Die Umweltzerstörung ist eine der weniger beachteten Folgen von Russlands Krieg gegen die Ukraine, so sehr sich ukrainische Vertreter und internationale Unterstützer auch bemühen, Hinweise und Belege für einen Ökozid zusammenzutragen.
Fehlgeleitete oder von der Flugabwehr abgeschossene Raketen verursachen Waldbrände. Schützengräben durchziehen ganze Landstriche, je näher man der über 1.200 Kilometer langen Front kommt. Die Sprengung des Kachowka-Staudamms im Juni 2023 trocknete Stauseen aus und veränderte Flussläufe. Explodierende Minen führen zu Feld- und Steppenbränden. Alle Kämpfe verunreinigen Luft, Boden und Grundwasser, besonders wenn der Beschuss Industrieanlagen trifft. Die Kriegsfolgen für die Umwelt sind vielfältig, die Zuordnung von Verantwortlichen oder gar juristischer Schuld schwierig.
Jüngstes Beispiel ist die Verschmutzung zweier Flüsse im Grenzgebiet der Ukraine und Russlands. Diese Gegend hat die Kursk-Offensive der ukrainischen Armee seit Sommer 2024 zu einem neuen, intensiv umkämpften Kriegsschauplatz gemacht. Gerade dort entdeckten Anwohner und Behörden im August tonnenweise tote Fische und Chemikalien im Flusswasser – zunächst im Seim, dann in der Desna. Da Letztere im Norden von Kyjiw in den Dnipro fließt, galt im September gar die Trinkwasserversorgung der Hauptstadt als gefährdet. Spekulationen über den Auslöser reichen von absichtlicher Vergiftung durch Russland bis zu Austritt von Giftstoffen durch Beschuss einer Fabrik in Flussnähe.
Reporter des Onlinemediums Frontliner sind darum die Desna von Kowtschyn im Norden der Region Tschernihiw gen Süden abgefahren und haben sich ein Bild vom Ausmaß der Verschmutzung und den örtlichen Auswirkungen gemacht.
Die Wasserqualität der Desna verbessert sich, der Fluss wird sauberer. Das berichtet im September die Dorfverwaltung in Kulykiwka (Region Tschernihiw). Wie das nationale Umweltministerium bestätigt, verlangsamt sich die Verschmutzung. Belüftungsanlagen sind (zur Wasserreinigung – dek) in Betrieb genommen. Das Schwimmen und Angeln in der Desna ist dennoch weiterhin verboten.
Am 28. August 2024 ereignete sich infolge der Verschmutzung des Flusses Seim eine Umweltkatastrophe. Ausgangspunkt war die Oblast Kursk in der Russischen Föderation, die Quelle der Verschmutzung eine Zuckerraffinerie in Tjotkino, aus der mehr als 5.000 Tonnen Erzeugnisse der Rohstoffverarbeitung ins Wasser gelangt sind, sagt der Direktor des Instituts für Hydrobiologie der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine, Serhij Afanasjew. Nach Angaben der staatlichen Umweltinspektion erstreckte sich die Verschmutzung der Desna über eine Strecke von 242 Kilometern.
Die Einwohner der Regionen Sumy und Tschernihiw waren besonders von der Freisetzung giftiger Substanzen betroffen. Die Gemeinderatsvorsitzende Julija Posternak aus Kulykiwka berichtet:
„Es war furchtbar. Die Desna fließt durch unsere Gemeinde und bestimmt das Leben der Menschen hier. Wir haben sofort alle über die Gefahr informiert, und das Schwimmen sowie das Trinken von Wasser aus dem Fluss verboten. Fünf Tage nach der Verschmutzung begann das Fischsterben. Am schlimmsten war es zehn Tage nach der Verschmutzung: Der Gestank war so stark, dass man keine zehn Meter an den Fluss herantreten konnte. Jetzt ist die Situation besser und das Wasser sauberer.“
Auch Iwan Mychailowytsch, ein Angler aus dem Dorf Kowtschyn, berichtet, was er so noch nie erlebt habe:
„Der Gestank war unerträglich. Es roch wie in der Kanalisation. Das ist nicht normal“, erzählt der Anwohner.
Seitdem regeneriert sich die Desna schrittweise, wie Olena Kramarenko, stellvertretende Ministerin für Umweltschutz und natürliche Ressourcen der Ukraine, einschätzt:
„Am Übergang des Seim in die Ukraine, dort wo die Verschmutzung zuerst festgestellt wurde, hat der Gehalt an gelöstem Sauerstoff im Wasser die Norm von vier Milligramm pro Kubikdezimeter erreicht. Ein Fischsterben wird nicht mehr beobachtet. In der Desna ist die Verschmutzung zurückgegangen. Sie wird punktuell erfasst und ist unterschiedlich stark. In der Oblast Tschernihiw gibt es drei Belüftungsanlagen. In der Oblast Kyjiw werden zusätzliche Belüftungssysteme installiert“, sagt Olena Kramarenko.
Allerdings sei es noch zu früh, das Wasser sicher für den Haushaltsbedarf zu nutzen. Schwimmen und Angeln in der Desna bleiben komplett verboten. Laut Serhij Afanasjew vom Hydrobiologie-Institut werden die Ökosysteme der Flüsse Seim und Desna zwei bis drei Jahre brauchen, um sich zu erholen.
Die durch Russlands Krieg verursachte Umweltkatastrophe betrifft womöglich auch nicht nur die Bewohner der Regionen Sumy und Tschernihiw, sondern kann auch die Qualität des Trinkwassers in der Hauptstadt beeinträchtigen. Die Stadtverwaltung Kyjiw bereitet sich auf das Worst-Case-Szenario vor und legt Vorräte an sauberem Trinkwasser an.
Auch langfristige Vorhersagen darüber, wie sich die Verschmutzung des Flusses Seim auf das Ökosystem der Ukraine auswirken wird, sind noch kaum möglich. Nach Angaben des amtierenden Leiters der staatlichen Umweltinspektion, Ihor Subowytsch, wurden infolge der Verschmutzung aus Russland bereits 31.000 tote Fische geborgen. Die Desna könne sich zwar selbst regenerieren, doch bislang entsprächen die physikalischen und chemischen Parameter des Wassers nicht der Norm. Die ukrainische Agentur für Wasserressourcen und die Umweltinspektion setzen ihre verstärkte Krisenüberwachung des Wasserzustands fort.
Anfang Oktober erklärt das Umweltschutz-Ministerium, dass schon an neun Orten Belüftungsanlagen in Betrieb seien, um weitere Vergiftung der Desna zu verhindern: sechs in der Oblast Tschernihiw und drei in der Oblast Kyjiw. Das Wasser wird dabei künstlich mit Sauerstoff gesättigt, was den Prozess der Selbstreinigung des Flusses unterstützt. Bislang sei für Kyjiw und Umgebung keine Verschlechterung der Wasserqualität für die Verbraucher festzustellen.
In der Oblast Tschernihiw ist das Fischen an der Desna nach wie vor verboten, auch wenn das Massensterben der Fische aufgehört hat. Umweltschützer nehmen weiterhin Wasserproben und untersuchen diese auf mögliche giftige Substanzen, um die Bevölkerung im Falle einer erneuten Kontamination rechtzeitig über die Gefahren der Trinkwasserentnahme aus der Desna zu informieren.
dekoder: Sie haben gerade zwei Monate in Kyjiw verbracht, was ist der Fokus Ihrer Arbeit in der Ukraine?
Sitara Ambrosio: Zusammen mit meiner ukrainischen Kollegin Yana Radchenko arbeite ich an einer großen Recherche über Kriegsverbrechen an queeren Menschen in der Ukraine. Das Projekt wird vom Journalisten-Netzwerk N-Ost unterstützt. Gleichzeitig interessiere ich mich auch grundsätzlich für queeres Leben in der Ukraine und dafür, was sich durch den Krieg verändert hat.
Sind queere Menschen denn besonderes Ziel von Kriegsverbrechen?
Aktuell gibt es keine eindeutigen Belege dafür, dass die russischen Truppen eine Anordnung oder einen Befehl haben, nach LGBT*Q-Personen zu suchen. Aber man muss wohl davon ausgehen, dass man als queere Person einer besonderen Gefahr ausgesetzt ist, Opfer von Folter zu werden, wenn russische Truppen eine Stadt besetzt halten. Beispiele dafür kennen wir etwas aus Cherson. Dort dokumentieren wir aktuell Fälle, bei denen Betroffene aufgrund ihrer Sexualität Misshandlungen erlebt haben. Daran sollte man auch denken, wenn man davon spricht, Teile der Ukraine an Russland abzutreten um des Friedens willen: Menschen, die schwul, lesbisch oder transsexuell sind, könnten dort dann nicht mehr leben.
Eines Ihrer Bilder zeigt einen Rave in Kyjiw. Was ist die Geschichte dazu?
Seit anderthalb Jahren gibt es in Kyjiw eine spannende Veranstaltungsreihe: Sie verbindet traditionelle ukrainische Musik und elektronische Musik. Bei diesem Rave gab es ein DJ-Pult, aber es wurde auch auf traditionellen Instrumenten gespielt. Es ist spannend zu sehen, wie die junge Generation, die so sehr darum kämpft, den Fortschritt in der Ukraine voranzubringen, gleichzeitig an Traditionen anknüpft und sich auf die Suche nach ihren Wurzeln macht. An diesem Abend waren auch viele queere Menschen da. Sie feiern und halten dabei ihre Traditionen hoch. Traditionen aufleben zu lassen und ein fortschrittliches Verständnis von Geschlechterrollen zu leben, muss kein Widerspruch sein.
Kann man das denn auf die ganze Ukraine übertragen?
Man muss schon ehrlich sagen, dass es in der ukrainischen Gesellschaft noch sehr festgeschriebene Geschlechterrollen gibt. Es kann für queere Menschen in der Ukraine auch durchaus gefährlich sein. Sie sind immer wieder Angriffen ausgesetzt. Die Ehe für alle ist in der Ukraine auch noch nicht legal. Das hat im Krieg gravierende Auswirkungen: Einerseits kämpfen ja auch queere Personen an der Front. Aber wenn eine von ihnen fällt, dann hat der Partner oder die Partnerin nicht dieselben Rechte wie Verheiratete. Etwa wenn es darum geht, über den Körper zu verfügen und eine Beerdigung zu organisieren.
Auf dem zweiten Bild sehen wir Teilnehmerinnen eine Pride-Veranstaltung in Charkiw. Die Fassade im Hintergrund trägt Spuren von Geschossen. Ein Pride mitten im Krieg, wie passt das zusammen?
Charkiw ist seit Beginn des Krieges unter Beschuss. Diese Spuren sind Einschlagstellen von Schrapnells. Also wenn irgendwo in der Nähe eine Rakete oder eine Drohne niedergeht, dann werden diese Trümmerteile von der Wucht der Explosion durch die Straßen geschleudert. Tatsächlich sehen die meisten Häuser in der Stadt inzwischen so aus. In diesem Gebäude ist das Büro von Charkiw Pride untergebracht. Es bietet einen doppelten Schutz: Einmal ist ein hinterer Raum als Luftschutzkeller ausgewiesen, bei dem die Menschen bei Alarm Zuflucht finden können. Und zum anderen lassen sich die zwei Türen des Büros doppelt verriegeln, um Schutz vor einem queerfeindlichen Angriff zu bieten.
Eine Loslösung von Russland, wo der Staat offen homophob auftritt, bedeutet also noch nicht automatisch eine liberalere Gesellschaft?
Dieses Land steht gerade auf dem Prüfstand. Eine junge Demokratie wird angegriffen und soll unter den Bedingungen eines Krieges beweisen, wie es weiter geht mit demokratischen Werten und Menschenrechten. Immerhin werden queere Veranstaltungen in der Regel sehr gut von den Behörden geschützt. Dieses Foto ist während des Pride Wochenendes entstanden. Da haben hintereinander drei unterschiedliche Veranstaltungen stattgefunden. Alle mussten von der Polizei geschützt werden. Ohne geht es nicht, weil es immer wieder zu Angriffen durch homophobe rechte Gruppen kommt. Auch die Kyjiw Pride wurde angegriffen. Soweit ich das mitbekommen habe, sind die Behörden aber mittlerweile sehr zugänglich. Die Kommunikation mit der Polizei und mit den Sicherheitskräften ist sehr gut. Das war nicht immer so. Unter den Bedingungen eines Krieges für eine offenere Gesellschaft zu kämpfen, ist extrem schwierig.
In der Kyjiwer Vorstadt Butscha hat sich die erste Freiwilligen-Flugabwehreinheit der Ukraine gegründet, in der nur Frauen dienen: Einerseits, weil es mit dem anhaltenden Krieg immer mehr an Männern mangelt. Andererseits, weil eigene Erfahrungen und Verluste durch den russischen Aggressor seit dem brutalen Massaker an der Zivilbevölkerung im Frühjahr 2022 diese Frauen zur Landesverteidigung motiviert.
Wenn der Arbeitstag als Ärztin oder Lehrerin endet, Kinder und Familie versorgt sind, dann kommen diese Frauen zum Militärtraining und schieben Bereitschaftsdienste bei der lokalen Flugabwehr: Nähern sich russische Drohnen oder Raketen vom Nordwesten der Hauptstadt, stehen die „Hexen von Butscha“ bereit, um die todbringenden Geschosse unschädlich zu machen. Ihre Vorgesetzten im Verteidigungsstab sind weiterhin Männer. Einer von denen sagt: „In Uniform bist du nicht mehr Frau oder Mann, da bist du Kämpfer.“
Ein Reporter-Team des ukrainischen Onlinemediums Frontliner hat die erste Flugabwehr-Frauentruppe bei Militärübungen besucht und stellt einige der Kämpferinnen vor.
Eine zierliche Frau reinigt ein Maschinengewehr und gießt Wasser hinein. Sie erzählt: „Meine Aufgabe ist es, das Maschinengewehr mit Wasser zu füllen, es zu zerlegen und zusammenzubauen, das Wasser abzugießen und die Waffe in Kampfstellung zu bringen.“ Wie ein Maschinengewehr funktioniert, hat sie gelernt, als sie sich der Einheit „Hexen von Butscha“ anschloss, die den Himmel über der Region Kyjiw vor russischen Drohnen und Raketen schützt.
Die Gemeinde von Butscha beschloss aufgrund der demografischen Situation in der Stadt, die ersten mobilen Flugabwehrtrupps in der Ukraine zu bilden, die ausschließlich aus Frauen bestehen. Während der Besatzung von Butscha wurden fast alle Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren, die die Stadt nicht verlassen konnten, umgebracht. Insgesamt wurden in der Stadt mehr als 600 Menschen getötet und zu Tode gefoltert. Die Russen erschossen in Butscha ganze Familien. Nach der Befreiung gingen viele Männer der Stadt an die Front. Der lokale Freiwilligenverband brauchte dann eine Fraueneinheit.
Zu den „Hexen von Butscha” gehören Frauen unterschiedlichen Alters, mit unterschiedlicher Bildung, aus verschiedenen Berufen und mit unterschiedlicher Lebenserfahrung. Doch jede hier sei eine Kämpferin, sagt der Stabschef mit Kampfnamen „Weles“ vom Freiwilligenverband Butscha:
„Männer sind stärker und eher bereit zu vehementem, aggressivem Handeln. Frauen dagegen sind reflektierter, organisierter und verantwortungsbewusster. Unsere ukrainischen Frauen sind Kosakinnen, sie sind vielen Orks überlegen. In Uniform bist du nicht mehr Frau oder Mann, da bist du Kämpfer“, so „Weles“. „Ein Kämpfer zu sein, bedeutet, mehr als Mann oder Frau zu sein. Dann ist man ein Mensch, der Verantwortung für sich selbst, für das Land und für die Menschen übernimmt, die er verteidigt.“
Die Frauen gehen alle drei Tage in den Kampfeinsatz, dadurch können sie den Dienst mit ihrem zivilen Leben verbinden. Manche der „Hexen von Butscha” erziehen neben ihren Einsätzen zum Schutz des Luftraums noch zwei oder drei Kinder und arbeiten Vollzeit. Die Einwohner von Butscha statten den Freiwilligenverband mit Ausrüstung und Waffen aus. Geld bekommen die Kämpferinnen jedoch nicht, denn sie tun ihren Dienst bei der Flugabwehr als Freiwillige.
Die zwei unzertrennlichen Freundinnen „Mala” und „Forsash” sind gemeinsam der mobilen Flugabwehrtruppe beigetreten. Gemeinsam trainieren sie nun, Sturm- und Maschinengewehre zu reinigen, zu laden, damit zu schießen und in Abschnitten zu patrouillieren. Neben ihrem Dienst bei den „Hexen von Butscha” arbeiten sie in einem Krankenhaus.
„Mala“ [ukr. die Kleine] ist Maschinengewehrschützin und lernt schnell den Umgang mit der Waffe. Es ist ein Maschinengewehr aus dem Jahr 1944, noch aus Zeiten des Zweiten Weltkriegs. Sie nennt es liebevoll „Maximka“. Obwohl es aus dem letzten Jahrhundert stamme und ein vormodernes Wasserkühlsystem habe, schieße es gut, wenn es richtig gewartet werde, meint sie.
„Mala“ trainiert seit einem Monat bei den „Hexen von Butscha”. Als der Freiwilligenverband die Rekrutierung von Frauen zur Flugabwehr ankündigte, schloss sie sich ihm sofort an. „Ich wollte schon länger dienen, denn in meiner Familie sind viele bei der Armee, aber ich kann nicht zu den Streitkräften gehen, weil ich als Ärztin in einem Krankenhaus arbeite“, sagt sie.
Eine zusätzliche Motivation, sich der mobilen Flugabwehrgruppe anzuschließen, war die schwere Verletzung ihres Freundes, der im Serebrjanka-Wald durch eine Mine sein Bein verlor. Ihr Freund bestärkte ihre Entscheidung, sich freiwillig zu melden, und plant auch selbst, nach der Rehabilitation seinen Dienst bei „Asow” fortzusetzen.
Mit „Mala” im Team arbeitet „Forsash”. Sie dient als Ladeschützin und Fahrerin. Bei einem Luftangriff muss sie schnell das Maschinengewehr laden und in Gefechtsstellung bringen. Ihren Kampfnamen (ukrainischer Titel des Films „Fast & Furious” – dek) gab ihr der Waffenmeister, als er das erste Mal mit ihr als Fahrerin unterwegs war.
„Forsash“ meint, dass Schnelligkeit für die mobilen Flugabwehrtrupps essentiell sei, da die Shahed-Drohnen sehr schnell fliegen (etwa 200 Stundenkilometer – dek). Nur wenn man die Position rechtzeitig erreicht, kann man sie abschießen.
„Forsash“ kam vor einem Monat zu der Flugabwehreinheit, um ihre Angehörigen zu schützen. „Niemand möchte, dass seine Wohnung von einer Rakete getroffen wird. Ich habe hier meine Brüder, Schwestern, Freunde, Pateneltern und Patenkinder in Butscha“, sagt sie. Sie mag es, etwas Nützliches zu tun und freut sich, dass sie ihren Dienst im Freiwilligenverband mit ihrer Arbeit als Anästhesistin auf der Intensivstation im Krankenhaus von Irpin verbinden kann.
Sowohl „Mala” als auch „Forsash” arbeiteten während der Kämpfe um Butscha und unter russischer Besatzung weiter in der medizinischen Einrichtung. Nun sind sie froh, dass sie ihren Militärdienst mit ihrem Beruf verbinden können. Es sei zwar anstrengend, im Krankenhaus und in der Territorialverteidigung Schichten zu absolvieren. Dennoch sagen die Frauen, dass sie sich daran gewöhnt hätten und mit diesen Schwierigkeiten fertig würden.
„Tajana”, 41 Jahre
Während der Kämpfe um Butscha verlor „Tajana” ihren Mann, der seinen Beruf als Journalist aufgegeben und sich am ersten Tag der Invasion als Freiwilliger der Territorialverteidigung angeschlossen hatte. Ihre Mutter starb aufgrund der ständigen Stressbelastung durch die Kämpfe und auch ihr Schwager kam ums Leben. Während der Besatzung von Butscha wurde ihr Haus und auch das ihrer Eltern zerstört, sodass sie selbst ohne Dach über dem Kopf zurückblieb. Nach dem Tod ihrer Liebsten wollte „Tajana” sich den ukrainischen Streitkräften anschließen, was man ihr jedoch wegen ihrer Traumatisierung zunächst verwehrte.
Heute trainiert „Tajana” bei den „Hexen von Butscha” und arbeitet außerdem als Prüferin beim Wasserversorgungsunternehmen. Auch sie sagt, dass es schwierig sei, die Arbeit, ihren Dienst im Freiwilligenverband und die Erziehung ihrer 14-jährigen Tochter unter einen Hut zu bringen. Das Schwierigste sei jedoch nicht die körperliche Erschöpfung, sondern das Unverständnis vieler Menschen: „Nachdem ich mich hierzu entschied, sagten mir Leute: ,Hast du sie noch alle’, ‚Du hast Kinder‘, ‚Warum hast du das gemacht‘, ‚Dein Hauptberuf ist wichtiger, als den Staat zu schützen‘. In solchen Momenten wende ich mich ab und gehe, denn der Schutz unseres Staates ist für mich das Wichtigste, was wir haben.”
„Sie verstehen nicht, dass es ohne Sicherheit auch ihren Beruf nicht mehr gibt”, sagt „Tajana” mit Tränen in den Augen. „Wenn es keine Ukraine mehr gibt, gibt es keine Arbeit, kein Leben, einfach nichts. Nur dank uns Freiwilligen, den Helfern und den Frauen und Männern an der Front, haben sie Arbeit, können schlafen und ihr Leben weiterleben.“
Für „Tajana” war die Entscheidung, sich dem mobilen Flugabwehrtrupp anzuschließen, durch ihren persönlichen Schmerz bestimmt. Sie sagt, das Training bei den „Hexen von Butscha” habe ihr nach dem Tod ihres Mannes gutgetan. Nun habe sie das Gefühl, endlich wieder zu leben.
„Cherry”, 51 Jahre
„Cherry” ist durch Zufall bei den „Hexen von Butscha” gelandet. Eigentlich fuhr sie ihre Freundin zu einem Gespräch mit dem Kommandeur und beschloss dann kurzerhand, selbst dem Freiwilligenverband beizutreten.
Jetzt dient sie in der Einheit als operative Einsatzleiterin, fährt auf dem Territorium Patrouille und meldet Gefahren. Gleichzeitig arbeitet „Cherry” als Mathematik- und Informatiklehrerin und hat drei Kinder. Sie sagt, dass es schwierig werde, wenn im September die Schule beginne, doch sie möchte etwas zur Gemeinschaft beitragen.
Trotz der körperlichen Herausforderungen genießt „Cherry” ihre Zeit bei den „Hexen von Butscha”. Sie sagt: „Jede hier ist sie selbst, man unterstützt und hilft sich gegenseitig.“ Jeder Ukrainer sollte seinem Land größtmöglichen Nutzen bringen. „Wenn jeder das Land wirklich liebt und schätzt und nicht so tut, als gehe ihn all dies nichts an, wenn jeder ein echter Patriot ist, dann werden wir auf jeden Fall gewinnen. Man darf einander nicht hängen lassen, sondern muss sich nach eigenen Kräften so gut wie möglich unterstützen“, so „Cherry”.
Sie ist froh, dass ihre Familie und Freunde ihre Entscheidung für die Territorialverteidigung unterstützen, und glaubt, dass auch ihre Schüler stolz auf sie sein werden.
„Kalypso“, 31, Kommandeurin der „Hexen von Butscha”
„Kalypso” kam als erste Frau zum Freiwilligenverband in Butscha. Mit ihr begann die Gründung der Fraueneinheit. Deshalb wurde sie zur Kommandeurin ernannt.
Als die vollumfängliche Invasion begann, brachte sie ihre Mutter an einen sicheren Ort und griff selbst zur Waffe. Zunächst arbeitete „Kalypso” in einer schnellen Eingreiftruppe, welche die Gegend patrouillierte und Bombenschutzkeller kontrollierte, um sicherzustellen, dass sie während der Luftalarme nicht verschlossen waren. Außerdem beteiligte sie sich an der Bekämpfung von Saboteuren. Jetzt bildet sie neue Freiwillige aus, um den Himmel über der Region Kyjiw zu schützen.
Vor dem Krieg leitete Kalypso die Serviceabteilung einer Ladenkette, die Türen verkauft und arbeitete als Restaurantmanagerin. „Jetzt habe ich keine Zeit mehr für das zivile Leben und widme mich ganz meiner Arbeit im Freiwilligenverband. Es wäre toll, wenn in der ganzen Ukraine Frauen ihre Familien schützen könnten. Wir arbeiten im Team. Jede einzelne ist für die anderen da“, erzählt sie.
„Kalypso” ermutigt andere Frauen, sich den „Hexen von Butscha” anzuschließen. Sie sagt: „Wir haben zwar Waffen, aber nicht genügend Hände, um sie zu bedienen, also suchen wir ständig nach Freiwilligen. Viele Männer haben Angst, dass sie zur Armee eingezogen werden, wenn sie sich beim Freiwilligenverband melden, also rekrutieren wir Frauen.“
Laut Stabschef „Weles“ machen Frauen bereits mehr als die Hälfte im gesamten Freiwilligenverband von Butscha aus. Ihre Zahl ist jedoch nicht ausreichend, weshalb die Rekrutierung fortgesetzt wird, um die „Hexen von Butscha” aufzustocken.
„Weles” ist stolz auf die Frauen, die sich dem mobilen Flugabwehrtrupp angeschlossen haben: „Dank ihnen können die meisten Menschen in Kyjiw und unsere Bewohner in Butscha friedlich in ihren Häusern schlafen und reagieren oft nicht einmal mehr auf Luftalarm.“
Wem gehört der Chaladnik? Woher stammt der Krupnik? Was sind Kalduny? In einem Beitrag auf Radio Svaboda entführt der Historiker Alex Bely in die belarussische Küche und ihre komplexen kulturhistorischen Ursprünge. Zum Schluss gibt es nicht nur schmackhafte Erkenntnisse, sondern auch noch ein Rezept.
Die dekoder-Redaktion wünscht smatschna jeszi! Guten Appetit!
Mit einem Artikel über Chłodnik Litewski (wörtlich: Litauische Kalte Suppe) handelte sich The New York Times in Litauen und Polen eine Flut von Kommentaren ein. Ursache war, dass dieses auch in Belarus sehr beliebte Gericht als polnisch bezeichnet wurde. Die länderübergreifende Diskussion in den sozialen Netzwerken dauerte über eine Woche an, auch Belarussen beteiligen sich daran. Der Historiker Ales Bely weist darauf hin, dass die traditionellen Speisen der Völker der Rzeczpospolita eine relativ gemeinsame Geschichte haben, es aber viele Speisen gibt, die Kontroversen hervorrufen.
„Wenn wir jemandem ein Gericht zuschreiben, geht es gar nicht so sehr um die Rezepte. Es geht vielmehr um die Frage der ‘Verankerung’ in einer Kultur. Dass man es hier mehr kocht als da“, sagt der Historiker. Seiner Ansicht nach litt die traditionelle belarussische Küche am stärksten während der belarussischen Unabhängigkeit und in der Sowjetzeit. Damals wurde neben der Umgangssprache auch die Alltagskultur russifiziert. Die Belarussen nutzten die Unabhängigkeit nicht als Chance, um ihre eigene kulturelle Marke zu stärken.
„Die Alltagskultur, die die nationalen Besonderheiten markiert, wurde verwischt. Sie war zwei Globalisierungstendenzen ausgesetzt: der allgemeinen und der des Russki Mir. Man hätte sich dem widersetzen können, doch es fehlte an Institutionen. Niemand lehrt oder studiert kulturwissenschaftliche Phänomene der nationalen Küche an der Universität. Wir haben auch keine Kochkurse, die auf die nationale Küche spezialisiert sind“, sagt Bely.
Um ein traditionelles Gericht einer Nation zuzuordnen, meint der Experte, muss man nicht nur die historischen Grundlagen berücksichtigen, sondern auch den Status des Gerichts in der heutigen Gesellschaft: ob es als nationale Marke etabliert ist. 2024 gab Ales Bely das Buch Samy Zymus (dt. etwa: Der süße Kern) heraus, in dem er die Speisen der belarussisch-jüdischen Küche detailliert beschreibt, darunter auch jene, die wir im Folgenden vorstellen.
Chaladnik (Kalte Rote-Beete-Suppe)
Den Chaladnik könnten auch die Ukrainer für sich beanspruchen, erzählt Ales Bely. Wobei die ukrainische Küche wiederum die russische stark beeinflusst habe. Chaladnik servierte man auch in der historischen Region Lettgallen und bei Juden im Großfürstentum Litauen. Diese nannten ihn kalte buretschkes (kalte Rote Beete). Der Historiker räumt ein, dass er in der Chaladnik-Frage eher auf litauischer Seite stehe, meint aber, dass es kein ausschließlich litauisches Gericht sei.
„Mickiewicz schreibt vom ‘chłodnik litewski’. Dreimal wird diese Speise in Pan Tadeusz erwähnt. Ihm war egal, ob er Pole oder Litauer war, das waren für ihn zwei Seiten seiner Identität.“ Dem Historiker zufolge war das Epizentrum des Chaladnik das historische Litauen – ein großer Teil des heutigen Litauen und das belarussische Njomangebiet. Die Litauer machen den Chaladnik lieber mit Kefir, sagt Bely. Man könne sogar speziellen Kefir für Chaladnik kaufen, der schon Gurken und Dill enthält. In Belarus bereite man Chaladnik lieber mit saurer Sahne (Smjatana) zu.
„Die Litauer waren immer stolz auf ihren Chaladnik. Es gibt sogar ein Sommerfestival in Vilnius, das dem Gericht gewidmet ist, und der Chaladnik wurde auf europäischer Ebene als nationales Kulturerbe Litauens anerkannt. Das erfordert intellektuellen, organisatorischen und emotionalen Einsatz. Die Menschen beteiligen sich an der Etablierung des Chaladnik als zutiefst litauisches Phänomen“, sagt der Historiker. Belarus könnte seiner Meinung nach den Chaladnik genauso beanspruchen wie die Litauer.
„Aber Belarus tut nichts dafür. Man kann solche Fragen nicht durch respektlose Diskussionen in den sozialen Netzwerken lösen. Ich verstehe, warum sich die Litauer über die Polen ärgern. Die Polen haben die Tendenz, die Beteiligung anderer Völker an der Rzeczpospolita zu vergessen. Als sei die Rzeczpospolita per se mit Polen gleichzusetzen und alles, was dazugehörte, polnisch.“
Bazwinnje (Rübenkrautsuppe)
Bazwinnje oder Bazwinnik ist eine Suppe aus dem Kraut und den Knollen junger roter Rüben [die übrigens auch mit Mangold verwandt sind, Anm. d. Ü.], die heiß oder kalt serviert werden kann. Es hat vor allem auf dem Gebiet des historischen Litauens Tradition. „Eine lange Zeit, im 17. und 18. Jahrhundert, empfanden es die Polen als Barbarei, dass die Litauer Rübenkraut kochten. Es stellte sie für die Polen auf eine Stufe mit den Schweinen. Sie nannten die Litauer und Belarussen deshalb abwertend boćwiniarze (dt. etwa Rübenkrautler)“, erzählt der Historiker.
„Im 19. Jahrhundert eigneten sich die Polen die Bazwinnje dann ebenfalls an. Heute sind sie überzeugt, dass es ihr Gericht ist, obwohl sie es früher nicht mochten und Späße darüber machten“, fügt Bely hinzu. „Auf Radziwiłłs Scholle erwuchs die rote Knolle, nicht ein Kanten Brot“, zitiert er eine polnische Redensart.
Krupnik (Graupensuppe)
Die Graupensuppe Krupnik ist wohl die unter den Völkern der Rzeczpospolita am weitesten verbreitete Suppe. Die wichtigste Zutat sind Graupen, die aus Gerste, Hirse oder Roggen sein können. Hinzu kommen Möhren oder Pilze. Fleisch ist in der Regel nicht enthalten, es ist ein Armeleuteessen. Man bemühte sich, „Weißes“ hinzuzufügen, wenn nicht saure Sahne, dann wenigstens Milch. Keinesfalls sollte man den Krupnik mit dem gleichnamigen alkoholischen Getränk verwechseln.
In Belarus wird die Bezeichnung Krupnik heute kaum noch verwendet, merkt unser Gesprächspartner an. Er erinnert sich, dass ein Betrieb in Lida eine Fertigmischung für diese Suppe herstellte, sie aber „Perlgraupen-Pilz-Suppe“ nannte. „Die Belarussen wissen in diesen Streitigkeiten oft nicht, worum es überhaupt geht, weil gar nicht alle die Bezeichnung, wie hier Krupnik, kennen“, meint Bely.
Bulbjanaja Kischka (Kartoffelwurst)
Ales Bely ist der Ansicht, dass dieses Gericht aus Belarus stammt. In Polen wird es vorwiegend in Podlasie gekocht, „das noch vor Kurzem belarussisch war“, sagt der Historiker.
„Das Wort kischka (dt. eigentlich Darm, Schlauch) ist nicht polnisch. Auch das ist ein Armeleuteessen: Aus Mangel an Fleisch macht man eine Wurst aus Kartoffeln und Griebenspeck“, erläutert Bely. Aber auch in diesem Fall, macht man in Polen das bessere Nationalgerichte-Marketing. „Die Polen veranstalten eine Weltmeisterschaft im Kartoffelwurst- und Kartoffelkuchenmachen in Supraśl (einer Kleinstadt bei Białystok, Anm. d. Red.), einer einstigen Bastion der belarusssischen Kultur“, erklärt Ales Bely.
Schmorkraut mit Pilzen
Das ist eines der ältesten bekannten Rezepte der belarussischen und litauischen Küche. In Vilnius wird es Mitte des 17. Jahrhunderts erwähnt, auch in Schriftstücken des Magistrats von Mahiljou taucht das Gericht im 17. Jahrhundert auf.
Früher haben sich die Polen über die Speise lustig gemacht, unterstreicht der Historiker, da, wie sie fanden, Kulturgemüse und Waldfrüchte nicht zusammenpassten. Später eigneten sie sich das Gericht doch an. Schmorkraut beeinflusste das heutige (polnische Nationalgericht) Bigos. Früher wurde als Bigos einfach Hackfleisch oder -fisch bezeichnet und erst mit der Zeit kam das Kraut hinzu. Später wurde Schmorkraut mit Pilzen als Füllung verwendet, zum Beispiel für Kalduny oder Knyschy (ein belarussisches Gericht: kleine Teigtaschen für ein, zwei Bissen).
Kalduny (Gefüllte Teigtaschen)
Als Kalduny bezeichnet man traditionell kleine Teigtaschen, sagt der Historiker. „Ich habe eine Postkarte von 1975 aus einem Moskauer Verlag, der in einer Auflage von einer Million ein Kartenset zur belarussischen Küche herausgab. Sie zeigt eine Bouillon mit Kalduny – Teigtaschen wie Pelmeni. Heute findet man in Litauen in jedem beliebigen Supermarkt koldunai – dieselben Tiefkühlbeutel wie Pelmeni“, erzählt Bely.
Seiner Ansicht nach haben die Belarussen vergessen, dass dieses Essen eigentlich Kalduny heißt. Heute nennt man es eher Draniki (dt. Kartoffelpuffer) mit Fleischfüllung.
Wahrscheinlich waren es die Tataren, die die Kalduny ins Großfürstentum Litauen und die Rzeczpospolita brachten, sagt der Historiker. Es war ein Klumpen in Teig gewickeltes Fleisch, ursprünglich Hammel oder eine Mischung aus Lamm- und Rindfleisch. Später konnte die Füllung auch aus Fisch oder Kartoffeln mit Griebenspeck bestehen.
Bei den Tataren gab es Bräuche rund um die Kalduny. Man versuchte etwa, einen Pfeifton zu erzeugen, indem man die Teigtasche mit der Zunge geschickt an den Gaumen drückte, sodass die Luft entwich. Und fünf Kalduny mit Brühe mussten reichen, um sich satt zu essen. Das heißt, sie waren größer als Pelmeni. Ales Bely fügt hinzu, dass heute auch ein drittes Gericht Kalduny genannt wird: mit Fleisch gefüllte Kartoffelklöße. In Polen nennt man sie kartacze, in Litauen cepelinai und in Belarus, wo sie vor allem im Gebiet der Dswina Tradition haben, auch kljozki s duschami – „Klöße mit Seele“.
Subrouka (Wisentwodka)
Subrouka ist ein alkoholisches Getränk auf Kräuterbasis mit einem Alkoholgehalt von 40 Volumenprozent. Es wurde ursprünglich in der Belaweshskaja Puschtscha hergestellt, im polnisch-belarussischen Grenzland. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war es bei Jägern und Förstern während der Wisentjagd beliebt, erzählt der Historiker. Die Polen machten Subrouka – Żubrówka – zur international bekannten Marke, die bei hochprozentigen Spirituosen weltweit den dritten Verkaufsrang hält.
„Seit mehr als 30 Jahren ist Białystok im unabhängigen Polen das Marketingzentrum für Żubrówka. Die Polen pushen ihn mit Videos und Barkeeper-Wettbewerben. Sie haben enorm investiert“, erklärt der Experte.
Auch in Belarus wird ein Getränk hergestellt, das Żubrówka ähnelt, aber der Name wird nicht mehr verwendet, da sich beim Zerfall der UdSSR eine russische Firma die Rechte zur Subrowka-Herstellung gesichert hat. In Belarus heißt er jetzt: Subrowatschka, Bazkawa subrowatschka, Belarusskaja dubrawa.
Ales Belys Chaladnik-Rezept
Gekochte Rote Beete und frische Gurken grob reiben.
Schnittlauch oder Zwiebellauch klein schneiden. Man kann auch Dill und geriebene Radieschen zugeben.
Alle Zutaten mit Salz vermengen. Mit Kefir und Mineralwasser übergießen. Mit gekochtem Ei und Eiswürfeln servieren.
Die russischen Besatzungsbehörden setzen an ukrainischen Schulen in den okkupierten Gebieten zunehmend eigene Lehrinhalte durch: Ukrainisch als Unterrichtssprache stirbt, auf dem Programm stehen vermehrt Militarisierung und anti-ukrainische Propaganda. Es gibt zahlreiche Meldungen über Drohungen, Haft und Folter an Lehrpersonen und Lernenden, die sich geweigert hatten, die oktroyierten Änderungen umzusetzen.
Laut Schätzungen vom April 2023 leben rund eine Million ukrainische Kinder im schulpflichtigen Alter in den von Russland besetzten Gebieten. Die Russifizierung des ukrainischen Bildungssystems verstößt unter anderem gegen ihr Recht auf Bildung. Etwa 62.400 Kinder nehmen laut ukrainischem Bildungsministerium weiterhin am Online-Unterricht von ukrainischen Sekundarschuleinrichtungen teil. Sie begeben sich in unmittelbare Gefahr und müssen zahlreiche Vorsichtsmaßnahmen ergreifen. iStories fragt, wie Kinder aus Nowa Kachowka und Melitopol weiterhin an ukrainischen Schulen lernen.
Foto / Collage: istories
In den vorübergehend besetzten Gebieten der Ukraine gibt es 901 Schulen. Ein Teil davon wurde geschlossen, in anderen geht der Unterricht mit Lehrbüchern aus Russland weiter. Es gibt aber auch Schulen, in denen weiterhin nach den Standards des ukrainischen Bildungssystems unterrichtet wird, und zwar online.
Diese Schulen zu besuchen, wenn man sich in den besetzten Gebieten befindet, ist gefährlich. Deshalb verstecken die Eltern die USB-Sticks mit den Hausaufgaben und Lehrmaterialien und ziehen sogar aus der Stadt aufs Land, um den Kontrollen zu entgehen.
Wie sich für Kinder in den besetzten Gebieten seit 2022 das Schulwesen verändert hat, berichten die Direktorin eines Lyzeums in Nowa Kachowka und eine Lehrerin eines landwirtschaftlichen Lyzeums in Melitopol.
„Die Kinder müssen vor allem erzogen werden, erst dann kommt der Unterricht.“
Iryna Dubas begann ihre Karriere als Lehrerin für Grundschulklassen und leitet jetzt das Lyzeum Nr. 3 in Nowa Kachowka. Als sie noch stellvertretende Direktorin des Lyzeums war, machte sie ein Volontariat in den USA, um die dortigen Methoden kennenzulernen. Sie war beeindruckt, dass die Kinder in amerikanischen Schulen selbst entscheiden, was sie lernen, und dass die Lehrkräfte ihnen wie auf Augenhöhe begegnen. Als Direktorin veränderte sie den Bildungsansatz in ihrer Schule. Sie begann mit der Inneneinrichtung: Die Gänge wurden neu gestrichen, es wurden Blumentöpfe aufgestellt, in den Klassenräumen bekamen die Schüler Einzeltische, damit jeder seinen persönlichen Bereich hat.
„Die Reinigungsfrauen haben sich heftig beschwert: ‚[Iryna] Petrowna, die Kinder haben alle Spiegel beschmiert!‘ und ‚Petrowna, die Kinder haben die Blumentöpfe umgeworfen!‘ Ich habe da immer ruhig reagiert: ‚Das ist normal. Das heißt nur, dass die Spiegel geputzt und die Pflanzen in Ordnung gebracht werden müssen. Wir werden das so lange machen, bis sich die Schüler dran gewöhnt haben.‘ Ein paar Monate später hat niemand mehr die Blumen angerührt oder etwas auf die Spiegel geschrieben.“
Die wichtigste Veränderung war der Umgang mit den Schülern: „Ich wollte, dass die Kinder fröhlich sind, dass sie zu Hause erzählen, was sie gelernt haben und wie sehr ihnen das gefallen hat. Ich habe die Lehrerinnen eindringlich gebeten, mit den Kindern tolerant und diplomatisch umzugehen, sie wie gleichberechtigt zu behandeln, und ihnen mehr Freiheiten zu lassen. Den Lehrern der älteren Generation missfiel das, ein Teil von ihnen ging. Dafür waren die Kinder glücklicher.“
Foto / Archiv Irina Dubas
Einen ähnlichen Ansatz verfolgt auch Anna But. Sie hat im Landwirtschaftlichen Lyzeum Melitopol Biologie, Deutsch und politische Bildung unterrichtet:
„Die Kinder müssen vor allem erzogen werden, erst dann kommt der Unterricht. Ich kann tausend Mal etwas aus dem Lehrbuch wiederholen, aber wenn die Kinder keinen Spaß am Unterricht haben, ist das nichts wert. Deswegen bin ich im Biologieunterricht mit den Kindern an den See neben dem Lyzeum gegangen, damit sie sich selbst alles ansehen können, anfassen können, begreifen können. Und bei der politischen Bildung sind wir ins Stadtzentrum gegangen, wo eine riesige Flagge hing. Ich fragte die Kinder, welche Emotionen das bei ihnen auslöst, und erzählte von meinen eigenen Gefühlen.“
„Alle stehen mit Taschen da und schreien ‚Es ist Krieg!‘ “
Vom Beginn des großangelegten Krieges erfuhr Anna praktisch von den Schülern. Sie traf morgens auf dem Weg zur Arbeit einen Nachbarn, der sagte, dass die russische Armee den Flugplatz von Melitopol bombardiert. Anna glaubte ihm nicht, dachte nur, der Mann habe wieder mal einen über den Durst getrunken. Sie ging in ihre Klasse, schrieb auf Deutsch das Datum ‚24. Februar‘ und hörte Lärm aus dem schuleigenen Internat: ‚Alle stehen mit Taschen da und schreien ‚Es ist Krieg!‘. Ich geh zum Fernseher und sehe, dass es überall in der Ukraine brennt, überall gibt es Luftangriffe; die Sprecher reden von einer großangelegten Invasion.“ Die Direktorin stellte auf Online-Unterricht um, damit Schüler und Lehrer nicht ins Gebäude des Lyzeums kommen müssen. Am 26. Februar wurde Melitopol von der russischen Armee besetzt.
Ab dem 28. Februar ging sie zusammen mit ihrer Tochter, mit Kollegen, Schülern und anderen Bewohnern der Stadt jeden Tag zu den Protesten. Als das Militär begann, Aktivisten gefangen zu nehmen, und es nicht mehr möglich war, in Massen zu protestieren, verteilte Anna in der Stadt Flugblätter und Bändchen in den Farben der ukrainischen Flagge. Sie versuchte auch, ihre Schüler zu unterstützen: „Jetzt war ich nicht mehr Lehrerin, sondern Psychologin. Wir trafen uns mit den Schülern und ihren Eltern bei mir zuhause oder am See in der Nähe des Lyzeums. Ich sagte, alles werde gut, man müsse sich nur zusammenreißen und durchhalten. Mit denjenigen, denen die Flucht gelungen war, telefonierte ich. Ich habe den Schülern gut zugeredet, dass sie jetzt ruhig bleiben und auf sich aufpassen sollen.“
Anna und ihre Tochter protestierten jedoch weiter. Sie machten keinen Hehl aus ihrer proukrainischen Haltung und berichteten in den sozialen Netzen, was in Melitopol vor sich geht. Nach einer Weile bekamen die Frauen Drohungen. Sogar Bekannte schrieben ihnen: ‚Schmort in der Hölle, ihr ukrainischen Schlampen.“ Zu jener Zeit wurden bereits proukrainische Aktivisten entführt, umgebracht und durch die „Keller“ geschickt. Als sie befürchten mussten, denunziert zu werden, verließen die beiden im April 2022 Melitopol.
Foto / Archiv Anna But
Iryna Dubas blieb bis zum August 2022 in Nowa Kachowka. Sie war am 24. Februar gerade in einem Krankenhaus bei Kyjiw gewesen, als ihr Stellvertreter anrief und sagte, in der Stadt gebe es Explosionen und die Kinder seien zusammen mit ihren Eltern zur Schule gekommen. Iryna ordnete an, alle aufzunehmen: In der Schule gab es einen großen Kellerraum, in dem man vor den Angriffen Schutz suchen konnte.
Am nächsten Tag wurde in der Schule der Unterricht offiziell eingestellt; der Keller fungierte aber weiter als Luftschutzraum. Iryna beschloss, in die Oblast Cherson zurückzukehren. „Ich musste stark sein. Mein Stellvertreter war in Panik, die Eltern riefen an, und ich sollte allen mit fröhlicher Stimme sagen, dass alles gut wird.“
Die Oblast Cherson war bereits besetzt. Iryna konnte erst am 14. März nach Nowa Kachowka zurückkehren, als eine Überquerung des Dnipro möglich wurde. Zusammen mit den anderen Lehrerinnen ging sie täglich in die Schule. Sie machten mit dem Unterricht weiter, allerdings online.
Im April veranstaltete Wladimir Leontjew, das von den Besatzungsbehörden eingesetzte „Stadtoberhaupt“, eine Sitzung. Er versammelte die Direktoren aller Schulen und Kindergärten von Nowa Kachowka. Dort versprach er hohe Gehälter und erklärte, Bildung für die Kinder sei wichtiger als jeder Konflikt. Der Unterricht müsse jetzt aber in russischer Sprache erfolgen, und mit Lehrbüchern aus Russland.
Iryna lehnte das sofort entschieden ab. Im Juli, als sie die Schule auf das neue Schuljahr vorbereitete, kamen Vertreter der neuen, prorussischen Verwaltung zu ihr, begleitet von bewaffneten Männern.
„Das war [Wjatscheslaw] Resnikow, der ehemalige Direktor der Schule Nr. 10. Den hatten die Besatzer zum Leiter der Bildungsverwaltung ernannt. Mit ihm war Sorjana Us gekommen, die sogenannte Pressesprecherin des ‚Gauleiters‘ und dann drei Typen mit Maschinenpistolen, arme Bengel, die kaum so groß waren wie ihre Knarren.
Sorjana und Wjatscheslaw setzten sich, die mit den MPs bauten sich hinter mir auf. Resnikow fing an: ‚Sie sollten mitmachen, Iryna Petrowna. Bei Ihnen läuft alles so gut, sie sind so fortschrittlich. Unsere [die Russen] haben schon fast Mykolajiw und Odessa eingenommen, das ist halt so. Wir sind für die Bildung zuständig. Wenn Sie nicht wollen, werden das andere Direktoren machen.‘ Er gab mir zwei Wochen Bedenkzeit. Für mich war da gar nicht dran zu denken. Ich wollte auf keinen Fall dieses Russland; ich glaubte an den Sieg und war bereit, meine Schule bis zum Letzten zu verteidigen.“
Den Sommer über sammelte das Lyzeum neue Schüler und bereitete den Online-Unterricht auf Ukrainisch vor. Dann wurde die Schule durchsucht und am 18. August wurde Iryna gefangengenommen.
Auf der Polizeiwache wurde sie in die „Zelle“ gebracht; in einen Raum wo früher die Passstelle war. Es gab auch andere Gefangene: die Direktorin des Lyzeums Nr. 2 in Nowa Kachowka, Oksana Jakubowa, und ehemalige Mitarbeiterinnen der Stadtverwaltung. Die Frauen hatten praktisch nichts zu essen und zu trinken. Ein altes Dreiliterglas diente als Toilette. Aus Gesundheitsgründen musste Iryna täglich Spritzen bekommen. Jakubowa half ihr dabei.
Jeden Tag wurde Iryna zu „Gesprächen“ mit einem Mitarbeiter des FSB geführt, der Umar genannt wurde. Seinen wirklichen Namen kennt Iryna nicht:
„Er fragte mich, ob ich nun endlich bereit sei, die Schule ins russische Bildungssystem zu überführen. Er drohte mir, sagte, dass ich 15 Jahre kriege, wenn ich in Russland ukrainische Bildung verbreite. Er beschuldigte mich, Artillerieziele auszuspionieren, und dass meinetwegen ein Dorf beschossen wurde. Mich haben sie zwar nicht angerührt, aber die anderen Frauen wurden mit Strom gefoltert; mir sagten sie, ich wäre als Nächste dran“, erinnert sich Iryna.
Am 23. August, am fünften Tag ihrer Gefangenschaft, holte Umar sie wieder zum Verhör: Sie solle alle Geräte (Fernseher, Tablets und Laptops) einsammeln und Lilija Grischagina übergeben, damit diese zum neuen Schuljahr das Lyzeum Nr. 1 aufmachen könne. Erst dann wurde Iryna freigelassen. Sie floh nach Kyjiw.
„Nach all dem wandte ich mich an eine Psychotherapeutin und Psychiaterin, weil es Dinge gibt, die ich nur einem fremden Menschen erzählen kann, der sie dann tief in sich vergräbt. Ich dachte, die Zeit würde den Schmerz lindern, aber der will nicht verschwinden“, erklärt Iryna.
Foto / Archiv Irina Dubas
„Es wird immer schwieriger, sich zu verstecken“
Am 26. August, ihrem ersten Tag in Kyjiw, brach Iryna in Tränen aus – zum ersten Mal seit Beginn des großangelegten Krieges. Am Abend legte sie sich Teebeutel auf die geschwollenen Augen, nahm Baldrian und legte sich schlafen. Am nächsten Morgen machte sie sich sofort wieder daran, ihr Lyzeum aufzubauen.
Sie erkundigte sich, wer von den Lehrkräften mitmachen will, fand neue Mitarbeiter, teilte Klassenlehrerinnen ein und kontaktierte die Eltern der Schüler. „Ich konnte meine Schule nicht im Stich lassen. Ich hatte das Gefühl: Ich habe Gefangenschaft und Besatzung überstanden, also schaffe ich alles auf der Welt“, sagt Iryna.
Bis zum 1. September 2022 hatte Irynas Lyzeum Nr. 3 in Nowa Kachowka 647 Schüler für den Online-Unterricht beisammen, von denen sich ein Großteil im Ausland oder unter Besatzung befand. Vor der Vollinvasion waren hier 637 Schüler zur Schule gegangen.
Fernunterricht hatte man schon während der Corona-Pandemie eingeübt, doch neue Herausforderungen kamen hinzu. Aus Sicherheitsgründen unterrichteten an diesem Lyzeum ausschließlich Lehrende, die sich auf ukrainisch kontrolliertem Gebiet oder im Ausland aufhielten.
Die Familien in den besetzten Gebieten mussten lernen, für sich und ihre Kinder ein sicheres Lernumfeld zu schaffen, um nicht von russischen Sicherheitskräften entdeckt und verfolgt zu werden. Dafür zogen viele von der Stadt aufs Land, wo es praktisch keine Militärs und keine Hausdurchsuchungen gab.
Auch das Landwirtschaftliche Lyzeum von Melitopol setzte seinen Betrieb online fort, ebenfalls mit Schülern, die unter der Besatzung lebten. Zu persönlichen Treffen kamen die Lehrkräfte in Saporischschja zusammen.
Im Schulgebäude in Melitopol wird der Unterricht fortgesetzt, allerdings nach russischen Lehrbüchern. Bücher in ukrainischer Sprache sollen die russischen Soldaten gar zusammen mit der ukrainischen Flagge auf dem Schulhof verbrannt haben. Die Traktoren und LKW für das Fahrtraining der Schüler nahmen sie einfach mit. Vier von den in Melitopol verbliebenen Mitarbeitern des Lyzeums kooperieren jetzt mit dem Besatzungsregime. Der Rest nahm Abschied.
Wie genau das Lyzeum jetzt funktioniert, weiß Anna nicht. Bekannte berichten aber, dass man das „kaum Unterricht nennen“ könne. Der Sportlehrer Alexander Sidorow unterrichte plötzlich vier andere Fächer, darunter Geografie und Wirtschaftskunde.
Annas Bekannte erzählen, dass in Melitopol überall Georgsbänder und Schriftzüge hängen: „Russland ist der Heimathafen“, „Melitopol ist Russland“. „Tausende Bewohner von Melitopol sind entsetzt über diese Propaganda. Das Schlimmste ist, wir Erwachsenen wissen ja, dass das Agitation ist, wenn auch nicht alle das verstehen. Aber die Kinder durchschauen das nicht, und keiner ist da, der es ihnen erklärt. Es gibt Jugendliche, die schon in T-Shirts und Kappen mit dem russischen Wappen rumlaufen“, erzählt Anna, was sie von Bekannten gehört hat. „Aber das macht mir keine Angst. Sie können ja nichts dafür, dass ihre Eltern sie nicht weggebracht haben. Ich habe Kinder und Jugendliche sehr gern, und wenn wir zurückkommen, wird dieses Zeug wieder verschwinden. Weil wir Lehrer alles tun werden, damit die Kinder die Ukraine wieder lieben. Wir werden an ihre Herzen appellieren und sie öffnen.“
In Melitopol ist der Besuch einer russischen Schule Pflicht [wie überall in den russisch besetzten Gebieten – dek]. Anna sagt, die meisten Lehrerinnen, die sie kennt, hätten sich aus dem Bildungsbereich verabschiedet: Der Unterricht sei zu einer Propagandaveranstaltung geworden, und sie hätten keine Lust, die Kinder russische Trikoloren malen zu lassen. Anna sind Fälle bekannt, wo bewaffnete Soldaten zu den Familien kommen und mit vorgehaltener MP verlangen, dass sie ihre Kinder in eine russische Schule schicken.
Trotz aller Risiken gibt es in Melitopol immer noch Eltern, die ihre Kinder in ukrainische Online-Schulen schicken. Meist haben die Kinder dort abends Unterricht, weil sie tagsüber in eine russische Schule müssen. Um sich vor den Razzien der Soldaten zu schützen, gehen die Eltern während der Schulstunden für alle Fälle mit ihren Kindern in eine andere Wohnung.
Foto / Archiv Anna But
„Es erfordert großen Heldenmut, unter der Besatzung weiterhin eine ukrainische Schule zu besuchen“, sagt Anna. „In Melitopol verraten sich die Leute gegenseitig. Jeden Moment kann dich ein Nachbar denunzieren, weil er gehört hat, dass du ukrainisch sprichst“.
Sich zu verstecken, wird immer schwieriger: Telefongespräche werden abgehört, auf der Straße können Eltern mit ihren Kindern jederzeit durchsucht werden, dann werden auch die Handys kontrolliert. Die Sticks mit dem Unterrichtsmaterial versteckt man in den hintersten Winkeln der Wohnungen.
„Die Kinder ergrauen unter der Besatzung. Das ist keine Übertreibung. Sie können einfach nicht wissen, wann das alles ein Ende haben wird.“ (Anna But, Lehrerin)
Deswegen haben die Kinder nach und nach aufgehört, am Unterricht [unseres Online-Lyzeums] teilzunehmen, wir mussten ganze Jahrgänge schließen. Am Ende des letzten Schuljahres [2023/24] hatten wir fast keine Schüler mehr.“
Für 2024/25 hat das Landwirtschaftliche Online-Lyzeum gar nicht mehr genug Anmeldungen. „Diese Schule ist mein Leben, das ist für mich mehr, als meine Arbeit zu verlieren.“ Anna zufolge haben es nicht alle ihre Kollegen geschafft, bis zum Beginn des neuen Schuljahres an anderen Bildungseinrichtungen unterzukommen.
„Die Kinder müssen sehen, dass wir stark und positiv bleiben“
Wie Melitopol steht auch Nowa Kachowka unter Besatzung. Schulen gibt es dort aber so gut wie keine. Die von Russland eingesetzten Behörden haben Iryna zufolge den Schulbetrieb noch nicht in Gang gebracht. „2023 wurde in Nowa Kachowka nur die Schule Nr. 10 aufgemacht, und das nur online. Einige Eltern wurden genötigt, ihre Kinder dort anzumelden; dafür bekamen sie ein Lebensmittelpaket und zweitausend Rubel. Aber keiner kontrolliert, ob die Kinder dort am Unterricht teilnehmen.“
Genau wie in Melitopol müssen Eltern es sorgfältig geheimhalten, wenn ihre Kinder online eine ukrainische Schule besuchen. Trotzdem hatte das Online-Lyzeum Nr. 3, das Iryna leitet, im Schuljahr 2023/24 ganze 568 Schüler und Schülerinnen. Zwei der fünf Absolventen mit Auszeichnung haben das ganze Jahr unter Besatzung verbracht. Zu ihrem Abschluss konnten sie in ukrainisch kontrolliertes Gebiet ausreisen (Details zur Strecke können aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden), um von Iryna ihre Zeugnisse und Medaillen entgegenzunehmen und sich an ukrainischen Hochschulen zu bewerben.
Trotz der schwierigen Arbeitsbedingungen im Krieg hat Dubas ihre Einstellung zur Schulbildung beibehalten: Oberste Priorität haben das Wohlbefinden und die Sicherheit der Kinder. „Seit der Befreiung von Cherson [am 1. November 2022] steht Nowa Kachowka unter ständigem Beschuss, sehr oft gibt es keinen Strom und kein Internet. Daher findet der Unterricht für die Kinder dann statt, wenn es wieder eine Verbindung gibt.“
Das Thema Krieg vermeiden die Lehrenden während des Unterrichts. Sie erinnern nur an die Sicherheitsvorkehrungen: Sie bitten die Schüler in den besetzten Gebieten, auf der Suche nach Handyempfang, um die Hausaufgaben abzugeben, nicht auf Bäume zu klettern. So was ist nämlich schon vorgekommen. „Wenn ein Schüler seinen Test nicht besteht, ist das kein Drama. Wir wollen in Zeiten wie diesen die Kinder und Eltern nicht unter Druck setzen.
Ich schalte mich immer wieder zu den Online-Sitzungen dazu, um die Kinder zu sehen und einfach zu sagen ‚Passt auf euch auf‘. Die Kinder brauchen jetzt besondere Unterstützung, sowohl jene, die unter Besatzung leben, wie auch jene, die auf ukrainisch kontrolliertem Territorium immer wieder Beschuss erleben, und auch die, die fern von zuhause im Ausland sind.
Die Schüler sind ganz versessen auf den Unterricht. Sie wollen möglichst viel Zeit mit ihren Schulfreunden verbringen, wenigstens auf dem Bildschirm. Deswegen bieten die Klassenlehrerinnen auch Freistunden an, in denen die Kinder sich einfach unterhalten, und organisieren Feste für sie, um ihnen das zu geben, was der Krieg ihnen genommen hat: Spaß und Freude.“
Iryna steht auch den Lehrenden zur Seite, sie versucht nicht nur, Gehaltsaufbesserungen für sie herauszuschlagen, sondern kümmert sich auch um deren psychische Gesundheit:
„Eine Lehrerin muss ausgeglichen, gut gelaunt und für ihre Sache engagiert in den Unterricht gehen. Lernen muss für die Kinder interessant sein. Nach den Stunden können die Lehrkräfte so viel weinen und Angst haben, wie sie wollen, aber die Kinder müssen sehen, dass wir stark und positiv bleiben. Das gibt ihnen ein Gefühl von Sicherheit. Nach dem Unterricht bekommt jede Lehrerin meine Unterstützung, ich rufe mindestens einmal im Monat jede einzelne an.“
„Wie kann von Unterricht die Rede sein, wenn Krieg ist?“
Für das neue Schuljahr 2024/25 hat das Lyzeum in Nowa Kachowka mehr Anmeldungen als vor dem großangelegten Krieg, nämlich 685. Viele der Schüler leben auf besetztem Gebiet [Iryna möchte keine Zahlen nennen, um die Familien nicht zu gefährden – Anm. d. Red.]:
„Die Lehrerinnen, die früher in Nowa Kachowka unterrichteten, haben unsere Schule ganzen Klassen empfohlen. Hinzu kommen die Erstklässler. Wir haben auf der Website und in sozialen Medien Werbung gemacht, ich habe alle Kindergärten der Stadt abtelefoniert, und die Eltern haben mir still und heimlich die Unterlagen geschickt.
Dieses Jahr werden wir als Experiment in der achten Klasse Finanzwissen einführen. Die Kinder haben sich dieses Fach selbst ausgesucht, dazu gab es am Ende des letzten Schuljahres eine Umfrage“, erzählt die Direktorin von den Plänen.
Anna But ist seit 1. September Dolmetscherin und Betreuerin der Hochschulgruppen an der Fachhochschule Melitopol, die zur Taurischen Staatlichen Universität in Simferopol gehört. Unterrichtet wird online, und die Lehrenden treffen sich wie die des Landwirtschaftlichen Lyzeums in Saporischschja. Auch in dieser Fachhochschule gibt es Studierende aus dem besetzten Melitopol.
Außerdem engagiert sich Anna weiterhin als Freiwillige. Seit 2014 knüpft sie Tarnnetze für die Armee. Solange sie in den besetzten Gebieten war, hat sie diese Tätigkeit unterbrochen. Für ihr ehrenamtliches Engagement und die Proteste in Melitopol hat ihr der Präsident der Ukraine die Auszeichnung „Nationale Legende der Ukraine“ verliehen:
Foto / president.gov.ua
„Es war schon die ganze Zeit so: Den halben Tag hab ich unterrichtet, die zweite Hälfte zusammen mit den Kindern Netze geknüpft. Das [die Unterstützung der Front] hat jetzt oberste Priorität. Wenn wir der Armee nicht helfen, dann wird es auch keine Bildung mehr geben. Wie kann von Unterricht die Rede sein, wenn Krieg ist? Danach werden wir Neuerungen beim Unterricht vornehmen.“
Ehemalige Schüler von Anna und Iryna, unter anderem die, die 2021 ihren Abschluss gemacht haben, verteidigen jetzt die Ukraine. Manche von ihnen sind jetzt in russischer Kriegsgefangenschaft.
Vor 25 Jahren verschwanden in Belarus die beiden prominenten Oppositionelle Viktor Gontschar und Anatoli Krassowski. Es waren die ersten Fälle des Verschwindenlassens von politischen Gegnern unter der Herrschaft von Alexander Lukaschenko, zwei weitere sollten folgen. Diverse Untersuchungen haben zu Tage gebracht, dass die vier Männer mit großer Sicherheit im Auftrag des Regimes entführt und ermordet wurden. Ihre Leichen wurden bis heute nicht gefunden.
In einem Beitrag für das belarussische Online-Portal Pozirk erinnert der Journalist Wjatscheslaw Korosten an diese dramatischen Ereignisse und an eine Zeit, in der Lukaschenko begann, seine Macht mit aller Brutalität abzusichern.
Der 16. September 1999 war der letzte Tag, an dem Viktor Gontschar, ehemaliger Vorsitzender des Zentralen Wahlkomitees und Abgeordneter des Obersten Sowjets, und sein Freund, der Unternehmer Anatoli Krassowski, lebend in Minsk gesehen wurden. Bekannt ist, dass sie an diesem Abend die Sauna auf der Fabritschnaja-Straße besuchten. Danach stiegen sie in Krassowskis Auto, konnten den Parkplatz aber nicht verlassen. Beide verschwanden spurlos und sind auch 25 Jahre später verschollen.
Auf Grundlage zahlreicher Medienberichte und wichtiger Beweise kann man mit hoher Wahrscheinlichkeit behaupten, dass der Politiker und der Unternehmer auf Befehl von Alexander Lukaschenko entführt und später ermordet wurden. Ausgeführt wurde der Präsidentenwille von Kämpfern einer Sondereinheit, die aus einer Brigade eines Sondereinsatzkommandos des Innenministeriums gebildet und später von den unabhängigen Medien „Todesschwadronen“ genannt wurde. Auf dem Parkplatz fanden die Ermittler Glassplitter von dem Auto und Blutspuren vor.
Der mutmaßliche Chef der Schwadronen, Dmitri Pawlitschenko, wurde im Jahr 2000 sogar auf Anordnung des KGB-Vorsitzenden Wladimir Mazkewitsch und mit Genehmigung des Generalstaatsanwalts Oleg Boshelko verhaftet. Der Verdacht lautete auf Organisation politischer Morde. Einen Tag später wurde er jedoch auf persönliche Anordnung Lukaschenkos wieder freigelassen, Mazkewitsch und Boshelko wurden bald darauf in den Ruhestand versetzt.
Das Verschwinden von Gontschar und Krassowski war nur einer von mehreren ähnlichen Fällen. Am 7. Mai 1999 verschwand in der Gegend der Shukowski-Straße in Minsk der ehemalige Innenminister Juri Sacharenko, der in die Opposition gewechselt war. Am 7. Juli 2000 wurde der Journalist Dmitri Sawadski auf dem Weg zum Minsker Flughafen entführt. Mehrfach wurde gemeldet, dass auch hinter diesen Verbrechen die „Todesschwadronen“ stehen.
„Pawlitschenko hat alle persönlich ermordet”
Im Jahr 2019 bekannte das ehemalige Mitglied des Sondereinsatzkommandos SOBR Juri Garawski in einem Interview mit der Deutschen Welle, an den Entführungen von Gontschar, Krassowski und Sacharenko beteiligt gewesen zu sein. Er hatte Belarus inzwischen verlassen und gab an, zu einer Spezialeinheit gehört zu haben, die dafür sorgte, dass Oppositionelle verschwanden. Garawski erklärte, Pawlitschenko habe alle drei Entführten persönlich mit einem Revolver erschossen. Sacharenkos Leiche sei im Krematorium des Minsker Nordfriedhofes verbrannt worden, Gontschar und Krassowski seien auf einem Gelände des Innenministeriums nahe Begoml im Gebiet Witebsk vergraben.
Nach dem Interview brachten Menschenrechtsaktivisten eine Strafanzeige gegen Garawski ein. Das Verfahren fand in der Schweiz statt, wo der Ex-Elitekämpfer politisches Asyl beantragt hatte. Die Anklage lautete auf „Beteiligung an mehrfachem Verschwindenlassen“ (die Schweizer Gesetzgebung erlaubte keine Anklage wegen Mordes oder Beteiligung daran, da die Verbrechen auf belarussischem Territorium begangen worden waren.)
Im September 2023 wurde Garawski vom Kantonsgericht St. Gallen freigesprochen, man betrachtete seine Angaben als nicht ausreichend für einen Schuldspruch. Das Urteil begründete der Richter damit, dass dies ein besonderer Fall in der juristischen Praxis sei: Es sei eine Regierung involviert, die für die Gewaltverbrechen verantwortlich sei. „Daran sollte kein Zweifel bestehen. Aber bei der Befragung verstrickte sich der Angeklagte in Widersprüche und verweigerte Antworten“, sagte der Richter.
„Wer sich nicht gefügt hat, ist schon bis auf die Knochen verrottet“
Das Verschwindenlassen politischer Gegner war nicht Lukaschenkos Erfindung. Vermutlich hatte Pawlitschenkos Truppe die entsprechende „Lizenz zum Töten“ bereits einige Jahre vorher erhalten, ursprünglich für den Kampf gegen das organisierte Verbrechen. Im postsowjetischen Raum waren die 1990er sehr unruhig. Diverse kriminelle Banden nutzten das Machtvakuum in den ehemaligen Sowjetrepubliken aus und brachten die Privatwirtschaft unter ihre Kontrolle, betrieben Drogenhandel, verübten Auftragsmorde und andere Schwerverbrechen.
Auch wenn das organisierte Verbrechen in Belarus weitaus schwächer ausgeprägt war als in Russland, beschloss Lukaschenko, das Übel an der Wurzel zu packen. Dafür schlug er, so nimmt man an, einen sehr effektiven Weg ein, griff aber zu illegalen Methoden.
In der zweiten Hälfte der 1990er verschwanden Autoritäten aus dem Verbrechermilieu plötzlich spurlos. Am meisten Aufsehen erregte der Fall des 37-jährigen Minsker „Diebes im Gesetz“ Wladimir Kleschtsch, genannt Schtschawlik. Im Dezember 1997 erhielt er auf seinem Mobiltelefon einen Anruf von einem Unbekannten, ging dann nach draußen, um „das Auto umzuparken“, und wurde nie wieder gesehen. Von Zeit zu Zeit kommentiert Lukaschenko nicht ohne Stolz seinen Sieg über die organisierte Kriminalität. Einzelne Aussagen kann man durchaus als Geständnisse interpretieren. 2001 ließ er verlauten, er habe bereits 1996 die Granden der Verbrecherwelt „über gewisse Schurken“ gewarnt: „Traut euch bloß nicht, eine Unterwelt zu schaffen, ich reiße euch allen die Köpfe ab“. Und fügte noch hinzu: „Es gab solche Fälle, wo sie sich nicht benommen haben. Ihr wisst ja noch, diese Schtschawliks und wie sie alle hießen. Und wo sind die jetzt? Eben, deshalb ist jetzt Ruhe und alle sind froh.“
Im Jahr 2011 kam Lukaschenko in einer Rede an die Nation und das Parlament wieder auf das Thema zu sprechen: „Die Banden, die seinerzeit aus der sowjetischen Kinderstube herausgewachsen waren, hatten sehr enge Verbindungen nach Moskau. Wir haben sie schnell auf Linie gebracht. Wer sich nicht gefügt hat, ist schon bis auf die Knochen verrottet.“ 2017 schrieb die BelGaseta dazu: „Ob es stimmt oder nicht, ist schwer zu sagen, aber immer, wenn in Belarus neue ‘Diebe im Gesetz’ auftauchen, führen die Ermittler sogenannte prophylaktische Gespräche mit ihnen und erinnern sie an ‘Schtschawliks verrottete Knochen’“.
Natürlich wusste Lukaschenko von der Rechtswidrigkeit seines Vorgehens, als er die Freigabe zur Abrechnung mit dem Kriminellen gab. Aber in diesem Fall heiligte seiner Ansicht nach der gute Zweck die Wahl der Mittel. Nicht umsonst rühmte er sich später damit, wie gnadenlos diese Schtschawliki in Belarus ausgemerzt wurden. Davon, dass mit der Zeit seine politischen Gegner die Rolle der Schtschawliki einnahmen, schwieg er lieber. Man kann das ja auch als logische Folge betrachten: So eine Todesschwadron erweitert, wenn sie mal gegründet ist, auf natürlichem Weg ihren Aufgabenbereich.
Früher oder später wird es eine Untersuchung geben
Lukaschenko gelangte 1994 durch vollkommen faire Wahlen an die Staatsspitze. Sofort begann er, die demokratischen Institutionen zu zerlegen, und demonstrierte so seine Absicht, an der Macht zu bleiben. Mithilfe zweier Volksabstimmungen konzentrierte er praktisch unbegrenzte Befugnisse in seinen Händen. Dabei bewegte sich der erste Präsident mehrfach auf Messers Schneide, besonders 1996, als es fast zu einem Amtsenthebungsverfahren kam.
Ursprünglich hätten die nächsten Wahlen für das höchste Staatsamt 1999 stattgefunden. Wäre das politische System in Belarus erhalten geblieben, hätte Lukaschenko durchaus verlieren können, da die Ergebnisse seiner ersten fünfjährigen Amtszeit nicht gerade berauschend waren. Doch mit den erwähnten Methoden hatte er die Machtstrukturen völlig verändert und ausschließlich auf seine Person ausgerichtet. Dadurch fand die nächste Wahl erst 2001 statt, wurde aber von der internationalen demokratischen Gemeinschaft nicht anerkannt. 1999 ging vornehmlich als das Jahr in die Geschichte ein, in dem prominente Oppositionelle verschwanden.
Das war der Moment, in dem Lukaschenko eine rote Linie überschritt, die das Szenario eines friedlichen Machtwechsels ausschloss. Nach dem Ende seiner Amtszeit hätte eine unabhängige Untersuchung der Fälle Gontschar, Krassowski, Sacharenko und Sawadski beginnen können, wie es die Angehörigen der Vermissten, die Opposition und westliche Politiker forderten. Und sehr schnell wären Hinweise darauf gefunden worden, dass auch dem belarussischen Präsidenten ein Platz auf der Anklagebank gebührt. Eigentlich verliert eine solche Untersuchung mit den Jahren nicht an Aktualität. Auch deshalb kämpfte Lukaschenko 2020 um seinen Absolutismus, ohne Rücksicht auf die Mittel. Etwas Schlimmeres als 1999 hätte dieses Regime auch vor vier Jahren nicht mehr anrichten können.
Die Immunitätsgarantien, die nach dem Referendum von 2022 in die Verfassung aufgenommen wurden, sind ebenfalls auf die Ereignisse von vor 25 Jahren zurückzuführen. Ergänzt wurde ein Punkt, dass „der Präsident nach dem Ende seiner Amtszeit für Handlungen, die er im Rahmen seiner Amtsausübung und seiner präsidentiellen Befugnisse ausgeführt hat, nicht zur Verantwortung gezogen werden kann.“
Der 70-jährige Lukaschenko spricht immer häufiger davon, dass er nicht ewig lebt, und baut gewissenhaft an einem System seiner persönlichen Sicherheit im Fall einer Machtübergabe an einen Nachfolger. Regelmäßig spricht er auch von der Notwendigkeit, dass seine Nachkommen sein Erbe bewahren. Was die Sicherheit angeht, kann ihm alles gelingen. Die Staatsmacht wirkt monolithisch, die Sicherheitsorgane befinden sich in ständiger Kampfbereitschaft, und von den Wahlen 2025 sind keine Überraschungen zu erwarten.
Das mit dem Erbe ist weniger rosig. Früher oder später wird Belarus eine Demokratisierung erfahren, das Volk wird sein Recht zurückerhalten, die Regierung zu wählen. Eine offene und transparente Untersuchung der aufsehenerregenden Entführungen von 1999-2000 wird auf jeden Fall zu den Prioritäten einer neuen Regierung gehören. Und die Ergebnisse, im ganzen Land veröffentlicht, könnten sogar die eisernsten Verfechter der belarussischen Stabilität erschüttern.
Irina Unruh kombiniert in ihrem Bildband Where The Poplars Grow Fotos aus dem Familienarchiv mit aktuellen Aufnahmen. Aus ihrem Plan, ein Buch über Kirgistan zu machen, wurde eine Reise in die eigene Familiengeschichte. Sie handelt von Flucht, Revolution und Repression – und von menschlicher Solidarität unter Fremden. Wir haben mit ihr über die Geschichte ihrer Familie und über ihr Fotoprojekt gesprochen.
dekoder: In einem Fotobuch erzählen Sie von Kirgistan, der Heimat Ihrer Kindheit. Es heißt „Where The Poplars Grow“. Was bedeuten Ihnen die Pappeln?
Irina Unruh: In den 20 Jahren, in denen ich nach unserer Migration in Deutschland lebte, hatte ich die Pappeln fast vergessen. Aber als ich 2008 zum ersten Mal wieder nach Kirgistan kam, fiel mir wieder ein, dass ich umgeben von Pappeln aufgewachsen bin. Selbst auf einem der ältesten Familienporträts meiner Mutter sind Pappeln im Hintergrund: auf der Tapete des Fotografen, der das Bild in seinem Studio aufgenommen hat. Viele dieser Bäume wurden von den Deutschen in unserem Dorf gepflanzt – auf Anordnung der Kolchose beim Subbotnik.
Wozu?
Pappeln wachsen schnell. Sie sollten entlang der Hauptstraße Schatten spenden. Entlang einer anderen Straße wurden Obstbäume gepflanzt. Sie verbindet die beiden deutschen Dörfer Bergtal und Grünfeld. Da kann man heute im Schatten gehen und Äpfel und Mirabellen pflücken.
Wie alt waren Sie, als Sie aus Kirgistan nach Deutschland kamen?
Ich war neun.
Kirgistan ist ein Thema Ihrer Arbeit, seit Sie fotografieren. Aber dieses Projekt ist das Persönlichste, es handelt von Ihrer Kindheit und Ihrer Familie. Wie kam es dazu?
Ursprünglich wollte ich gar kein persönliches Buch machen und auch nicht meine eigene Geschichte erzählen. Ich wollte ein Buch über Kirgistan machen und dabei erwähnen, dass dort auch Deutsche leben. Aber irgendwann fand ich es nicht mehr passend, das Land wie von außen zu beschreiben.
Wie ist Ihre Familie nach Kirgistan gekommen? Und wie ist sie von dort wieder zurück nach Deutschland gekommen?
Häufig stellen mir Leute in Deutschland die Frage: Warum seid ihr nach Deutschland gekommen? Meine Kinder wiederum fragen: Wie seid ihr nach Kirgistan gekommen? Um diese Frage zu beantworten, musste ich tatsächlich erst einmal selbst recherchieren und viele Bücher lesen. Meine Vorfahren waren Mennoniten. Fast jede Generation wurde in einem anderen Land geboren. Die Familie meines Großvaters mütterlicherseits lebte beispielsweise nach einem langen Weg der Migration im Gebiet Orenburg. Nach der Revolution versuchten meine Urgroßeltern, die Sowjetunion zu verlassen. Sie kamen mit ihrer großen Familie 1925 nach Moskau, um eine Ausreiseerlaubnis zu erlangen. Aber dann gab es von heute auf morgen einen Ausreisestopp. Ältere Geschwister meines Urgroßvaters haben es noch geschafft, aber er blieb mit seinen Kindern zurück. Wo sollten sie hin? In Moskau konnten sie nicht bleiben, zurück ins Gebiet Orenburg konnten sie auch nicht; sie fürchteten Repressionen, weil sie ihr Dorf verlassen hatten. Also sind sie nach Kirgistan geflohen, an einen Ort, wo sie keiner kannte. Dort wurde mein Großvater 1927 als jüngstes von 8 Kindern geboren. Die Familie zog aber bereits 1933 weiter in die Region Altai und 1940 erneut zurück ins heutige Kirgistan. So ähnlich war das bei allen meinen vier Großeltern: Sie waren immer auf der Suche nach einem Ort, wo sie unbehelligt leben konnten. Als Mennoniten war ihnen die Religionsfreiheit wichtig und die Befreiung vom Wehrdienst. Und immer, wenn sich die politische Situation änderte, zogen sie weiter. Insbesondere seit den 1920er Jahren sind die Familien meiner Großeltern alle paar Jahre migriert oder geflohen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es ihnen nicht mehr möglich, da sie als Deutsche bis 1956 in Sondersiedlungen leben mussten. Im Grunde suchten sie seit der Gründung der Sowjetunion und damit einhergehend des Verbotes der Religionsausübung immer wieder nach Wegen, diese zu verlassen. Nach mehreren Generationen war es 1988 dann erstmals möglich.
Ursprünglich waren ihre Vorfahren wahrscheinlich der Einladung Katharinas II. nach Russland gefolgt?
Teilweise vermutlich ja, doch die meisten sind etwas später ausgewandert. Es gab mehrere Auswanderungswellen. Meine Vorfahren kommen aus Westpreußen. Sie gehörten zu den Siedlern unter Zar Alexander I. Sie haben zu Beginn des 19. Jahrhunderts zunächst auf dem Gebiet der heutigen Ukraine gesiedelt. Von dort sind sie dann vor den Kämpfen zwischen der Roten Armee und den Truppen des ukrainischen Revolutionärs Nestor Machno geflohen, nachdem ihre Dörfer immer wieder geplündert wurden. Das war kurz vor dem Holodomor. Ich musste mich erst durch die russische Geschichte lesen, um die Geschichte meiner eigenen Familie zu verstehen. Es gab Sätze, die in meiner Kindheit immer wieder gefallen sind, und die ich nie hinterfragt habe. Zum Beispiel der Satz: „Als Oma bei den Kirgisen lebte.“
Warum lebte Ihre Oma bei den Kirgisen?
Meine Oma mütterlicherseits war 14, als ihre Mutter 1941 starb. Der Vater zog mit ihr und den jüngeren Geschwistern im Sommer 1941 ebenfalls aus der Region Altai nach Kirgistan. In beiden Regionen gab es zu dieser Zeit mehrere mennonitische Siedlungen. Kurz darauf wurde ihr Vater verhaftet und kam in den Gulag. Meine Oma stand mit 14 Jahren ohne Eltern da. Eine kirgisische Familie hat sie aufgenommen. Das war übrigens keine Seltenheit: Viele deutsche Kinder, deren Eltern verhaftet wurden, haben nur dank der Unterstützung kirgisischer Familien überlebt. Es gab aber auch Fälle, wo Kinder ganz ohne Eltern aufwuchsen. Oft haben sich dann die Dorfgemeinschaften um diese Kinder gekümmert. Und die Kinder wussten die ganze Zeit über nicht, ob ihre Eltern noch am Leben sind. Manchmal kamen sie zehn Jahre später aus dem Gulag zurück.
Man kann sich kaum unterschiedlichere Gruppen vorstellen als deutsche Mennoniten und kirgisische Muslime. Woher kam diese Solidarität?
Es gab gegenseitiges Verständnis: Beide Gruppen gehörten zu einer unterdrückten Minderheit. Die Kirgisen wurden von der Sowjetmacht zur Sesshaftigkeit gezwungen. Außerdem gab es Vorbilder in der Vergangenheit: Als die ersten deutschen Siedler mit Erlaubnis des Khan ins heutige Kirgistan kamen, da war es schon Herbst und der Winter stand bevor. Sie haben es nicht mehr geschafft, ihre eigenen Häuser zu bauen. Damals haben kirgisische Nomaden sie in ihren Jurten aufgenommen. Es gibt also nicht immer Angst vor Fremden, sondern auch Offenheit.
Sie verbinden in Ihrem Buch Bilder aus dem Familienarchiv mit aktuellen Aufnahmen. Was war die Idee dahinter?
Ich will zeigen, dass die Vergangenheit ein Teil von uns ist. Wir alle haben ja einen Lebensweg. Die Person, die ich heute bin, bin ich nur, weil ich gewisse Dinge erlebt habe und bestimmte Erfahrung auf meinem Lebensweg gesammelt habe. Bei der Arbeit an diesem Buch habe ich gemerkt, dass in mir auch die Geschichte meiner Vorfahren weiterlebt. Dass meine Kinder heute in einem demokratischen, freien Land aufwachsen, ist nur möglich, weil meine Vorfahren Dinge durchlebt und sie auch überlebt haben. Hätten sie nicht überlebt, gäbe es uns alle nicht.
Hätte die kirgisische Familie nicht Ihre Großmutter aufgenommen, gäbe es heute die Familie Unruh in Deutschland nicht…
…zum Beispiel. Und wenn mein Großvater den Gulag nicht überlebt hätte, auch nicht. Er war nach sieben Jahren Gefangenschaft kurz vor dem Hungertod, als sie ihn eigentlich zum Sterben freigelassen haben. Mit letzter Kraft hat er es geschafft, nach Kirgistan zu kommen. Da hat meine Oma ihn dann gesundgepflegt. Mein Vater kam erst danach zur Welt.
Wurde in Ihrer Familie über solche Erfahrungen gesprochen?
Mein Vater hat immer wieder etwas erzählt. Irgendwann habe ich eine WhatsApp-Gruppe gegründet mit meinen Tanten, die haben auch viel erzählt. Es waren überhaupt eher die Frauen, die erzählt haben. Meine Tanten sagten manchmal: „Ui, Irina, du stellst Fragen! Die haben wir leider unseren Eltern selbst nie gestellt“. Vielleicht braucht es manchmal eine Generation Abstand – auch emotionalen Abstand – um solche Fragen stellen zu können. Es war eine traumatisierte Generation und manche Verhaltensweisen sind nur erklärbar, wenn man diese Geschichten kennt. Hunger war zum Beispiel bei uns am Tisch immer wieder Thema.
Das wirkt fast so, als wäre aus einem Fotoprojekt über Kirgistan am Ende eine Art Familien-Vermächtnis geworden?
Ja, und nein. Zum einen empfinde ich eine gewisse Demut und tiefe Dankbarkeit meinen Vorfahren gegenüber. Meine Familiengeschichte soll zugleich beispielhaft für viele sehr ähnliche Familiengeschichten stehen. Es war mein Wunsch, aus meiner persönlichen Perspektive zu zeigen, wie politische Entscheidungen und geopolitische Entwicklungen weitreichende Folgen und Auswirkungen auf einfache Familien und auch auf Kinder haben. Und dass es manchmal Generationen braucht, um diese Auswirkungen zu verstehen und zu verarbeiten. Neben all der Tragik war es mir auch wichtig, die hoffnungsvollen Momente von Begegnungen, Freundschaften und gegenseitiger Unterstützung zu erzählen; wie die Geschichte, dass eine kirgisische Familie meine Oma bei sich aufnahm. Meine Oma sprach nach diesen zwei Jahren fließend Kirgisisch, und im Dorf gab es auch Kirgisen, die fließend Plautdietsch sprachen. Ich sehe mein Buch auch als eine hoffnungsvolle Geschichte der menschlichen Begegnung.
dekoder: Sie haben zwei Fotos von Ihren Reisen in der Ukraine ausgewählt: Das erste zeigt einen Jugendlichen beim Eintritt in die Marineakademie in Odessa. Was sieht man auf dem zweiten?
Daniel Rosenthal: Das ist eine Szene aus einem Sanatorium. Die ukrainischen Soldaten können sich dort zwei Wochen lang erholen, bevor sie wieder zurück in den Einsatz müssen. Sie bekommen Lasertherapie und Atemtherapie und inhalieren Salzlösung und Lavendelduft. Dort traf ich den Bären. Das ist der Mann, der seine Hand ans Gesicht hält. Seinen Codenamen bekam er wegen seiner bärigen Statur. Er ist Maschinengewehrschütze und hat bei Wuhledar gekämpft. Anderthalb Jahre war er fast kontinuierlich an der Front.
Und jetzt darf er sich 14 Tage in einem Sanatorium davon erholen?
Ich traf den Bären auf einer Bank im Park, als er eine Zigarette rauchte. Er sagte: „Es ist so still hier. Diese Stille!“ Die Stille und das Vogelgezwitscher, das hat ihn fertig gemacht. Später hat er das erklärt: Es war immer still, bevor die Russen angegriffen haben. Stille bedeutete für ihn immer Gefahr. Und jetzt ist er in diesem Sanatorium, nach anderthalb Jahren hinter dem Maschinengewehr, und muss mit der Stille dort klarkommen. Er erzählte dann noch, dass seine Familie, die er anderthalb Jahre nicht gesehen hat, ihn besuchen kommt. Und man hat gemerkt, dass er sich natürlich einerseits freuen will, aber andererseits total am Ende ist und eigentlich gar nicht mehr kann. Dieser Kontrast zwischen dieser Statur und diesem Wesen, das total am Ende war, das fand ich sehr berührend.
Wie soll diesen Männern während zwei Wochen in einem Sanatorium geholfen werden?
Das ist natürlich ein Tropfen auf den heißen Stein. Das Sanatorium atmet einerseits noch den Geist der Sowjetunion, mit Bädern und Anwendungen. Zusätzlich gibt es aber auch Gesprächstherapie und Yoga zum Beispiel. Das war natürlich ein unglaubliches Bild, diesen Bären und seine Kammeraden in der Yogastunde zu beobachten. Sie haben sich alle Mühe gegeben, es wirkte fast komisch, wenn die Umstände nicht so tragisch wären.
Und nach den zwei Wochen Yoga und Therapie geht es wieder zurück an die Front?
Danach geht es wieder in den Einsatz, ja. Das läuft so, dass der Kommandant einer Einheit Leute auswählt, von denen er glaubt, dass die eine Auszeit nötig haben. Ob die von sich aus das Bedürfnis haben, Yoga zu machen, lässt sich schwer sagen. Die leiden alle unter einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung und wissen selbst gar nicht, was sie eigentlich wollen und brauchen. Wenn man sie fragt, sagen alle, sie wollen sofort zurück zu ihren Kameraden. Das scheint eine typische Reaktion von Menschen in solchen Situationen zu sein: Sie haben ein schlechtes Gewissen, dass sie ihre Kameraden im Stich lassen. Von einer Heilung sind die nach zwei Wochen natürlich weit entfernt.
Ihr zweites Bild zeigt den Anfang einer Karriere als Soldat. Was ist die Geschichte hinter diesem Foto?
Das stammt aus einer Reportage aus der Hafenstadt Odessa. Zu Beginn des Studienjahres werden 800 junge Kadetten an der Marineakademie aufgenommen. Die Leiterin der Kleiderkammer gibt Uniformen an die Erstsemester aus. Viele träumen davon, die Meere zu befahren und die weite Welt zu sehen. In der Realität ist das Schwarze Meer weitgehend durch russische Kriegsschiffe blockiert. Diesen Clash zwischen Traum und Wirklichkeit fand ich interessant.
Sie fotografieren seit vielen Jahren in Kriegs- und Krisengebieten. Wie gehen Sie selbst mit den belastenden Erlebnissen um?
Ich halte meine Aufenthalte an der Front oder in der wirklichen Gefahrenzone relativ kurz. Erst recht, seit ich Kinder habe. Aber natürlich wirken die Ereignisse nach. Oft kommen die Gefühle hoch, wenn ich wieder zuhause bin und die Bilder bearbeite und um mich herum geht das normale Alltagsleben weiter. Seit ich Vater bin, kann ich die Verzweiflung der ukrainischen Eltern noch einmal ganz anders nachempfinden. Ich glaube, das muss dich wirklich fertig machen, wenn du nicht in der Lage bist, dein Kind zu beschützen.
Fotografie: Daniel Rosenthal Bildredaktion und Konzept: Andy Heller Interview: Julian Hans Veröffentlicht am: 27.09.2024
Alexander Vasukovich ist einer der bekanntesten belarussischen Fotografen der jüngeren Generation. Seine Bilder erschienen in zahlreichen internationalen Zeitungen und Publikationen. Bereits seit dem Beginn des Euromaidan dokumentiert er die Ereignisse in der Ukraine, so auch den russischen Krieg seit 2014.
In seiner Heimat wurde er im Oktober 2023 festgenommen, offiziell wegen Teilnahme an den Protesten im Jahr 2020. Dennoch gelang ihm die Flucht nach Polen, wo er derzeit lebt. Wir haben mit ihm über seine Arbeit und den Krieg in der Ukraine gesprochen und zeigen eine Auswahl seiner Bilder.
dekoder: Sie waren bereits 2013 auf dem Maidan, um die dortigen Ereignisse fotografisch festzuhalten. Warum diese Entscheidung, aus Belarus in die Ukraine zu fahren?
Alexander Vasukovich: Damals stand meine Karriere als Fotograf noch am Anfang, aber ich hatte bereits Erfahrung mit Aufnahmen bei Protesten gemacht: nach den [belarussischen] Präsidentschaftswahlen 2010, als die Kundgebungen mit gewaltsamer Auflösung und Haftstrafen für viele Beteiligte endete, darunter auch die Präsidentschaftskandidaten.
Vom ersten Maidan im Jahr 2004 hatte ich nur gehört, deshalb beschloss ich hinzufahren, als der zweite begann. Mich begeisterte, wie die Ukrainer für ihre Freiheit kämpften. Ich sah Menschen, die bereit waren, für ihre Ideen sogar ihr Leben zu opfern. Ich sah, wie den Ukrainern der Sieg gelang, und genau das wollte ich auch in meiner Heimat sehen. Deshalb fotografierte ich auch nach Beginn des Krieges im Osten der Ukraine weiter jene Menschen, die nicht einmal den Kampf fürchteten. Ich wollte die Freiwilligen zeigen, die auf der Welle des Siegesgefühls vom Maidan in den Krieg gezogen waren, um auch dort zu gewinnen. Vor Ort wurde mir dann klar, dass das im Krieg bedeutend schwieriger ist.
Diese Reisen wurde zur Grundlage für das sehr persönliche und schmerzhafte Projekt Commemorative photo (dt. Gedenkfoto), mit dem ich an den Wert des menschlichen Lebens erinnern wollte. Der Tod von Menschen, die wenige Augenblicke vorher noch lebendig neben mir standen, hat mich sehr getroffen. Ich schickte dann Fotos an die Angehörigen und sprach mit ihnen. So wurde dieser Krieg, obwohl ich Ausländer bin, auch ein wenig zu meinem. Deshalb konnte ich auch 2022 nicht aufhören zu fotografieren.
Die Fotos in dieser Auswahl stammen vor allem aus dem ersten Jahr der russischen Invasion. Nach welchen Kriterien haben Sie die Bilder ausgewählt?
Ich sehe drei zentrale Gründe dafür, dass die Bilder hauptsächlich aus dem ersten Jahr stammen. Da ist zum einen die Intensität dessen, was passierte, dann die Abwesenheit von Einschränkungen und Regulierungen, wo man sich aufhalten durfte, und drittens die Veränderung meiner Wahrnehmung dessen, was vor sich ging.
Zu Beginn des Krieges war es wesentlich einfacher, irgendwo hinzufahren und zu fotografieren. Niemanden interessierte, was du machst, du konntest in Ruhe irgendwo sein und beobachten, was passiert. Es gab befreite Gebiete, die man leicht erreichen konnte, um die Folgen der Kriegshandlungen zu dokumentieren, mit den Menschen zu sprechen, alles zu sehen, was passiert war, bevor aufgeräumt wurde. Je länger der Krieg dauerte, desto mehr Regeln tauchten auf. Bei meiner zweiten Reise konnte ich schon nicht mehr dorthin fahren, wohin ich wollte: Für viele Orte war die Begleitung durch einen Presseoffizier erforderlich, und da es nicht so viele gab, war das mit Wartezeiten verbunden.
So viel Zeit hatte ich nicht, also fuhr ich mit dem Motorrad los, weil das mein einziges Transportmittel war, und ich vor dem ersten Schnee zurück sein musste. Damals konzentrierte ich mich auf Bachmut: Ich war sehr beeindruckt, wie die Menschen dort zwischen den Stellungen lebten, während über ihren Köpfen tagelang Geschosse hin und her flogen, die manchmal nicht ans Ziel kamen und auf den schmalen Streifen zwischen den Fronten krachten. Die Menschen lebten dort und warteten darauf, dass all das endlich aufhört.
Bei meiner dritten Reise Ende September 2023 wollte ich in erster Linie fotografieren, wie die Zivilbevölkerung in den Frontstädten überlebte. Damals war der Zugang schon sehr schwierig, man durfte fast nirgends ohne Begleitung Zeit mit der Zivilbevölkerung verbringen, von den Begleitpersonen gab es nicht genügend und außerdem konnte man von den Menschen keine Offenheit erwarten, wenn ein Soldat daneben saß. Der einzige Ort, an dem ich in Ruhe machen konnte, was ich wollte, war die Stadt Siwersk.
Wie erlebten Sie die Ukrainer im Krieg?
Bei meiner ersten Reise waren die Menschen stark mobilisiert und sehr kämpferisch eingestellt, mit jeder weiteren Reise erschienen sie mir müder, fast alle sagten: „Hoffentlich ist es bald vorbei.“ Für mich war es damals schwer vorstellbar, wie sich das anfühlt: Du hast ein Haus, dein normales Leben, ein paar Besitztümer – und dann kommt eine Rakete, und plötzlich ist alles vorbei, du hast nichts mehr, musst flüchten und alles zurücklassen.
Erst als ich selbst mein Zuhause verlassen musste, ohne die Aussicht, in absehbarer Zeit zurückzukehren, konnte ich das etwas besser nachempfinden.
Nicht alle können und wollen evakuiert werden, bei meiner dritten Reise sprach ich mit vielen Menschen, die in ihrer Stadt blieben. Siwersk lag direkt hinter der Front, die Menschen lebten zu diesem Zeitpunkt bereits anderthalb Jahre im Keller. Auf die Frage, warum sie blieben, antworteten sie, dass sie in der Westukraine niemand brauchen würde, dass man dort darüber lachen würde, wie sie sprechen, dass man ihnen dort keine Arbeit geben würde, und sie hier wenigstens einen Ort zum Leben haben, auch wenn sie jeden Moment sterben könnten.
Wie wurden Sie als Belarusse aufgenommen, schließlich nutzte die russische Armee belarussisches Territorium für ihre Angriffe auf die Ukraine?
Bis zum Kriegsbeginn fühlte ich mich in der Ukraine wie zuhause. Es war das erste Land, in das ich gereist war, meine ersten ausländischen Freunde waren Ukrainer. Kurz vor Kriegsbeginn planten meine Freundin und ich, in die Ukraine zu fahren und unsere Freunde zu besuchen.
Dann begann der großangelegte Angriff, ich versuchte sofort, als Fotograf eine Akkreditierung zu erhalten. Viele wollten meine Bewerbung nicht weiterreichen, weil ich belarussischer Staatsbürger bin. Die Kollegen sagten, ich würde keine Akkreditierung erhalten, und wenn doch, dann würde man mich vor Ort nicht arbeiten lassen, mich sogar schlagen. Als ich dann jemanden gefunden hatte, der meine Akkreditierung unterstützte und meine Unterlagen einreichte, war ich auf eine lange Überprüfung und eine mögliche Absage vorbereitet, aber schon drei Tage später hatte ich die Akkreditierung.
Bei der ersten Reise war ich mit einer ukrainischen Freundin unterwegs und musste nicht groß erklären, wer ich bin. Bei der zweiten Reise wollte ich allein fahren, mit meinem Motorrad mit belarussischem Kennzeichen. Ich hatte gelesen, was über Belarussen im Internet geschrieben wurde und machte mir Sorgen, wie ich dort allein erklären würde, warum ich in der Ukraine unterwegs bin. Manchmal stellte ich mir vor, man würde hinter mir ausspucken, nachts meine Reifen zerstechen.
Aber zum Glück war die Realität ganz anders: Die Leute waren eher erfreut, einen Belarussen zu sehen, der auf der ukrainischen Seite fotografierte, sie interessierten sich dafür, wer ich bin und wie die Belarussen über den Krieg denken. Die Leute begriffen wohl, dass ich in Ordnung sein musste, weil ich bei ihnen war.
Ende 2023 wurden Sie in Belarus nach der Rückkehr aus der Ukraine festgenommen. Warum sind Sie überhaupt zurückgekehrt?
Ich habe in Belarus gelebt und bin dorthin zurückgekehrt, weil ich das Land liebe, weil meine alten Eltern dort leben und auch meine Großmutter, die jetzt schon 99 Jahre alt ist. Ich wollte dort sein und fotografieren, sobald sich etwas verändert.
Nach meiner dritten Reise interessierte sich der KGB an der Grenze für mich. Sie stellten viele Fragen über meine Arbeit in der Ukraine, besonders wunderten sie sich, wie ich ohne Freunde bei der ukrainischen Armee in Orte wie Butscha kommen konnte. Sie wollten nicht glauben, dass das möglich war. Nach der Befragung ließen sie mich gehen. In den folgenden Tagen wurde ich beobachtet, und nach zwei Wochen holten sie mich schließlich ab.
Sie durchsuchten meine Wohnung, nahmen Computer, Festplatten und Notizbücher mit. Nach zehn Tagen wurde mir eine Anklage vorgelegt. Sie lautete: Teilnahme an Protesten nach Artikel 342, Absatz 1 des Strafgesetzbuches: „Organisation von Gruppenaktivitäten, die die öffentliche Ordnung grob stören und einhergehen mit offener Zuwiderhandlung gegen gesetzliche Vorschriften der Machtorgane, oder die das Funktionieren von Verkehr, Betrieben, Einrichtungen oder Organisationen stören, oder aktive Teilnahme an solchen Aktivitäten.“ Die Anschuldigung bezog sich darauf, dass ich beim Fotografieren auf der Straße gestanden hatte, die Sicherheitskräfte also angeblich blockiert hätte. Dass ich dort als Journalist im Einsatz war, interessierte die nicht.
Meine Reisen in die Ukraine waren sicher ein Katalysator für die Festnahme. Über Google findet mal leicht heraus, dass ich mit fast allen unabhängigen belarussischen Medien zusammengearbeitet habe, die heute als „extremistisch“ gelistet sind. Auf diese Zusammenarbeit stehen bis zu sechs Jahre Haft.
Wie ist Ihnen die Flucht nach Polen gelungen?
Nach der Festnahme war ich drei Monate in Untersuchungshaft. Danach wurde ich zu drei Jahren Hausarrest verurteilt. Was bedeutet, dass ich das Haus nur für meine offizielle Arbeit verlassen durfte. Eine Bar oder Freizeitveranstaltungen zu besuchen war untersagt. Auch ein Besuch bei meinen Eltern und bei meiner Oma. Nach 19 Uhr musste ich zuhause sein. Die Miliz hätte jederzeit kommen und überprüfen können, ob ich zuhause und nüchtern bin.
Ich begriff, dass ich nichts mehr machen konnte, was mir wichtig ist. Zudem war das Risiko sehr hoch, dass ein weiteres Strafverfahren gegen mich angestrengt wird. Also beschloss ich, das Land zu verlassen, auch wenn mir das bis zuletzt widerstrebte. Aber ich wusste: Wenn ich bleibe, würde ich mit hoher Wahrscheinlichkeit im Gefängnis landen.
Also kontaktierte ich den Evakuierungsdienst der Organisation BYSOL. Sie hilft ehemaligen politischen Häftlingen und ihren Familien, Belarus zu verlassen, selbst wenn ein Ausreiseverbot besteht. Details meiner Flucht kann ich nicht verraten, sonst würde ich den Fluchtweg für andere gefährden.
Zu den von Russland besetzten ukrainischen Gebieten gehören auch beliebte Urlaubsorte am Asowschen Meer. Dort, wo noch vor Kurzem brutale Kämpfe stattfanden, hat die russische Besatzungsmacht mittlerweile eigene Behörden und ihren Sicherheitsapparat installiert. Arbeitskräfte und neue, dem Regime loyale Anwohner werden angelockt. Ebenso: Touristen.
Nun geht hier die dritte Urlaubssaison unter Besatzung zu Ende. Noch gibt es keine aktuellen Zahlen, dafür ehrgeizige Ziele: Berdjansk in der Oblast Saporischschja hoffte dieses Jahr auf bis zu 500.000 Touristen. In der Oblast Donezk rechnete man mit 134.000 Feriengästen, bis 2030 sollen es gar eine Million werden. Dabei ist Urlaub in diesen Regionen nicht ungefährlich. Einerseits gibt es immer wieder Beschuss, andererseits drohen bei auffälligem, womöglich regimekritischem Verhalten Verhöre bis hin zu Verschleppung.
Eine Korrespondentin des Online-TV-Senders Vot Takhat dennoch mehrere Erholungsorte an der Küste des Asowschen Meeres besucht und nachgefragt, wer seine Ferien warum und wie in diesen besetzten Gebieten verbringt. Die Namen aller beschriebenen Protagonisten sind aus Sicherheitsgründen geändert.
„War ganz schön was los hier, was?“, fragt mein Sitznachbar. Vor dem Fenster ziehen Masten mit abgerissenen Stromleitungen vorüber. Zerstörte, seit zwei Jahren leerstehende Häuser hinter Zäunen mit Aufschriften wie „Hier leben Menschen“ oder „Kinder“. Das rostig-betongraue Monstrum des zerbombten Asow-Stahlwerks.
„Und wie“, presse ich heraus.
„So ist es überall. Die Einen verteidigen, die Anderen befreien“, sagt der Mann kopfschüttelnd.
Nach 18 Stunden Seite an Seite auf schmalen Sitzen sind wir uns so nahegekommen, wie sich nur zufällige Weggefährten nahekommen können. Der Mann fährt bis zur Endstation, bis Wolnowacha. Von dort sind es noch 15 Kilometer bis zu seinem Dorf.
Er erzählt, wie der Krieg sein Dorf entvölkert und die Leute von der selbsternannten Donezker Volksrepublik (DNR) sein Haus geplündert haben („Sogar die Webcam vom Computermonitor haben sie mitgenommen!“). Und dass er zwar unter Beschuss lebe, aber nicht vorhabe, sein Haus zu verlassen. Die Schuld gibt er jedem ein bisschen, aber am meisten Janukowytsch, der den Maidan nicht rechtzeitig zerschlagen habe. Aber das alles kümmert ihn wenig: In einem Moskauer Hospiz liegt sein dreijähriger Enkel mit Krebs im Sterben.
„Ich bin hier aufgewachsen, hab hier gewohnt … Hab das alles natürlich ganz anders gekannt.”
Eine Frau im Stricktop in der Reihe neben uns bricht in Tränen aus. Ich halte ihr ein Papiertaschentuch hin. „Das ist so ein emotionaler Schmerz …“, murmelt sie, während sie ihre Wimperntusche verschmiert. Alle Passagiere scheinen an den Fensterscheiben zu kleben: 47 Zivilisten und ein paar Militärangehörige mit Aufnähern „Ich spiele sehr gut pocher“.
Irgendwo am Stadtrand werden wir abgesetzt. Die Frau im Top fragt, ob jemand sie telefonieren lässt, damit man sie abholt. Ich gebe ihr noch ein Taschentuch.
„Danke, Schätzchen, das ist lieb“, sagt sie schluchzend. „Ich bin hier aufgewachsen, hab hier gewohnt … Hab das alles natürlich ganz anders gekannt. 2022 bin ich geflüchtet, es war eine schöne Stadt …“
Sie erzählt, dass sie die letzten zwei Jahre in Kyjiw gelebt habe und nach Mariupol zurückziehen will, „wenn ich Fuß fassen kann“. Sie fragt, warum ich hier bin. Ich bringe es nicht über die Lippen zu sagen „wegen der Strände“, also gebe ich vor, auf die Krim zu wollen.
„Kommt man gut von hier auf die Krim?“, fragt sie erstaunt. „Ach ja, die ist ja jetzt Russland!“
Die Unbekannte bedankt sich noch mal für die Taschentücher und verabschiedet sich. Ich gehe zur Haltestelle. Ein Bus mit der Aufschrift „Partnerstädte Sankt Petersburg und Mariupol“ bringt mich für 30 Rubel zum Theater, von wo aus ich durch Straßen, die sogar für einen Werktagsmorgen zu verlassen wirken, in Richtung Strand spaziere. Das Zentrum ist voller Gerüste und Anzeigenzettel. Angeboten werden Taxis auf die Krim und nach Donezk, Wehrdienstverträge und Wellness-Massagen „nur für echte Männer“.
Die Neugestaltung des Mariupoler Strandes ist in der Endphase. Ein Kinderspielplatz, Fitnessgeräte, zweieinhalb Kilometer Promenade mit Bänken und Schaukeln, Sonnensegeln und Umkleidekabinen, einer Rettungsstelle und Toiletten. Ich rüttle an der nagelneuen Plastikklinke – die Tür bleibt zu.
„Immer nur ins Meer“, rät mir ein grinsender Passant.
Am Strand sind mehr Leute. Zwischen den im Sand ausgestreckten Leibern tummeln sich Händler mit Schmalzgebäck und heißen Maiskolben. Für 500 Rubel kann man sich Stand Up Paddles ausleihen oder auf einer aufblasbaren Banane reiten.
Jung und Alt, Freunde und Familien räkeln sich in der Sonne oder verstecken sich vor ihr unter Sonnenschirmen. Den Stadtstrand besuchen vor allem Einheimische, doch ich treffe auch Touristen an, vor allem aus der Oblast Donezk.
Im Schatten sitzen Nadeshda, ihr Mann Sascha und ihre etwa zehnjährige Tochter. Sie kommen aus Tschystjakowe (russ. Tores; Stadt 60 Kilometer östlich von Donezk, seit 2014 kontrolliert von der selbsternannten DNR), wollten eigentlich über Nacht bleiben, haben aber keine Unterkunft gefunden.
„Wir sind die Siedlungen abgefahren, die zerbombten Einfamilienhäuser stehen immer noch genauso da. Wir haben jeden Tag Vermieter angerufen, aber keiner hat sich zurückgemeldet. Dann baden wir eben ein bisschen, genießen die Sonne und fahren wieder zurück. Wir brauchen mit dem Auto drei Stunden“, sagt die Frau dennoch zuversichtlich.
„Es war ein ziemlicher Kontrast. Bei uns die DNR, alles grau, und hier die Ukraine: eine lebendige Stadt, schön war das.“
Letzten Sommer seien sie fünf Tage in Anapa (Strandtourismus-Hochburg, Gebiet Krasnodar am Schwarzen Meer, Russland – dek) gewesen und danach einen Tag in Mariupol. Hier gefiel es ihnen besser: „Das Meer und der Strand sind sauberer, schöner.“ Ich frage, ob sich seit letztem Jahr viel verändert hat.
„Offenbar wird die Stadt hergerichtet. Die Strände werden saubergemacht, man kann das jetzt schon genießen. Letztes Jahr gab es hier noch Sand, Müll und Gestrüpp. Ausgebrannte Waggons standen herum. Am Stadtrand ist natürlich noch nichts gemacht: überall Unkraut und Schutt. Aber im Zentrum funktionieren sogar die Ampeln“, erzählt Nadeshda. „Heute ist nur ein Hubschrauber übers Meer geflogen, letztes Jahr flogen sie ständig. Es ist ruhiger geworden.“
„Wir haben auch schon 2016 und 2018 hier Urlaub gemacht“, sagt nun auch der wortkarge Sascha. „Es war ein ziemlicher Kontrast. Bei uns die DNR, alles grau, und hier die Ukraine: eine lebendige Stadt, schön war das.“
„Jetzt kommt auch hier der Wiederaufbau; was denn sonst?”, sagt Nadeshda. „Halb so wild, es geht alles vorbei, dann ist Frieden.“ Diese Worte wiederholt sie so oft, als wollte sie noch sich selbst überzeugen. „Bei uns gab es zu Ukraine-Zeiten ja auch keine Straßen, und jetzt haben sie damit angefangen. Mein Mann witzelt gern: ‚Krass, was die Besatzer sich erlauben, überall bauen sie Straßen!‘“
„Wie denken die Leute bei euch über das Geschehen?“
Während Sascha mit der Kleinen baden geht, erklärt Nadeshda, dass man Russland in Tschystjakowe „in Ordnung“ finde, sich aber wegen einzelner Ungerechtigkeiten beklage.
„Die pensionierten Minenarbeiter sind empört, weil sie in der Ukraine gute Renten hatten, aber die russische Verwaltung hat ihre Arbeit abgewertet. Auch wer 20 Jahre bei der Bergwerksrettung war, die bei Unfällen in den Minen stets im Einsatz ist … Denen wurden durch Russland die Renten neu berechnet. Umgerechnet 30.000 Rubel waren es, jetzt sind es 18.000“, rechnet sie vor.
„Unsere Leute kämpfen an vorderster Front, die Russen immer nur in zweiter Reihe.“
Besonders böse ist Nadeshda auf Denis Puschilin, das Oberhaupt der DNR. Sie meint, erst durch seine Behauptungen bezüglich Kriegsbereitschaft seiner Armee sei es zu dieser Mobilmachung gekommen, die nun praktisch jeden betreffe.
„Er hat gesagt, die Armee sei bereit, und hat einfach die Männer aus den Bergwerken, den Fabriken, den Bussen eingezogen. Sogar die Wohnungen haben sie abgeklappert. Alle nur Kanonenfutter. Unsere Leute kämpfen an vorderster Front, die Russen immer nur in zweiter Reihe. Sie sagen: Ihr macht eure Landesverteidigung“, sagt sie aufgebracht.
Auch Sascha sei gleich am ersten Tag der großangelegten Invasion eingezogen worden, doch Nadeshda bekam ernste gesundheitliche Probleme, weswegen er als Vater zweier Kinder doch entlassen wurde. Da ist seine Frau dankbar für ihr Leiden: „Die meisten sind schon tot. Du hast einfach keine Chance, wenn du zwei Jahre ohne jede Erfahrung an der Front bist.“
Gut gelaunt kommen Tochter und Papa aus dem Wasser, und die Familie will ein Café suchen, um zu Mittag zu essen.
„Ehrlich gesagt, dachten die Leute, es würde schneller gehen“, fasst Nadeshda zusammen. „Aber Enttäuschung oder ‘schon zweieinhalb Jahre, das wird nichts mehr‘ – so eine Stimmung gibt es nicht.“ Sie verstummt, dann fügt sie mit unverfälschter Freude hinzu: „Ich sitze hier unterm Sonnenschirm – ist doch fein! Sehr viele Leute sind hier, dicht an dicht … Aber was soll’s, es wollen halt alle [Urlaub am Meer machen].“
„Die Stadt war schon ein Schock, aber die Kinder haben geschlafen “
Am östlichen Ende des Strandes steht in der Nähe eines Fitnessareals ein Zelt unter einem Baum. Ein Mann mit tätowierten Armen bläst ins Feuer eines Holzkohlegrills. Eine unfrisierte Frau treibt drei verdreckte Kinder unter die Plane und redet ihnen zu, ein wenig zu schlafen, bis das Meer wärmer wird. Sie stellen sich als Urlauber aus Moskau vor. Als sie mich als Russin erkennen, laden sie mich auf eine Tasse Tee ein.
„Der Strand ist schön, so eine tolle Pier, und die schicke Promenade“, schwärmt Katja, während das Wasser aufkocht. „Gefällt mir supergut hier.“
Früher machten sie in der Region Krasnodar Urlaub, aber mit drei Kindern wurde es teuer: „In Gelendshik oder in Sotschi zahlst du überall für den Strand, 500 Rubel pro Kopf.“ Mariupol wurde ihr von Freunden empfohlen, die letztes Jahr hier waren. Katjas Bruder Sascha ist aus Kirow mitgekommen, bis Rostow sind sie mit der Bahn gefahren, den Rest mit dem Bus.
Die Familie will ungefähr zehn Tage in Mariupol bleiben, solange das Geld reicht. Am ersten Tag wollten sie sich ein Häuschen am Meer suchen, aber daraus wurde nichts: „Alles voll.“ Also beschlossen sie, im Zelt zu übernachten, das sie für alle Fälle mitgenommen haben.
„Wir leben ins Blaue hinein und genießen es. “
„Ich hatte die schlimmsten Befürchtungen, ich dachte, hier würde es nur Bäume und Meer geben. Aber der Strand ist bewacht, es gibt Militär, keiner prügelt sich, es ist friedlich und still“, freut sich Katja. „Rund um die Uhr ist was los, bis drei Uhr nachts gehen die Pärchen spazieren. Hier ist es noch etwas wüster, aber da drüben liegen sie wie die Sardinen!“
„Hatten Sie keine Angst?“
„Wovor sollten wir Angst haben?“ Diese Frage scheint sie mir übelzunehmen. „Hier sind ständig Leute, alle machen Urlaub, alle sind wie wir.“
„Es geht um was anderes!“, mischt Sascha sich ein. „Keiner von uns weiß, wann er sterben wird. Du kannst genauso zu Hause in der Badewanne ertrinken. Es gibt verschiedene Todesarten. Wir leben ins Blaue hinein und genießen es.“
Er fragt, ob ich einen Wodka mit ihm trinke. Ich lehne ab und bekomme Tee und Waffeln.
„Die Stadt wird neu gebaut“, erzählt er. „Aber die Bevölkerung ist nicht so offen, sag ich dir. Die Einheimischen sagen: Ihr habt uns noch gefehlt.“ Oder: „Fahrt doch in euer Sotschi oder nach Gelendshik“, bekräftigt Katja.
„Noch sind wir in ihren Augen Besatzer. Noch. Mit der Zeit wird sich das einrenken.“
„Gestern sitz ich in einer Bar, frage, ob sie froh sind, dass sie jetzt zur Russischen Föderation gehören“, setzt Sascha fort. „Drei Männer saßen da – alle drei dagegen. Sie haben viel verloren hier, sind wütend: Der eine seine Firma, der andere seine Familie, der nächste sein Haus. Das gibt sich wieder, aber es wird mit einem Jahr nicht getan sein. Das kostet Zeit und Geld.“
„Krieg macht natürlich niemanden froh. Es ist ein wenig unangenehm, aber wir können sie verstehen“, sagt Katja versöhnlich. „Was sollen wir denn tun? Noch sind wir in ihren Augen Besatzer. Noch. Mit der Zeit wird sich das einrenken.“
„Mariupol ist ja total zerstört, das habe ich beim Herfahren gesehen“, erzählt Katja. „Die Stadt war schon ein gewisser Schock, aber die Kinder haben geschlafen und nichts mitgekriegt.“
Ich sehe mich um. Solange man den Strand nicht verlässt, kann man nur an der am Horizont hochragenden Ruine des Sanatoriums Sdorowje (dt. Gesundheit) erahnen, was vor zwei Jahren in Mariupol passiert ist. Aber stehen nicht in jeder Stadt sowjetische Ruinen?
Ich frage Sascha, was genau die Leute in der Bar gesagt haben. „Ich hab nicht so genau nachgefragt. Sie haben mich in Ruhe gelassen und ich sie auch“, antwortet er. Dann fügt er hinzu: „Ihre Stadt. Sie meinen, das sei ihre Stadt. Aber das stimmt nicht, das ist unsere Stadt.“
Ich bedanke mich für den Tee. Katja sagt zum Abschied: „Mariupol kann ich wirklich allen empfehlen.“
„Der traurigste Ort von allen“
Das Dorf Melekine ist ein Ferienort in unmittelbarer Nähe zu Mariupol. Laut der Donezker Komsomolskaja Prawda war das früher ein Nachteil war: „Die größten Mariupoler Umweltverschmutzer liefen auf vollen Touren: die Metallurgiekombinate Asowstahl und Iljitsch-Eisen- und Stahlwerke. Aber damit ist es jetzt vorbei“, beruhigt ein Werbeartikel potenzielle Urlauber.
Das russische Tourismus-Portal nasche-more.rf (dt. unser-meer.rf), das ebenfalls Urlaubsziele in den besetzten ukrainischen Gebieten anpreist, verspricht hier „viele Sehenswürdigkeiten“, „ausgezeichnete Infrastruktur“ und „entspannte Atmosphäre“. „Auch Mariupol ist ganz in der Nähe, eine hinreißende Stadt mit reichem Kulturleben und historischem Flair“, heißt es auf der Website.
„Mit Urlaubern rechnet hier keiner, nicht mal frisches Fleisch wird geliefert.“
„Das ist am Asowschen Meer der traurigste Ort von allen – null Infrastruktur und null Unterhaltung“, erklärt mir dagegen die blondierte und stark geschminkte Olga bereits auf der Schwelle. Sie ist in Melekine geboren und aufgewachsen, lebt aber schon lange in Donezk. Sie kommt jedes Jahr, um Urlaub zu machen und einer Verwandten zu helfen. Diese betreibt die Pension, in der ich mich eingemietet habe. „Es hat sich nichts verändert, weder vor noch nach dem Krieg. Wenn du die Zeit auf 1989 zurückdrehen willst, dann komm nach Melekino (russ. für Melekine – dek).“
Ihr zufolge seien seit 2014 kaum noch Touristen aus den besetzten Teilen der Oblasten Donezk und Luhansk hierher ins „Feindesland“ gekommen, was ein schwerer Schlag für die lokale Tourismuswirtschaft war. Ab 2022 kamen nach und nach wieder Erholungssuchende nach Melekine, auch Armeeangehörige und Bauarbeiter vom Wiederaufbau in Mariupol wohnten da. Was allerdings für die Entwicklung als Ferienort kaum förderlich gewesen sei.
„Dieses Jahr sind keine Bauarbeiter da, die Soldaten sind auch weg, Schluss, game over. Mit Urlaubern rechnet hier keiner, nicht mal frisches Fleisch wird geliefert“, beschwert sich Olga. „Wladimir Wladimirowitsch [Putin] hat uns das ultimative Feng Shui versprochen. Hoffen wir’s!“
Semjon aus dem Moskauer Umland ist mit seinem halbwüchsigen Sohn im Urlaub. „Im vergangenen Jahr waren wir in Berdjansk. Da war die Hälfte der Hotels zu. Und als ich jetzt bei der alten Unterkunft anrief, war alles belegt.“
Semjon sagt, am Asowschen Meer würden „viele von uns“ Urlaub machen, und dass es mit den Einheimischen keine Probleme gebe. „Alle sind missmutig. Die Dickköpfigsten sind weggegangen, wer nur mittel-störrisch ist, hat sich russifiziert“, meint er. „Na ja, es sind auch welche geblieben. Auf meiner Tasche steht ‚Russland‘, die habe ich zufällig dabei. Da hat mich einer so [missbilligend – Vot Tak] angesehen. Aber die meisten sind schon für uns. “
Olga sagt, in ihrer Pension sei ich die Erste aus den [international – dek] anerkannten Territorien Russlands. „Am Strand [traf ich Touristen – Vot Tak] aus Woronesh, aus der Oblast Kursk. Viele [Russen – Vot Tak] kämpfen hier, und holen ihre Familien her“, sagt sie. „Aber die meisten kommen aus Donezk.“
„Hier sind nur Flieger und Hubschrauber unterwegs, die sind harmlos. Bei uns fliegen die Granaten.“
Von dort braucht man nur einige Stunden, es gibt sogar Tagesstouren mit dem Bus – am Wochenende und an Feiertagen. „Es ist das erste Jahr, dass die Leute in Ruhe ans Meer fahren können. Ohne Angriffe, ohne Checkpoints“, erklärt ein Verkäufer im Laden. „Du packst einfach deine Sachen und fährst los.“ Gefahren durch den Krieg machten diesen Urlaubern nichts aus, zu Hause sei es ja noch gefährlicher.
„Hier ist es ruhig, hier sind nur Flieger und Hubschrauber unterwegs, doch die sind harmlos. Bei uns fliegen die Granaten. Jeden Tag Luftangriffe, Luftangriffe, Luftangriffe. Du gehst zur Arbeit und weißt nicht, ob du zurückkommst“, erzählt auch Witali, der mit seiner Frau und zwei Kindern in Melekine Urlaub macht.
Das Paar bereut, dass sie nicht nach Ursuf gefahren sind, ein Dorf auf halber Strecke zwischen Mariupol und Berdjansk. Sie sagen, dort sei das Wasser sauberer und die Infrastruktur besser. Es gebe sogar einen Freizeitpark. Auch andere Einheimische empfehlen mir Ursuf, warnen aber: Die Strände seien „rappelvoll“.
„Drei Mal hat’s geknallt – wir blieben sitzen, als ob nichts wäre“
In Ursuf herrscht Geschäftigkeit, Leben pur, wie es sich für einen Urlaubsort in der Hochsaison gehört. Auf der Straße, die zum Hauptstrand führt, schlendern spärlich bekleidete Touristen. Der Verkauf von Souvenirs läuft auf Hochtouren. An Pensionen sagen Schilder: „Belegt“. Der Strand ist mit bunten Schirmen und erhitzten Körpern übersät.
Ein nicht mehr ganz junger Mann mit „Russland“–Cap und seine stämmige Gattin schützen sich vor der Mittagssonne unter einem Schirm. „Wir sind aus der DNR, wir haben nur eine Woche Urlaub und sind nach Ursuf gekommen, weil wir nicht so viel Zeit für die Fahrt opfern wollten. Na, und wir wollten sehen, was sich hier so verändert hat“, erzählt Tatjana.
Die letzten Jahre habe das Paar auf der Krim Urlaub gemacht, jetzt sind sie vom Service hier enttäuscht. „Ich komme an, seh‘ das Zimmer, und traue meinen Augen nicht: Wofür zahl ich denn solch ein Geld? [4.000 Rubel pro Nacht – Vot Tak; ca. 40 Euro – dek]. Für dieses Geld bekommst du auf der Krim ein zweistöckiges Apartment! Wenn man den Vergleich hat, ist das natürlich eine Riesenenttäuschung“, entrüstet sie sich. „Ich war außer mir, habe die Kinder angerufen, wollte gleich wieder abreisen.“
Ihr Mann schaltet sich ein. Er ist empört über die Preise in den Geschäften: „Jetzt im Krieg verdienen die Leute ganz gut, es gibt viele Militärangehörige, die können sich das leisten. Die gleichen Lebensmittel wie bei uns kosten hier doppelt so viel.”
„Und dann wird das noch so verkauft, als ob sie uns einen Gefallen tun würden und wir ihnen was schuldig wären“, beschwert sich Tatjana.
„Hier stehen Autos mit Moskauer Nummern, sogar welche aus Murmansk. Mein Gott, von Murmansk bis hierhin!“, ruft die Urlauberin. „Wir sind doch nur deshalb hier, weil es nur zwei Stunden Fahrt sind.“
Ein Stückchen weiter hat sich eine Familie aus der Stadt Charzyssk mit ihrer neunjährigen Tochter im Schatten eines Bungalows niedergelassen. „Super! Uns hat es sehr gut gefallen, alles top“, erzählt Vater Jegor. Früher hätten die Eheleute auf der Krim Urlaub gemacht. „Hier ist es ruhiger“, sagt seine Frau. „Drei Mal hat es geknallt, aber nicht laut. Wir blieben sitzen, als ob nichts wäre.“
Der Vater fragt seine Tochter nach ihrer Meinung: „Es gibt eine einzige Sache, die blöd ist“, sagt sie bestimmt. „Zwei Tage gab es Quallen.“
Am vielbevölkerten Strand kann man wohl leicht den Krieg vergessen.
Vor dem großflächigen Überfall Russlands auf die Ukraine galt Berdjansk, Oblast Saporischschja, als einer der beliebtesten Urlaubsorte der Ukraine. Pro Saison konnten bis zu anderthalb Millionen Touristen hier unterkommen. Nach zwei Jahren Krieg hoffen die Besatzungsbehörden der Region, wenigstens eine halbe Million anlocken zu können.
In meiner Pension mit zwölf Zimmern sind außer meinem nur drei Zimmer belegt. Der Wirt Sergej gibt mir großzügig ein Sechsbettzimmer. Das Interesse sei sowieso nicht groß. Im Vergleich zum Vorjahr gebe es allerdings schon zwei- bis dreimal mehr Besucher.
„Vor allem Leute aus Donezk sind hier. Donezk ist quasi unterwegs“, erklärt er mir. „Wie Sie vielleicht wissen, haben sie dort die Leute scharenweise für den Krieg ‚abgegriffen‘. Und mit wem willst du Urlaub machen, wenn dein Mann sich unter der Bettdecke versteckt und nicht mal für ‘ne Dose Bier aus dem Haus gehen kann? Jetzt ist das etwas besser geworden.“
„Was meinen Sie, würde jemand aus Moskau hier Urlaub machen wollen?“
„Kommen auch Leute aus Russland?“, frage ich. „Na ja, aus Rostow, aus der Nähe. Aus Moskau sind Sie die Erste; Sie kommen auf die Ehrentafel“, lacht er. „Wir sind hier ganz schön abgelegen, nicht wahr? Was wäre von Moskau aus eine Alternative? So ganz spontan gesagt, los!“
„Nach Sotschi fliegen“, schlage ich vor. „Nach Sotschi fliegen“, wiederholt Sergej. „Fliegen kannst du hier vergessen. Touristen brauchen Verkehrsverbindungen: Bahnstrecken, Fluglinien, Busse. Nicht jeder hat ein Auto. Der Bahnhof hat früher dafür gesorgt [dass Touristen kommen – Vot Tak]. Sobald es wieder einen Bahnhof gibt, wird alles anders.“
Später ergänzt Sergej allerdings, dass nicht nur die zerstörte Logistik ein Problem ist: „Wir werden hier erstmal keine Sommergäste aus Moskau oder Rostow haben. Selbst wenn es Transportmöglichkeiten gibt. Womit wollen wir sie denn beeindrucken? Weil’s billig ist? Sollen wir schreien: ‚Bei uns gibt’s den billigsten Urlaub‘? Was meinen Sie, würde jemand aus Moskau hier Urlaub machen wollen? Sie kennen ja Ihr Umfeld.“
„Ein bisschen wie ausgestorben“
Berdjansk spricht Propaganda mit mir. Als ich am Stadtstrand entlangschlenderte, erfahre ich, auf welchem Sender man Putin sehen kann, welche Zeitung man kaufen soll, um „mit dem Präsidenten“ zu sein und ausgewählte Zitate von ihm zu lesen. In der Fußgängerzone sitzen ein paar Rentner auf einer Bank. Auf dem Plakat über ihnen heißt es: „Wir wissen, dass wir in den angegliederten Gebieten auf alle zählen können“.
Auf der Uferpromenade spazieren Urlauber und Einheimische. Es sind nicht wenige, aber das alles erinnert nur entfernt an die Berdjansker Sommer vor dem Krieg. Ich begegne tatsächlich nur Touristen aus den Oblasten Donezk und Luhansk. Ihre Beweggründe gleichen einander, als ob sie sich abgesprochen hätten: Sie seien hier, weil es nah ist und sie den Ort kennen. Aber: „Die Stadt ist ein bisschen wie ausgestorben.“ Vor 2022 „war alles proppevoll“. Mit dem Urlaub sind sie zufrieden, „nur die Quallen haben etwas gestört“. Vor Beschuss haben sie „schon keine Angst mehr“.
In den Geschäften wird kein hochprozentiger Alkohol verkauft. Bier geht nur bis 17.00 Uhr über den Ladentisch. Ich komme mit drei jungen Männern ins Gespräch, die auf der Brüstung der Promenade Bier aus Plastikbechern trinken. Sie sind aus Horliwka gekommen, um sich hier für eine Woche zu erholen.
„Wir sind so richtig am Arsch“, erzählt der 26-jährige Ruslan, kahl rasiert und im T-Shirt. Er ist der Gesprächigste und der Jüngste, die anderen sind um die dreißig. „Alle wollen, dass es so schnell wie möglich vorbei ist. Dass alles ins Lot kommt und man in Frieden sein Leben lebt. Ich sitz zuhause, musst du wissen, und jeden gottverdammten Tag fliegen 20 Meter überm Dach Flugzeuge drüber. Und wir haben ein Baby. Das ist hart, sehr hart, wirklich brutal. Nie ist man ausgeschlafen; permanent kracht es, ständig fliegt was. Wir kennen das ja, waren auch an der Front.“
„Die haben alle in den Fleischwolf getrieben.“
Alle drei sind in den Schützengräben gewesen, wurden verwundet und deshalb entlassen. Sie hatten schon 2021 des Geldes wegen als Vertragssoldaten angeheuert.
„Zweihundert [Tausend – dek, haben sie gezahlt – Vot Tak]. So viel kostet wohl ein Leben, wie es aussieht. Sergej und ich haben den Feind husten hören“, erzählt Ruslan. „Wir waren bei den Sturmeinheiten.“
„Da ging es hart auf hart …“, bestätigt Sergej. „Wir sind in ein Bataillon geraten, das total scheiße war.“
„Die haben einfach alle in den Fleischwolf getrieben.“
„Als ob wir keine Menschen wären.“
„Hätten Sie den Vertrag kündigen können?“, frage ich nach. „Nein, nur wenn du stirbst“, antworten alle drei im Chor, „oder schwer verwundet wirst.“
„Sind Sie wütend, dass Sie als Kanonenfutter herhalten mussten?“
„Natürlich sind wir sauer, stinksauer“, meint Ruslan. „Obwohl… ehrlich gesagt, tut es mir eher um die Kameraden leid. So viele tolle Jungs, verdammt …“
Die jungen Männer erinnern sich an ihre Freunde, die im Krieg umgekommen sind. Da wird Ruslan von einem Kameraden angerufen. Er unterhält sich lachend und scherzend; dann legt er auf und erklärt beiläufig: „Er sagt, gestern sind 20 Raketen ins Zentrum von Horliwka geflogen … Mit dem Auto sind das 15 Minuten von uns.“
„Gab’s viele Opfer?“
Statt einer Antwort reicht er mir den Plüschdelfin, den er im Lunapark gewonnen hat. „Das ist für dich, zur Erinnerung an den Donbas. Von einem echten Krieger“, sagt er beharrlich, bis ich sein Geschenk endlich annehme.
Ein Straßenmusiker macht mich darauf aufmerksam, dass bald [um 23.00 Uhr – Vot Tak] die Ausgangssperre beginnt und es Zeit ist, nach Hause zu gehen. Ich verabschiede mich von den Jungs aus Horliwka, gehe die Promenade entlang, vorbei an leuchtenden Cafés, wo getrunken, gegessen und gelacht wird. Ich biege in eine dunkle Seitenstraße; nach zehn Minuten bin ich in meiner Pension, ohne auf dem Weg auch nur einer Menschenseele begegnet zu sein.
Der Betreiber Alexander empfängt mich am Gartentor und fragt, wie mein Spaziergang war und was ich fotografiert habe. Ich zeige ihm meine Fotos vom Strand, auf denen zufällig auch der Hafen zu sehen ist. Er rät mir, das Bild zu löschen oder gut zu verstecken, damit ich nicht … Er zeigt mit zwei Fingern nach unten, um die „Keller“ anzudeuten.
„Ich will Ihnen ja keine Angst machen, aber diese Ecken, die sind spitz…“
„Den Hafen sollte man besser in Ruhe lassen, damit es keine Fragen gibt. Wir wollen ja alle leben; wir leben ja unter einem Staat“, sagt Alexander.
„Und was passiert mit mir, wenn sie mich in die ‚Keller‘ bringen?“
„Das wünscht man keinem. Es kommt vor, dass Leute verschwinden. Da geht jemand aus dem Haus und kommt nicht mehr zurück.“
„Kennen Sie jemanden, der verschwunden ist?“
„Ich will Ihnen ja keine Angst machen, aber diese Ecken, die sind spitz…“, weicht er meiner Antwort aus. „Wenn bei Ihnen Fotos gefunden werden, dann werd‘ ich davon nie erfahren und kann auch nichts davon erzählen.“
Ich lösche für alle Fälle die Fotos und lege mich schlafen. Am nächsten Morgen mache ich mich auf den Heimweg. Auf dem Rückweg sitzt im Bus eine rothaarige Swetlana neben mir. Sie war zur Erholung in Berdjansk, und um sich mit ihrer Freundin und deren Mutter zu treffen. Die leben in den besetzten Gebieten.
Swetlana hatte in Bachmut gelebt und die Stadt im Sommer 2022 verlassen. „Mein Mann wollte eigentlich nicht weg. Wir dachten, das sitzen wir aus, oder wir bleiben eine Weile im Keller, und das wär’s dann. Eines Tages gab’s einen Angriff, der traf unser Haus, wir waren rechtzeitig unten. Alles ist in Stücke geflogen, gleich am nächsten Tag sind wir los. Kein Wasser, kein Licht, kein Gas, auf offener Flamme kochen … Und überall donnerte es.“
Swetlana ist mit ihrem Mann in Balaschicha bei Moskau untergekommen. Sie haben nun die russische Staatsangehörigkeit, damit sie Arbeit finden können. Ihr Einfamilienhaus in Bachmut und ihre Wohnung in Soledar wurden durch Beschuss zerstört. „Wir sind nach Russland gekommen, bekamen eine Einmalzahlung von 10.000 Rubel und einen russischen Pass. Geht arbeiten, ihr seid jetzt Staatsbürger! Ich hatte mein eigenes Dacht über dem Kopf, ein Haus und eine Wohnung. Jetzt bin ich obdachlos und habe nichts“, sagt sie wehmütig.
„Die Einen befreien, die Anderen verteidigen.“
An der Grenze wird Swetlana ewig ausgefragt, ihr Telefon wird lange geprüft, sie ist den Tränen nah. Sie wird verdächtigt, nach Soledar (aktuell direkt an der Frontline – dek) gefahren zu sein. Die Stadt ist in ihrem neuen roten Pass als Geburtsort eingetragen.
„Wie kann ich in Soledar gewesen sein? Dort ist niemand, nur die Armee“, ist sie anschließend empört. „Ich bin eine, wie ihr immer sagt, Bürgerin der Russischen Föderation. Aber irgendwie sind wir wohl doch was anderes! Wieso gebt ihr uns dann einen Pass? Keine Entschädigung, nichts. Keine Wohnung, nichts. Die Einen befreien, die Anderen verteidigen.“
Ich frage nach, was dieser Satz bedeutet, den ich auf dieser Reise schon zum zweiten Mal höre.
„Ich gehe auf die fünfzig zu. Mein Vater ist Belarusse, meine Mutter Ukrainerin, in Sankt Petersburg habe ich Schwester und Bruder. Wir haben immer gut zusammengehalten. Es ist doch überall dasselbe“, antwortet Swetlana. „Wir brauchen die alle nicht, weder die Einen noch die Anderen. Wir hatten einfach in Ruhe unser Leben. Alle bekriegen einander, und die Menschen haben zu leiden.“
Swetlana dreht sich zum Fenster und schweigt. Ich schaue auch aus dem Fenster, sehe Sonnenblumenfelder vorbeiziehen. Wie in den besetzten Gebieten der Ukraine. Nur ohne Panzersperren.