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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Lieber tot als in Haft

    Lieber tot als in Haft
    Auf der Krankenstation der Strafkolonie Nr. 2 im Gebiet Krasnodar misst ein Arzt Fieber bei einem Häftling. Ein neues Gesetz erlaubt es, jederzeit Strafverfolgung oder Haft gegen einen Einsatz an der Front zu tauschen / Foto © Roman Sokolov/ Tass/ Imago 

    Das Anwerben von Straffälligen für Russlands Krieg gegen die Ukraine ist innerhalb von zwei Jahren von einer Ausnahme zur Normalität geworden: 

    Im Juli 2022 kursierten erstmals Aufnahmen davon, wie Jewgeni Prigoshin in russischen Straflagern Gefangene für seine irreguläre Wagner-Truppe anwarb. Zu diesem Zeitpunkt gab es dafür keinerlei rechtliche Grundlage – weder für eine Anwerbung von Häftlingen noch für deren Entlassung aus dem Strafvollzug. Per Geheimerlass verfügte Wladimir Putin persönlich die Begnadigungen von Verbrechern, die bereit waren, sich dem privaten Militärunternehmen Wagner anzuschließen. Gemäß informellen Vereinbarungen sollten die aus den Strafkolonien Freigekommenen sechs Monate in Sturmeinheiten dienen, bevor sie dann ihre volle Freiheit erhalten würden.  

    Vom Herbst 2022 an begann auch das Verteidigungsministerium, Häftlinge für die reguläre russische Armee zu rekrutieren. Die Praxis weckte Erinnerungen an die berüchtigten Strafbataillone, die Stalin im Zweiten Weltkrieg aufstellen ließ. Ende des Jahres verlor Prigoshin sein informelles Recht, Häftlinge für Wagner anzuwerben; dieses Recht hatte jetzt nur noch das Verteidigungsministerium. 

    Im Juni 2023 – ein Jahr nachdem die Anwerbung von Häftlingen für die Front faktisch begonnen hatte – verabschiedete die Staatsduma ein Gesetz, das den ersten rechtlichen Rahmen schuf, um Verbrecher aus der Haft zu entlassen. In dem Gesetz gibt es die Bestimmung über eine „Entlassung auf Bewährung“ von Häftlingen, die einen Vertrag mit der russischen Armee geschlossen haben. Dasselbe Gesetz erlaubt es auch, Personen, gegen die ein Ermittlungsverfahren läuft, für den Krieg anzuwerben. Die Begnadigung von Personen, die in den Krieg ziehen, wurde beendet. Seither können Strafgefangene oder Beschuldigte nur dann von ihrer strafrechtlichen Verantwortung befreit werden, wenn sie eine Auszeichnung erhielten oder wegen einer Verwundung aus dem Dienst entlassen wurden; oder wenn die militärische Spezialoperation beendet ist. Damit gilt der Vertrag mit der Armee für die Häftlinge jetzt unbefristet. Sie werden nicht mehr nach sechs Monaten entlassen. Diese Neuerungen wurden später als Änderungen im Strafgesetzbuch und der Strafprozessordnung festgeschrieben. 

    Seit September 2024 können Häftlinge in jeder Phase eines Strafprozesses in den Krieg ziehen, aus der Strafkolonie, nach der Urteilsverkündung, während der Ermittlungen, und jetzt auch direkt im Laufe des Gerichtsprozesses. Formal erfolgt eine Befreiung von strafrechtlicher Verantwortung nur dann, wenn ein Vertragssoldat eine staatliche Auszeichnung erhielt oder den Vertrag aufgrund der Beendigung der Kriegshandlungen erfüllt hat. 

    Faktisch werde damit eine Parallelstruktur zum regulären Rechtsweg geschaffen, urteilt die Novaya Gazeta Europe: In jedem beliebigen Stadium eines Strafverfahrens hat der Beschuldigte nun die Wahl, an die Front zu gehen – von der Festnahme bis zur Ankunft in einer Strafkolonie. 

    Aus Gesprächen mit Polizisten, Anwälten, Beschuldigten und deren Angehörigen hat die Novaya Gazeta Europe den Eindruck gewonnen, dass diese Form der Anwerbung für die Streitkräfte inzwischen zu einer Routine geworden ist, mit der jeder konfrontiert sein kann, der ins Visier von Strafermittlungen gerät. Im folgenden Text schildern die Autoren, wie das Verfahren abläuft und wer davon profitiert. 

    Die Namen der Personen in diesem Text wurden geändert, um sie nicht zu gefährden. 

    Dmitri sitzt seit sechs Monaten in einem Moskauer Untersuchungsgefängnis. Er ist 36. In Freiheit machte er Musik und konnte sogar davon leben. Nebenbei verkaufte er Drogen, deswegen ist er hier. „Ich war auf meinem Gebiet recht erfolgreich. Aber ich ließ mich auf Drogen ein“, erzählt Dmitri. „Vieles, was man mir vorwirft, stimmt, aber ich habe nicht gedacht, dass es dafür so harte Strafen gibt“, sagt er. „Ich wurde wegen des Handels mit Drogen verurteilt, die in vielen Ländern legal sind. Ich habe gestanden, wurde aber trotzdem abgeurteilt als wäre ich ein Drogenbaron.“ 

    Da Dmitri ein Geständnis ablegte, ging der Prozess schnell über die Bühne, endete aber mit einem harten Urteil. „Ich bekam zehn Jahre unter verschärften Bedingungen. Das finde ich ungerecht. Ich konnte das nur schwer verdauen und bin immer noch aufgewühlt“, berichtet er. Das ließ bei ihm den Gedanken aufkommen, in den Krieg gegen die Ukraine zu ziehen. „Das allgemeine Gefühl der Machtlosigkeit wegen des harten Urteils brachte mich auf den Gedanken, dass das vielleicht keine schlechte Lösung wäre.“ 

    Ende September 2024 verabschiedete die Staatsduma zwei weitere Gesetze, die Verbrechern die Möglichkeit eröffnen, einer strafrechtlichen Verantwortung zu entgehen, wenn sie einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium schließen und an die Front gehen. Die Verfasser dieser Gesetzesvorlagen sagen, dass damit lediglich eine Gesetzeslücke geschlossen werde: Wenn zuvor nur Leute an die Front gehen konnten, die bereits verurteilt sind und im Gefängnis ihre Strafe verbüßen, könnten jetzt Leute in jeder Phase der Strafverfolgung angeworben werden. Das wird ihnen sowohl von Polizisten sofort nach der Festnahme angeboten, als auch in Untersuchungshaft, bei Gericht, während der Ermittlungen und während des Prozesses. 

    Die Praxis wirkte anfangs wie aus einem Actionfilm: Der Söldnerchef Jewgeni Prigoshin landete nachts mit einem Hubschrauber in den Strafkolonien und warb dort persönlich Häftlinge für die militärische Spezialoperation an, die schwere oder besonders schwere Taten verübt hatten, damit sie dann „als Helden zurückkehren“. Inzwischen ist daraus eine Routine geworden, die jeden erwartet, der in das russische System der Strafjustiz gerät. 

    Die Rekrutierung 

    Dmitri entschied sich, einen Antrag auf Entlassung an die Front zu stellen, nachdem er mit Zellengenossen gesprochen hatte. Die Idee, in den Krieg zu ziehen, taucht in der U-Haft sofort auf, wie aus dem Nichts. „Es ist inzwischen eine ganz gewöhnliche Sache: Sobald du ankommst, sollst du unbedingt einen Antrag beim Wehrersatzamt stellen, dass du bereit bist zu dienen“, beschreibt Dmitris Anwalt die Stimmung der Untersuchungshäftlinge. 

    Als nächstes bekommen diejenigen, die ein Gesuch gestellt haben, Besuch von Männern in Uniform vom Wehrersatzamt. Sie landen dann diejenigen Häftling zum Gespräch, die einen Antrag gestellt haben, oder diejenigen, die über Kampferfahrung verfügen. Die Einberufung erfolgt nicht sofort; einigen Häftlingen wird aus verschiedenen Gründen ein Wechsel an die Front verweigert. „Viele meiner Zellengenossen schreiben jeden Monat an die Meldestelle in der Jablotschkow–Straße [die Moskauer Meldestelle für die Einberufung in die Armee – Novaya Gazeta Europe]; sie bitten um beschleunigte Bearbeitung ihres Antrags auf einen Vertrag“, sagt Dmitri. 

    Eine fröhliche Winkfigur in Flecktarnkleidung wirbt an einer mobilen Rekrutierungsstelle in Weliki Nowgorod um Freiwillige für die Front / Foto © Pond5 Images, Imago 

    Mit der Anwerbung befassen sich jetzt auch Mitarbeiter von Polizei und Justiz – von einfachen Polizisten bis hin zu Ermittlern. 

    „Wir wurden etwa im März dieses Jahres angewiesen, Leute für den Krieg anzuwerben“, erzählte Alexej M. der Novaya Gazeta Europe. Er arbeitet als Fahnder in einer Polizeieinheit in der Leningrader Oblast. Im August berichtete der Telegram-Kanal Baza, dass Polizisten in einigen Regionen eine Prämie für jeden Festgenommenen ausgelobt wird, der einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium unterschrieben hat. Die Polizisten, mit denen Novaya Gazeta Europe sprechen konnte, haben solche Prämien zwar nicht erhalten; sie hatten jedoch andere Gründe, sich aktiv an der Anwerbung zu beteiligen.  

    „Voraussetzung dafür, dass ein Festgenommener zur militärischen Spezialoperation geschickt wird, ist ein Geständnis. Daraus ergibt sich, dass diejenigen, die bereit sind, in die Ukraine zu gehen, die Aufklärungsquote erhöhen (Schließlich haben sie gestanden!)“, erzählt Alexander S., ein Mitarbeiter der Fahndung in der Hauptverwaltung des Innenministeriums für St. Petersburg ganz offen. 

    „Für einfache Revierpolizisten, die ihren Dienst auf der Wache tun, ist diese Anordnung schlicht ein Geschenk des Himmels. Zunächst einmal aus dem Grund, dass es weniger Schreibkram gibt. Überhaupt wird die Arbeit weniger: Der Festgenommene unterschreibt ein Geständnis, schreibt einen Antragt auf Entsendung zur militärischen Spezialoperation – und damit ist die Sache erledigt. Die Statistik verbessert sich, was gewisse Dividenden einbringt: Prämien, Vergünstigungen, Rangerhöhung außer der Reihe, Beförderung.“ 

    Die Vorschrift, dass ein Schuldeingeständnis Voraussetzung ist, wird in der föderalen Gesetzgebung nicht erwähnt. Polizisten berichteten der Novaya Gazeta Europe, dass die Anweisung, Festgenommene für den Krieg in der Ukraine anzuwerben, in einer internen Dienstanweisung des Ministeriums verankert ist, den in den lokalen Polizeidirektionen kaum jemand je gesehen hat. 

    An dieser Stelle kommen nun die Ermittler ins Spiel. Sie sind das Bindeglied im Strafprozess. Für sie ist es eigentlich ungünstig, wenn Verdächtige an die Front geschickt werden. „Ein Indikator für gute Ermittlungsarbeit ist eine Übergabe des Verfahrens ans Gericht. Wenn sich viele Beschuldigte jetzt in einem Frühen Stadium des Verfahrens an die Front melden, ruiniert das den Ermittlern die Statistik. Deshalb sind sie unzufrieden“, erklärt die Anwältin Jelisaweta. Die Strategie der Ermittler bestehe daher darin, den Moment hinauszuzögern, an dem die Beschuldigten einen Vertrag als Soldaten abschließen. „Bei Eingang eines entsprechenden Antrags versuchen die Ermittler, ihn möglichst auf die lange Bank zu schieben, um das Verfahren abschließen und ans Gericht übergeben zu können; alles Weitere ist dann Sache des Gerichts.“ 

    „Als ihr noch in Freiheit wart, hattet ihr es nicht so eilig, euch als Freiwillige zu melden“  

    In einer VK-Gruppe zum Untersuchungsgefängnis Kresty gibt es einige Dutzend recht aktueller Posts und Kommentare, in denen Angehörige von Verhafteten schreiben, dass diese in den Krieg ziehen wollen. Neben Fragen zu Dokumenten und Kleidung interessiert die Nutzer zum Beispiel auch, wie man sich so scheiden lassen kann, dass die Ehefrau nichts davon erfährt. Denn im Falle einer Verwundung oder des Todes bekäme sie sonst die ganzen Entschädigungszahlungen. 

    Jelena, eine Frau fortgeschrittenen Alters, berichtet, dass ihr Sohn Jewgeni gleich nach Verkündung des Urteils aus dem Untersuchungsgefängnis an die Front gefahren ist, noch bevor er in eine Strafkolonie verlegt wurde. Dort ist er in der zweiten Julihälfte gefallen. Jewgeni war ebenfalls wegen des „Drogenparagrafen“ 228 verurteilt worden; er hatte elf Jahre bekommen. 

    „Er zog am 3. Juli los, ich konnte mich noch von ihm verabschieden“, erzählt Jelena. „Shenja [Jewgeni – dek.] hatte große Angst, dass er zu spät kommt und der Krieg ohne ihn zu Ende geht. Er war ein wunderbarer Sohn, aber diese verdammten Drogen… Als er elf Jahre bekam, sagte er, dass er in den Krieg zieht; dort habe er eine Chance, und das Gefängnis sei nichts für ihn. Er wusste nicht, der Gute, dass seine Chancen dort minimal sind!“  

    Die Mutter des gefallenen Verurteilten erzählte, dass dieser im Krieg Kommandeur eines Zuges war, von dem „fast keiner mehr übrigblieb“. Trotz dieser Tatsache, und obwohl Jewgeni starb, ist seine Mutter von seiner Tat begeistert und sagt, dass ihr Sohn als Held starb: „Shenja dachte, dass er Glück haben würde. Natürlich haben wir ihm gesagt, dass es dort gefährlich ist, aber er hat sich anders entschieden. Er hat den Vertrag und ist gegangen. Jetzt werden alle genommen, Hauptsache ohne AIDS oder Syphilis. Ich bin stolz auf meinen Sohn. Er starb als Held. Er wusste, wohin er geht. Ich muss ihn jetzt nur noch finden, damit ich ihn beerdigen kann. Da herrscht so ein Chaos auf dem Schlachtfeld, dass das schwer wird. Hoffen wir nur, dass er seine Erkennungsmarke noch bei sich hat!“ 

    Eine andere Frau, Anastassija, hat im Krieg ihren Mann verloren, der ebenfalls nach Paragraf 228 verurteilt wurde. Er war zunächst in U-Haft geblieben, in einer Hauswirtschaftsbrigade. Dort kommt man eigentlich nur schwer rein, sie nehmen nur Häftlinge mit mustergültiger Führung, weil die Bedingungen dort besser sind als in der Strafkolonie. Der Gefallene war lediglich zu drei Jahren verurteilt worden, für den Besitz psychotroper Substanzen. Aber schon anderthalb Jahren nach dem Urteil unterschrieb er einen Vertrag, obwohl die Verwandten ihm abrieten. „Ich weiß nicht, ob sie unter Druck gesetzt wurden, aber er ist guten Mutes losgezogen! Er hat auf niemanden gehört!“, sagt seine Witwe. 

    Angehörige von gefallenen Häftlingen behaupten oft, diese seien aus Patriotismus in den Krieg gezogen. Aber die Häftlinge, mit denen Novaya Gazeta Europe sprechen konnte, hatten unter ihren Zellengenossen keine sonderlich patriotischen Stimmungen festgestellt. „Ihre Einstellung zum Krieg ist so, wie es ihnen die Propaganda aufträgt. Sie wiederholen ihre Phrasen. Deshalb kann man mit ihnen gar nicht richtig diskutieren“, sagt Dmitri über die, mit denen er jetzt in Moskau in U-Haft sitzt. „Selbst die Ermittler ziehen sie auf: Als ihr noch in Freiheit wart, hattet ihr es nicht so eilig, euch als Freiwillige zu melden.“ 

    Viele sagen ehrlich: „Jetzt hab ich wenigstens die Chance, freizukommen. Und obendrauf gibt es noch Geld.“ 

    Sogar Kriegsgegner lassen sich auf einen Deal ein 

    Anwälte, die Beschuldigte in politischen Prozessen vertreten, berichten, dass selbst diejenigen über eine Teilnahme am Krieg nachdächten, die wegen „Diskreditierung der russischen Armee“ in Haft sind. „Einer meiner Mandanten, der in einem Untersuchungsgefängnis in Sankt Petersburg einsitzt [wiederum aufgrund dieses Paragrafen 228], hat dermaßen den Kopf hängen lassen und die Haft so unglaublich schlecht vertragen, weil er überhaupt nicht darauf vorbereitet war. Er wollte um jeden Preis raus, obwohl wenn er den Krieg total ablehnte“, erzählt Jelisaweta, die politische Gefangene verteidigt. „Es hat mich viel Geld und Nerven gekostet, um ihn von dieser tödlichen Entscheidung abzubringen.“ Letztendlich sei er doch nicht zur Armee gegangen. 

    „Das war für mich eine Frage des Prinzips. Er wurde keiner schwerwiegenden Straftat beschuldigt und hätte wahrscheinlich noch nicht einmal eine Freiheitsstrafe bekommen. In so einer Situation wäre es sehr dumm gewesen, in den Krieg zu ziehen, selbst wenn man die moralische Seite außen vor lässt“, fasst die Verteidigerin zusammen. 

    Sie erzählt, dass er im Untersuchungsgefängnis „einen derart tiefen Schock erlebte, und ihm in Gefangenschaft klar wurde, dass sein Leben gescheiter war“, dass er diesen Zustand um jeden Preis beenden wollte: „Egal was, nur nicht sitzen. Außerdem hatte er idealistische Vorstellungen von einem Vertrag mit der Armee. Als ob er dann als Feldarzt oder Koch davonkommen würde, obwohl er weder von Medizin etwas versteht noch vom Kochen“, erklärt sie weiter. 

    Abgesehen davon, dass die Anwältin nach eigenem Bekunden „sehr spezifische“ Mandanten hat, und die Paragrafen, nach denen diese beschuldigt werden, nahelegen, dass sie den Krieg und eine Rolle als Vertragssoldat entschieden ablehnen, wollen in ihrem Umfeld alle – Zellengenossen wie Weggefährten – „um jeden Preis aus dem Gefängnis raus“. Ein anderer ihrer Mandanten sitzt im Untersuchungsgefängnis Kresty in Sankt Petersburg mit einem einzigen Zellengenossen zusammen. Der ist Jurist, ein intelligenter Mann. Ihm wird Betrug vorgeworfen, und auch er will an die Front. „Leute, die wegen bandenmäßiger Verbrechen beschuldigt werden (§ 210 des Strafgesetzbuches), müssen ein Gesuch an Alexander Bastrykin persönlich schreiben, den Chef des Ermittlungskomitees. Er muss darüber entscheiden, dass dieser Punkt fallengelassen wird. Solange dieser Anklagepunkt besteht, kann man kann keinen Vertrag abschließen. Nach Einschätzung dieses Mandanten wird das Gefängnis [nach Verabschiedung der Gesetzesreform] wohl verwaisen – alle werden den Dienst als Vertragssoldat wählen.“ 

    Dmitri berichtet, dass das Untersuchungsgefängnis die Menschen schockiert und orientierungslos macht, dazu muss man noch nicht einmal gefoltert oder misshandelt werden. „Die U-Haft war von Anfang an ungewohnt, vor allem wegen der viele Leute in der Zelle. Die ständige Kontrolle und die Enge machen es unmöglich, sich zurückzuziehen und nachzudenken.“ 

    Fast jeder Dritte wählt die Front 

    Bei der Frage, wie viele der U-Häftlinge tatsächlich bereit sind, in den Krieg zu ziehen, weichen die Schätzungen der Polizisten ein wenig von den Angaben der Anwälte ab. „Es gibt keinerlei Statistik, doch meinem persönlichen Eindruck nach sind rund 30 Prozent der Häftlinge, die wegen schwerer oder besonders schwerer Taten sitzen, bereit, an die Front zu gehen. Und wenn die begangene Tat nicht besonders schwer war (also etwa Diebstahl, geringfügiger Betrug, Amtsanmaßung, oder sogar Raub, sofern er nicht gemeinschaftlich begangen wurde), dann lehnen die Beschuldigten meiner Erfahrung nach sofort ab“, sagt Alexander S. von der Fahndung in Sankt Petersburg. 

    „Vor zwei Wochen hatte ich einen Beschuldigten, der betrunken bei einer Prügelei einen Saufkumpan erschlagen hat“, berichtete Sergej T., ein Fahnder aus Sankt Petersburg der Novaya Gazeta Europe. Da er schon zwei Haftstrafen auf dem Buckel hatte, drohte ihm fast lebenslänglich. Als er hörte, dass man ein „Geständnis“ ablegen und dann einen Antrag auf drei Jahre Kriegsdienst stellen könne [und dafür nicht ins Gefängnis muss], hat der sich riesig gefreut. Da er aber schon Erfahrung hatte (immerhin zwei Haftstrafen!), verlangte er, den Erlass zu sehen, demzufolge ihm seine Strafe für eine bestimmte Zeit Kriegsdienst in der Ukraine vollständig erlassen würde. Da ich ihm den Erlass nicht zeigen konnte, weigerte er sich zu gestehen. Er sagte, es sei wohl besser, in der Strafkolonie zu leben als in der Ukraine beim Sturm im ‚Fleischwolf‘ zu verrecken.“ 

    „Mit reinem Gewissen zurück in die Freiheit“ – Inschrift am Ausgang der Strafkolonie Nr. 1 in Nertschinsk in der Region Transbaikalien / Foto © Yevgeny Yepanchitntsev, TASS, Imago 

    Alexander S., der Polizist aus Sankt Petersburg, räumt ein, dass die neuen Regelungen der Regierung zur Anwerbung für den Krieg bei ihm ambivalente Gefühle auslösen: „Für den Krieg melden sich gerade diejenigen, gegen die handfeste Beweise vorliegen. Wenn sie auf diese Weise einer Strafe entgehen und sich dann auch noch mit dem ‚Kampf gegen die Nazis‘ brüsten, begehen sie später auf Fronturlaub zuhause oft richtig schwere Straftaten. Sie sind überzeugt, dass sie selbst dann, wenn sie geschnappt werden, der Strafe entgehen, wenn sie erneut einen Antrag auf Entsendung zur militärischen Spezialoperation stellen.“ 

    Dennoch überwiegt der potenzielle Nutzen in Gestalt einer guten Statistik, und bei den Einsatzkräften dominiert den Worten von Alexander zufolge das Motto „aus den Augen, aus dem Sinn“. Insbesondere weil sie ja „faktisch keinen Straftäter freilassen, sondern diesen auf eine andere juristische Ebene überführen“. 

    Nach Berechnungen von Verstka sind in zweieinhalb Jahren Krieg mindestens 500 russische Bürger Opfer von Menschen geworden, die an der militärischen Spezialoperation beteiligt waren. Aus der Untersuchung geht hervor, dass ehemalige Häftlinge öfter morden und öfter Straftaten gegen Frauen begehen.   

    Nur die Angehörigen sind dagegen 

    Die wohl einzigen Menschen, die sich heftig gegen die Entsendung der Beschuldigten in den Krieg wenden, sind deren Angehörige. 

    „Sagen Sie Ihren Verwandten, dass sie da besser nicht hingehen sollen, dass das eine Einbahnstraße in den Tod ist. Wenn ihnen Lebenslänglich droht – meinetwegen. Aber alle anderen sollten besser ihre Strafe absitzen“, schreibt Alla Danilina in einer Gruppe für Angehörige von Häftlingen auf VK. „Ich habe versucht, das meinem Sohn auszureden; er hat von mir solche Flüche zu hören bekommen, er konnte sich gar nicht vorstellen, dass ich so schimpfen kann“, antwortet Irina. 

    „Mein Mann ist am 7. Juli zur Spezialoperation gegangen. Wir haben’s ihm nicht ausreden können; morgen ist die Beerdigung. Zwei Kinder hab‘ ich! Lasst das nicht zu!!!“ 

    In den Kommentaren gibt es viele ähnliche Geschichten: „Ende Juni sind 30 Mann aus Jablonewka zum Einsatz in der Spezialoperation aufgebrochen. Am 29. oder 30. Juni waren nur noch zwei am Leben, und selbst die waren verwundet.“ Viele Angehörige, die die Novaya Gazeta Europe angeschrieben hat, berichteten, dass ihre Verwandten innerhalb von Monaten nach ihrer Entsendung in den Krieg umgekommen sind. 

    Der Mann von Olga, die viel in der VK-Gruppe Kresty schreibt, war nach dem Urteil bereits in die Strafkolonie verlegt worden; er ist nicht in den Krieg gezogen. Aber ein enger Freund von ihm, mit dem sie sprach, der wollte da hin. „Er hat ‘ne lange Strafe, und niemand wartet draußen auf ihn. Einige dort werden moralisch unter Druck gesetzt. Natürlich nicht alle. Sie machen ihnen mit der Strafkolonie Angst. Jetzt hat er Kontakt zu seinen Eltern und seiner Freundin, bei der sein Kind lebt. Er wird wohl nicht gehen.“ 

    Dmitri, der noch aus der U-Haft ein Gesuch geschrieben hatte, um an die Front zu kommen, hat sich in Bezug auf den Krieg dennoch umentschieden. „Ich will einfach leben und meine Familie wiedersehen. Über die Zukunft habe ich noch nicht nachgedacht.“ 

     

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  • Der Herrscher hat es eilig

    Der Herrscher hat es eilig

    Am 26. Januar 2025 sollen Präsidentschaftswahlen in Belarus stattfinden. Oppositionsparteien sind längst verboten, Gegenkandidaten wird es also kaum geben. Nach wie vor werden fast täglich Menschen festgenommen und weggesperrt, öffentlicher Widerstand und Protest sind de facto unmöglich. Es wird also keine Wahl sein, sondern die Inszenierung einer Wahl, bei der sich Alexander Lukaschenko abermals zum Sieger küren wird. Dennoch sind solche Ereignisse Stresstests für autoritäre Systeme.  

    Der Journalist Alexander Klaskowski erklärt in seiner Analyse für das Online-Medium Pozirk, warum es die Machthaber eilig haben, die Wahlshow über die Bühne zu bringen.  

    Am 9. Oktober 2024 wurde Alexander Lukaschenko von Wladimir Putin in Moskau mit dem Andreas-Orden ausgezeichnet / Foto © president.gov.by
    Am 9. Oktober 2024 wurde Alexander Lukaschenko von Wladimir Putin in Moskau mit dem Andreas-Orden ausgezeichnet / Foto © president.gov.by

    Das war ganz bestimmt keine spontane Entscheidung. Man konnte sehen, dass der Herrscher seine Wahlkampagne bereits begonnen hatte. Indem er etwa die lokalen Erntefeste abklapperte, die Dаshynki, bei denen er die Dorfleute mit Lob überschüttete und ihnen alle möglichen Versprechungen machte. Auch die so schwierige Gruppe der Jugend hatte er im Blick: Er trat vor Studenten in Witebsk und Minsk auf. Gleichzeitig ging die groß angelegte Propagandashow Marathon der Einheit an den Start. 

    Zuvor hatte BYPOL, eine Initiative ehemaliger Silowiki, unter Berufung auf Insiderinformationen berichtet, dass die Wahlen für den 23. Februar angesetzt seien. Das mag zwar der Fall gewesen sein, aber „um seine Feinde zu ärgern“ beschloss Lukaschenko, den Termin auf Januar vorzuverlegen. Obwohl seine Amtszeit erst am 20. Juli 2025 abläuft. Der Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission Igor Karpenko erklärte diese „Phasenverschiebung“ auf der jüngsten Sitzung des Repräsentantenhauses damit, dass es für den Präsidenten einfacher sei, die neue fünfjährige Amtszeit zu planen, wenn er schon am Jahresanfang gewählt werde. 

    Das klingt ganz schön an den Haaren herbeigezogen. Ja, vielleicht wenn die Wahlen echte Wahlen wären und jemand Neues mit neuen Ideen an die Macht käme. Aber de facto geht es bloß darum, eine weitere Amtszeit für den alten Herrscher abzusegnen. Genauso bemüht klang auch Karpenkos Erklärung, die Präsidentschaftswahlen hätten ja auch 2006 schon einige Monate früher stattgefunden. „Die Praxis, Wahlen vor Ablauf der Amtszeit des Präsidenten abzuhalten, gibt es in etlichen Ländern, zum Beispiel in Kirgisistan, Usbekistan …“, führte er weiter aus. Klar, so wird es sein, Lukaschenko wird sich das in Kirgistan abgeschaut haben. 

    Dass die Wahlen 2006 vorgezogen wurden, war immerhin nachvollziehbar. Damals konnte sich die Opposition auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen, Aljaxandar Milinkewitsch, dessen Umfragewerte rasant stiegen. Deswegen wollte das Regime seine Kampagne unterminieren und die Konkurrenz im Keim ersticken. Aus heutiger Sicht wirken diese Zeiten wie eine blühende Demokratie. Jetzt sind in Belarus alle Schrauben so fest angezogen, das politische Feld so gründlich gesäubert, dass von einem oppositionellen Kandidaten nicht einmal mehr die Rede sein kann. 

    Also wozu dann die Eile? 

    Trauma des Jahres 2020? 

    Mir scheint, einer der Hauptgründe für Lukaschenkos Vorgehen ist das Trauma des Jahres 2020. Ja, die Opposition ist entweder zerschlagen, eingesperrt oder ins Ausland vertrieben. Aber der Diktator sieht trotzdem überall feindliche Intrigen. So instruierte er Ende September seine Funktionäre: „Glaubt ja nicht, dass wir reinen Tisch gemacht haben, wie manche sagen. Die, die wir erwischen wollten, sind abgehauen. Ist ihr gutes Recht, sollen sie doch. Aber wir müssen wachsam bleiben.“ Also lieber beeilen, bevor die Feinde noch hinterrücks einen Plan aushecken. Lieber noch schnell eine Machtspritze, damit es sich wieder ruhig schlafen lässt. 

    Damit wird formal ein neues Kapitel aufgeschlagen. Die Propaganda wird verkünden: 2020 ist Geschichte! Vielleicht gibt es dann auch einen Hoffnungsschimmer, dass der Westen sich allmählich mit der Realität abfindet, der politischen Emigration weniger Aufmerksamkeit schenkt und Swetlana Tichanowskaja an Bedeutung verliert. 

    Und noch ein Grund für den Termin im Winter: Viele Kommentatoren weisen darauf hin, dass es in der kalten Jahreszeit schwieriger sei zu protestieren. Im kalten März 2006 und im Dezember 2010 waren die Plätze trotzdem voller Menschen. Natürlich gibt es Angenehmeres, als in der Kälte draußen rumzustehen. Aber auch, wenn die Feinde des Regimes überhaupt keine Proteste planen (die Hauptstrategie der demokratischen Kräfte besteht heute darin, die Belarussen aufzufordern, gegen alle zu stimmen) – Vorsicht ist besser als Nachsicht. 

    Überhitzte Wirtschaft?  

    Die Wirtschaft ist im Aufschwung, die Einkommen steigen. Das liegt jedoch in erster Linie an der Konjunktur: daran, dass Wladimir Putin sich die Beihilfe seines Verbündeten im Krieg einiges kosten lässt. Viele belarussische Waren werden von der russischen Militärindustrie nachgefragt und wegen der westlichen Sanktionen teuer gehandelt. Manches spricht jedoch dafür, dass der Krieg relativ schnell zu Ende sein könnte. Zumindest die heiße Phase. Und dann wird diese Konjunktur höchstwahrscheinlich einbrechen. Außerdem werden die Belarussen auf dem russischen Markt von den Chinesen bedrängt. 

    Zweitens behaupten unabhängige Ökonomen, dass in der belarussischen Wirtschaft das Ungleichgewicht zunimmt. Vor allem die drakonischen Preisregulierungen könnten schmerzhafte Folgen haben. Hinter den vorzeitigen Wahlen könnten also auch wirtschaftliche Erwägungen stehen. Denken wir nur mal daran, wie das Land nach den Wahlen im Dezember 2010 von einer Hyperinflation heimgesucht wurde und der Rubel plötzlich nur noch ein Drittel wert war. Damals hatte Lukaschenko seine Wahlernte mit großzügig gedrucktem, aber wertlosem Geld eingefahren. Vielleicht will er das Eisen schmieden, solange es heiß ist, bevor sich die überhitzte Wirtschaft in Rauch auflöst. 

    Die Zeit des Diktators geht so oder so zu Ende 

    Ja, theoretisch wissen wir nicht, ob Lukaschenko überhaupt eine weitere Amtszeit anstrebt. Aber praktisch besteht daran kein Zweifel (es sei denn, es passiert etwas sehr Unerwartetes). Für die Einführung eines theoretischen Nachfolgers reicht die Zeit nicht mehr. Lukaschenko findet für sich auch keinen würdigen Nachfolger. Und er hat Angst, das Zepter abzugeben. 

    Der Kreml hat ihm offenbar seinen Segen für eine neue Amtszeit gegeben und dies symbolisch mit einem Orden illustriert. Moskau hat überhaupt kein Interesse daran, auf der Zielgeraden das Pferd zu wechseln. Für den Fall, dass Friedensgespräche über die Ukraine geführt werden sollten, säße der belarussische Herrscher außerdem gern mit einer frischen Krone am Tisch.  

    Gleichzeitig sind Kriege eine ziemlich unberechenbare Angelegenheit. Lukaschenko mag denken: Wer weiß schon, was diese Ukrainer im Schilde führen. Gestern sind sie in die Region Kursk einmarschiert, morgen greifen sie vielleicht die Ölraffinerie von Mozyr an – und so weiter und so fort. Dann kann man die Wahlen vergessen. 

    Und da ist noch etwas: Gerade hat das gemeinsame Gremium der Verteidigungsministerien von Russland und Belarus in Minsk eine strategische Übung namens Sapad-2025 (dt. Westen-2025) beschlossen. Was dahintersteckt, können wir nur vermuten. Erinnern wir uns: Im Februar 2022 waren die russischen Truppen unter genauso einem Vorwand gemeinsamer Manöver nach Belarus versetzt worden, um Kyjiw anzugreifen. Was, wenn Moskau das wiederholen will? Eine solche Aussicht ist für einen Wahlkampf ebenfalls wenig förderlich. Kurzum, es ist auch der Nebel des Krieges, der Lukaschenko dazu drängt, die Wahlen vorzuverlegen. 

    Und zu guter Letzt wissen wir nicht, wie es um seine Gesundheit wirklich steht. Klar ist nur: Er wird nicht jünger. Vielleicht ist das ebenfalls ein Faktor. Der Gedanke, dass die Zeit des Diktators auf die eine oder andere Weise sowieso zu Ende geht, wärmt die Herzen seiner politischen Gegner. Denn während Lukaschenko für die Konservierung des bestehenden Systems steht, gibt es nach ihm zumindest eine Chance auf Veränderung. 

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  • Wie belarussische Staatsmedien ukrainische Kinder ausnutzen

    Wie belarussische Staatsmedien ukrainische Kinder ausnutzen

    Belarus spielt eine undurchsichtige Rolle bei der Verschleppung ukrainischer Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten. Belarussische NGOs wie Nasch dom verfolgen schon länger, wie schon hunderte Kinder aus der Ukraine über Belarus letztlich nach Russland gebracht wurden. 

    Gleichzeitig holt Belarus immer wieder auch für kurze Zeit ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten zu sich ins Land: angeblich, um ihnen eine Auszeit vom Krieg zu ermöglichen. Diese ferienlagerartigen Projekte nutzen häufig die belarussischen Staatsmedien für ihre Propagandasendungen: Dann lassen sie die Kinder russische Propaganda nacherzählen und ideologische Phrasen aufsagen. Oft stellen die Moderatoren so lange Fragen zu Angriffen, Verletzungen und Todesfällen, bis die Kinder in Tränen ausbrechen.  

    Die ukrainische Menschenrechtsplattform Zmina hat diese Sendungen analysiert und fasst zusammen, wie die belarussischen Medien die ukrainischen Kinder dazu benutzen, russische Propaganda zu verbreiten. 

    Screenshot / „Belarus rettet“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über Sommerlager in Belarus für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas. / Video © Youtube-Kanal news.by
    Screenshot / „Belarus rettet“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über Sommerlager in Belarus für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas. / Video © Youtube-Kanal news.by

    Tränen, TV und Traumata 

    In belarussischen Medien gibt es immer wieder Berichte, in denen Kinder aus den (von Russland – dek) besetzten ukrainischen Gebieten ihre Erlebnisse aus dem Krieg erzählen und dabei weinen. Es kümmert die Propagandisten nicht, dass solche Aufnahmen Traumatisierung und Retraumatisierung auslösen können. Dabei erwähnen sie oft, dass die Kinder den Angriff, die Verletzungen oder den Tod der Angehörigen eigentlich vergessen wollen. 

    Ein Beispiel dafür ist der Bericht des staatlichen Senders ONT über „Kinder mit besonderem Schicksal, die zur Rehabilitation in Belarus sind“. In dem Video erzählt eine 11- bis 12-jährige Weronika aus Horliwka von ihrer Freundin, die beim Brotkaufen getötet wurde. Während der Aufnahme wird das Kind buchstäblich zum Weinen gebracht. 

    Der gesamte Bericht basiert auf Retraumatisierung. 

    Das Gleiche passiert in einem Video auf dem YouTube-Kanal der Belteleradiokompanija. Bereits in den ersten Sekunden sagt dort ein Mädchen, dass dies ein „schmerzhaftes Thema“ sei, während ein anderes Kind weint. Die Autorin der Reportage, Daria Ratschko, setzt die Kinder jedoch weiter unter Druck und stellt ihnen unangenehme Fragen: Sie fragt nach den Angriffen, ob sie Angst hatten und ob es normal sei, dass dabei alle Fenster zerbrechen. Ratschkos gesamter Bericht basiert auf der Retraumatisierung der Kinder aus den besetzten Gebieten. 

    Genauso macht es ihre Kollegin Anastassija Benedisjuk in der Popagandadoku „Donbas. Belarus ist da“, zum Beispiel im Interview mit einem 11-jährigen David aus Mariupol. Zu Beginn des Films sieht man außerdem Mädchen vor der Kamera weinen, deren Namen nicht genannt werden. 

    „Russische Kinder mit russischen Pässen“  

    Ein anderes Propagandanarrativ in Belarus dreht sich um die Behauptung „ukrainische Nazis töten russische Kinder“. Russland würde sie dann retten und Belarus sei dabei ein märchenhaft ruhiges Land. Die Organisatoren der „Transporte“ seien Zauberer, die heilen und dabei helfen, die Schrecken der sogenannten Spezialoperation zu vergessen. 

    Screenshot / „Gerettete Kindheit“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über ein Sommerlager für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas. / Video © Youtube-Kanal news.by
    Screenshot / „Gerettete Kindheit“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über ein Sommerlager für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas. / Video © Youtube-Kanal news.by

    In einem Telegram-Video zeigen Kinder aus dem besetzten Teil der Region Cherson, die im März 2024 in Belarus waren, ihre russischen Pässe. Der Paralympiker und glühende Lukaschenko-Anhänger Alexej Talaj, eine Schlüsselfigur bei der Deportation von Kindern aus den besetzten Gebieten nach Belarus, kommentiert dazu im Video: „Das sind russische Kinder mit russischen Pässen.“ 

    Eine andere Propagandareportage des belarussischen Fernsehsenders CTV fokussiert sich indes auf Berichte über Minenverletzungen und andere Verwundungen von Kindern, wie etwa von Swjatoslaw Rytschkow. Swjatoslaw erzählt, er habe eine Schrapnellverletzung an der Lunge erlitten, als ein ukrainischer Panzer auf den Zaun seines Hauses zielte. Danach behauptet er, die Soldaten hätten keinen Krankenwagen zu ihm durchgelassen, stattdessen gemeint: „Lasst ihn sterben.“ 

    Screenshot / „Gerettete Kindheit“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über ein Sommerlager für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas.  / Video © Youtube-Kanal news.by
    Screenshot / „Gerettete Kindheit“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über ein Sommerlager für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas. / Video © Youtube-Kanal news.by

    Tatsächlich war es jedoch das ukrainische Militär, das Swjatoslaw Rytschkow nach seiner Verletzung, welche die Journalistin auf dramatische Weise schildert, in ein Militärkrankenhaus in Bachmut brachte. Anschließend wurde er im Intensivwaggon eines Sanitätszuges ins St.-Nikolaus-Krankenhaus von Lwiw gebracht. 

    „Wenn man die Geschichten hört, drängt sich der Eindruck auf, dass die Kinder einen vorbereiteten Text vor der Kamera ablesen.“ 

    In einem anderen Fall brachte man 11 Kinder in die von Ksenija Lebedijewa moderierte Sendung „Das ist etwas anderes“ des Senders „Belarus“ und kündigte sie als Kinder aus „Orten der DNR“ an. Die Jugendlichen mussten berichten, wie sie die [russische – dek]  Besetzung ihrer Städte erlebten und was sich jetzt dort abspielt.  

    Wenn man die Geschichten hört, drängt sich der Eindruck auf, dass die Kinder einen vorbereiteten Text vor der Kamera ablesen, denn sie reproduzieren nur russische Narrative. So sprechen sie von der „militärische Spezialoperation“, sagen, dass „ukrainische Kämpfer die Stadt planlos beschießen“, dass „Russland sie rettet“ und dass „Mariupol sich zu erholen beginnt“. Auf Nachfrage der Moderatorin antworten die Kinder, dass sie „russische Kinder“ seien. 

    Einer der Jungen antwortet auf eine bewusst provokante Frage der Moderatorin: Wäre er älter, würde er in den Krieg ziehen, weil die Ukraine in sein Land gekommen sei und Leute wie ihn umbringe.  

    „Walerija hält ein Sturmgewehr.“ 

    Das Thema der anti-ukrainischen Militarisierung von Kindern und ihrer Bereitschaft, gegen die Ukraine zu kämpfen, wird von der belarussischen Propaganda häufig bespielt. Wie etwa in einem Bericht über den Aufenthalt von Kindern aus Donezk und Mariupol im Sanatorium Wolma im Juni 2022: 

    „Walerija Ljachowa hält ein Sturmgewehr. Sie sagt, sie habe keine Angst vor Waffen und sei bereit, noch heute für ihr Heimatland in den Krieg zu ziehen, doch sie sei noch nicht alt genug. Lera ist dreizehn…“ 

    Screenshot / „Belarus rettet“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über Sommerlager in Belarus für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas.  / Video © Youtube-Kanal news.by
    Screenshot / „Belarus rettet“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über Sommerlager in Belarus für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas. / Video © Youtube-Kanal news.by

    Besonders charakteristisch ist der in der Propaganda konstruierte Kontrast zwischen von „der EU, den USA und den Nazis“ ins Unheil gestürzten Kindern in den [russisch – dek] besetzten Gebieten der Ukraine und den glücklichen Kindern in Belarus, denen Batka eine glückliche und unbeschwerte Kindheit beschere. In verschiedenen Sendungen wird die Verbringung von Kindern aus den besetzten ukrainischen Gebieten nach Belarus als Abenteuer beschrieben, von Zauberern organisiert, die sie mit einem schönen Zug ins Märchenland bringen. Hier ist es ruhig, es gibt leckeres Essen und es wird gefeiert.  

    „Wir sind ein Volk“ 

    Belarussische Medien berichten außerdem häufig über Veranstaltungen, bei denen Kinder aus der Besatzung die russische Ideologie der „Dreieinigkeit der Völker“, der „russischen Welt“ und des „Unionsstaates“ verbreiten. 

    So sangen beispielsweise Kinder aus Horliwka nach der Neujahrsshow im Palast der Republik in Minsk, wahrscheinlich auf Anregung des Organisators Pawlo Tschulochin: „Wir sind eine Familie. Zusammen sind wir eine Rus‘ – Horliwka und Belarus!“ Oft werden ukrainische Kinder auch in Propagandaveranstaltungen gezeigt, in denen sie als „russisch“ und die besetzten Gebiete als „neue Regionen Russlands“ bezeichnet werden. Auch Alexej Talaj nennt in einem Video diese Gebiete einen Teil der Russischen Föderation und ein Mädchen aus der besetzten Region Donezk ein „russisches Mädchen“. 

    Screenshot / „Belarus rettet“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über Sommerlager in Belarus für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas.  / Video © Youtube-Kanal news.by
    Screenshot / „Belarus rettet“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über Sommerlager in Belarus für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas. / Video © Youtube-Kanal news.by

    Im Video von einer Aufführung im belarussischen Kinderferienlager „Dubrawa“ verkündet gar der Kulturberater des russischen Botschafters, Sergej Afonin, ukrainischen Kindern aus den besetzten Gebieten seine ideologische Agenda: „Wenn die russischen Jungs erst das heilige Land im Donbas befreien, haben die Kinder schönste Aussichten auf ein Leben in den gelobten Ländern Russland und Belarus.“ 

    Für die Kinder werden außerdem Ausflüge zu „Orten des Ruhmes“ organisiert und diese Veranstaltungen aktiv in den Medien verbreitet. So wurden Kinder mit Behinderungen aus Donezk Teil einer Propagandakampagne der Alexej-Talaj-Stiftung zum Großen Vaterländischen Krieg und machten einen Ausflug zum „Museum des Großen Vaterländischen Krieges“. Das Programm für Kinder aus Dokutschajewsk und Mariupol umfasste einen Besuch der Festung Brest

    Screenshot aus der Propaganda-Doku-Serie „Kinder des Krieges“ des belarussischen Staatssenders ONT über ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten.  / Video © Youtube-Kanal news.by
    Screenshot aus der Propaganda-Doku-Serie „Kinder des Krieges“ des belarussischen Staatssenders ONT über ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten. / Video © Youtube-Kanal news.by

    „Niemanden kümmern die Interessen der Kinder“ 

    Onysija Synjuk, Rechtsanalystin am ZMINA-Menschenrechtszentrum, betont, dass sich niemand um die Interessen der Kinder kümmert, wenn ukrainische Kinder in Belarus so zu Propagandazwecken benutzt werden: „Niemand kümmert sich darum, dass solche Beiträge sowohl Sicherheits- als auch Datenschutzaspekte ignorieren, indem sie persönliche Informationen über die Kinder preisgeben. Außerdem werden die Kinder durch gewisse Fragen retraumatisiert.“ Die Expertin nimmt weiter an, dass die militarisierten und indoktrinierten Kinder aus den besetzten Gebieten später dazu benutzt werden, ihre Altersgenossen zu beeinflussen. 

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  • Zurück in die Zukunft

    Zurück in die Zukunft

    „Im heutigen Belarus fungiert die Geschichte als eines der wichtigsten Elemente der Staatsideologie”, sagt Waleri Karbalewitsch. In seiner Analyse für das Online-Medium Pozirk zeigt der Politikwissenschaftler, wie das Lukaschenko-Regime historische Narrative einsetzt und umdeutet, um zusätzlich zu einer neuen Wirklichkeit eine eigene Erinnerungskultur zu formen. 

    Lukaschenkos Vision der belarussischen Geschichte, versinnbildlicht im neuen Nationalen Historischen Museum / Collage dekoder, Architekturentwurf © belta.by, Foto © Sergei Savostyanov/ Itar Tass/ Imago 

    Bei einem Besuch im Agrogorodok Parochonsk (Rajon Pinsk) kam Alexander Lukaschenko am 4. Oktober plötzlich auf das Thema Geschichte zu sprechen. Dabei überhöhte er die Bedeutung der Geschichte ins Unermessliche, als wäre sie für die belarussische Gesellschaft geradezu überlebenswichtig. 

    Er sagte: „Die [im Westen] wollen, dass wir die Geschichte vergessen. Aber unsere Geschichte ist voller Helden. Es genügt nicht, sich nur zu erinnern, stolz müssen wir sein. Und das sind wir auch. <…> Sie wollen uns also umkodieren, neu formatieren. Sie wollen uns zu anderen machen – zu Iwans, die ihre Herkunft nicht mehr kennen. Damit verfolgen sie Schritt für Schritt das Ziel: uns wieder unterwerfen, uns in die Knie zwingen. Sie wollen uns zwingen zu tun, was sie brauchen, um auf unsere Kosten zu leben.“ 

    Lukaschenko meint also, der Westen wolle mithilfe der Geschichte Belarus unterwerfen und unterdrücken. Hier drängen sich gleich mehrere Fragezeichen auf: Wo? Wann? Wie? Bisher war hauptsächlich von militärischer Bedrohung durch den Westen zu hören. Haben die Westler jetzt die Methoden geändert? Offenbar geschieht das so heimlich, dass es niemandem auffällt. Und nur mit dem Scharfsinn eines Alexander Grigorjewitsch gelingt es einem, zur Wahrheit durchzudringen, das Unsichtbare zu sehen. 

    Erinnerungspolitik als grelle Illustration 

    Als Reaktion auf die arglistigen Machenschaften des Westens verfolgen die belarussischen Machthaber ihre eigene Erinnerungspolitik. Dieser Prozess weist einige Besonderheiten auf:  

    1. Vor allem fungiert das historische Gedächtnis als wichtigstes Element der Staatsideologie, manchmal sogar als ihr Ersatz. Denn das Regime kann keine klare Ideologie anbieten, die nämlich Narrative für die Zukunft erfordern würde. Deswegen appelliert es an die Vergangenheit. Eine heldenhafte Vergangenheit als Ersatz für eine strahlende Zukunft – das ist die Botschaft an die Gesellschaft. 

    2. Die Erinnerungspolitik in belarussischer Auslegung ist eine grelle Illustration, zitiert wunderbar die bekannte These des sowjetischen Historikers Michail Pokrowski, Geschichte sei über die Vergangenheit gestülpte Politik.  

    In allen Staaten nutzen Regierungen und Politiker historische Narrative, um ihren politischen Kurs zu legitimieren. Zumindest jene Narrative, die an Schulen unterrichtet werden oder in der Kunst Ausdruck finden (Geschichte als Wissenschaft klammern wir mal aus). Der russische Publizist Alexander Rubzow schrieb: „Sobald sich die Macht an die Geschichte heranmacht, dann wird Geschichte nicht mehr erforscht, sondern verwaltet wie eine begrenzte Ressource.“ 

    Tatsächlich wirkt das bei uns oft allzu künstlich. Die Machthaber glauben, sie müssen permanent vom Sieg im Großen Vaterländischen Krieg sprechen, vom „Genozid am belarussischen Volk“ erzählen – und dann wird das Volk Lukaschenko lieben. Ob das funktioniert, ist fraglich. 

    Welche Aspekte der Geschichte hervorgehoben werden, ist ein Indikator für Tendenzen des politischen Lebens, die starken Schwankungen unterliegen. Ein Beispiel dafür: Bis vor Kurzem war Kastus Kalinouski vielleicht die einzige Figur aus der belarussischen Geschichte, die weder Gesellschaft noch Politik spaltete. Er war bei Nationalisten und Kommunisten gleichermaßen anerkannt, gehörte auch in der Sowjetzeit zu den belarussischen Nationalhelden. Er hätte ein Symbol der belarussischen Einheit sein können. Das Regime machte jedoch auch aus ihm ein Symbol der Spaltung. 

    Im November 2019 wurde zur feierlichen Umbettung von Kalinouskis sterblichen Überresten eine belarussische Delegation nach Vilnius entsandt, an deren Spitze Vizepremier Igor Petrischenko stand. Bei der offiziellen Zeremonie sagte er, Kalinouskis Wirken sei eng verbunden mit der Entwicklung der National- und Kulturbewegung zu einem Kampf für die belarussische Staatlichkeit und für einen eigenen, vom Volk regierten Staat. Damit ist klar, dass Kalinosuki ein belarussischer Nationalheld ist.  

    Und es wurde noch besser: „Die Parole der Aufständischen um Kastus Kalinouski war wohlgemerkt: ‚Wen liebst du? – Ich liebe Belarus‘. Das Vermächtnis der Kämpfer hat nicht an Aktualität verloren und findet seine Fortsetzung in der obersten Devise unseres Landes: ‚Für ein starkes und blühendes Belarus‘“. Das lässt sich wohl herunterbrechen auf: Lukaschenko ist ideologisch ein Nachfolger Kalinouskis! 

    Am 17. November 2019 sagte der Herrscher höchstselbst in einem Wahllokal auf die Frage von Journalisten, was er von Kalinouski halte: „Er wirkte in unserer Region, war einer von uns, wenn Sie so wollen – ein Staatsbürger. Das ist nicht zu leugnen.“ Es dauerte gar nicht lange, und alles war anders. Am 2. Juli 2022 hielt Lukaschenko bei Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag eine Rede, in der er über den Aufstand von 1863 sagte, das belarussische Volk habe gegen die polnischen Aufständischen gekämpft, die von den belarussischen Bauern gefangen und dem Zaren ausgeliefert worden seien, weil sie nicht wieder unter die polnische Knute wollten.  

    Anders gesagt: Die Aufstände gegen Russland auf belarussischem Territorium gelten nun offiziell als polnische Aufstände, zudem hätten sie sich nicht nur gegen das zaristische Imperium gerichtet, sondern auch gegen Belarus. Dazu zählt eben auch der Aufstand unter Kalinouskis Führung. 

    Was ist da passiert? Der politische Wind hat sich gedreht. Seit 2020 schreibt sich das Regime fest in Russlands ideologischen Kontext ein und verzichtet im Umgang mit der eigenen Geschichte auf ein nationales Narrativ. Die Staatsideologie passt sich an die veränderten, momentanen Bedürfnisse der herrschenden Riege an, deren politisches Überleben auf dem Spiel steht. 

    Großteil der Geschichte einfach abgehackt 

    3. Historische Inhalte werden der Gesellschaft sehr aggressiv vermittelt, als einzige Wahrheit. Jegliche alternativen Ideen sind verboten und werden strafrechtlich verfolgt. Bücher, die Kritik an der Sowjetunion enthalten, werden für extremistisch erklärt.  

    Das Thema des „Genozids am belarussischen Volk“ wird bezeichnenderweise von der Generalstaatsanwaltschaft bearbeitet. Auf Grundlage ihres Materials werden Schulbücher zu diesem Thema herausgegeben. Gleichzeitig führt diese Behörde Strafverfahren wegen Leugnung des Genozids durch. Die Propagandamaschine funktioniert also nicht ohne politische Repressionen gegen Andersdenkende. Den Gegner mundtot zu machen, ist eine Bedingung für den Erfolg.  

    4. Eine eigenwillige Geschichtsinterpretation wird auch zur Entwicklung eines Lukaschenko-Kults aktiv eingesetzt. So hielt der Mythos in die Lehrbücher Einzug, die Präsidentschaftswahlen 1994 seien der wahre Beginn der belarussischen Staatlichkeit und gar der belarussischen Geschichte. So wird Lukaschenko zum „Gründervater“ der belarussischen Unabhängigkeit und Eigenstaatlichkeit erklärt. Um diesen Mythos zu stärken, werden andere bedeutende Ereignisse der reichen belarussischen Geschichte kleingehalten, Nationalhelden Stück um Stück abgewertet. 

    Bereits 2005 ließ Lukaschenko nach Franzisk Skaryna und Pjotr Mascherow benannte Straßen im Zentrum von Minsk umbenennen. Nun ist Kalinouski an der Reihe. Die Entfernung seines Namens aus der belarussischen Geschichte ist nicht nur ein Tribut an die Ideologie des Russki Mir. Lukaschenko soll einfach keine Konkurrenz haben. 

    Um die Bedeutung der eigenen Person aufzuzeigen, nutzt Lukaschenko auch selbst den Blick in die Geschichte. Im September 2024 sagte er bei einer Feierstunde zum Tag der Nationalen Einheit: „1919 <…> war die Stimme der neu gegründeten Belarussischen Sowjetrepublik noch nicht recht zu hören. Vielleicht, weil es keine Einheit gab. <…> Alle möglichen Nazmeny, nationalen Minderheiten, stritten sich um die Macht. <…> Hätten wir damals schon eine starke Hand und Einigkeit gehabt, dann hätten wir standgehalten. Und die Katastrophe mit dem Vertrag von Riga wäre nie passiert …“ 

    Nun ja, Sie verstehen, es gab keine „starke Hand“. Übersetzt in einfache Sprache: Hätte es damals eine Diktatur gegeben, so wie heute mit Lukaschenko an der Spitze, dann wäre das Land in Ordnung. Das ganze Unglück von Belarus basiert darauf, dass es damals noch keinen Lukaschenko gab, dass er leider erst jetzt aufgetaucht ist. (Anmerkung in Klammern: In 30 Jahren konnte niemand dem Herrscher vermitteln, dass Nazmeny für Nationale Minderheiten steht, und nicht – wie er denkt – für Nationalisten.) 

    5. Historische Mythen, die dem Nationalbewusstsein zugrunde liegen, sollen normalerweise zeigen, dass der jeweilige Staat eine tiefverwurzelte Tradition hat. Je tiefer, desto besser. Der national orientierte Teil der belarussischen Intelligenzija betrachtete das Großfürstentum Litauen als historisches Fundament für den belarussischen Staat.  

    Die Erinnerungspolitik, die die Regierung der Gesellschaft anbietet, umfasst allerdings nur einen sehr kleinen Ausschnitt der Geschichte. Im Grunde beschränkt sie sich auf die Zeit von 1941 bis 1945. Die restliche tausendjährige Geschichte von Belarus wird ausgeklammert, man kennt sie, interessieret sich aber kaum dafür. Man versucht, die gesamte heutige Politik durch das Prisma des Zweiten Weltkriegs zu interpretieren.  

    Nach der imperialen Pfeife 

    6. Die gesamte belarussische Geschichte wird nun als Teil der russischen betrachtet. Für die Mittelschule wird ein Lehrbuch zur gemeinsamen Geschichte des Unionsstaates erarbeitet, zudem wird eine Reihe mit dem Titel „Russland und Belarus: Seiten gemeinsamer Geschichte“ herausgegeben und es wurde das Label „Bibliothek des Unionsstaates“ ersonnen. 

    Anders ausgedrückt: So wie die sowjetischen Schüler die Geschichte Russlands als „Geschichte der UdSSR“ lernten, so lernen die heutigen belarussischen Schüler die Geschichte Russlands unter dem Titel „Geschichte des Unionsstaates“. Die belarussische Geschichte aus nationaler Perspektive wird entsprechend verschwinden. 

    Die Erfahrung anderer Länder zeigt, dass die Herausbildung einer jungen Nation auf einem strikten ideologischen Bruch mit dem Imperium und dem kolonialen Erbe (in unserem Fall dem russischen und sowjetischen) basieren muss.  

    In Belarus läuft heute alles umgekehrt. Nationale belarussische ethnokulturelle Symbole und Elemente werden verworfen. Mehr noch, die weiß-rot-weiße Flagge, das Pahonja-Wappen, die Rada BNR werden zu nazistischen Symbolen erklärt. Die Regierung formt die belarussische Identität auf Grundlage russischer Geschichtsnarrative. Zu allen anderen Abhängigkeiten der Republik Belarus von Russland (wirtschaftlich, politisch, militärisch) kommen nun noch ideologische und soziokulturelle Abhängigkeiten hinzu. 

    In diesem Zusammenhang sagte der polnische Historiker belarussischer Herkunft, Oleg Łatyszonek: „Lukaschenko ist mit keinem anderen Diktator der Weltgeschichte vergleichbar. Mir ist kein Diktator bekannt, der kein Patriot war. Das waren immer Nationalisten, alle wollten ihre Nation aufwerten. Aber hier haben wir den ersten, der seine Nation vernichtet.“ 

    7. Die Geschichte wird aktiv zur Herleitung einer antipolnischen Politik genutzt. Polen wird das Bild eines äußeren Feindes zugeschrieben. Lukaschenko versucht, mit antipolnischen Narrativen weniger eine nationale, als vielmehr eine regionale Identität zu etablieren. Der gesamte Nationalismus im postsowjetischen Raum war antirussisch geprägt. Der ehemalige ukrainische Präsident Leonid Kutschma schrieb ein Buch mit dem Titel „Die Ukraine ist nicht Russland“. Lukaschenko hingegen versucht, den belarussischen Pseudonationalismus als antipolnisch festzuschreiben. 

    Auch der neue Feiertag – der „Tag der Nationalen Einheit“ am 17. September – hat eine klar antipolnische Ausrichtung. Die Staatspropaganda spielt aktiv mit historischen Traumata der Zwischenkriegszeit, als der Westen von Belarus zu Polen gehörte. Das polnische Thema scheint auch in der offiziellen Kampagne gegen „Nazismus“ auf. In Dokumenten der Sicherheitsorgane, zum Beispiel in der Anklageschrift gegen den Vorstand der geächteten Bund der Polen in Belarus, werden die Soldaten der Armia Krajowa mit den Nationalsozialisten gleichgestellt.  

    So wird die Geschichte in unverwechselbarer belarussischer Interpretation zu einer Dienstmagd der Politik. 

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  • Trockene Dörfer

    Trockene Dörfer

    Jede vierte Straftat wird in Russland im alkoholisierten Zustand begangen. Um die Trunksucht zu bekämpfen, gehen die Behörden mit diversen Maßnahmen dagegen vor: In den meisten Regionen Russlands wird nachts und an Feiertagen kein Alkohol verkauft, sowie auch nicht in der Nähe von Schulen, medizinischen Einrichtungen und sportlichen Institutionen. In Jakutien (offiziell Republik Sacha) gibt es über 200 Dörfer, in denen grundsätzlich kein Alkohol verkauft wird. Nach Ansicht der Beamten hat sich seit diesem Verbot die Anzahl der Straftaten in der Region verringert, und das Straßenbild ohne Betrunkene hat einen positiven Einfluss auf die Jugend. Takie dela hat zwölf jakutische Dörfer besucht und sich ein Bild davon gemacht, wie die Bevölkerung das findet und wie effektiv diese Methode im Kampf gegen Alkoholismus ist.  

    Von der Ladefläche eines Kleintransporters werden Bier und Sekt verkauft / Foto © Takie Dela
    Von der Ladefläche eines Kleintransporters werden Bier und Sekt verkauft / Foto © Takie Dela

    „Uns ist gerade nicht nach Trinken.“ 

    Das Dorf Bulgunnjachtach liegt 120 Kilometer südlich von Jakutsk. Zwischen den bunten Holzhäusern sticht ein massives zweistöckiges Gebäude heraus, das mit blassgelben Wandfliesen getäfelt ist. Am Eingang hängt ein Spruchband: „Noruon norguj“ (jakutisch für „Herzlich Willkommen“). Das ist das Kulturhaus des Dorfes, wo es jetzt, an einem Dienstagnachmittag, ruhig zugeht. Nur von irgendwo aus dem oberen Stockwerk sind Geräusche zu hören. Als wir hochgehen, finden wir in einem kleinen Raum fünf Frauen vor, die konzentriert bei der Arbeit sind. 

    Das Dorf Bulgunnjachtach im Verwaltungsbezirk Changalassk / Foto © Takie Dela
    Das Dorf Bulgunnjachtach im Verwaltungsbezirk Changalassk / Foto © Takie Dela

     

    Ich grüße kurz und falle gleich mit der Tür ins Haus: 

    „Stimmt es, dass in Ihrem Dorf kein Alkohol verkauft wird?“ 

    Die Frauen drehen sich überrascht nach mir um, dann nicken sie zustimmend. 

    „Und trinken die Leute hier jetzt wirklich weniger?“ 

    „Das kann man wohl sagen!“, antworten sie fast im Chor.  

    „Früher konnte man überall Alkohol kaufen“, erklärt eine von ihnen. „Aber jetzt – keine Chance. Und dann beschäftigt man sich halt anders. Wenn von außen der Riegel vorgeschoben wird, hilft das natürlich.“ 

    Im Hintergrund sirrt ein elektrischer Rollschneider: Eine Frau, die grünen Stoff in lauter gleiche Streifen schneidet, lässt sich nicht von mir stören. Auch die anderen arbeiten weiter, während sie mit mir sprechen: Aus diesen Streifen knüpfen sie Tarnnetze für die Front. Es ist bereits das zweite Jahr, erzählen sie, dass mehrere engagierte Leute aus dem Dorf sich täglich dieser Arbeit widmen: 

    „Uns ist gerade nicht nach Trinken.“

    Bewohnerinnen des Dorfs Bulgunnjachtach flechten Tarnnetze / Foto © Takie Dela
    Bewohnerinnen des Dorfs Bulgunnjachtach flechten Tarnnetze / Foto © Takie Dela

    In Bulgunnjachtach leben mehr als 1600 Menschen, doch die Straßen sind leer. Es gibt mehrere Schulen, ein paar Kindergärten, eine Sporthalle, eine Bibliothek, ein Kulturzentrum und Campingplätze für Touristen. Die Ortschaft ist der Ausgangspunkt für Exkursionen zu einer der wichtigsten Sehenswürdigkeiten Jakutiens, den Lena-Säulen. Auf einem kleinen Fußballfeld kicken zwei Jungs einen Ball hin und her. Als wir sie ansprechen, erzählen sie uns, sie könnten sich nicht daran erinnern, dass im Dorfladen jemals Alkohol verkauft worden wäre.         

    Offiziell wird in Bulgunnjachtach seit 2016 kein Alkohol mehr verkauft. Laut der Gemeindevorsteherin (die entsprechende Verwaltungseinheit heißt in Jakutien nasleg) Ajtalina Wassiljewa war entscheidend, dass die Unternehmer bereit waren, sich darauf einzulassen und „auf diese Einnahmequelle zu verzichtet“. „Ohne deren Zustimmung wäre gar nichts passiert.“ Doch sie räumt auch ein, dass es anfangs nicht leicht war. Zwar war der Großteil der Bevölkerung für das Verbot, aber ganz ohne „Aufklärungsarbeit“ sei es auch nicht gegangen. Um den Leuten Alternativen zu bieten, wurden etliche Veranstaltungen organisiert. Experten auf verschiedenen Fachgebieten reisten aus der Stadt an, um Kurse abzuhalten. So seien nach einem Nordic-Walking-Workshop 80 Personen bei diesem Sport geblieben und marschierten regelmäßig durch die Gegend.

    Elfmeterschießen auf dem Sportplatz von Bulgunnjachtach / Foto © Takie Dela
    Elfmeterschießen auf dem Sportplatz von Bulgunnjachtach / Foto © Takie Dela

    „Na, und überhaupt, bei uns gibt es Kinofilme, Zeichentrickfilme …“, zählt Tatjana Jefremowa auf, die Direktorin des Kulturzentrums, „einen Chor, unsere bildenden Künstler, Ethnofitness …“ 

    Das glaubt man gerne: Mit meinem Besuch bin ich mitten in eine Sitzung geplatzt, in der gerade das nächste Fest geplant wurde. 

    „Als ich klein war, gab es hier viele Säufer, die betrunken rund vor den Einkaufsläden saßen“, erinnert sich Ajtalina Wassiljewa. „Heute trinkt keiner mehr in der Öffentlichkeit. Da wird die heranwachsende Generation ganz anders geprägt. Wenn da mal einer ein wenig herumtorkelt, sind sie schon peinlich berührt, fragen sich: Wie kann man nur?“ 

    Aber wie heißt es so schön? Wer sucht, der findet.

    Die Ortsverwaltung von Bulgunnjachtach tagt / Foto © Takie Dela
    Die Ortsverwaltung von Bulgunnjachtach tagt / Foto © Takie Dela

    Wer etwas trinken will, muss 15 Kilometer Richtung Jakutsk fahren, in das nächste Dorf Bestjach, oder noch weiter nach Mochsogolloch. Dort ist der Verkauf von Alkohol nicht verboten. Wer ein Auto hat, zahlt nur fürs Benzin, aber ein Taxi kostet je nach Tageszeit 300 bis 400 Rubel [ca. 3 – 4 Euro – dek.] pro Richtung. So ist eine Flasche Wodka am Ende dreimal so teuer. Und für die Landbevölkerung ist das ein empfindlicher Aufpreis.  

    „So lebt das Nachbardorf auf unsere Kosten“, sagt Ajtalina Wassiljewa. „Wir haben mit den Taxifahrern vereinbart, dass sie keine Alkohol-Lieferungen machen. Aber wenn sich einer ein Taxi ruft und damit Wodka holen fährt, dann können wir das nicht verbieten. Es gibt ein Kontingent von Leuten, die wollen, können und werden auch trinken. Ungeachtet der Verbote – und wenn sie nach Afrika müssen, um Schnaps zu kaufen. Aber das sind nicht viele, die kann man an einer Hand abzählen.“  

    Das Dorf Bulgunnjachtach liegt an der Lena. Sie entspringt im Baikalgebirge und windet sich über 4300 Kilometer durch Sibirien bis zu ihrer Mündung in der Laptewsee / Foto © Takie Dela
    Das Dorf Bulgunnjachtach liegt an der Lena. Sie entspringt im Baikalgebirge und windet sich über 4300 Kilometer durch Sibirien bis zu ihrer Mündung in der Laptewsee / Foto © Takie Dela

     

    Meist seien das Leute ohne Familie und ohne Arbeit, sagt sie. Alkoholismus ist zwar kein billiges „Vergnügen“, doch auch da finden sich Wege. Wassiljewa erzählt, dass die Säufer im Dorf ihre Türen für alle öffnen würden, die zum Trinken kommen wollen, und der Wodka sei dabei eine Art Eintrittskarte. Im Volksmund heißen solche Häuser chata (dt. Bude). 

    „Dagegen können wir offiziell nichts tun, das ist ihr Privateigentum“, sagt sie. „Deshalb versuchen wir, bei denen anzusetzen, die dort hingehen. Das sind Quartalssäufer oder solche, die sich tagelang systematisch die Kante geben. Die haben Familien zu Hause, Ehefrauen, da gehen sie eben lieber in eine chata.“      

    Ajtalina Wassiljewa ist erst 28 Jahre alt. Sie ist klein und wirkt eher zierlich. Aber das scheint nur so. Im Laufe des Gesprächs bekomme ich immer mehr den Eindruck, dass sie eine Frau ist, die auch mal mit der Faust auf den Tisch haut und, wie es bei Nekrassow heißt, imstande ist, ein Pferd im Galopp aufzuhalten. Hier ist das keine leere Phrase, sondern Realität: Pferde und Kühe sieht man hier überall, auf den Wiesen und auf den Straßen, sie gehören fast zu jedem Haushalt.       

    „Wenn ein Mann in die chata geht, ruft mich seine Frau an, und wir fahren gemeinsam hin und holen ihn raus“, erzählt Ajtalina. „Wir bringen ihn nach Hause, damit er sich ausschläft. Gleich am nächsten Morgen komme ich, packe ihn am Schlafittchen und fahre mit ihm und seiner Frau zum Amtshaus, da wird mal geredet. Da ist er noch beduselt, sagt zu allem ja – der beste Moment, um ihm Vernunft einzutrichtern. Sonst fängt er noch an, sich zu sträuben. Wir erklären ihm, was er jedes Mal riskiert, wenn er da hingeht: Es kann ja weiß Gott was passieren, und keiner kann ihm helfen. Wir fragen ihn: Wieso trinkst du, was fehlt dir? Und dann überlegen wir, was wir weiter tun können.“ 

    Der Dorfladen von Bulgunnjachtach verkauft alles – von Mehrfachsteckdosen über Gartenhandschuhe bis zu Plastikbällen. Nur keinen Alkohol / Foto © Takie Dela
    Der Dorfladen von Bulgunnjachtach verkauft alles – von Mehrfachsteckdosen über Gartenhandschuhe bis zu Plastikbällen. Nur keinen Alkohol / Foto © Takie Dela

    Der „emotionale“ Alkoholismus, sagt sie, sei in Bulgunnjachtach so gut wie verschwunden. Ob Streit mit der Frau oder, im Gegenteil, Anlass zum Feiern – da geht keiner mehr in den Laden an der Ecke, um das Ereignis zu begießen oder seinen Frust zu betäuben. „Ja, und dann beruhigen sie sich wieder, die Aufregung legt sich“, sagt Wassiljewa. 

    Es gebe aber auch Ausnahmesituationen, die die Leute aus der Bahn werfen würden: „Während der Corona-Pandemie waren es schon mehr, die getrunken haben. Auch, als diese großen Brände waren, und seit der Spezialoperation sowieso … Das sind natürlich alles sehr herausfordernde Situationen.“ 

    „Zu Beginn der Kampfhandlungen in der Ukraine verabschiedeten sich alle voneinander: ‚Ich muss wohl, ich bin ja Reserveoffizier‘“, erinnert sich Tatjana Jefremowa. „Als es dann hieß, es werde keine weitere Mobilmachung geben, da haben sich alle wieder entspannt. Im ersten Halbjahr waren natürlich alle ganz aufgekratzt.“

    Auf der Freilichtbühne von Bulgunnjachtach findet heute keine Vorstellung statt / Foto © Takie Dela
    Auf der Freilichtbühne von Bulgunnjachtach findet heute keine Vorstellung statt / Foto © Takie Dela

    „Jetzt kommen die zurück, die vom Militärdienst entlassen werden oder einfach Urlaub haben“, erzählt die Gemeindevorsteherin. „Noch nie ist es bei uns vorgekommen, dass sich einer schlecht benommen hätte. Wenn einer heimkommt, wird natürlich darauf angestoßen, aber das ist nie länger als ein Tag. Es gibt einen einzigen Mann, der das nicht im Griff hat, aber der ist alleinstehend. Familie und Arbeit sind eben doch die wichtigsten Stützpfeiler.“ 

    Gegen Ende unseres Gesprächs fügt Ajtalina Wassiljewa hinzu: „Wenn man das Dorf vor zwanzig Jahren mit heute vergleicht, dann ist das wie Tag und Nacht. Was ich Ihnen von unseren Problemen erzähle, betrifft nur drei oder vier Familien. Die kennen wir und wir haben ein Auge auf sie. Aber früher wurde bei uns durch die Bank gesoffen, das war Alltag.“ 

    Wie man in Russland und speziell in Jakutien trinkt 

    In der Russischen Föderation gibt es ein Gesetz, das es den Regionen überlässt, den Verkauf von Alkohol zu beschränken. Ausgenommen sind Gastronomiebetriebe. In Jakutien ist es beispielsweise verboten, Alkohol zwischen 20:00 und 14:00 Uhr des nächsten Tages oder in Geschäften zu verkaufen, die sich in Wohnhäusern befinden. 2015 beschlossen die regionalen Behörden, noch weiter zu gehen und so genannte „trockene“ Dörfer einzurichten – Orte, in denen überhaupt kein Alkohol verkauft wird. Heute gilt das für etwa jedes dritte der 600 Dörfer.   

    Eine genaue Statistik zu Alkoholismus in der Bevölkerung gibt es in Russland nicht. Rosstat sammelt nur Daten zu jenen Patienten, die mit dieser Diagnose erstmals in stationäre Behandlung kommen. 2010 waren das 108 Personen pro 100.000 Einwohner, 2023 nur 37. In Jakutien sind die Zahlen höher: 2010 sind dort pro 100.000 Einwohner 290 Personen an Alkoholismus und Delirium tremens erkrankt, 2023 waren es 119. 

    Alexander Alexejew ist der Dorfvorsteher der Gemeinde Ulachan-Aan / Foto © Takie Dela
    Alexander Alexejew ist der Dorfvorsteher der Gemeinde Ulachan-Aan / Foto © Takie Dela

    Trotz der positiven Dynamik sind die realen Zahlen in den Regionen vermutlich deutlich höher. Das Amt für Hygiene und Epidemiologie in Jakutien betont in seinem Bericht: Die Diskrepanz zwischen den Daten und dem realen Bild sei dadurch zu erklären, dass ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung, der Drogen oder Alkohol missbraucht, gar nicht in der Statistik auftauche. 

    Laut Rossalkogoltabakkontrol, der Föderalen Kontrollbehörde für Alkohol und Tabak, haben die Russen in den vergangenen Jahren mehr Alkohol gekauft. 2022 betrug die Menge der im Einzelhandel verkauften Spirituosen – ausgenommen Bier, Biermischgetränke, Cider und Honigwein – 22,04 Millionen Hektoliter und damit um 3,6 Prozent mehr als im Jahr davor. 2023 waren es dann schon 22,95 Millionen Hektoliter.

    Die Zahl der Verkehrsunfälle, bei denen Alkohol im Spiel war, liegt in der Region 28 Prozent über dem Durchschnitt / Foto © Takie Dela
    Die Zahl der Verkehrsunfälle, bei denen Alkohol im Spiel war, liegt in der Region 28 Prozent über dem Durchschnitt / Foto © Takie Dela

    In Jakutien gehen jährlich rund 120.000 Hektoliter alkoholische Getränke über die Ladentische. „Während das Handelsvolumen hochprozentiger Spirituosen in den vergangenen sechs Jahren praktisch gleich geblieben ist, ist der Verkauf von Bier und Biermischgetränken auf das 1,6-Fache gestiegen“, erklärte im Frühjahr 2024 der stellvertretende Regierungschef der Republik Georgi Stepanow. „Die Zahl der Verkehrsunfälle mit Alkohol am Steuer liegt in unserer Region 28 Prozent über dem russischen Durchschnitt. Auch die Sterblichkeit aufgrund von Alkoholmissbrauch ist um 29 Prozent höher.“ 

    Laut Auskunft des jakutischen Innenministeriums wurden 2021 in den „trockenen“ Dörfern 96 Straftaten in alkoholisiertem Zustand begangen, 2022 waren es 193 und 2023 immerhin 176. Meistens handelt es sich um vorsätzliche leichte oder mittlere Körperverletzung, Diebstahl und Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung.    

    „Wer trinkt, der findet seine Wege“ 

    Von Bulgunnjachtach sind es 15 Kilometer bis zum nächsten Dorf, in dem man Alkohol kaufen kann: Bestjach. An der Hauptstraße befindet sich ein Laden namens Sibirjatschka (dt. Sibirierin), wo man zwischen 14:00 und 20:00 Uhr Bier bekommt. Nur zwei Meter weiter gibt es eine Bar, da wird von zehn Uhr morgens bis zwei Uhr nachts Bier ausgeschenkt. Abgesehen von den Verkäuferinnen stört dieser Widerspruch keinen.         

    „Wir haben derzeit keinen Wodka, aber als wir ihn noch hatten, kamen sie praktisch jeden Tag (aus den Dörfern, in denen der Verkauf von Alkohol verboten ist – Anm. TD), aber nicht immer dieselben“, erzählt die Verkäuferin Natalja. „Es war nicht so, dass sie kistenweise eingekauft hätten. Wer was brauchte, ist gekommen und hat sich ein paar Flaschen geholt.“ 

    „Und wenn in Ihrem Dorf so ein Verbot verhängt würde?“ 

    „Ich halte das für Blödsinn“, winkt sie ab. „Ich trinke zwar selber nicht, aber wenn ich Gäste habe, brauche ich doch eine gute Flasche Wein oder Wodka. Soll ich dann deswegen ins nächste Dorf fahren? Außerdem, wer trinkt, der findet Mittel und Wege.“

    Die Bar von Bestach heißt offiziell „Herase“. Die Bewohner nennen sie nur die „Schänke“. Hier gibt es zwischen 10 Uhr früh und 2 Uhr nachts Bier / Foto © Takie Dela
    Die Bar von Bestach heißt offiziell „Herase“. Die Bewohner nennen sie nur die „Schänke“. Hier gibt es zwischen 10 Uhr früh und 2 Uhr nachts Bier / Foto © Takie Dela

    Hochprozentigen Alkohol bekommt man nur in einem Laden knapp einen Kilometer von hier entfernt. Doch der Mann, der gerade aus einem Taxi steigt, weiß das offenbar nicht. Er reißt die Autotür auf und torkelt in den Sibirjatschka. Ein paar Sekunden später ist er wieder raus und kriecht fast in die benachbarte Bar. Auch dort bleibt er erfolglos. Seine letzte Hoffnung ist der Einkaufsladen gegenüber, den er als nächstes ansteuert. Im Gegensatz zu ihm wissen wir bereits: Wein und Wodka gibt’s nur am anderen Ende von Bestjach.

    Die Auslage von Natalja Schukowas Laden in Bestach ist gut gefüllt mit Fertignudeln, Pflanzenöl und Fischkonserven / Foto © Takie Dela
    Die Auslage von Natalja Schukowas Laden in Bestach ist gut gefüllt mit Fertignudeln, Pflanzenöl und Fischkonserven / Foto © Takie Dela

    Fährt man noch ein paar Kilometer weiter, kommt man nach Mochsogolloch. In der sogenannten „Siedlung städtischen Typs“ gibt es eine Filiale einer Spirituosenhandelskette. Alla, die Verkaufsstellenleiterin, sagt, sie kenne persönlich einige Leute aus „trockenen“ Dörfern, die ständig bei ihr einkauften: „Nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Nachbarn, manchmal kommen sie scharenweise. Manche decken sich wöchentlich ein, andere sind nur selten da. Es gibt auch die, denen man schon von weitem ansieht, was sie kaufen wollen. Wenn in Mochsogolloch ein Verbot verhängt würde, das wäre der blanke Horror.“ Und: „Bei uns gibt’s ein paar richtige Alkis, aber die verhalten sich ruhig, und man kann auch nicht sagen, dass es viele wären. Eigentlich trinkt die ganze erwachsene Bevölkerung ab und zu Alkohol. Aber auch, wer jeden Tag ein bisschen trinkt, geht morgens zur Arbeit. Man weiß, wann’s genug ist, verhält sich anständig, wozu dann ein Verbot?“

     „Sehr geehrte Kunden!!! In der Zeit zwischen 20 Uhr und 14 Uhr werden keine alkoholhaltigen Getränke verkauft. Das gilt auch für die Fälle ‚aber wir kennen uns doch‘, ‚ich bin nicht von der Polizei‘, ‚niemand wird etwas erfahren‘, ‚packen Sie’s in eine Tüte‘, ‚ich habe hier schonmal welchen bekommen‘, ‚ich habe was zu feiern, ich habe Geburtstag usw.‘. Keine Diskussionen. Mach deiner Leber eine Überraschung – trink‘ Wasser.“ / Foto © Takie Dela
    „Sehr geehrte Kunden!!! In der Zeit zwischen 20 Uhr und 14 Uhr werden keine alkoholhaltigen Getränke verkauft. Das gilt auch für die Fälle ‚aber wir kennen uns doch‘, ‚ich bin nicht von der Polizei‘, ‚niemand wird etwas erfahren‘, ‚packen Sie’s in eine Tüte‘, ‚ich habe hier schonmal welchen bekommen‘, ‚ich habe was zu feiern, ich habe Geburtstag usw.‘. Keine Diskussionen. Mach deiner Leber eine Überraschung – trink‘ Wasser.“ / Foto © Takie Dela

    Fast alle hier arbeiten in der Zementfabrik, für die die Stadt einst gegründet wurde. „Alkoholismus als solchen gibt es bei uns fast keinen, man muss ja zur Arbeit“, sagt Alla. „In den Dörfern wird vielleicht deswegen mehr gesoffen, weil es keine Arbeit gibt und die Leute nichts zu tun haben. Die saufen aus Langeweile.“ 

    „Man muss das selbst entscheiden dürfen. Aber hier wurde für uns entschieden“ 

    In allen „trockenen“ Ortschaften ist unser erstes Ziel der Einkaufsladen.  

    Das Dorf Ymyjachtach liegt 60 Kilometer nördlich von Jakutsk, es zählt rund 1.200 Einwohner. Bei einer Volksbefragung 2018 sprachen sich über die Hälfte der volljährigen Dorfbewohner für ein Alkoholverbot aus. Daraufhin schränkte die Regionalverwaltung den Einzelhandel stark ein. 

    Der unscheinbare kleine Dorfladen liegt etwas versteckt im Dorfkern. Wir geben uns als gewöhnliche Kunden aus:  

    „Kann man hier bei Ihnen Alkohol kaufen?“, wollen wir von der Verkäuferin wissen. 

    „Was brauchen Sie denn?“, fragt sie etwas verunsichert. 

    Ich bin überrascht. Bisher bekamen wir in allen Dörfern, die wir besucht haben, das Mantra „Nein-schon-lange-nicht-mehr“ zu hören. 

    „Na, Bier zum Beispiel …“ 

    Die Frau geht langsam zum Kühlschrank, in dem mehrere Bierdosen stehen, und streckt uns eine entgegen.  

    „Aber das ist alkoholfrei, oder?“ 

    „Nein, das hat 4,5 Prozent“, erwidert sie unsicher. 

    Ich spüre, dass es mit dem Theaterspielen reicht, und erkläre, wer wir sind und was wir wollen. 

    „Aber ich vertrete hier bloß eine Bekannte“, rechtfertigt die Arme sich nervös. „Ich werde gleich abgeholt, wir machen ein Picknick …“

    Bei Ymyjachtach im Gebiet Namski hat das Vieh reichlich Auslauf / Foto © Takie Dela
    Bei Ymyjachtach im Gebiet Namski hat das Vieh reichlich Auslauf / Foto © Takie Dela

    Nach etwa zehn Minuten gibt sie zu, dass sie die Einschränkungen nicht so toll findet. „Im ganzen Dorf trinken zwei, drei Leute“, erklärt sie. „Das sind Alkoholiker, sie sind krank. Aber es gibt ja auch eine Trinkkultur. Wir sind zivilisierte Menschen, wir wollen auch mal Feste zusammen feiern, Freunde einladen. Und dann müssen wir meilenweit fahren, um etwas zu trinken zu kaufen. Wer soll einen fahren, wenn man kein eigenes Auto hat? Das kostet 300–350 Rubel [ca. drei Euro – dek.] in eine Richtung, nur um zum Laden zu kommen, das geht doch nicht. Das ist Diskriminierung. Die Leute müssen eine Wahl haben, aber hier wurde alles für uns entschieden.“ 

    Jelisaweta Wladimirowa begutachtet die Sträucher, die sie auf ihrem Grundstück in Ymyjachtach gepflanzt hat / Foto © Takie Dela
    Jelisaweta Wladimirowa begutachtet die Sträucher, die sie auf ihrem Grundstück in Ymyjachtach gepflanzt hat / Foto © Takie Dela

    Mit dieser Meinung ist sie in den „trockenen“ Dörfern allerdings in der Minderheit. 

    „Man sieht hier keine Betrunkenen mehr, früher sind die hier rumgewankt“, sagt die Rentnerin Maria, die wir draußen vor dem Laden treffen. „Es ist wichtig, dass die Jugend nicht trinkt, den Alten kann man das nicht mehr abgewöhnen. Wenn es das Verbot nicht geben würde, würden alle trinken. Selbst wenn man das gar nicht vorhat – wenn man in den Laden geht, wird man verführt. Und wenn die Jakuten einmal anfangen, dann hören sie nicht mehr auf, bis sie umkippen. Die kennen kein Maß.“

    Der Dorfladen in Ulachan-Aan hat eine große Auswahl an SIM-Karten und Konserven im Angebot / Foto © Takie Dela
    Der Dorfladen in Ulachan-Aan hat eine große Auswahl an SIM-Karten und Konserven im Angebot / Foto © Takie Dela

     

    Maria ist klein und sieht viel jünger aus als 64. Sie sagt, sie müsse sich beeilen, eine Verwandte vom Bus abholen. Nach ein paar Schritten dreht sie sich noch mal um, offenbar hätte sie noch einiges zum Thema zu sagen. „Ich habe fünf Söhne geboren. Zwei von ihnen haben getrunken. Einer ist daran gestorben. So stand es in dem Bericht: Alkoholvergiftung.“ 

    Marias Mann habe früher auch getrunken, aber jetzt sei er „alt und krank“, deshalb wären tagelange Besäufnisse nicht mehr drin. „Und außerdem gibt es ja auch nichts zu kaufen“, sagt sie. „Aber wenn, dann würde er bestimmt noch mit seinem Krückstock dahin humpeln.“ 

    Weit und breit kein Betrunkener auf der Dorfstraße von Ulachan-Aan. Allerdings auch sonst niemand / Foto © Takie Dela
    Weit und breit kein Betrunkener auf der Dorfstraße von Ulachan-Aan. Allerdings auch sonst niemand / Foto © Takie Dela

    Fast alle, die wir draußen treffen, erzählen, sie würden nur zu feierlichen Anlässen mal ein Gläschen trinken oder dass sie dem Alkohol schon vor Jahren ganz abgeschworen hätten. Sobald wir länger als fünf Minuten mit jemanden reden, stellt sich heraus, dass jeder zweite – so wie Marija – am eigenen Leib erlebt hat, wie es ist, einen Alkoholiker in der engsten Familie zu haben. 

    Die 68-jährige Ljubow Kumitschko lebt mit ihrer 91-jährigen Mutter zusammen. Beide trinken höchstens ein paar Mal im Jahr ein Glas Sekt. „Bei uns auf dem Dorf trinken die Leute nicht so viel wie im Westen [des Landes – dek.]“, erzählt sie. „Ich habe in Irkutsk studiert, da haben alle ihren Schnaps selbst gebrannt. Das gibt es hier bei uns nicht.“ Einer von Ljubows beiden Brüdern ist alkoholkrank. Sie sagt, er hätte nach dem Armeedienst angefangen. Die ganze Familie habe mehrfach versucht, ihn mit Hilfe von Kodierung zu heilen, aber nach ein paar Monaten sei er wieder rückfällig geworden. 

    Im Moment wartet Ljubow darauf, dass ihr Bruder zu einem Fronturlaub von der „militärischen Spezialoperation“ zurückkommt. 

    „Haben Sie keine Angst, dass er danach noch mehr trinken wird?“, frage ich. 

    „Ich weiß nicht, was sein wird“, erwidert die Rentnerin nachdenklich. 

    Ljubow Kumitschkos Bruder ist alkoholsüchtig. Gegenwärtig kämpft er in der Ukraine / Foto © Takie Dela
    Ljubow Kumitschkos Bruder ist alkoholsüchtig. Gegenwärtig kämpft er in der Ukraine / Foto © Takie Dela

    Ymyjachtach gehört zum ulus Namski. Von 19 Landkreisen (nasleg) wird in nur zwei Alkohol verkauft: drei Geschäfte in Namzy und eines im Dorf Chomusty, etwa 15 km von Ymyjachtach entfernt. Dort leben 2.600 Menschen. Der stellvertretende Kreisvorsitzende Alexej Sacharow berichtet, dass manche selbst im Winter zu Fuß aus dem „trockenen Dorf“ kämen. Sie warten, bis der hiesige Spirituosenhandel um 14 Uhr aufmacht, decken sich ein und laufen wieder zurück. 

    Die Abgeordneten hätten den Verkauf auch in Chomusty verbieten wollen, aber nach den öffentlichen Anhörungen hätten sich die Einwohner für „die goldene Mitte“ entschieden, sagt Sacharow. Jetzt gibt es Alkohol nur zwischen 14 und 20 Uhr in einem einzigen Laden außerhalb des Dorfes, nahe der Schnellstraße. Sarachow zufolge seien die meisten Einwohner von Chomusty berufstätig, daher gebe es keinen „Massenalkoholismus“; die richtigen Alkis könne man an einer Hand abzählen. 

    „In den Nachbardörfern heißt es, die Leute trinken, weil man bei uns Alkohol kaufen kann“, sagt Alexej Sacharow kopfschüttelnd. „Sie geben uns die Schuld, als würden wir sie zum Trinken zwingen. Was wäre wohl, wenn wir den Laden zumachen würden?“ 

    In der Ortschaft Mochsogolloch wirkt das Wandgemälde von Lenin frischer als die Farben der russischen Trikolore am Nachbargebäude / Foto © Takie Dela
    In der Ortschaft Mochsogolloch wirkt das Wandgemälde von Lenin frischer als die Farben der russischen Trikolore am Nachbargebäude / Foto © Takie Dela

    Zur Illustration führt der Beamte verschiedene Szenarien an, die alle etwas aus der Luft gegriffen wirken. „Stellen Sie sich vor, eine Mutter lässt ihre Kinder zu Hause, fährt ins 70 km entfernte Jakutsk und kommt nicht zurück. Sie fällt hin, wird von einem Auto angefahren – und schon sind die Kinder Waisen. Oder ein Arbeiter hat etwas zu feiern. Er kommt her, betrinkt sich und treibt sich wochenlang hier rum, lebt auf der Straße. Wäre ein Laden in der Nähe, würde er einkaufen und wieder nach Hause gehen“. Sachrow fallen noch weitere Beispiele ein: „Oder einer hat seit einem Jahr nicht getrunken und will was feiern. Er setzt sich betrunken ans Steuer, um in Chomusty Nachschub zu holen. Er kommt in eine Kontrolle und ist prompt seinen Führerschein los. Nehmen wir an, er ist Taxifahrer. Schon hat die Familie kein Einkommen mehr.“ 

    Juri Djakonow, der stellvertretende Verantwortliche für soziale Fragen im ulus Namski, ist hingegen überzeugt, dass die Abwesenheit von einem fußläufig erreichbaren Spirituosengeschäft sich positiv auf die Bevölkerung auswirkt. „Für die Jugend ist Alkohol nicht mehr so interessant“, sagt er. „Sie sind es gewohnt, dass es im Laden keinen zu kaufen gibt. Früher gab es regelrechte Besäufnisse in Diskotheken oder sogar in Schulen. Jetzt sieht man das alles nicht mehr.“ 

    „Für die Jugend ist Alkohol nicht mehr so interessant“, sagt Juri Djakonow, der in der Kreisverwaltung von Namzy für soziale Fragen zuständig ist / Foto © Takie Dela
    „Für die Jugend ist Alkohol nicht mehr so interessant“, sagt Juri Djakonow, der in der Kreisverwaltung von Namzy für soziale Fragen zuständig ist / Foto © Takie Dela

    „Wäre es nicht am effektivsten, Alkohol im ganzen Gebiet zu verbieten? Damit man zum nächsten Laden weit fahren müsste?“ 

    „Darüber habe ich nie wirklich nachgedacht“, wundert er sich. „Diese Frage hat sich so nie gestellt. Es ist ja ein ganzer Unternehmenszweig …“ 

    „Das heißt, mit einem flächendeckenden Verbot für die ganze Republik ließe sich das Problem nicht lösen?“ 

    „Man könnte einen gewissen Prozentsatz eindämmen“, überlegt Djakonow. „Aber die Menschen passen sich an alles an. Ich glaube, sie würden sich Alternativen suchen, selbst brauen, oder etwas ganz anderes konsumieren.“ 

    „Wenn du nicht trinkst, denkst du, das letzte Mal ist ewig her. Dann rechnest du nach, und es sind gerade mal drei Tage vergangen“ 

    Maragas liegt etwa 100 km westlich von Jakutsk. Hier lebt Anna Konstantinowna. Ihr  Ehemann hat viele der Häuser gebaut. Damals arbeitete er beim Sägewerk. Sie lernten sich kennen, als sie 18 Jahre alt war, aber als sie beschlossen zu heiraten, war das ganze Dorf dagegen. Es lag daran, dass er der einzige Russe im Dorf war, erzählt Anna. Er war zum Arbeiten aus der Oblast Gorki nach Jakutien gekommen. „Es gab sogar eine Versammlung, man hat mich dafür kritisiert, dass ich einen Russen heiraten will“, erinnert sie sich. „Sie sagten, er würde mich früher oder später sitzenlassen. Aber wir haben trotzdem ein Aufgebot bei unserem Standesamt bestellt. Einmal saß ich vor meiner Haustür und wusch Wäsche. Da kam der Sekretär und hat die Heiratsurkunde auf die Erde geworfen. So waren die Zeiten damals, 1973.“ 

    Die Befürchtungen haben sich nicht bewahrheitet: 45 Jahre Eheleben, acht Kinder und 27 Enkelkinder sind der Beweis. 

    Anna erinnert sich, wie erstaunt sie war, als sie bei den Verwandten ihres Mannes in dessen Heimat zu Besuch waren: „Wir kommen an, und das ganze Dorf ist am trinken. Sie machen Selbstgebrannten. Stellen den Bottich auf den Tisch und trinken immer weiter. So was hat es bei uns nie gegeben. Erst hatte ich Angst, ich wusste nicht, was man von denen zu erwarten hatte.“ 

    Annas Mann konnte zwei Tage lang durchtrinken, aber „nie einen dritten“. Ihre gemeinsamen Kinder trinken nur zu feierlichen Anlässen. 

    Im Dorf Magaras sind heute mehr Kühe als Menschen unterwegs / Foto © Takie Dela
    Im Dorf Magaras sind heute mehr Kühe als Menschen unterwegs / Foto © Takie Dela

    „Ich bin eine strenge Mutter, ich verlange von ihnen, dass sie nicht trinken.“ 

    „Haben Sie ihnen erklärt, dass das schlecht ist, als sie kleiner waren?“ 

    „Nein, das haben sie irgendwie von selbst verstanden.“ 

    Vor ein paar Jahren ist Annas Mann gestorben. Jetzt unterhält sie alleine ihren Hof mit zwei Kühen in Magaras. In ihrem Haus stehen fünf Eimer Milch, aus der sie Schmand und Butter macht, die schickt sie ihren Kindern. Im Haushalt helfen ihre Tochter und ihr Sohn, manchmal auch die Enkel. 

    „Natürlich ist es gut, dass sie nichts verkaufen“, ist die Rentnerin überzeugt. „Früher haben die Jugendlichen getrunken, aber jetzt gehen sie mit aufs Feld, helfen ihren Eltern.“ 

    Unsere nächste Gesprächspartnerin  möchte ihren Namen nicht nennen. Nennen wir sie Polina. Polina erinnert sich, dass noch vor zehn Jahren die Leute in Magaras Schlange standen, um Alkohol zu kaufen. „Ob aus der Verwaltung, der Schule, dem Kindergarten. Alle beeilten sich nach der Arbeit, um noch etwas zu kaufen, bevor der Laden zumacht.“ Nach der Einführung des Verbots entwöhnten sich die Leute langsam. Jetzt wollen die Einwohner sogar noch mehr: Die Läden sollen keinen Byrpach (milchsauer vergorenes jakutisches Nationalgetränk – dek.), mehr verkaufen. 

    „Das gilt nicht als Alkohol, aber ein geringer Prozentsatz ist darin enthalten“, erklärt sie. „Die Leute trinken das gegen den Kater, werden betrunken und besaufen sich weiter. Wir haben hier so ein junges Ehepaar, und der Mann streitet sich in der WhatsApp-Gruppe [mit den Ladenbesitzern – TD], dass sie seiner Frau keinen Byrpach mehr verkaufen sollen. Es wurden sogar Unterschriften für ein Verkaufsverbot bei uns in Magaras gesammelt.“ 

    Der Dorfladen von Ulachan-Aan führt noch nicht einmal mehr das traditionelle jakutische Getränk Byrpach / Foto © Takie Dela
    Der Dorfladen von Ulachan-Aan führt noch nicht einmal mehr das traditionelle jakutische Getränk Byrpach / Foto © Takie Dela

    Polina selbst trinkt nicht einmal an Feiertagen, sie sagt, die Gesundheit macht das nicht mehr mit – dabei ist sie erst 46. Früher hatte sie gemeinsam mit ihrem älteren Bruder ein Straßencafé betrieben. 

    „Wenn er getrunken hat, dann richtig: war dauerbesoffen, konnte nicht arbeiten“, erinnert sie sich. „Mal kam er drei, mal fünf Tage nicht zur Arbeit. Manchmal ist er auch in die Stadt gefahren und verschwand einfach. Dabei saß er bei uns an der Kasse. Wie soll man ein Café ohne Kassierer betreiben? Elf Jahre habe ich das mitgemacht. Die Kodierung hat maximal drei Monate gehalten. Wir waren auch beim Schamanen in Jakutsk, das ging auch nur drei Monate gut, danach ist er wieder rückfällig geworden. Ich weiß, dass manche nach einer schamanischen Sitzung sieben Jahre nicht trinken, das hängt also vom Einzelfall ab.“ 

    Jetzt versucht sie nicht mehr, ihren Bruder zu heilen: Er ist mittlerweile 62 und kann selbst nicht mehr regelmäßig und viel trinken. 

    „Mein Mann hat auch getrunken“, seufzt Polina. „Nach vier Jahren haben wir uns scheiden lassen. Genau aus diesem Grund.“ 

    Assyma ist ein weiteres „trockenes“ Dorf 120 km westlich von Magaras. Dazwischen liegt nur die Ortschaft Berdigestjach (das Verwaltungszentrum des Landkreises Gorni) und meilenweit nichts als jakutische Taiga. Eine halbe Stunde lang sehen wir rechts und links der Straße nichts als verkohlte schwarze Stumpen, die sich mit jungen Birkenbäumen abwechseln. Im Sommer 2021 haben in dieser Gegend schwere Waldbrände gewütet. 

    Nikolai ist 55. Wir treffen ihn in Assyma, wo er ein Sommerhaus baut. Eigentlich lebt er mit Frau und dem jüngsten Sohn in Berdigestjach. Früher war Nikolai Traktorfahrer in einem Sowchos in Kirow, aber nach dem Zerfall der UdSSR gab es keine Arbeit mehr, und er verfiel dem Alkohol. 

    Bei drei unterschiedlichen Schamanen war Nikolai. Keiner konnte ihn von seiner Alkoholsucht heilen 

     Die Sportschule (links) und die allgemeine Schule (rechts) / Foto © Takie Dela
    Die Sportschule (links) und die allgemeine Schule (rechts) / Foto © Takie Dela

    „Wollen Sie denn aufhören?“, frage ich. 

    „Natürlich!“ 

    Bei drei verschiedenen Schamanen war Nikolai. Das letzte Mal vor zehn Jahren. Damals habe das dreitausend Rubel gekostet, sagt er, jetzt natürlich mehr. „Der eine hat mit Kodierung gearbeitet, der zweite mit Nadeln, der dritte hat ein Foto von dem berühmten Schamanen Nikon aufgestellt und irgendwas gemurmelt“, erinnert er sich. „Es reichte mal für eine Woche, mal einen Monat. Wenn man nicht trinkt, denkt man, das letzte Mal ist ewig her. Dann rechnest du nach, und es sind gerade mal drei Tage vergangen. Das längste war mal ein Jahr.“ 

    „Und wenn es in Berdigestjach, so wie hier, ein Verbot geben würde?“ 

    Nikolai lacht: „Das Dorf ist ja schon so gut wie trocken. Bis zum nächsten Spirituosengeschäft sind es zehn Kilometer. Wenn es verboten wäre … Das würde nichts ändern. Dann würde man eben woanders hinfahren. Im Gegenteil, die Leute sterben ja an den Entzugserscheinungen. Byrpach hilft vielleicht, bis zum Mittag durchzuhalten.“ 

    „Was würde Ihnen denn dabei helfen, aufzuhören, wenn Verbote nichts bringen?“ 

    Nikolai überlegt. „Wenn alle Arbeit hätten, würden sie weniger trinken. Selbst wenn ich zehn Tage lang durchtrinke, rapple ich mich danach wieder auf: Ich muss ja arbeiten. Außerdem kann man seinen Führerschein verlieren, oder sein Gewehr – wie soll man da jagen? Wenn ich kein Auto hätte, würde ich mehr trinken.“  

    Zum Abschied erkundige ich mich, wo ich im Dorf Menschen finde, die alkoholabhängig sind.  

    „Jetzt finden Sie niemanden. Wer [gestern – dek.] getrunken hat, ist jetzt beim Angeln draußen, um auszunüchtern. Ich bin der einzige hier, und selbst ich bin nüchtern. Außerdem sind meine Saufkumpanen an die Front. Manche liegen mit einer Verletzung in einer anderen Stadt. So sieht’s aus bei uns …“ 

    Als wir schon gehen, ruft Nikolai uns hinterher:  

    „Und Sie? Trinken Sie denn?“ 

    „Na ja, manchmal. Aber mittlerweile nur noch selten“, gebe ich zu. 

    „Das ist okay“, grinst Nikolai breit. „Trinken ist gut für die Seele.“ 

    In Ulachan-Aan / Foto © Takie Dela
    In Ulachan-Aan / Foto © Takie Dela

     

    *** 

    Auf unserer Reise haben wir 12 Dörfer besucht, von denen sieben seit vielen Jahren alkoholfrei sind. Insgesamt ist unser Eindruck, dass die totalen Alkoholverbote hier funktionieren, auch wenn natürlich nicht zu hundert Prozent. In dieser ganzen Zeit ist uns nur einmal jemanden auf der Straße begegnet, der angetrunken war, und selbst das war in einem Dorf, in dem es kein Verkaufsverbot gibt. Die meisten Einwohner, mit denen wir gesprochen haben, erklärten, nur zu bestimmten Anlässen oder gar nicht mehr zu trinken. Die ältere Generation hat sich nach dem Verbot das Trinken als Lebensweise schlicht abgewöhnt. Die Jugendlichen treffen sich nicht, um zusammen zu trinken. Sie haben andere Hobbys – zum Beispiel Motorräder, die hier sehr beliebt sind. Und sie haben auch andere Sorgen, müssen den Älteren bei der Arbeit helfen. 

    Gut möglich, dass ein komplett „trockenes Dorf“ bei solchen Verboten nur eine Frage der Zeit ist. Und einige wenige, die trotzdem Alkoholmissbrauch betreiben, wird es immer, überall und unter allen Umständen geben. 

    Vom Ufer des Dorfes Ulachan-Aan hat man einen weiten Blick über die Lena / Foto © Takie Dela
    Vom Ufer des Dorfes Ulachan-Aan hat man einen weiten Blick über die Lena / Foto © Takie Dela

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  • Tote Seelen vor Gericht

    Wenn russische Soldaten im Krieg gegen die Ukraine getötet werden, steht ihren Familien eine Entschädigung von umgerechnet 150.000 Euro zu. Und den Kommandeuren ihrer Einheit – neuer Truppennachschub. Der russische Staat aber will solche Zahlungen, Soldatenersatz und besonders verräterisch negative Statistiken vermeiden. Also kursiert innerhalb der russischen Armee eine inoffizielle Order, besonders schwer Verwundete und Getötete lieber auf dem Schlachtfeld liegen zu lassen. Dann kann der Tod nicht bewiesen werden und ein Verschollener ist kein Gefallener – und am Ende billiger. 

    Werden Ersatzansprüche geltend gemacht, muss ein Gericht entscheiden, ob – ohne Leiche – ausreichend Hinweise auf den Tod eines Soldaten vorliegen. Das russische Onlinemedium Verstka hat sich angeschaut, wie viele solche Anträge auf Anerkennung getöteter Militärangehöriger bei russischen Gerichten eingehen: seit dem russischen Überfall auf die Ukraine fast 3.000, zwei Drittel davon 2024. Die Gerichtsunterlagen zeigen auch, dass in der Hälfte der Fälle nicht die Familien den Antrag stellten, sondern die Kommandeure der Militäreinheiten – damit jene „toten Seelen“ auf dem Papier durch neue Kämpfer ersetzt werden können. 

    Verstka hat dafür aus 21.600 Fällen an russischen Bezirks- und Garnisonsgerichten, in denen Russen als tot oder verschollen anerkannt wurden, diejenigen Fälle seit Ende Februar 2022 herausgesucht, in denen eine militärische Einheit, das Verteidigungsministerium oder ein Militärstaatsanwalt beteiligt war. Von diesen 2.847 Fällen konnte die Redaktion die Urteile im Wortlaut zu fast 200 Fällen recherchieren. Dieser Datensatz verrät auch, welche Einheiten am häufigsten in diesen Verfahren figurieren – und offenbar die größten Verluste haben. 

    Seit März 2022 bearbeiten russische Gerichte schon fast 3000 Klagen, um Militärangehörige, die auf dem Schlachtfeld geblieben sind, für tot oder verschollen zu erklären. Die kommen ebenso häufig von Familien wie von Kommandeuren. Illustration © Catherine Popov/Verstka
    Seit März 2022 bearbeiten russische Gerichte schon fast 3000 Klagen, um Militärangehörige, die auf dem Schlachtfeld geblieben sind, für tot oder verschollen zu erklären. Die kommen ebenso häufig von Familien wie von Kommandeuren. Illustration © Catherine Popov/Verstka

    Seit März 2022 sind bei den Bezirks- und Garnisionsgerichten (Militärgerichte der ersten Instanz – dek) in Russland und der annektierten Krym mindestens 2.847 Klagen eingegangen, die das Ziel haben, Militärangehörige, deren sterbliche Überreste noch auf dem Schlachtfeld liegen, für tot oder verschollen zu erklären. Während 2022 nur vereinzelt solche Anträge eingingen, waren es ab Sommer 2023 monatlich bereits mehrere Dutzend.  

    2024 ging es, statistisch gesehen, schon bei jedem vierten Antrag auf amtliche Anerkennung als tot oder verschollen um Militärangehörige. Zwischen Juni und August 2024 registrierten die russischen Gerichte bereits über 1.300 Eingänge. Davon allein im August die bislang höchste Anzahl – mindestens 554. Rund drei Viertel der in diesem Sommer gestellten Anträge befinden sich noch in Bearbeitung, in 196 Fällen wurde der Klage bereits stattgegeben. 

    Spitzenreiter unter den Truppeneinheiten, aus denen solche Anträge eingehen, ist die Einheit Nr. 22179 in Nowotscherkassk (Oblast Rostow) mit insgesamt 221 Fällen. Hier ist eine Schtorm-Z–Einheit angesiedelt.  

    Andere Stützpunkte, die besonders häufig in den Verfahren zu gefallenen oder vermissten Militärangehörigen auftauchen, sind die Einheit Nr. 12721 in Klinzy (Oblast Brjansk) mit 119 Anträgen, Nr. 61899 in Moskau (mit 99), Nr. 06705 aus der Region Transbaikalien (mit 96) und eine weitere in Klinzy (Nr. 91704). 

    Wieso muss man für tote Soldaten vor Gericht ziehen? 

    Die russische Armee schafft es nicht, alle gefallenen Soldaten vom Schlachtfeld zu bergen. Das bringt sowohl für die Angehörigen wie für die Einheiten Probleme mit sich: Ohne Leichnam stellen die russischen Behörden keine Sterbeurkunde aus, und ohne juristisch bestätigten Tod gibt es keine Entschädigung. Zudem kann der Armeeangehörige nicht aus der Personalliste gestrichen werden. 

    Gibt es keinen Leichnam, kann ein Gericht einen Militärangehörigen erst für tot erklären, wenn es mindestens sechs Monate lang keine Nachricht von ihm gab. Verstka konnte allerdings keinen einzigen Fall finden, bei dem ein Soldat allein auf dieser Grundlage für tot erklärt wurde. In der Regel müssen Angehörige oder Vertreter der Einheiten für das Gerichtsverfahren Zeugenaussagen von Kameraden einholen, die den Tod des Betreffenden mitangesehen haben. 

    In den von Verstka recherchierten Fällen haben die Gerichte, wenn es keine Zeugen gab, die betreffenden Armeeangehörigen als verschollen [anstatt als tot – dek] eingestuft. Bei diesem Status kann man kaum mit einem „Sarggeld“ rechnen. Es kann aber beispielsweise Halbwaisenrente für die Kinder beantragt werden. In den zweieinhalb Jahren Krieg wird das Recht, einen gefallenen Armeeangehörigen als tot oder verschollen anerkennen zu lassen, sowohl von deren Familien wie auch von Kommandeuren aktiv genutzt. 

    „Wenn man die Leichen holen will,  
    kommen sofort Granaten geflogen“ 

    Einen Teil der Gefallenen lässt die russische Armee nicht bergen, wenn das betreffende Kampfgebiet von den ukrainischen Streitkräften beschossen wird. So erklärte im Mai 2024 ein Kämpfer der ehemaligen Gruppe Wagner, der vor einem Gericht in Saransk als Zeuge zum Tod eines Kameraden vernommen wurde: „Wenn man die Leichen holen will, kommen sofort Granaten geflogen, und dann sterben die Nächsten.“ Oder aus der schriftlichen Erklärung eines Feldwebels der Einheit Nr. 09332 vom Februar 2024 beim Bezirksgericht Adler: „Aufgrund des schwierigen Geländes und des dichten Feuers der überlegenen Kräfte des Feindes, erschien eine Bergung des Leichnams nicht möglich.“ Er habe gesehen, wie ein Gefreiter aus seiner Einheit „tot umfiel“, nachdem er am Kopf getroffen wurde.  

    In anderen Fällen gibt es nichts zu bergen, weil der Leichnam verbrannt ist oder vollständig vernichtet wurde. So stellte im Frühjahr 2024 ein Gericht in Stawropol zum Tod eines Schtorm-Z-Kämpfers fest: „Im Zuge der Kampfhandlungen verbrannte der Körper des Sohnes der Antragstellerin restlos unter direkter Einwirkung eines Explosivgeschosses, das von den Streitkräften der Ukraine abgefeuert wurde.“ 

    Es kommt auch vor, dass jemand einfach verschwindet und unklar ist, ob er gefallen ist oder nicht. So war es z. B. mit Major Lenar Karimow, der zehn Jahre in der Armeeeinheit Nr. 09332 im nordkaukasischen Adygeja gedient hatte und dann Kommandeur einer Funk- und Radarbatterie der Besatzungstruppen war. Im Zuge der Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte in der Oblast Cherson im Herbst 2022 musste Karimow mit seiner Einheit fliehen und ist seitdem spurlos verschwunden. Die Suche der Kameraden nach seinem Leichnam blieb vergebens. Niemand hat gesehen, was mit ihm geschah, seit anderthalb Jahren gibt es keinerlei Lebenszeichen. Der Kommandeur der Einheit zog vor Gericht, um Karimow für verschollen erklären zu lassen und ihn daraufhin aus der Personalliste streichen zu können.

     Freiwillige der ukrainischen NGO Black Tulip (dt. Schwarze Tulpe) bergen und identifizieren Überreste getöteter russischer Soldaten. Foto © Andriy Andriyenko/Zuma Press Wire/Imago
    Freiwillige der ukrainischen NGO Black Tulip (dt. Schwarze Tulpe) bergen und identifizieren Überreste getöteter russischer Soldaten. Foto © Andriy Andriyenko/Zuma Press Wire/Imago

    Warum schießen die Zahlen 2024 in die Höhe? 

    Die drastische Zunahme der Anträge, um Militärangehörige als gefallen oder verschollen anerkennen zu lassen, geht nicht nur auf den Wunsch von Angehörigen zurück, sondern oft auch auf das aktive Vorgehen der Einheiten. 

    Für die Kommandeure ist es wichtig, dass bei ihnen keine „toten Seelen“ gelistet sind. Sie können einen gefallenen Soldaten, der nicht geborgen wurde, nicht einfach streichen. Und solange jemand auf der Personalliste steht, kann er nicht „entlassen“, also aus dem Soldverzeichnis gestrichen und durch einen anderen ersetzt werden.  

    So erklärten im August 2024 Vertreter der Einheit Nr. 57367 vor dem Bezirksgericht Ussurijsk, dass sie den Unterfeldwebel mit Rufnamen „Deimos“, dessen Leichnam nicht geborgen werden konnte, aus der Liste streichen wollen, weil „die Einsatzfähigkeit der Einheiten in erster Linie von einer vollen Mannschaftsstärke abhängt“. Der Feldwebel war bereits im Oktober 2022 bei den Kämpfen um das Dorf Wolodymyriwka (Oblast Donezk) getötet worden. Seither, so die Annahme der Armee, liegt sein Leichnam auf ukrainisch kontrolliertem Gebiet. Ein Kamerad des Feldwebels sagt vor Gericht aus, er habe einen Schrei gehört: „Deimos 200!“, und zwar wenige Minuten, nachdem die ukrainischen Streitkräfte das Feuer auf ihre Stellungen eröffnet hatten. Der Kommandeur der Kompanie habe den Befehl gegeben, den Toten zurückzulassen und sich zurückzuziehen. 

    Unseren Berechnungen zufolge wurden zwischen Januar und August 2024 insgesamt mindestens 2.303 Anträge gestellt, Militärangehörige als gefallen oder vermisst einzustufen. Die eine Hälfte wurde von Truppenstützpunkten gestellt, die andere von den Familien der Getöteten, entweder selbständig oder mit Unterstützung der Militärstaatsanwaltschaft. 

    „Wenn ein Drittel der Leute tot oder schwer verletzt ist,  
    kann man Aufstockung beantragen“ 

    Allein 70 Anträge sind 2024 von der Einheit Nr. 29297 eingegangen. Im September 2023 hatte der Telegram-Kanal Mobilisazija eine Videobotschaft veröffentlicht, die angeblich von Soldaten des 1008. Regiments jener Einheit aufgenommen wurde. Die uniformierten Männer berichteten von Regelverstößen und „kolossalen Verlusten“. Trotz allem habe die Einheit als einsatzfähig gegolten. 

    „Damit unsere Personallücken aufgefüllt werden können, muss aus den Unterlagen die Notwendigkeit dafür hervorgehen“, erklärt ein Vertragssoldat eines Bergungstrupps gegenüber Verstka; seine Leute sind für Suche und Abtransport von Verletzten und Getöteten zuständig. „Wenn etwa ein Drittel der Leute tot oder schwer verletzt ist, kann man eine Aufstockung beantragen. Bei Tschassiw Jar haben wir bis zu 60 Prozent verloren, aber die Leichname fehlen, wir können sie einfach nicht bergen. Wir versuchen, wenigstens die Dienstmarken zu holen, aber auch das ist nicht realistisch. Daher gibt es so viele Vermisste. Keiner mag es, so viele Vermisste nach oben zu melden, dafür kommen dann alle dran. Deswegen haben wir dort einen Monat lang unterbesetzt in der Luft gehangen. Dann brachten sie uns die Strafversetzten und die Häftlinge. Mit denen werden die Lücken gestopft.“ 

    Viele „Sturmtruppen“ bleiben auf dem Schlachtfeld 

    Der Stützpunkt Nr. 06705, der seinen Standort in der Stadt Borsja (Region Transbaikalien) hat, stellte im Mai und Juni 87 Anträge, Militärangehörige für gefallen oder verschollen zu erklären. Dabei wird bei sämtlichen Anträgen vom Juni eine andere Garnison als „interessierte Partei“ genannt: Nr. 22179. Auf deren Grundlage wurde eine Schtorm-Z–Einheit gebildet, die aus ehemaligen Häftlingen und strafversetzten Soldaten besteht. „Da sind nur lahme Kämpfer, Alkis, Junkies, Deserteure. Wenn der Kommandeur was gegen dich hat, kann der dich einfach da reinstecken. Wenn du nicht gehorchst oder widersprichst – zack, bist du weg. Im Grunde ist das ein Strafbataillon, nichts als Fleischwolf“, erklärte der Offizier Andrej (Name geändert) im Frühjahr 2024 gegenüber Verstka. Dass bei der Antragstellung zwei verschiedene Stützpunkte genannt werden, erklärt sich dadurch, dass die Kämpfer von Schtorm Z aus unterschiedlichen Einheiten kamen, um befestigte Stellungen des Feindes zu stürmen. 

    Die Beschlüsse zu den Anträgen von 2024 sind zwar noch nicht veröffentlicht, aber Verstka konnte 15 frühere Fälle ausfindig machen, die jene Einheit Nr. 22179 betrafen. Daraus geht hervor, dass Soldaten dieser Garnison an diversen Sturmangriffen beteiligt waren und zu unterschiedlichen Zeitpunkten an unterschiedlichen Orten starben: zum Beispiel in Kämpfen bei Kyryliwka (Oblast Saporishshja), Awdijiwka, Oleksandriwka, Marjinka, Swjatohirsk, Dubowo-Wassyliwka (Oblast Donezk) und Bilohoriwka (Oblast Luhansk). 

    So wurde ein Gefreiter der 63. Schtorm-Z-Kompanie aus der Region Krasnojarsk seiner Mutter zufolge im April 2023 für den Armeedienst angeworben, als er auf Arbeitssuche war, und landete in der Einheit Nr. 22179. Er sollte einen Sold von monatlich 51.900 Rubel [ca. 500 Euro – dek] bekommen. Bereits im Mai 2023 stürmte er ukrainische Stellungen. Seit einem dieser Sturmangriffe ist er verschollen. Ein Kamerad erzählte dann den Angehörigen, er sei „in einem Sumpfgebiet gefallen“. Das Bezirksgericht Suchobusimskoje (Region Krasnojarsk) kam 2024 zu dem Schluss, dass er „bei der Erfüllung seiner Aufgaben im Zuge der militärischen Spezialoperation“ ums Leben gekommen war. 

     Freiwillige der ukrainischen NGO Black Tulip (dt. Schwarze Tulpe) bergen und identifizieren Überreste getöteter russischer Soldaten. Foto © Andriy Andriyenko/Zuma Press Wire/Imago
    Freiwillige der ukrainischen NGO Black Tulip (dt. Schwarze Tulpe) bergen und identifizieren Überreste getöteter russischer Soldaten. Foto © Andriy Andriyenko/Zuma Press Wire/Imago

    Wie die Familien vor Gericht ziehen 

    Familien, die ihre Angehörigen nicht beerdigen konnten, die die Hoffnung verloren haben, dass sie vielleicht doch noch am Leben sind, und die das „Sarggeld“ beantragen wollen, können sich zusammentun und gemeinsam vor Gericht ziehen. Im Sommer 2024 haben Verwandte von Angehörigen der Einheit Nr. 95383 gleich 54 Anträge eingereicht, um ihre Söhne als tot oder verschollen anerkennen zu lassen. Die Soldaten waren mutmaßlich während der Kämpfe um das Dorf Klischtschijiwka bei Bachmut ums Leben gekommen. 

    Im Frühjahr 2024 hatten die Familien dieser Soldaten eine Petition ins Leben gerufen, die bis dato von fast 300 Personen unterzeichnet wurde. Der Text besagt, die Familien hätten seit Juli 2023 nichts mehr von ihren Söhnen gehört. Damals hatten ukrainische Truppen russische Stellungen bei Klischtschijiwka angegriffen. Zuvor waren Einzelheiten zu den Kampfhandlungen bekanntgeworden: In einer Videobotschaft an den Präsidenten behaupten Angehörige der Soldaten, der Kommandeur habe diese „unter Todesdrohungen gezwungen, zu den Stellungen zurückzukehren, die mittlerweile vom Gegner eingenommen waren. Sie konnten nirgendwo in Deckung gehen und bekamen keinerlei Artillerieunterstützung.“ 

    Prozess für einen „Helden“ 

    Vor Gericht muss man selbst dann ziehen, wenn der Betreffende selbst Kommandeur war und nach Ansicht der russischen Armee Heldentaten vollbracht hat. So ging beispielsweise 2024 die Frau von Major Pawel Saran vor Gericht, der in der Einheit Nr. 21634 gedient hatte. 

    Der Major hatte das Kommando über ein Panzerregiment eines Sturmbataillons und fiel mutmaßlich am 5. Juni 2023 bei Kämpfen in der Nähe von Lewadne (Oblast Saporischschja). Nach offizieller Version hatte Saran seiner Einheit befohlen, die Verteidigungslinie zu halten, wofür er posthum mit dem Titel eines „Helden Russlands“ und der Medaille Solotaja Swesda (dt. Goldener Stern) ausgezeichnet wurde. Im Gerichtsbeschluss heißt es, der Major und neun weitere Militärangehörige hätten sich in einem Unterstand befunden, der von ukrainischen Panzereinheiten beschossen wurde. Durch den direkten Einschlag einer Granate kam es in dem Unterstand zur Explosion, wodurch alle zehn ums Leben kamen. Ihre Leichen konnten nicht geborgen werden.  

    Sarans Ehefrau, vertreten durch die Militärstaatsanwaltschaft, stellte daraufhin einen Antrag an das Bezirksgericht Ussurijsk, wo die Einheit ihres Mannes stationiert ist. Aufgrund von Zeugenaussagen kam das Gericht zu dem Schluss, dass Pawel Saran in der Nähe von Lewadne „in Ausübung seiner militärischen Dienstpflichten gefallen“ sei. 

    Familien gewinnen die Prozesse nicht immer beim ersten Versuch. 

    Es gelingt den Familien jedoch nicht immer beim ersten Versuch, das Gerichtsverfahren zu gewinnen. Viktoria Dikarjowa aus Polessk in der Oblast Kaliningrad erzählte Verstka bereits im Sommer 2023, ihr Mann, der als Freiwilliger in einer Reservisten-Einheit gedient hatte, sei vermutlich im August 2022 beim Sturm des Dorfes Wolodymyriwka (Oblast Donezk) gefallen. Wjatscheslaw Dikarjow hatte Frau und Tochter zurückgelassen, um – so Viktoria – im Krieg „ein paar Groschen zu verdienen“ und im Haus einen Gasanschluss legen zu können. Er war nur eine Woche an der Front. Von Kameraden hatte Viktoria gehört, dass ihrem Mann bei einem Angriff die Beine abgerissen wurden. Er konnte nicht gerettet und sein Leichnam wegen des starken Beschusses nicht geborgen werden. 

    Doch Viktoria verlor das Gerichtsverfahren, in dem ihr Mann für tot erklärt werden sollte. Der Kommandeur der Einheit Nr. 22179 (derselben, aus der sich auch eine berüchtigte Schtorm-Z–Einheit rekrutierte) teilte dem Bezirksgericht Polessk mit, er könne keine Informationen zum Schicksal von Dikarjow geben – jener sei nicht in den Personallisten seiner Garnison, sondern bei einer Freiwilligeneinheit registriert gewesen. Letztlich entschied die Richterin, dass es zu wenig Beweise für den Tod Dikarjows gebe. 

    „Die Entschädigungen und die Rente habe ich ihnen mit Klauen und Zähnen abgerungen.“ 

    Also klagte Viktoria ein zweites Mal, diesmal für den Verschollenen-Status. Und diesmal mit Erfolg. Ohne diese Entscheidung, sagte sie, hätte sie nicht einmal Waisenrente für ihre Tochter beantragen können. Mitte August 2024, zwei Jahre nach dem Tod ihres Mannes, will Viktoria aber doch noch einen zweiten Versuch unternehmen, ihn amtlich für tot erklären zu lassen. „Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wie das Gericht entscheiden wird“, sagt sie. „Seit zwei Jahren kämpfe ich nun dafür. Die Entschädigungen und die Rente habe ich ihnen mit Klauen und Zähnen abgerungen. Sein Körper wurde immer noch nicht heimgeholt, wer weiß, ob das überhaupt je geschehen wird. Obwohl doch das Gebiet, in dem er gefallen ist, längst zu Russland gehört, sucht niemand nach ihm. Was kann ich jetzt noch tun? Ich kann jetzt nur noch auf dem Papier seinen Tod feststellen lassen und alle Zahlungen beantragen, die meiner Familie zustehen.“ 

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  • Wegschauen und Weiterleben ausgeschlossen

    Wegschauen und Weiterleben ausgeschlossen

    Im Oktober 2024 wurde bekannt, dass der russische Oppositionelle Ildar Dadin Anfang des Monats im Krieg gefallen ist. Er hatte an der Seite der Ukrainer gegen die russischen Invasoren gekämpft. Nach Bekanntwerden von Dadins Tod schrieb der renommierte russische Journalist Andrej Loschak auf Facebook einen kurzen Nachruf, der eine heftige Diskussion auslöste. Denn Loschak erwähnt darin auch, dass Dadin von den Zuständen in der ukrainischen Armee enttäuscht gewesen sei. Darf man als Unterstützer der angegriffenen Ukraine die Zustände dort mit denen in Russland vergleichen? 

    dekoder dokumentiert den umstrittenen Beitrag. 

    Ildar Dadin (1982-2024) protestierte in Moskau, schloss sich dem Freiheitskampf der Ukraine an und fiel an der Front / Foto © Komers Real / flickr / CC BY 2.0

    Ildar Dadin ist an der Front gefallen. Für mich war er immer ein leuchtendes Beispiel für einen Menschen, der Ungerechtigkeit nicht tatenlos hinnehmen konnte. Das Wort, das in seinen Interviews wahrscheinlich am häufigsten zu hören war, lautet „Gewissen“. So äußerte er sich zum Beispiel damals zu den Bolotnaja-Prozessen: 

    „Ich war erstaunt, dass die Bewegung sich auflöste, statt dass die Menschen erst recht auf die Barrikaden gehen. Wir haben einfach zugesehen, wie man die, die mit uns gemeinsam für faire Wahlen demonstriert haben, als Geiseln genommen und eingesperrt hat. Ihre gebrochenen Schicksale haben auch wir auf dem Gewissen. Ende 2012 waren wir höchstens noch 30 Leute. Die Luft war raus, das habe ich verstanden, es hatte praktisch keinen Sinn mehr, auf die Straße zu gehen. Aber ich bin trotzdem gegangen, das war eine Frage des Gewissens.“ 

    Dadin wurde nicht müde zu wiederholen, dass alle Russen Verantwortung für das totalitäre Regime tragen, in das Putins Herrschaft ausgeartet ist. Bereits seit Anfang der 2000er Jahre verwandelte sich das Land allmählich in einen riesengroßen Karzer, bis man nach 2012 nicht mehr die Augen davor verschließen konnte. Und trotzdem haben wir es geschafft. Die Menschen in der Provinz – weil sie schon immer an der kurzen Leine gehalten wurden und gar nicht wissen, dass es etwas anderes gibt. Die Großstädter aus Bequemlichkeit. Zumal der Karzer, zumindest am Anfang, noch ziemlich komfortabel war. Das machte ihn jedoch nicht weniger zum Karzer. 

    Dadins Kampf für Versammlungsfreiheit brachte ihn ins Gefängnis 

    2014 wischte sich das Regime wieder mal mit der russischen Verfassung den Arsch ab und schränkte die Versammlungsfreiheit noch krasser ein (damals ging es bereits nur noch um Einzelkundgebungen). Der erste, der gegen das Verbot verstieß und dafür ins Gefängnis wanderte, war natürlich Ildar Dadin. Deshalb trägt der entsprechende Paragraf seither seinen Namen: „Dadin-Gesetz“. Im Gefängnis, das in Russland nur dafür da ist, die Inhaftierten maximal zu erniedrigen und die Menschenwürde mit Füßen zu treten, musste Dadin leider Gottes Folter erleiden. 

    „Ich habe damals erfahren, dass Russland nicht nur das Land von Mördern ist, weil es ein anderes Land überfallen hatte, sondern auch ein Land der Folterknechte und Sadisten. Ich glaube, sie haben mich gefoltert, weil ich mich nicht brechen ließ. Sie wollten ein Exempel an mir statuieren, um zu zeigen, was mit denen passiert, die für ihr Grundrecht auf Versammlungsfreiheit einstehen, offen über die Verbrechen des Kreml sprechen und für die das eigene Gewissen die höchste Instanz ist. Sie mussten mich mit ihren Stiefeln in den Dreck treten, damit andere sehen und verstehen, dass es ihnen genauso ergehen würde.“ 

    „Ich kann mit dem Gedanken nicht leben, bei diesen Verbrechen Mittäter zu sein“ 

    Dadin schrie seit 2014 laut heraus, dass Russland einen verbrecherischen Krieg gegen die Ukraine führt. Als Putin 2022 die großangelegte Offensive begann, stand Dadin nicht wie die meisten von uns vor der Frage: gehen oder bleiben? Er stand vor einer viel unerbittlicheren Entscheidung: ins Gefängnis wandern oder auf Seiten der Ukraine kämpfen? 

    „Ich kann mit dem Gedanken nicht leben, Mittäter bei diesen Verbrechen zu sein. Das Einzige, was mir bleibt, ist entweder in Russland auf die Straße zu gehen und dafür eingesperrt oder getötet zu werden, oder in die Ukraine zu fahren und mit der Waffe in der Hand gegen das Böse zu kämpfen. Einen dritten Weg – wegschauen und mein Leben weiterleben – gibt es nicht. Ich verstehe nicht, wie man das tun kann.“ 

    In Dadins Worten steckt viel unbequeme Wahrheit. Er betonte immer wieder, er sei Humanist. Das Leben und die Menschenrechte hatten für ihn oberste Priorität, sein ganzes Leben vor dem Krieg ist Beweis genug dafür. Und genau deshalb musste er diese harte, paradoxe Entscheidung treffen und zur Waffe greifen. Etwas ähnliches muss Dietrich Bonhoeffer, einen zutiefst religiösen Mann, dazu bewogen haben, sich den Hitler-Attentätern anzuschließen. Manchmal muss man, um seine Menschlichkeit zu wahren, das Irdische vom Göttlichen trennen. Sich zwischen dem Gebot „Du sollst nicht töten“ und dem eigenen Gewissen entscheiden, das dir sagt, dieses Böse kann nur mit Hilfe von Gewalt gestoppt werden. Einen perfekten Weg, mit weißer Weste aus diesem Konflikt zu kommen, gibt es nicht. Alle anderen Strategien sind, was den Kampf angeht, sinnlos. Das können wir leider daran beobachten, wie sich die Opposition im Exil selbst zerfleischt. Dadin und Nawalny sind mit zwei extremen und gleichzeitig extrem konsequenten Strategien als Beispiel vorangegangen. Das Unbequeme daran ist, dass sie uns, die wir vor dem Bösen in sichere Länder geflohen sind, unsere Feigheit vorführen. Ohne jeden Vorwurf, ohne Belehrungen, einfach nur durch ihr persönliches Vorbild. Und das macht es nur noch schonungsloser. Wir haben, wie es Julija Galjamina in einem Interview ausdrückte, die Strategie der Selbstrettung gewählt. Familie, Kinder, Pazifismus, schöpferische Entfaltung – das ist alles schön und gut. Aber lasst uns ehrlich sein: Sie hatte vollkommen recht. 

    Nawalny wählte den Weg Gandhis, Dadin wählte den Weg des Kriegers 

    Die Bedeutung von Ildar Dadin wird unterschätzt. Ich denke, mit der Zeit wird er in den Pantheon der Helden unserer Zeit aufsteigen, ebenso wie Nawalny. Sie werden beide zu Symbolen des Widerstands gegen den Putinismus werden (Dadin bevorzugte den Begriff „Raschismus“). Beide sind heldenhaft in diesem Kampf gefallen. Nur dass der eine den Weg des Satyagraha gewählt hat, der Gewaltlosigkeit, und der andere Buschido, den Weg des Kriegers. Vielleicht wird man ihn einmal den „Dadin-Weg“ nennen, wie man es mit dem repressiven Gesetz gemacht hat. Auf dieser hohen Note könnte man den Nachruf beenden, aber in Dadins Geschichte gibt es ein letztes Kapitel, das nicht weniger unbequem und widerspenstig ist als sein ganzes Leben. 

    Kurz vor Dadins Tod hatte ein guter Freund von mir, der ihn flüchtig persönlich kannte, über einen Messenger Kontakt mit ihm aufgenommen. Auf das floskelhafte „Wie-geht-es-dir“ brach es aus Dadin heraus. Ich glaube, er fühlte sich von allen vergessen, und so ließ er alles, was sich angestaut hatte, bei dieser Gelegenheit raus. Es war die grausame, unerbittliche Wahrheit über den Krieg. Dadin litt zutiefst. Seine Ehre, sein Gewissen und seine Menschenwürde waren konfrontiert mit der „Wahrheit des Schützengrabens“, und er konnte sie nicht mit seinem Gewissen vereinbaren. Diese Wahrheit besteht darin, dass in der ukrainischen Armee der gleiche Scheiß los ist wie in der russischen. Demütigung, Korruption, Dummheit, Grausamkeit und die Selbstdarstellung der Kommandeure, die die Tatsachen vor der Obrigkeit verbergen. Mit einem Wort (das Dadin selbst verwendet): derselbe sowok wie auf der feindlichen Seite. Aber er betonte auch den einen prinzipiellen Unterschied: Dass nämlich die Ukrainer einen Befreiungs- und die Russen einen Besatzungskrieg führen. Ich kann hier aus verschiedenen Gründen nicht das gesamte Gespräch veröffentlichen, aber ein Zitat möchte ich bringen: 

    „Ich kann nicht als Sklave kämpfen“ 

    „Man muss den Raschismus bekämpfen. Denn wenn man nicht gegen das Böse kämpft, dann stellt man sich dem Bösen durch seine Untätigkeit in den Dienst, man ergibt sich ihm. Aber meine Menschenwürde sagt mir, dass ich nicht als Sklave kämpfen kann.“ 

    Vielleicht ist das Tragischste an der Geschichte, dass Dadin kurz vor seinem Ende offenbar bereute, in die Legion eingetreten und in den Krieg gezogen zu sein. Ja, das ist eine für viele unbequeme, bittere Wahrheit, die unter Umständen ein gefestigtes Weltbild zerstört, in dem das Licht gegen die Dunkelheit kämpft, aber schon aus Respekt vor Ildar muss ich diesen Teil der Wahrheit ebenfalls erzählen. Über ein Jahr lang kämpfte er in den Sturmtruppen an vorderster Front. Er war zweifellos emotional ausgezehrt und in einem depressiven Zustand, das geht aus seinen Worten hervor. Vielleicht war es eine verzerrte Wahrnehmung der Wirklichkeit, wie es in solchen Fällen vorkommt, aber das glaube ich nicht. Ich glaube, Dadins natürlicher, angeborener Instinkt für (Un-)Gerechtigkeit war untrüglich. 

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  • Schöne neue Welt

    Schöne neue Welt

    „Die Erzeugung einer neuen Wirklichkeit ist unter Lukaschenkos Regime nichts Neues”, schreibt die belarussische Journalistin Katerina Truchan. Aber seit den Ereignissen im Jahr 2020 ergreife sie stärker denn je alle Lebensbereiche der belarussischen Gesellschaft. „Jede einzelne Amtshandlung zielt nicht nur darauf ab, jegliches Andersdenken auszumerzen, sondern auch ein neues Denken auszubilden, das einer Regierung die Stange hält, die keine mehr ist.” 

    In ihrem Beitrag für das belarussische Online-Portal Pozirk zeigt Truchan, mit welchen ideologischen Baupfeilern der Machtapparat diese neue Wirklichkeit in Belarus errichten will.  

    Die Flagge der Republik Belarus auf einer Ziegelsteinwand / Foto © xVivacityImagesx Panthermedia/IMAGO

    Architektonischer und anderer Patriotismus 

    Vor zwei Wochen wurden Alexander Lukaschenko die Pläne für das neue Nationale Historische Museum präsentiert. Im Fall einer Umsetzung entsteht in Minsk das nächste Gebäude, das die „Zeit nach 2020“ symbolisiert: billiger Pseudopatriotismus, der das Antlitz vieler Städte bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Das neue Museumsgebäude, das den Plänen zufolge die Umrisse von Belarus aufweisen soll (was ohnehin nur von oben zu sehen sein wird), sowie der Park der Nationalen Einheit rundherum sind nur ein kleiner Teil der Hinterlassenschaften in Glas und Beton der Regime-Vertreter. 

    2020 reagierten die Wahlverlierer auf die weiß-rot-weißen Flaggen mit Massen von geschmacklos und häufig verfehlt eingesetzten rot-grünen Fahnen. Später wurden sie auf Hausmauern gemalt und so zahlreich an Gebäuden aufgehängt, dass es jeden Tag aussieht, als wäre Nationalfeiertag. Anscheinend versucht das Regime mit so primitiven Methoden, sein Revier zu markieren. 

    „Genozid am belarussischen Volk“ 

    Gleichzeitig wurden die Lehrbücher umgeschrieben. Kurz nach der Niederschlagung der Proteste von 2020 begannen die Machthaber, den „Genozid am belarussischen Volk während des Großen Vaterländischen Krieges“ hochzufahren. Zuständig (und höchst aktiv) ist die Generalstaatsanwaltschaft. Im Jahr 2021 begann ein entsprechendes Strafverfahren, das in Schauprozesse gegen Kriegsverbrecher münden sollte. Im Januar 2022 unterstützte Lukaschenko dieses Strafverfahren mit einem neuen Gesetz, das die öffentliche Leugnung des Genozids unter Strafe stellte. Im Grunde legte die Generalstaatsanwaltschaft die einzige staatlich anerkannte Interpretation der nationalsozialistischen Verbrechen fest, und das Gesetz sorgte für strafrechtliche Panzerung: Von dieser Interpretation abzuweichen, ist von nun an verboten.   

    Das Thema Genozid sickerte aus der Staatsanwaltschaft sogleich in den Alltag durch: in die Lehrbücher, in die Propagandasender, die ersten Angeklagten kamen posthum vor Gericht, gegen andere wurden neue Verfahren eingeleitet. Mehrere Eltern von Schulanfängern in Minsk teilten Pozirk mit, dass die ideologische Bearbeitung der nächsten Generation gleich am ersten Tag beginne: sechs- und siebenjährigen Kindern wird vom Genozid erzählt. 

    „Für meinen Mann und mich war das ein Schock. Wir waren zwar darauf vorbereitet, dass unser Kind diesen ideologischen Quatsch mit nach Hause bringen wird, aber doch nicht schon in der ersten Klasse! Früher kam das erst in höheren Schulstufen. Wir haben auch ein noch ein größeres Kind, aber die Größeren erreichen sie nicht mehr so leicht, deshalb bemühen sich die Lehrer in dieser Klassenstufe gar nicht so sehr“, erzählte Pozirk eine Minskerin, deren Kind die erste Klasse eines Gymnasiums besucht.  

    Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass die Regierung, statt der Bevölkerung die Wahrheit zu sagen und die Archive zu öffnen, den Genozid weitgehend dazu benutzt, ein Bild von „Volksfeinden” zu malen: Schuld sind natürlich die Vorfahren jener, die die heute so „feindselige” EU gegründet haben, sowie die Polen und die Ukrainer.  

    Auch vor banalen Lügen schrecken die Machthaber nicht zurück. Zum Beispiel die Geschichte mit den Ausgrabungen bei Homel, wo die Staatsanwaltschaft im Wald von Schtschekotowskoje Opfer des Genozids „gefunden“ und 2022 feierlich umgebettet hat. Historiker sind sich einig, dass an diesem Ort in den 1930er Jahren NKWD-Mitarbeiter sowjetische Bürger erschossen haben, zu diesem Ergebnis kamen Archäologen bereits 1995. Stellt man die Behauptungen der Generalstaatsanwaltschaft heute infrage, kann man allerdings strafrechtlich belangt werden. Sehr praktisch, nicht? 

    In den Jahren 2024-25 sollen per Erlass Lukaschenkos in allen Gebietshauptstädten Gedenktafeln für die Opfer des Genozids angebracht werden, den Kindern bringt man weiterhin Halbwahrheiten bei, die Propaganda wird sich immer ihre Feinde finden. Die Opfer des stalinistischen Roten Terrors werden noch stärker in Vergessenheit geraten. Die Gedenkstätte in Kurapaty befindet sich heute in einem Zustand fast völliger Verwahrlosung, immer wieder kommt es zu Vandalismus, und selbst wenn sich jemand finden würde, der wieder für Ordnung sorgt – das Risiko ist beträchtlich. Die wenigen Aktivisten, die noch in Belarus und mutig genug sind, diesen Ort zu besuchen, bleiben aus verständlichen Gründen lieber unter dem Radar. 

    Mit Begeisterung werden auch die Lehrbücher umgeschrieben, im Lehrbuch der elften Klasse werden die Ereignisse von 2020 als „Putschversuch“ bezeichnet. Zudem werden ab dem neuen Schuljahr in vielen Klassen monatlich Informationsstunden zum Thema „Genozid am belarussischen Volk“ stattfinden. Dafür wurden 2023 Lehrbücher mit dem Titel „Der Genozid am belarussischen Volk im Großen Vaterländischen Krieg“ herausgegeben. Seit 2023 sind entsprechende Handreichungen für die erste bis vierte Klasse, die fünfte bis neunte sowie zehnte bis elfte Klasse erschienen. 

    „Tag der nationalen Einheit“ 

    Die Idee zu einem solchen Feiertag wurde zum ersten Mal bei der Allbelarussischen Volksversammlung 2021 erwähnt. Er wurde per Erlass eingeführt und ist heute einer der Grundpfeiler der belarussischen Propaganda. 

    2024 gab der Dekan der Belarussischen Staatlichen Universität, Alex Beljajew, im Vorfeld der Feierlichkeiten in einem Interview mit der staatlichen Nachrichtenagentur BelTA eindeutig zu verstehen, wozu Lukaschenko einen solchen Feiertag benötige: Die Vereinigung des Westlichen Belarus mit der BSSR sei nach 1949 in der Sowjetunion nicht gefeiert worden, da die Volksrepublik Polen zum sozialistischen Lager gehörte und man sie nicht unnötig an diese schwierige Phase der polnisch-sowjetischen Beziehungen erinnern habe wollen. 

    „Aber nach 2020 sahen wir, dass diese Nachbarn, mit denen wir befreundet sein wollten, ihrerseits keine Hemmungen hatten, unser Verhältnis zu trüben. Gerade Polen scheute keine Mühen, in Belarus Meinungsmacher auszubilden, die sogenannte fünfte Kolonne“, sagte der Dekan. Und so sei es aus ideologischer Sicht erforderlich gewesen, den 17. September als Feiertag zu fixieren. Dieser Tag wird in Belarus mit ideologischem Pomp gefeiert, im typischen Modus des „freiwilligen Zwangs”. Ob daraus je ein Nationalfeiertag wird, steht in den Sternen. 

    „Extremismus“ und „Terrorismus“ 

    Die juristische Willkür ist beinah schon seit Lukaschenkos Amtsantritt eine besondere Spezialität seines Regimes. Der revolutionäre Geist von 2020, der noch immer in der Luft liegt, das Fehlen von unabhängigen Medien, Menschenrechtsorganisationen, von unabhängigen Gerichten, einer Anwaltskammer sowie sonstige Folgen der repressiven Diktatur – all das sorgte für Bedingungen im Land, unter denen jeder und jede zum Extremisten oder Terroristen erklärt werden kann, je nach ideologischer Gefahr für das Regime (, die von ihm ausgeht). 

    Die Tatsache, dass absolut alle unabhängigen Medien, Blogger und Gruppen in sozialen Netzwerken als extremistisch eingestuft wurden, führte dazu, dass man in Belarus immer weniger Zugang zu Informationen hat – es ist entweder zu riskant (wenn man entsprechende Quellen nutzt) oder sinnlos (wenn man versucht, sich anhand von regierungstreuen Quellen zu informieren). Dadurch ist die Bevölkerung aus dem Kontext gerissen, und die Machthaber nutzen diese unfreiwillige Ahnungslosigkeit und die Abwesenheit von Regimekritik jeglicher Art aus und tun, was sie wollen.  

    Ein zusätzlicher Schlag gegen die Gesellschaft ist die Suche nach missliebigen Autoren nicht nur unter den Lebenden, sondern auch unter den Toten. Pozirk liegen Informationen vor, dass landesweit in allen Bibliotheken die Ausmusterung „unerwünschter“ Bücher im Gange ist. Sie werden auf die Liste „extremistischer Materialien” gesetzt, vor potenziellen Lesern versteckt. Es ist nicht erlaubt, die Bücher einfach vom Markt zu nehmen und in den Bibliotheken zu belassen. Dabei sind die Bibliotheken selbst zu treuen Handlangern des Regimes geworden, hier finden ständig einschlägige Veranstaltungen statt, organisiert von den Kultur- und Ideologiereferaten der Stadt- und Gebietsverwaltungen. 

    Abhängigkeit von Russland 

    Belarus kriecht nicht nur, wenn es um Wirtschaft geht, unter Russlands Fittiche. Nach 2020 ist Belarus aufgrund von Lukaschenkos Rolle in Russlands Krieg gegen die Ukraine ein grauer Fleck auf der Europakarte geworden. Genau wie Russland. Vereint durch gemeinsame Miseren und Hürden beschleunigten die beiden Staaten ihren Integrationsprozess, der davor jahrelang nicht vom Fleck gekommen war, und bastelten an ihrer Immunität gegen Sanktionen und andere Einschränkungen. 

    Ergebnis ist eine umfassende Importsubstitution, von Kultur und sozialen Netzwerken bis zu einheitlichen Lehrbüchern zur Geschichte des Unionsstaates. In Belarus schaut man russische Serien auf russischen Streamingportalen, russische „Stars“, die den Loyalitätsfilter passiert haben und den Krieg gutheißen, gehen hier auf Tournee; häufig sind es russische Blogger und Influencer, an denen sich die belarussische Jugend orientiert. 

    Wohin die kulturelle Verschmelzung der beiden Staaten führt, in denen ein Nobelpreis schlimmer ist als ein Verbrechen, wird sich zeigen. 

    „Die Tendenz ist schlimm, aber ich würde den Kopf nicht hängen lassen“ 

    Der Historiker und Politologe Alexander Friedman formulierte in einem Kommentar für Pozirk, dass es schwierig sei, die Zukunft vorauszusagen und zu erkennen, was den Machthabern gelingen werde und was nicht. 

    Bezüglich der vom Lukaschenko-Regime angeschobenen ideologischen Prozesse zählt der Historiker einige Faktoren auf, die ausschlaggebend für die Zukunft sind: die Intensität, mit der die Machthaber diese Prozesse voranbringen, und der Zeitraum, über den sie andauern. Derzeit spreche alles für eine hohe Intensität mit großem Kraftaufwand. Friedman wies auch auf die Vielfalt der Methoden hin; das Regime sei auch in den Sozialen Netzwerken und in der Jugendarbeit aktiv. Dabei werde häufig eine russische Perspektive befördert, auch im historischen Kontext. „Sie stützen sich auf sowjetische Narrative und Mythen, die die ältere Generation, die die Sowjetunion noch erlebt hat, sehr gut kennt, die Jungen hingegen nicht mehr wirklich”, betont Friedman. 

    Dabei unterstreicht er, dass jetzt zwar ein Kampf um die Geschichte stattfinde, die Leute in Belarus, die mit diesen offiziellen Konzepten gefüttert würden, aber nach wie vor alternative Informationsquellen im Internet nutzen können, auch ohne unbedingt Fremdsprachen zu beherrschen. „Das erschwert die Arbeit der Propagandamaschine erheblich. Wenn sie diese Verbindungen kappen – also das Internet oder die westlichen Sozialen Netzwerke blockieren, könnten sie ihre Narrative leichter durchsetzen. Solang sie das nicht tun, ist es schwieriger“, sagt der Experte. 

    Dabei denkt Friedman nicht, dass das Regime damit Erfolg haben wird. Ein gutes Beispiel sei die Sowjetunion, in der der Bevölkerung sehr vieles aufgezwungen wurde, historische Bewertungen inklusive, und trotzdem habe das oftmals keine tiefen Spuren hinterlassen. Einen Grund dafür sieht der Historiker darin, dass in der UdSSR Geschichte nicht unterrichtet worden sei, um Vergangenheitsbewältigung zu betreiben und besser zu verstehen, was passiert ist, sondern wie emotionales Beiwerk, das „ziemlich schnell kommt und geht“. Von einem tiefen Verständnis wie in Deutschland, wo der Nationalsozialismus und seine Verbrechen über Generationen reflektiert würden, sei man meilenweit entfernt gewesen. 

    Darüber hinaus interessieren die Themen, die das Regime anbietet, vor allem die jungen Belarussen kaum: „Der Zweite Weltkrieg und alles, was damit zu tun hat – das waren schreckliche Verbrechen, ohne Frage. Der 17. September ist weniger eindeutig, liegt aber auch sehr lange zurück. Für die junge Generation ist das alles sehr weit weg und schwer nachvollziehbar. Das waren Zeiten, in denen wenig an ihre heutige Realität erinnert.“ 

    Friedman glaubt nicht, dass das Regime mit den Geschichten durchkommt, die es der Gesellschaft und insbesondere der Jugend aufdrängen will: „Das geht eher ‚zum einen Ohr rein, zum anderen wieder raus‘.“ Sein Resümee: „Die Tendenz ist natürlich schlimm, aber ich würde den Kopf nicht hängen lassen.“ 

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  • „Der Staat macht selbst vor der Gebärmutter nicht halt“

    Im November 2023 hat das Oberste Gericht in Russland eine imaginäre „internationale LGBT-Bewegung“ als „extremistische Organisation“ eingestuft. Nun arbeitet die russische Führung an einem Verbot einer „Childfree-Bewegung“, die es ebenfalls nicht gibt. „Propaganda des freiwilligen Verzichts auf das Kinderkriegen“ wird damit unter Strafe gestellt. Darunter fallen nach Vorstellung der Initiatoren des Gesetzes Werbung für Verhütungsmittel oder Beratung vor dem Schwangerschaftsabbruch. Das Gesetz ist so schwammig formuliert, dass alle möglichen Informationen zu bewusster Kinderlosigkeit bestraft werden können. Zudem muss man befürchten, dass die Verabschiedung des neuen Verbots ebenso zu Diskriminierung und Stigmatisierung bestimmter Menschengruppen führen wird wie das bestehende russische Gesetz über die sogenannte „homosexuelle Propaganda“

    Laut der Vorsitzenden des russischen Föderationsrats, Valentina Matwijenko, ist die „Childfree-Ideologie“ als eine „Entartung des Feminismus“ im Westen entstanden. Sie sei gegen Männer und gegen die „traditionellen Werte“ gerichtet. Andere Politiker wollen mit dem Gesetz die demografischen Probleme des Landes angehen. Für den Journalisten Anton Orech von der Novaya Gazeta ist das Gesetz krude Biopolitik: „Der Staat bestimmt, welcher Sex richtig ist und welcher nicht. Er legt fest, wer Kinder bekommen soll und wie viele. Er verbietet der Bevölkerung, nach eigenem Ermessen über den eigenen Körper zu verfügen.“ 

     

    © Depositfoto / Imago Images

    In einer Schule in Ocha auf der Insel Sachalin mussten sich die Schüler in der Aula einfinden und sich einen Vortrag darüber anhören, wie schlecht Abtreibungen sind. Zwecks Veranschaulichung, damit die Jugendlichen es auch wirklich kapieren, zeigte man ihnen auf einer großen Leinwand den ganzen ungeschönten Vorgang. Videos von dieser Aktion gingen durch Kanäle und Accounts – verpixelt und mit der Warnung versehen, es handle sich um verstörende Bilder. Für die Kinder in der Sachaliner Schule wurden sie weder verpixelt noch beschönigt. Die Sache blieb zwar nicht ohne Folgen, es wurde ermittelt, wer das überhaupt erlaubt hatte und wer der Vortragende war – doch da war es bereits zu spät, der Schaden war bereits angerichtet.        

    Werbeverbot für Kondome? 

    Mir stellt sich vor allem eine Frage: Was die Kinder da gesehen haben – ist das nun Propaganda fürs Kinderkriegen oder für Childfree? Will man nach so einem Anblick überhaupt noch Kinder bekommen? Oder erreicht man mit solch entsetzlichen Bildern nicht vielmehr das Gegenteil von Fortpflanzungsfreudigkeit? Sodass das demografische Problem erst recht nicht gelöst wird?  

    Eine Abtreibung ist immer schlimm. Keine Frau würde so etwas aus Jux und unter normalen Umständen machen lassen. Und wer kein Baby kriegen will, kann ja verhüten – würde man meinen. Doch in der Duma wird bereits ein Werbeverbot für Kondome diskutiert, zur Bekämpfung von „Childfree“. Die Verbreitung von Syphilis und anderen Geschlechtskrankheiten wird die Gesellschaft natürlich viel weiter bringen. Wenn Frauen und Männer mit den Folgen von ungeschütztem Sex die Arztpraxen stürmen, wird es uns viel besser gehen. Es ist ja nicht nur der Tripper, der auf diesem Weg übertragen wird, da gibt es ja auch diverse andere Krankheiten.   

    In einem Land, in dem Hunderttausende Menschen das HI-Virus in sich tragen, ist es natürlich oberste Priorität, Kondome abzuschaffen! 

    Tja, und schwangere Teenager sind natürlich genau das, was uns allen noch gefehlt hat. Genau das scheint Senator Kutepow in Angriff zu nehmen: Er schlägt vor, Abiturientinnen bei der Aufnahmeprüfung zur Universität zusätzlich zu den üblichen Bonuspunkten für allerlei Olympiaden noch zehn weitere Punkte zu schenken, wenn sie im Jahr vor der Prüfung ein Kind gebären. In welcher Klasse muss man dann damit anfangen? Elfte, oder besser schon zehnte? Das sind völlig absurde Hirngespinste, doch eine einfache Wahrheit hat uns das Leben ja schon gelehrt: Es gibt kein Hirngespinst auf dieser Welt, das nicht irgendwann ein Gesetz in Russland werden könnte.  

    Die auf die Nachwuchsproduktion fixierte Regierung hat das Thema Childfree entschlossen im Visier. Worauf man sich verlassen kann: Bald wird diese „Bewegung“ verboten, ihre Anhänger mit Strafen belegt. Dass es gar keine entsprechenden Strukturen gibt, macht überhaupt nichts. Das hat ja auch keinen daran gehindert, die „internationale LGBT-Bewegung“, die angeblich seit 1984 aktiv ist, zu verbieten.  

    Bestrafung der Unterlassung 

    Was „Childfree“ betrifft, könnte es sogar noch absurder werden. Während das LGBT-Verbot eine Handlung bestraft, würde ein „Childfree“-Verbot eine Unterlassung bestrafen. In Russland kann man ohnehin bald jeden von der Straße weg vor Gericht schleppen, aber um wegen gleichgeschlechtlicher Liebe belangt zu werden, muss man diese immerhin entweder praktizieren oder Solidarität mit solchen Menschen zum Ausdruck bringen. Das heißt, wenn man absolut nichts über LGBT sagt und „es nicht macht“, dann hat man seine Ruhe. Aber soll jetzt jede kinderlose Person unter Generalverdacht stehen, einer imaginären Childfree-Bewegung anzugehören? 

    Sie sind verheiratet, aber haben keine Kinder? Soso, erklären Sie sich mal! Sie strengen sich an, aber es wird nichts? Wie können Sie Ihre Bemühungen beweisen? Sie haben gesundheitliche Probleme? Dann lassen Sie mal ein Attest sehen! Sie sind noch nicht bereit? Haben kein Geld? Keine Wohnung? Wollen erst Ihren Abschluss/Karriere machen? Das ist doch wohl alles kein Grund, sich nicht zu vermehren!  

    In der Sowjetunion wurde eine Steuer auf Kinderlosigkeit erhoben. Eine absolute Demütigung. Aber damals kam man auch wegen homosexueller Kontakte und antisowjetischer Propaganda und Agitation ins Gefängnis, und die Rolle der Partei als „unserem Steuermann“ war in einer Verfassung verankert, die insgesamt vor Kuriositäten strotzte. Können wir wiederholen? Zudem werden andauernd neue Steuern eingeführt, und trotzdem hat der Staat komischerweise kein Geld.        

    Der Staat macht selbst vor der Gebärmutter nicht halt 

    Die strafrechtliche Verfolgung von „Childfree-Propaganda“ eröffnet ein weites Feld für Improvisationen. Allein der Begriff der „Propaganda“ ist abstrakt und der Paragraf absichtlich schwammig formuliert. Klar, dann kann man jeden belangen, den man will. Jeden beliebigen Aktivisten zum Beispiel, wenn sich sonst gar nichts anderes gegen ihn finden lässt.   

    Aber noch viel wichtiger ist: Der Staat dringt buchstäblich in die Privatsphäre seiner Bürger und Bürgerinnen ein. Er legt sich zu ihnen ins Bett und macht selbst vor der Gebärmutter nicht halt. Der Staat bestimmt, welcher Sex richtig ist und welcher nicht. Er legt fest, wer Kinder bekommen soll und wie viele. Er verbietet der Bevölkerung, nach eigenem Ermessen über den eigenen Körper zu verfügen. 

    Aber der Russe ist ganz einfach gestrickt. Geht es um irgendwelche abstrakten Begriffe, um Freiheiten oder „allgemeinmenschliche Werte“, dann winkt er ab, als ginge es um Sachen, die niemand so richtig versteht oder braucht und die ihn nicht wirklich was angehen. Aber kaum ist er von etwas direkt betroffen, spürt es am eigenen Leib, da fängt er plötzlich an, ganz anders zu empfinden.    

    Lebensmittelpreise und steigende Wohnnebenkosten regen ihn viel mehr auf als jede Einschränkung von Freiheit. Die Frage nach Sex und Kinderkriegen ist allerdings maximal einfach zu verstehen, und die persönliche Betroffenheit könnte unmittelbarer nicht sein. Es ist äußerst schwierig, einen Menschen zum Kinderkriegen zu zwingen, wenn er nicht will. Und wenn ihm klar ist, dass er zwar von allen Seiten zur Fortpflanzung aufgefordert wird, es aber kaum Unterstützung für Familien mit Kindern gibt. Was hat er für Aussichten? Vermehrung in Armut? Fortpflanzung in der Schulzeit? Aber Wladimir Medinski hat die Lösung: Verkürzen wir doch einfach die Schulbildung, damit man nicht so viel Zeit mit Lernen verbringt, sondern schneller einen Beruf ergreift. Die Jungs in die Fabriken, die Mädels ins Geburtshaus. Und immer so weiter. Damit an „Childfree“ gar nicht mehr zu denken ist.     

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  • Extra-Strafen auf der Krym

    Extra-Strafen auf der Krym

    Die russischen Besatzungsbehörden auf der Krym haben seit 2022 schon mehr als 900 Ordnungswidrigkeitsverfahren wegen angeblicher Diskreditierung der russischen Armee und fast 600 wegen „Verwendung extremistischer Symbole“ eröffnet. Wer sich gegen die russische Aggression ausspricht, Informationen über russische Kriegsverbrechen veröffentlicht oder einfach nur ukrainische Lieder hört, blau-gelbe Kleidung trägt oder Bilder in diesen Farben teilt, wird schnell juristisch und öffentlich verfolgt. Die Bevölkerung auf der Krym wird von Besatzungsbehörden und loyalen Medien aufgefordert, solche Personen zu denunzieren. Z-Blogger verbreiten Videos von Festnahmen und erzwungenen Entschuldigungen, die ihnen die russischen Sicherheitsbehörden zuspielen. 

    Laut Angaben der Vertretung des Präsidenten der Ukraine in der Autonomen Republik Krym – ein Organ, das sich mit Vorgängen auf der annektierten Halbinsel beschäftigt – nimmt die Zahl der Ordnungswidrigkeitsverfahren wegen „Diskreditierung“ zwar russlandweit ab – aber auf der besetzten Krym steigt sie. Im Mai 2023 hatte die NGO Krymski Prozes noch 350 Fälle vermeldet. Insgesamt dürfte die Dunkelziffer noch höher liegen. 

    Das ukrainische Onlinemedium Graty erläutert anhand zahlreicher Fallbeispiele allein im Juli 2024, wie die russischen Besatzer auf der annektierten Halbinsel mit Anzeigen und Denunziationen die Bevölkerung einschüchtern.  

    Prorussische Blogger und Besatzer-Polizei gegen „Tscherwona Kalyna“ 

    Am 6. Juli veröffentlichte der russischsprachige Telegram-Kanal Krymski Smersch (dt: Krym-Todesschwadron) Screenshots einer privaten Instagram-Seite: Die Bilder dort zeigten die ukrainische Nationalflagge und Menschen in blauer und gelber Kleidung, das ukrainische Wappen mit Dreizack und eine Armtätowierung mit der Aufschrift „Slawa Ukrajini“ sowie Männer, die Wladimir Putin und Dmitri Medwedew ähneln, in T-Shirts mit Dreizack und der Aufschrift „Putin, fick dich“. Zwei Stunden später teilte derselbe Kanal ein Video, in dem Spezialkräfte mit Sturmgewehren in ein Haus eindringen und einen jungen Mann festnehmen, ihn beschimpfen und zu Boden werfen. Außerdem wurde berichtet, dass ein 24-jähriger Einwohner von Bilohirsk (Kleinstadt im Südosten der Krym – dek), Kemal S. (aus ethischen und Sicherheitsgründen nennen wir nicht die vollständigen Namen der Beschuldigten – Graty), festgenommen und gegen ihn ein Ordnungswidrigkeitsverfahren nach zwei Artikeln eingeleitet worden sei –  wegen „geringfügigem Rowdytum“ und „Darstellung von Nazi-Symbolen oder Symbolen extremistischer Organisationen oder anderer Symbole, deren Propaganda oder öffentliche Zurschaustellung in der Russischen Föderation verboten ist“ (Artikel 20.1, Absatz 3 und Artikel 20.3, Absatz 1 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten der Russischen Föderation (GORF)). Am nächsten Tag folgte ein Video, das höchstwahrscheinlich von Sicherheitskräften zugespielt worden war und in welchem sich der Inhaftierte für die „Beleidigung des Präsidenten der Russischen Föderation“ entschuldigte. 

    Telegram-Video zeigt brutale Festnahme eines 63-Jährigen, der „der Ukraine zujubelt, Terroristen zitiert und die territoriale Integrität Russlands leugnet“. 

    Am 11. Juli zeigte ein Video auf Krymski Smersch die brutale Festnahme des 63-jährigen Refat I. verbunden mit dem Kommentar, dass dieser „der Ukraine zujubelt, Terroristen zitiert und die territoriale Integrität Russlands leugnet“. Es wird zwar nicht angegeben, wo die Ereignisse stattfanden und was genau man dem Festgenommenen vorwirft, jedoch wird gemeldet, dass der Mann sieben Tage in Haft genommen worden sei. Am 13. Juli folgt ein Video, in dem sich I. für die „Veröffentlichung verbotener Symbole“ entschuldigt.  

    Am 25. Juli veröffentlichte Krymski Smersch ein Video von einem Haus, in dem das ukrainische Kult-Volkslied „Oj, u lusi tscherwona kalyna“ spielt, inklusive der Adresse im besetzten Sewastopol. Wenige Stunden später wurde auf demselben Kanal die mutmaßliche Festnahme eines 42-jährigen Bewohners vermeldet, beschuldigt der „Propaganda und öffentlichen Demonstration von Nazi-Symbolen “ (Art. 20.3 Abs 1 GORF). Russische Medien verbreiteten die Information, dass der Mann laut Beschluss des russisch kontrollierten Leninski-Bezirksgerichts von Sewastopol 15 Tage in Haft verbleiben müsse. Die Pressestelle des Gerichts meldete, das Verfahren sei am 26. Juli geprüft worden und der Beschluss ergangen, obwohl der Beschuldigte seine Schuld bestritt: „Das Gericht stellt fest, dass die männliche Person am 25. Juli 2024 in seiner Wohnung auf dem Balkon laut und deutlich Parolen ukrainischer nationalistischer Organisationen rief und die Hymne ukrainischer nationalistischer Organisationen hörte. Hierzu wurde ein Ordnungswidrigkeitsverfahren gemäß Art. 20.3, Abs. 1 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten der Russischen Föderation eröffnet,“ heißt es auf der Website des Gerichts. 

    In mindestens einem Fall, der im Juli im selben Telegram-Kanal veröffentlicht wurde, ging es nicht nur um Ordnungswidrigkeiten, sondern um strafrechtliche Verfolgung. Am 10. Juli schrieb Krymski Smersch, dass der FSB ein Verfahren wegen „öffentlicher Aufrufe zu extremistischen Aktivitäten“ (Art. 280, Abs. 2 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation (StGBRF)) gegen Tetjana B. aus Jalta eingeleitet habe, die Monate zuvor auf Telegram die russische Besatzungspolitik kritisiert hatte. Auch sie wurde damals gezwungen, sich per Video zu entschuldigen, das Krymski Smersch bereits im April dieses Jahres veröffentlichte. Darin wird behauptet: „Sie veröffentlichte Kommentare, in denen zu Gewaltaktionen gegen eine Gruppe von Menschen mit ausgewiesen russischer Nationalität aufgerufen wird.“ 

    Besatzer-Polizei von Sewastopol verbreitet Video mit „Entschuldigung“  
    eines 19-Jährigen, der sich „beleidigend über Soldaten der russischen Streitkräfte  
    und Teilnehmer der Spezialoperation mit patriotischen Symbolen“  
    geäußert haben soll. 

    Allein im Juli gab es mehr als ein Dutzend solcher Fälle. Manchmal berichten die Besatzungsbehörden auf der Krym über solche Ermittlungen aber auch selbst, ohne die Unterstützung ihrer loyalen Blogger. So veröffentlichte der Telegram-Kanal Polizija Sewastopol am 20. Juli ein Video mit der „Entschuldigung“ eines 31-jährigen Mannes, der am Strand „Ruhm der Ukraine! Ruhm den Helden!“ gerufen hatte. Aufnahmen des Vorfalls sind der „Entschuldigung“ im Video vorangestellt. Es wird darauf hingewiesen, dass der Mann außerdem der „Darstellung von Nazi-Symbolen“ beschuldigt wird und das von Russland kontrollierte Leninski-Bezirksgericht von Sewastopol ihn für 12 Tage in Haft genommen hat.  

    Vier Tage zuvor, am 16. Juli, hatte ebenfalls die Besatzer-Polizei von Sewastopol ein Video mit der „Entschuldigung“ eines 19-Jährigen, der sich in Kommentaren in sozialen Netzwerken „beleidigend über Soldaten der russischen Streitkräfte und Teilnehmer der Spezialoperation mit patriotischen Symbolen“ geäußert haben soll. Gegen ihn sei ein Ordnungswidrigkeitsverfahren wegen „Diskreditierung der Streitkräfte der Russischen Föderation“ (Art. 20.3.3, Abs. 1 GORF) am Nachimowski-Bezirksgericht Sewastopol eingeleitet worden.  

    Am 17. Juli folgte ein weiterer Beitrag über die Fahndung nach einem 41-jährigen Einwohner Sewastopols wegen desselben Artikels der „Diskreditierung“. Dieses Mal aber ohne Entschuldigungsvideo, sondern lediglich mit der Ergänzung, dass der Beschuldigte „gestanden habe“. 

    Mehr Verfahren auf der Krym, in Russland weniger 

    Nach Angaben der Vertretung des Präsidenten der Ukraine in der Autonomen Republik Krym bearbeiteten die Besatzungsgerichte auf der Halbinsel bis 23. Juli dieses Jahres schon 913 Ordnungswidrigkeitsverfahren wegen „Diskreditierung der russischen Streitkräfte“ (Art 20.3.3 GORF). In 811 Fällen erließen die Gerichte eine Anordnung zur Verhängung einer Strafe oder fügten sie zu einem anderen Ermittlungsfall nach weiteren Artikeln hinzu und erließen einen gemeinsamen Beschluss. 18 Verfahren wurden bei Erscheinen dieses Artikels noch geprüft, der Rest wurde aus verfahrenstechnischen Gründen ausgesetzt oder zur Überarbeitung zurücküberwiesen. 

    Ein FSB-Offizier eskortiert einen Gefangenen, der Informationen über militärische Einrichtungen und die Krym-Brücke an den ukrainischen Geheimdienst weitergegeben haben soll. 27. September 2024 © Russian Federal Security Service, TASS Publication / IMAGO

    Die Gesamtzahl solcher Verfahren nehme, so die ukrainische Krym-Vertretung gegenüber Graty, in Russland seit der vollumfänglichen Invasion tendenziell ab, da es weniger Antikriegsbekundungen gäbe, während sie auf der besetzten Krym zunähmen: „2022 machten Fälle auf der Krym in der allgemeinen Gerichtsstatistik 4,4 Prozent aus, 2023 bereits 13,3 Prozent. Zur gleichen Zeit tauchten in der allgemeinen russischen Gerichtsstatistik im Jahr 2023 44 Prozent weniger Fälle auf als 2022, während auf der Krym für 2023 70,6 Prozent mehr Fälle registriert wurden als im Jahr 2022. Noch deutlicher zeigt es die Statistik über verhängte Bußgelder für die Krym: 2022 machten die nach Artikel 20.3.3 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten der Russischen Föderation verfolgten Personen auf der Krym 4,6 Prozent der gesamtrussischen Statistik aus, im Jahr 2023 stieg ihr Anteil auf 15,5 Prozent.“ 

    2022 stellten Personen auf der Krym 4,6 Prozent der gesamtrussischen Statistik,  
    im Jahr 2023 stieg ihr Anteil auf 15,5 Prozent. 

    Diesen Daten zufolge werden in der Regel Bußgelder als Strafe verhängt, wobei die Praxis von Gericht zu Gericht unterschiedlich ist. So betrage die Geldbuße am städtischen Gericht von Armjansk in der Regel etwa 30.000 Rubel (ca. 300 Euro – dek), während Geldbußen an anderen Gerichten bis zu 40 oder 50.000 Rubel betragen können. Laut Vertretung des Präsdenten in der Autonomen Republik Krym verhängte jenes Gericht von Armjansk zum Beispiel im März dieses Jahres eine Geldstrafe von 30.000 Rubel gegen einen Mann, der „einen Post mit einer Straßenbahn und der Aufschrift ‘Russen, geht (vulgäre Sprache) ’ veröffentlichte“. Im April wurde eine Frau zu einer Geldstrafe in gleicher Höhe verurteilt, weil sie in Telegram „öffentliche Handlungen begangen hat, die darauf abzielen, den Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation zu diskreditieren“. Konkret: Likes für Fotos mit den Aufschriften „Ruhm den Streitkräften der Ukraine“, „Cherson ist Ukraine“, „Kostohrysowe ist Ukraine“, „Nowa Kachowka ist Ukraine“ sowie ein zustimmender Kommentar. 

    Ein bedeutender Teil solcher Verfahren wird, so beobachten es die Analysten, während der sogenannten Filtration an den Kontrollpunkten zwischen dem von Russland besetzten Teil der südlichen Regionen der Ukraine und der Krym eingeleitet. Hier werden die Handys und sozialen Netzwerke der Menschen durchforstet. Hiernach eingeleitete Verfahren werden dann in der Regel vor den Gerichten von Armjansk oder Dschankoj verhandelt.  

    Die Vertretung des Präsidenten der Ukraine auf der Krym weiß auch von mindestens acht Strafverfahren, die an den Besatzungsgerichten auf der Halbinsel verhandelt wurden: zwei nach dem Artikel über die „Verbreitung wissentlich falscher Informationen über den Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation sowie befugtes Handeln der Behörden“ (Art. 207.3 StGBRF) und sechs wegen „öffentlicher Handlungen, die darauf abzielen, den Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation zu diskreditieren“ (Art. 280.3 StGBRF), auch bekannt als „wiederholte Diskreditierung“. 

    Doppelte Verfahren 

    Ein Beispiel ist die strafrechtliche Verfolgung von Andrij Biloserow, einem ehemaligen Lehrer der Technischen Schule in Bilohirsk: Im Dezember 2022 stellte ihn ein von Russland kontrolliertes Gericht in Simferopol für einen Post auf VKontakte über den russischen Beschuss von Zivilisten in Donezk und anderen ukrainischen Städten für zwei Monate unter Hausarrest. Da Biloserow aber schonmal von Besatzungsgerichten wegen „Diskreditierung“ mit Ordnungswidrigkeiten dafür belangt worden war, dass er seinen Schülern das Lied „Bayraktar“ vorgespielt habe, wurde der Post als Wiederholungstat eingestuft und ein Strafverfahren eingeleitet. 

    In einigen Fällen erstellten die russischen Sicherheitskräfte auch gleich zwei Ordnungswidrigkeitsverfahren gleichzeitig: sowohl wegen „Diskreditierung“ als auch wegen „Darstellung von Nazi- oder extremistischen Symbolen“ (Artikel 20.3 GORF). Laut der Krym-Vertretung wurden seit der russischen Besetzung der Krym insgesamt 681 solcher Fälle dokumentiert, Tendenz steigend: vier im Jahr 2014, sechs im Jahr 2015, 19 im Jahr 2016, 25 im Jahr 2017, 23 im Jahr 2018, 47 im Jahr 2019, 32 im Jahr 2020, 46 im Jahr 2021, 103 im Jahr 2022, 167 im Jahr 2023 und 138 bislang im Jahr 2024. 

    Moskau bestimmt, was verboten ist 

    Auch die Menschenrechtsorganisation Krymski Prozes verzeichnete einen Anstieg von Ordnungswidrigkeitsstrafen wegen sogenannter „Nazi-Symbole“ und „Diskreditierung der russischen Streitkräfte“ gegen Menschen auf der besetzten Krym. Am 18. Januar hatte das russische Justizministerium eine Liste veröffentlicht, die Organisationen sowie ihre Symbole und Attribute verbietet, die angeblich gegen Artikel 6 Absatz 6 des russischen Gesetzes „Über die Aufrechterhaltung des Sieges des sowjetischen Volkes im Großen Vaterländischen Krieg von 1941-1945“ verstoßen. Als solche „Nazi-Organisationen“ stufte das Justizministerium unter anderem die Organisation der ukrainischen Nationalisten (OUN), die Ukrainische Aufständische Armee (UPA), die Ukrainische Revolutionäre Volksarmee (UNRA) sowie die Ukrainische Volksselbstverteidigung (UNS) ein. Verboten wurden außerdem der Gruß „Slawa Ukrajini“, mehrere Versionen des Dreizacks, das OUN-Emblem und die schwarz-rote Flagge. 

    Zeichnung hatte nur eines mit Bataillons-Emblem gemeinsam — das Tamga , das in Russland nicht verboten ist. 

    Laut den Analysten wird von den Besatzungsgerichten auf der Krym besonders häufig der Wortlaut „Symbole extremistischer Organisationen“ sowie „andere verbotene Symbole“ verwendet, welche jedoch nirgends konkretisiert sind. „Ein offensichtlicher Fall ist hier das Verfahren gegen den unabhängigen Anwalt Olexii Ladin, dem vorgeworfen wurde, ‘andere verbotene Symbole’ gezeigt zu haben, nämlich das Wappen des nach Noman Tschelebidshikhan benannten Freiwilligenbataillons der Krymtataren, das 2022 als terroristische Organisation eingestuft wurde. In seiner Entscheidung bezieht sich das Gericht auf die Schlussfolgerungen eines namentlich nicht genannten Spezialisten, der feststellte, dass die Symbolik in Form des kleinen Wappens der Ukraine mit der Überlagerung des Bildes des Krymtatarischen Emblems von den ‘Kämpfern’ dieser Gruppe während der Anti-Terror-Operation in der Südostukraine, bei der Blockade der Krym und der speziellen Militäroperation auf dem Territorium der Ukraine verwendet wurde“, heißt es in der Studie von Krymski Prozes über die Verfolgung pro-ukrainischer Einstellungen unter dem Deckmantel der Bekämpfung von Extremismus und Nationalsozialismus vom 24. Juni 2024. 

    Tatsächlich hatte Ladin auf Facebook eine Zeichnung eines Schülers veröffentlich, die nur eines mit dem Bataillons-Emblem gemeinsam hat — das Tamga (Wappensymbol der Krymtataren – dek), das in Russland nicht verboten ist. 

    Härtere Strafen in veröffentlichten Fällen 

    In der erwähnten Studie stellen Analysten von Krymski Prozes fest, dass in Fällen, wo die Festnahme in propagandistischen Medien verbreitet wurde, das Gericht später häufig härtere Strafen nach mehreren Artikeln verhängt. „Dies führt als zusätzliches Argument zu der Schlussfolgerung, dass das Gericht nur ein abhängiges Instrument ist, das die repressive Politik gegen pro-ukrainische Bürger in den besetzten Gebieten der Krym legitimiert“, heißt es in dem Bericht.  

    Nach Angaben von Krymski Prozes erschienen die ersten „Entschuldigungsvideos“ wegen pro-ukrainischer Einstellungen bereits im August 2022. Aktivisten der Organisation bezeichnen diese außergerichtliche Praxis als zusätzliche Strafmaßnahme zur eigentlichen Ordnungswidrigkeit. Diese Praxis ziele besonders auf der annektierten Krym auf die Einschüchterung der Bevölkerung unter der Besatzung ab und zwinge sie dazu, ihre pro-ukrainischen Einstellungen zu verbergen.  

    „Strafmaßnahmen können Haft, Schläge und Durchsuchungen während der Haft, Verlust der Arbeit, Hasskampagnen im Internet und am Wohnort umfassen“ 

    „Ein häufig festgestellter Trend ist eine ganze Reihe zusätzlicher Strafmaßnahmen. Diese können Haft, Schläge und Durchsuchungen während der Haft, Verlust der Arbeit, Hasskampagnen im Internet und am Wohnort sowie die Verbreitung von Videos in sozialen Netzwerken und kontrollierten Medien umfassen, bei denen die Festgenommenen zu Handlungen gezwungen werden, die die Menschenwürde verletzen“, erklärt die Organisation gegenüber Graty. „Oft werden die Bewohner der besetzten Gebiete zu einer Entschuldigung für ihre Überzeugungen vor laufender Kamera gezwungen, manchmal gehen die Sicherheitskräfte in der Demütigung noch viel weiter: Sie ziehen den Gefangenen russische Militäruniformen an, verlangen, die russische Hymne zu singen und ihre Unterstützung für die russische Militäraggression, Putins Politik oder anderes zu verkünden.“  

    Nach Angaben von Aktivisten wurden diese Veröffentlichungen meist durch den prorussischen Blogger Alexander Talipow initiiert, der mit dem bereits erwähnten Telegram-Kanal Krymski Smersch in Verbindung steht. Dessen Infos werden oft von anderen Kanälen und unter der Besatzung tätigen prorussischen Medien aufgegriffen.  

    Wer sind Alexander Talipow und sein „Genosse Major“? 

    Alexander Talipow ist ein ehemaliger Grenzsoldat aus Sudak, prorussischer Aktivist und Blogger auf der besetzten Krym. Er war Gründer der Telegram-Kanäle TalipoV, Online Z und Krymski Smersch (benannt nach dem sowjetischen Geheimdienstnetzwerk „Tod den Spionen“, das während des Zweiten Weltkriegs tätig war – Graty). Auf diesen Kanälen veröffentlicht er persönliche Daten und Kontakte von Menschen, die die Ukraine unterstützen, eine Antikriegsposition einnehmen oder die Besatzungsmacht kritisieren, verbunden mit Aufrufen an die Abonnenten, jene online zu belästigen oder mit Kontaktaufnahme durch den „Genossen Major“ zu drohen.  

    Talipow verbreitet Propagandabotschaften und anti-ukrainische Memes und postet in Zusammenarbeit mit den Sicherheitskräften Videos mit erzwungenen „Entschuldigungen“. Er war auch ein wichtiger Zeuge im Prozess gegen Bohdan Sisa, einen Künstler und Performer von der Krym, der im Juni letzten Jahres zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt wurde, weil er bei einer Aktion gegen die russische Aggression ein Gebäude der Besatzungsverwaltung mit blauer und gelber Farbe begossen und dann in Brand gesteckt hatte. 

    „Krymski Smersch in Russland als zivilgesellschaftliche Organisation registriert“ 

    Für seine Tätigkeit erhielt Talipow verschiedene Auszeichnungen und Dankesurkunden von den russischen Besatzungsbehörden auf der Krym. Er sammelt auch Geld, um die russische Besatzungsarmee im Krieg gegen die Ukraine zu unterstützen. Am 11. Juli 2024 wurde Krymski Smersch als zivilgesellschaftliche Organisation in Russland registriert. 

    Aufgrund all dieser Aktivitäten eröffnete die ukrainische Staatsanwaltschaft der Autonomen Republik Krym im Jahr 2022 ein Verfahren wegen Anstiftung zu ethnischer Feindseligkeit und Hass in Verbindung mit Bedrohungen (Art. 161, Abs. 2 StGBUKR) sowie ein weiteres im Jahr 2023 aufgrund des Verdachts der Unterstützung des Aggressorstaates (Art. 111.2, Abs. 1 StGBUKR). Talipow behauptet, die ukrainischen Strafverfolgungsbehörden hätten bereits mindestens vier Verfahren gegen ihn eingeleitet. 

    Am 12. Juli 2023 meldete Talipow einen Anschlagsversuch auf ihn: Jemand habe im Hof seines Hauses in Feodossija ein Moped in die Luft gesprengt. Am 15. Juli 2024 wurde bekannt, dass die Besatzungsbehörden auf der Krym ein Verfahren gegen zwei Personen wegen der Organisation eines Attentats auf Talipow, mutmaßlich im Auftrag der ukrainischen Geheimdienste, eingeleitet haben. 

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