der Verhaftung der breiten Öffentlichkeit unbekannt gewesen.   


    Katya Kobenok hat mit Angehörigen von Pawel Kuschnir und Menschenrechtsaktivisten gesprochen. Auf Takie Dela erzählt sie, was für ein Mensch er war und warum es niemandem gelungen ist, seinen Tod zu verhindern.
     

    Pawel wurde Ende Mai 2024 verhaftet. Ein Post in einem inoffiziellen Telegram-Kanal der Silowiki dazu lautete: „‚Gerechtigkeitskämpfer‘ hat sich um Kopf und Kragen geredet.“ 

    „Experten zufolge hat der Angeklagte genug für ein Strafverfahren wegen Anstiftung zu Terrorismus von sich gegeben. Der Paragraf sieht bis zu sieben Jahre Haft vor“, hieß es in dem Post weiterhin. Kuschnir habe „regelmäßig Material veröffentlicht, in dem er zum gewaltsamen Sturz der Verfassungsordnung der Russischen Föderation durch Revolution aufrief.“ 

    In Wirklichkeit hatte Pawel einen YouTube-Kanal mit vier Videos, in denen er das herrschende Regime in Russland kritisierte. Zum Zeitpunkt der Verhaftung hatte der Kanal fünf Abonnenten. 

    Pawel Kuschnir ist in Tambow geboren und aufgewachsen, studierte an der Rachmaninow-Musikhochschule in Tambow und am Tschaikowski-Konservatorium in Moskau. Nach seinem Abschluss war Kuschnir sieben Jahre lang Pianist an der Philharmonie in Kursk und drei Jahre an der Philharmonie in Kurgan. 2014 verfasste er einen dystopischen Roman mit dem Titel Russkaja Nareska (Russischer Aufschnitt). Seit 2022 war Kuschnir Pianist an der Philharmonie in Birobidschan

    Seine berühmteste Aufnahme ist ein Zyklus aus Rachmaninows 24 Präludien, den der Musikwissenschaftler Michail Kasinik mit den folgenden Worten lobte: „Kuschnirs Interpretation der 24 Präludien – was so schon mal niemand macht, weil diese Präludien aus verschiedenen Zeiten und Werken stammen – ist kristallklar. Der Zyklus zeichnet die Entwicklung von Rachmaninows Ideen nach, die Kuschnir von allen Überlagerungen und Volkstümlichkeiten befreit hat.“ 

     
    Kuschnirs Aufnahme des Zyklus aus Rachmaninows 24 Präludien, Tambow, 2010

    Olga Schkrygunowa, Pianistin, enge Freundin 

    „Pascha Kuschnir ist tot. Unser liebster, wundervoller Don Quichote, ein Kämpfer bis zum letzten Atemzug. Ich will daran glauben, dass der Tod nur den Besten vorbehalten ist“, schrieb Olga auf Facebook

    „Von klein auf war er für sein unglaubliches musikalisches Gehör bekannt. Für mich war er immer ein Genie, sowohl als Mensch als auch als Musiker. Ein genialer Idealist, der keine Kompromisse kannte. Ein Kämpfer für die Liebe, die Kunst und die Freiheit“, berichtet sie. 

    2022, noch vor seinem Umzug nach Birobidschan, habe Pawel überall in der Stadt Flyer mit Friedensaufrufen aufgehängt. Er sei schon vor seiner Verhaftung mehrmals in den Hungerstreik getreten, in der Hoffnung, dass sich auch andere dieser friedlichen Form des Protests anschließen würden. Sein längster Streik habe 100 Tage gedauert, sei jedoch von der breiten Masse unbemerkt geblieben. 

    Anton Wesselowski, Journalist aus Tambow, Freund 

    „Zuerst dachte ich, sie hätten ihn in der U-Haft ermordet. Dann hörte ich die offizielle Version mit dem Hungerstreik. Ich halte das durchaus für möglich: Pascha hatte einen starken Willen und feste Prinzipien. 

    Am 9. Mai 2023, noch vor seiner Verhaftung, hatte Pawel auf Facebook angekündigt, in den Hungerstreik zu treten. Er forderte das Ende des Kriegs, die Abschaffung des Regimes und Freiheit für alle politischen Gefangenen. Seine Freunde in Tambow versuchten, ihn davon abzuhalten, andere hofften das Beste und dachten, er würde die Idee von alleine aufgeben. 

    Nach seiner Verhaftung im Mai 2024 griff er dann zu radikalen Mitteln: Zunächst hat er Nahrung verweigert, dann auch Wasser. Jetzt fragen viele, warum niemand davon gewusst hat. Unsere heutige Realität war für Pascha unerträglich, er wollte auf diese Weise ein Ultimatum setzen. Es gibt Dutzende Menschen, die sich gegen den Krieg aussprechen, aber so radikal war in letzter Zeit niemand. Pascha hat immer vom Kampf gegen das Böse in der Welt und den Faschismus in sich selbst gesprochen. 

    Er war ein stiller Mensch, aber seine Taten waren laut. Er konnte zwei Monate lang verschwinden, um sich auf ein Konzert vorzubereiten, und dann ein ewig langes Stück aus dem Kopf spielen. 

    Paschas Statements hatten immer Strahlkraft und konnten jemanden verändern oder bekehren. Mir war immer bewusst, wie wertvoll der Kontakt mit Pascha ist, ich habe ihn oft zu diversen Veranstaltungen eingeladen. Seine Aktionen haben immer polarisiert, aber sie waren immer konzeptuell begründet, selbst wenn es sich um spontane Performances handelte. 2010 haben seine Freundin und er zum Beispiel einen Flashmob gegen die Hitze veranstaltet, bei dem sie bei 40 Grad in Winterklamotten durch die Stadt gezogen sind. 

    Im selben Jahr hat Pascha seine Gedichte bei einer Literaturveranstaltung auf Na’vi gelesen, der Sprache im Film Avatar, die er sich beigebracht hatte. Hin und wieder verschwand er in der Versenkung, um zu schreiben und zu üben. Warum er immer wieder umgezogen ist, weiß ich nicht genau. Er interessierte sich für neue Orte, ist viel gereist. 

    Seine Freunde traf er, wenn er nicht gerade arbeitete oder mit Auftritten durchs Land tourte. Seit Ende der 2010er Jahre hat sich Pascha kaum noch in seiner Heimatstadt blicken lassen. Zum letzten Mal habe ich ihn 2018 gesehen.“ 

     

    Beethoven, Konzert für Klavier und Orchester Nr. 5 Es-Dur op. 73; Mendelssohn Sinfonie Nr. 3 in a-Moll op. 56

    Marina Shemtschugowa, ehemalige Studentin, Konzertbesucherin 

    „Ich habe zusammen mit anderen Studierenden und Pädagogen häufig Pawels Konzerte besucht. Das war vor acht, neun Jahren. Damals war er Pianist an der Kursker Philharmonie und gab regelmäßig Solokonzerte oder beteiligte sich an anderen musikalischen Projekten.  

    Manchmal kamen Freunde von mir mit, denen die Welt der akademischen Musik ansonsten fremd ist. Heute weiß ich, was für ein Privileg und Geschenk es für uns alle war, Pawel spielen zu hören.  

    Ich kann mich erinnern, wie wir nach den Vorlesungen zur Musikgeschichte zum Konservatorium eilten, um Pawels Interpretationen von Chopin, Schubert, Purcell, Scarlatti und Bach zu lauschen.  

    Pawel war eine besondere, einprägsame Erscheinung: hager, ein wenig gebückt, in sich gekehrt.  

    Er spielte gerne Barock und Romantik, war ein couragierter und feinfühliger Musiker, der jedes Stück durch sich hindurchließ. Er suchte immer seinen persönlichen Zugang, auch zu berühmten Werken. Zum Beispiel unterschied sich seine Interpretation von Chopins 24 Präludien von der Tradition: Er wählte mal ein langsameres, mal ein schnelleres Tempo, fügte Pausen ein und veränderte somit die Wirkung.“ 

    Irina Michailowna, Mutter  

    „Pascha ist in einer Musikerfamilie geboren: Ich bin Musikwissenschaftlerin, Paschas Vater, mein Mann, hat an einer Musikschule Kinder unterrichtet. Er ist 2020 gestorben. Pawels Großvater väterlicherseits war Gesangslehrer und Intendant des Volksbildungshauses der Oblast Tambow, wo er einen Kriegsveteranenchor leitete.  

    Pascha wuchs in der Welt der Musik auf und ging früh darin auf. Die Liebe zur Musik hat er mit der Muttermilch aufgesogen, könnte man sagen.  

    Am liebsten mochte er die Komponisten der Romantik, vor allem Schumann. Pascha spielte gerne seine Fantasie in C-Dur, die Sinfonischen Etüden und die Kinderszenen. Auch Chopin schätzte er sehr, und von den russischen Komponisten – Rachmaninow. Pascha gab manchmal Konzerte mit allen seinen 24 Präludien. Und wie er spielte! Sehr expressiv, er hatte ein tiefes Verständnis für die Musik. 

    Ich bin jetzt 79, am 5. Dezember werde ich 80. Paschas Tod ist ein schwerer Schlag für mich, ich weiß nicht, ob ich meinen 80. Geburtstag noch erleben werde.“ 

    „Extremer Protest“ 

    Vor Gericht habe Pawel Kuschnir keine Verteidigung und keinen Rechtsbeistand gehabt, erzählt die Menschenrechtsaktivistin Olga Romanowa. Im Nachhinein hätten die Menschenrechtler erfahren, dass Pawel ein Anwalt an die Seite gestellt worden war, der sich „überhaupt nicht um seinen Mandanten gekümmert“ habe. 

    „Er starb zu einem Zeitpunkt, als andere politische Häftlinge befreit wurden. Sein Fall ist nicht der erste und wird leider auch nicht der letzte sein“, beklagt sie.     

    Bei Weitem nicht alle könnten sich einen Anwalt leisten, erklärt die Juristin Olga Sadowskaja von Komanda protiw pytok (Team gegen Folter): Die Menschenrechtler hätten erst von Pawels Tod erfahren und nicht schon von seinem Hungerstreik, als sie ihm noch hätten helfen können.  

    Ihr zufolge hätten die Menschenrechtsaktivisten heute keinerlei Zugang zum System des Strafvollzugs (FSIN). Niemand bekomme Zutritt zu einer Untersuchungshaftanstalt, einer Strafkolonie oder einem Gefängnis. Diese Umstände hätten dazu geführt, dass die Informationen über Pawel zu spät nach außen gelangt seien: erst, als er bereits tot war.  

    „Wir hätten es wissen müssen. Der Staat hätte uns unterrichten und Zugang zu ihm verschaffen müssen“, betont Sadowskaja. 

    Sie ist überzeugt, dass Kuschnirs Tod im direkten Zusammenhang damit steht, dass Menschenrechtlern der Zugang zu den Haftanstalten verwehrt werde. Früher hätten sich die Häftlinge an die Obschtschestwennaja nabljudatelnaja komissija (Gesellschaftliche Beobachterkommission) wenden können, deren Kontakte in den Gefängnissen und Straflagern an den Wänden gehangen hätten. Heute gebe es das alles nicht mehr, sagt sie.     

    „Die ONK hat früher regelmäßig Strafkolonien und Untersuchungsgefängnisse besucht, und wenn das immer noch so wäre, hätten wir früher von Pawel erfahren und dieses Problem angehen können: Wir hätten ihn überreden können, den Hungerstreik zu beenden, hätten durchsetzen können, dass er in ein richtiges Krankenhaus kommt, hätten die Medien eingeschaltet“, erklärt Sadowskaja. 

    Der frühere Zugang zu den Informationen hätte ihm das Leben retten können, ist sie sich sicher.  

    „Keiner der Menschenrechtsaktivisten hat von ihm gewusst – das lässt sich in der Datenbank von OWD-Info überprüfen, die eine der größten ist. Von diesem Hungerstreik wusste niemand außer den Mitarbeitern des Untersuchungsgefängnisses.“ 

    Ein trockener Hungerstreik sei eine extreme, kurzzeitige Form des Protests, bei der nicht nur die Nahrung, sondern auch Wasser verweigert werde, erklärt Sadowskaja. Normalerweise sterbe man in acht bis zehn Tagen an Dehydrierung, wenn nicht schon früher an Organversagen. „Das ist ein qualvoller Tod, begleitet von geistiger Verwirrung, Wahnstörungen und Halluzinationen“, fügt sie hinzu.     

    Nach internationalen Standards gelte eine Zwangsernährung bei Hungerstreik aus Protest nicht als Folter, wenn sie zum Ziel habe, das Leben der betreffenden Person zu retten.  

    „Mir ist nicht bekannt, ob Pawels Hungerstreik eine Form des Protests war oder er wirklich sein Leben beenden wollte. Wenn es eine Protestaktion war, dann hatte die Gefängnisverwaltung ab dem Zeitpunkt, wo sein Leben in Gefahr war, die Pflicht, lebensrettende Maßnahmen zu ergreifen“, erklärt Sadowskaja.  

    Auch bei anderen politischen Gefangenen bestehe eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass niemand die Gefängnisleitung über einen eventuellen Hungerstreik informieren würde. „Niemand hat ihren Zustand im Blick. Ich hoffe, dass Pawels Geschichte für andere Häftlinge Signalwirkung hat und sie davon abhält, ihn nachzuahmen. Das ist nicht nur lebensgefährlich, sondern bedeutet den sicheren Tod“, betont sie.      

    Davon, dass an Kuschnirs Tod das Personal der Haftanstalt mindestens erhebliche Mitschuld trägt, ist auch die Menschenrechtsaktivistin und Vorsitzende des Komitees Grashdanskoje sodejstwije (Zivile Zusammenarbeit) Swetlana Gannuschkina überzeugt. Für sie bedeutet Kuschnirs Tod auch den Verlust eines Mitstreiters. „Ich habe ihn nicht gekannt und zum ersten Mal von ihm gehört, als er nicht mehr lebte. Das weist darauf hin, dass Menschenrechtsverteidiger bei Weitem nicht von allen wissen, die sich gegen den Krieg aussprechen, sich für Menschenrechte einsetzen und deshalb in Russland strafrechtlich verfolgt werden. Das soll uns allen eine Lehre sein. Wir müssen lernen, nicht nur berühmten, prominenten Persönlichkeiten unsere ständige Aufmerksamkeit zu schenken“, bilanziert Gannuschkina. 

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  • Greift Lukaschenko in den Krieg ein?

    Greift Lukaschenko in den Krieg ein?

     

    Rund ein Drittel der belarussischen Armee – die offiziell rund 65.000 Soldaten umfasst – soll die belarussische Staatsführung an der Grenze zur Ukraine zusammengezogen haben. Das ukrainische Außenministerium warnte Lukaschenko vor einem „tragischen Fehler" und forderte, die Truppen wieder abzuziehen. Erst im Juli hatte Belarus seine Soldaten von der Grenze zur Ukraine abgezogen. Belarussische Beobachter halten das Manöver für psychologische Kriegsführung. Das Drohszenario, das möglicherweise auf Geheiß des Kreml inszeniert wurde, solle zusätzlichen Druck auf die Ukraine ausüben und Unruhe stiften. Die Frage aber, die sich alle stellen, ist: Ist es vorstellbar, dass Lukaschenko doch noch mit eigenen Truppen in den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine eingreift? 

    Igor Lenkewitsch vom belarussischen Online-Medium Reform hat dazu eine klare Meinung. 

     

    Eine vollständige Invasion in die Ukraine 

    Solch ein Szenario wäre Lukaschenkos Selbstmord. Selbst nach konservativen Berechnungen übersteigt die Zahl der ukrainischen Truppen an der Grenze zu Belarus die gesamte belarussische Armee um ein Vielfaches. Überhaupt die ganze Armee, inklusive Verwaltungsangestellter und Militärausbildern. Selbst wenn das belarussische Regime 30.000 Soldaten für einen Angriff zusammenziehen könnte, würde die kampferprobte ukrainische Armee diese in wenigen Tagen aufreiben. Darüber, dass die Grenze massiv befestigt und vermint ist, spreche ich schon gar nicht. 

    Experten haben wiederholt auf die unterschiedlichen Szenarien hingewiesen, unter denen Lukaschenko gezwungen wäre, aktiv in den Krieg einzutreten. Zum Beispiel könnte Putin im Falle eines katastrophalen Scheiterns der russischen Armee seinen Partner zwingen, sich einzubringen. Andererseits wäre aber auch ein Verrat nicht abwegig: Bei einer Niederlage Russlands wäre Lukaschenko der erste, der seinem „großen Bruder“ einen Dolch in den Rücken stößt. 

    Tatsächlich aber wäre das einzig plausible Szenario, in dem der belarussische Machthaber persönlich einer Teilnahme am Krieg zustimmen würde, der Einzug in Kyjiw als Triumphator auf den Schultern eines überwältigenden Sieges der russischen Truppen. Sozusagen, um rechtzeitig seinen Teil des Kuchens abzubekommen. Aber diese Fantasien wurden schon in den ersten Tagen des Krieges zerstört. Und nichts spricht dafür, dass sie jemals Realität werden könnten. 
     

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