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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Presseschau № 45: Fall Uljukajew

    Presseschau № 45: Fall Uljukajew

    Es ist ein Fall, wie ihn das gegenwärtige Russland noch nicht erlebt hat: Ein Regierungsmitglied wird verhaftet und von einem Gericht unter Hausarrest gestellt. Noch am selben Tag entbindet ihn Präsident Putin von seinem Amt als Wirtschaftsminister. Alexej Uljukajew – der zum liberalen Lager der Wirtschaftsreformer gezählt wird – steht unter der schweren Anschuldigung, Schmiergelder in Höhe von zwei Millionen Dollar im Zuge eines großen Übernahmegeschäfts erpresst zu haben. Sollte es zu einer Anklage und einer Verurteilung kommen, drohen bis zu 15 Jahre Haft.

    Das schlägt hohe Wellen in Russland. Beobachter sind überrascht und verwirrt vom Vorgehen des federführenden Ermittlungskomitees gegen den Minister, viele sehen Ungereimtheiten und bezweifeln, dass es tatsächlich um einen Korruptionsfall gehe – während die Hintergründe noch völlig offen sind. Putin hat bereits vor Jahren eine Strategie im Kampf gegen Korruption ausgerufen, zugleich bleiben Enthüllungen von regierungskritischer Seite mit schweren Vorwürfen gegen hochrangige Politiker und staatsnahe Unternehmer so gut wie folgenlos.

    In der Presse überschlagen sich die Kommentatoren mit Analysen – in unabhängigen Medien vor allem mit Fragen und Spekulationen über die Hintergründe, während in staatsnahen Medien eher der Kampf gegen die Korruption gelobt wird. Vielfach beschäftigt auch die Frage, welche allgemeinen Signale von diesem bislang einmaligen Vorgang ausgehen.

    Alexej Walentinowitsch Uljukajew - Foto © Government.ru unter CC-BY 4.0
    Alexej Walentinowitsch Uljukajew – Foto © Government.ru unter CC-BY 4.0

     

    Kommersant: Geheimdienste flehen um Spielraum

    In der Tageszeitung Kommersant meint Dimitri Butrin, stellvertretender Chef im Wirtschaftsressort, es sei keine tiefgehende Aufklärung des Falls zu erwarten – schon deshalb nicht, weil die Regierung zu dem dahinterstehenden Übernahmegeschäft (beteiligt sind die staatsnahen Mineralölkonzerne Rosneft und Baschneft) aus seiner Sicht nie die ganze Wahrheit sagen würde.

    [bilingbox]Zu viel war zu lesen über die ach so normalen Tätigkeiten der FSB-Mitarbeiter und der Mitarbeiter des Ermittlungskomitees – da entsteht unweigerlich ein Verdacht ob ihrer Verstrickungen in einem dunklen Spiel, das sie durch ihre vor der Gesellschaft verborgenen Ziele zur Hälfte selber am Laufen halten […]

    Was das Ermittlungskomitee derzeit über Alexej Uljukajew sagt, bedeutet – würde man das Gesagte haargenau so glauben – eine äußerst schreckliche Kritik auch in Bezug auf die Regierung: Es bedeutet, dass keinerlei Kontrollmechanismen gegen Korruption, die das Weiße Haus seit 2004 aufbaut, greifen. Ansonsten müsste man glauben, dass sich unter der Maske von Alexej Uljukajew, den wir nicht erst im letzten Jahrzehnt kennengelernt haben, seit Jahren der dreiste Räuber Fan Fan, der Husar verborgen hielt, der nachts mit lautem Gelächter staatliche Unternehmen um riesige Barschaften beraubte. Und tagsüber friedlich zu Regierungssitzungen ging, die Brille aufblitzen ließ und über die Dynamik des Bruttoinlandsproduktes raisonierte, und niemand, abgesehen vom heldenmütigen FSB, schöpfte auch nur den leisesten Verdacht, dass sich im herrschaftlichen Umfeld ein genialer verbrecherischer Schauspieler verbarg.

    Deswegen halte ich die Festnahme von Alexej Uljukajew unter den uns hier demonstrierten Umständen vorerst standardmäßig für den x-ten – sei es der 758. oder 759. – Versuch seitens des Ermittlungskomitees oder des FSB, die Staatsführung anzuflehen und um eine kostümierte Reinszenierung des Großen Terrors zu bitten und gleich auch neue schwarze Raben, die Sanierung der Lubjanka und die nächtlichen Überstunden der heldenhaften Ermittler zu bezahlen.~~~Мы слишком много читали об обычных занятиях сотрудников ФСБ и о занятиях сотрудников СКР, чтобы не заподозрить их в вовлеченности в какую-то мутную игру, половину которой они обеспечивают сами с неизвестными обществу целями.

    […]

    То, что сейчас рассказывает СКР про Алексея Улюкаева, если этому в точности верить, является самой страшной критикой по отношению и к правительству: это значит, что не работают вообще никакие механизмы контроля коррупции, которые Белый дом строил с 2004 года. Иначе придется поверить, что под личиной Алексея Улюкаева, которого мы знаем не первое десятилетие, годами скрывался дерзкий разбойник Фанфан-тюльпан, по ночам с хохотом грабящий государственные компании на крупные суммы наличности. А днем он спокойно ходил на заседания правительства, поблескивая очками и рассуждая о динамике ВВП, и никто, кроме доблестного ФСБ, не мог заподозрить, что в государевом окружении скрывался гениальный преступный актер.

    Поэтому пока по умолчанию я считаю задержание Алексея Улюкаева в тех обстоятельствах, которые нам продемонстрировали, очередной — семьсот пятьдесят восьмой или семьсот пятьдесят девятой — попыткой СКР и ФСБ поумолять власть начать костюмированную постановку «Большой террор», оплатив новые черные воронки, ремонт Лубянки и ночные сверхурочные доблестным следователям.[/bilingbox]

     

    erschienen am 15.11.2016

     

    Izvestia: Anti-Korruptionskampf trägt Früchte

    Die regierungsnahe Tageszeitung Izvestia sieht in der Verhaftung von Uljukajew ein konsequentes Vorgehen der Strafverfolgungsbehörden im Kampf gegen Korruption bestätigt. Ohne Rücksicht auf Ansehen der Person.

    [bilingbox]Die Verhaftung von Alexej Uljukajew ist Teil der systemischen Entscheidungen im Kampf gegen Korruption. Vor drei Jahren hat der Präsident erklärt, dass Korruption eine Bedrohung für die nationale Sicherheit darstelle. Danach hat Wladimir Putin auf einem Treffen mit den regionalen Führungsspitzen gewarnt, dass diejenigen, die ihren staatlichen Aufgaben nicht nachkommen, hart bestraft werden. […]

    Wenn die Strafverfolgungsbehörden und der Pressesprecher des Präsidenten erklären, dass die Arbeit an dem Fall Uljukajew bereits vor einem Jahr begann, bedeutet das, es gab noch andere Materialien, noch eine andere Geschichte.  […] So bedeutet diese Verhaftung, dass der Kampf des Systems gegen Korruptionäre läuft und dass heute nicht mal mehr ein Ministerposten eine Garantie dafür ist, sich der Verantwortung entziehen zu können, dass man im schlimmsten Fall in den Ruhestand, auf Urlaub geschickt wird. Nein, unter Arrest wird man gestellt. Erst warnt der Präsident, dann straft er.~~~Арест Алексея Улюкаева — часть системных решений по борьбе с коррупцией. Три года назад президент заявил, что коррупция — это угроза национальной безопасности. Потом, на встрече с региональными лидерами, Владимир Путин предупредил, что будут жестко наказывать тех, кто не решает государственные задачи.

    […]

    Если правоохранительные органы, пресс-секретарь президента заявляют, что разработка Улюкаева была начата год назад, значит, были и другие материалы, была другая история. Просто сейчас она стала основанием для реализации оперативных материалов. […] Таким образом, этот арест говорит о том, что идет системная борьба с коррупционерами и на сегодня даже министерский пост — не гарантия того, что можно уйти от ответственности, что в крайнем случае человека отправят на пенсию, на отдых. Нет, отправят под арест. Президент сначала предупреждает, потом наказывает.[/bilingbox]

     

    erschienen am 16.11.2016

     

    Vedomosti: Wirtschaftsstrafrecht als Instrument für Personalfragen

    Das unabhängige Wirtschaftsblatt Vedomosti hat sich entschieden, einen Kommentar im Namen des gesamten Meinungsressorts zu veröffentlichen, ohne einen konkreten Autor anzugeben, was selten vorkommt. Der Fall Uljukajew wird hier in einen größeren Trend eingeordnet, in dem der Geheimdienst immer stärker das Wirtschaftsstrafrecht instrumentalisiere.

    [bilingbox]Die erstarkte Rolle der Geheimdienste nach den Protesten von 2011 bis 2012 und später dann nach der Krim (2014) hat den Markt der Gefahren vergrößert. Die Produktion von Gefahren und die gegen sie zum Einsatz kommenden Kampfmittel ist heute eines der lukrativsten Geschäfte, da hierdurch politische und personelle Aufgaben gelöst werden können und natürlich Aktiva und Finanzströme aufgeteilt werden – was in einer unter Druck stehenden Rentenökonomie sehr wichtig ist.

    Große Wirtschafts- und Korruptionsfälle sind eine Angelegenheit des FSB, aber in den letzten zwei Jahren wurde er auf diesem Gebiet immer aktiver. Das sieht man an den Statistiken der auf seine Initiative hin eingeleiteten Wirtschaftsermittlungen: Allein in der ersten Hälfte 2016 waren es so viele wie in den jeweils zwölf Monaten der Jahre 2013 und 2014. Eine Schlüsselrolle in den Untersuchungen bedeutender Fälle spielt die FSB-Behörde für wirtschaftliche Sicherheit. […]

    Derzeit befinden sich die Ermittlungen in den Verfahren gegen drei Gouverneure in unterschiedlichen Phasen, die Anklage beruht nach dem russischen Strafgesetzbuch auf wirtschaftskriminellen Tatbeständen (Korruption und Betrug): Wjatscheslaw Gaiser, Alexander Choroschawin und Nikita Belych, das Verfahren leitet das Ermittlungskomitee, die operative Ausarbeitung oblag dem FSB, die Verhaftung der internen Sicherheitsabteilung.~~~Резкое усиление роли спецслужб в России после протестов 2011–2012 гг. и затем после Крыма (2014 г.) привело к разрастанию рынка угроз. Производство угроз и средств борьбы с ними сегодня одно из самых прибыльных, поскольку позволяет решать политические, кадровые задачи и, конечно, делить активы и финансовые потоки – что так важно в сжимающейся рентной экономике.

    Разработкой крупных экономических и коррупционных дел занимается ФСБ, но в последние два года она стала куда активнее. Об этом свидетельствует статистика возбужденных по ее инициативе экономических дел: только за первую половину 2016 г. их количество практически сравнялось с числом дел за все 12 месяцев 2013 и 2014 гг.

    Ключевую роль в расследовании крупных дел играет служба экономической безопасности ФСБ.

    […]

    Сейчас на разных этапах следствия находятся дела трех губернаторов, обвиняемых по экономическим статьям УК (взяточничество и мошенничество), – Вячеслава Гайзера, Александра Хорошавина и Никиты Белых, дела ведет СКР, оперативной разработкой занималась ФСБ, задержанием – УСБ ФСБ.[/bilingbox]

     

    erschienen am 16.11.2016

     

    Spektr: Neues Stadium der Autokratie

    Arkadi Babtschenko ist überzeugt, es handle sich um einen Fake, bemerkt im Exilmedium Spektr spitz, ein Minister in Russland habe sicher bessere Geldquellen. Was hat das Ganze dann zu bedeuten?

    [bilingbox]Also was? Ein verdeckter Kampf von Ermittlungskomitee und FSB? Von Falken und Liberalen? Von Setschins und Kudrins Leuten?

    Ja, zweifellos. Das eine wie das andere. Zweifellos auch ein verdeckter Kampf der Kremltürme untereinander. Aber trotzdem ist es nur eine Folge. Die Hauptursache liegt, wie mir scheint, woanders. […]

    All diese ständigen Neubesetzungen, Abberufungen, Umbesetzungen, Verschiebungen von einem an den anderen Ort, Annäherungen und Entfernungen, Beförderungen und Ungnaden in letzter Zeit. Mir scheint, dass all das nur Eines bedeutet.

    Das Autoritäre hat das Stadium der liberalen Heuchelei hinter sich gelassen, ist sich endlich seiner selbst bewusst geworden und auf ein neues Niveau gewechselt.

    Der Autokrat muss nicht länger so tun, als würde er von diesem oder jenen Meister seines Fachs in der Regierung abhängen. Von diesem oder jenen Gouverneur in den Regionen. Von dieser oder jener Neubesetzung, oder von dieser oder jener Verhaftung.

    Die Autokratie in Russland ist sich ihrer selbst bewusst geworden als einzige Machtquelle im Land, als einziges Instrument der Staatsführung, als einziger Souverän, der auf keinerlei Mittelsmänner mehr angewiesen ist, seien sie auch im Range eines Ministers oder eines Gouverneurs, der weder die Unterstützung und noch nicht einmal die Loyalität von irgendwem benötigt.~~~Тогда что же? Подковерная борьба Следственного комитета и ФСБ? Ястребов и либералов? Сечинских и кудринских?

    Да, безусловно. И это тоже. Безусловно, подковерная борьба башен Кремля друг с другом. Но все же и это следствие. Главная же причина, как мне кажется, — в другом.

    […]

    Все эти перманентные в последнее время назначения, снятия, переназначения, перемещения с места на место, приближения и удаления, возвышения и опалы.

    Мне кажется, что все это означает одно.

    Авторитария в России прошла стадию либерального лицемерия, наконец-таки осознала сама себя и перешла на новый уровень.

    Автократу не надо больше делать вид, что он зависит от того или иного профессионала в правительстве. От того или иного губернатора в области. От того или иного назначения или от того или иного ареста.

    Автократия в России осознала себя как единственный источник власти в стране, единственный инструмент управления страной, единственного суверена, не нуждающегося больше ни в каких посредниках хоть в ранге министра, хоть в ранге губернатора, не нуждающегося больше ни в чьей поддержке и даже ни в чьей лояльности.[/bilingbox]

     

    erschienen am 15.11.2016

     

    Sekret firmy: Persönliche Abrechnung?

    Der Moskauer Carnegie-Analyst, Andrej Mowtschan, spekuliert beim online erscheinenden Wirtschaftsmagazin Sekret firmy noch mal ganz anders zu den Hintergründen der Verhaftung – weil er nicht daran glaubt, dass es bei dem Vorgehen um einen Richtungsstreit in der Wirtschaftspolitik gehen könne.

    [bilingbox]Beinahe alles, was wir bisher über die Verhaftung von Alexej Uljukajew erfahren haben, ist ein leuchtendes Beispiel für eine false agenda. Wir haben keinerlei Anlass, der offiziellen Version zu glauben – aber noch weniger sinnvoll ist es in diesem Fall, sich auf die Überlegungen einzulassen, der Grund für die Verhaftung könne in der Unzufriedenheit mit Uljukajews Wirtschaftspolitik liegen.

    All unser Wissen darüber, wie in der Russischen Föderation Angelegenheiten geregelt werden, sagt uns, dass ein Dissens in wirtschaftlichen Fragen niemals Anlass für ein derartiges Vorgehen sein kann.  […]

    Wenn man in der aktuellen Situation daher zum Spaß annimmt, Alexej Uljukajew habe einem hochstehenden Silowik die Liebste ausgespannt, ist das vernünftiger, als über einen Kampf gegen die vom Minister verfolgte Wirtschaftspolitik zu debattieren. Vielleicht spielt der persönliche Faktor in solch lauten Angelegenheiten eine prioritäre Rolle – und wir würden nicht mal drauf kommen, was all dem zugrunde lag.~~~Практически всё, что мы публично слышали об аресте Алексея Улюкаева — яркий пример false agenda. У нас нет никаких оснований доверять официальной версии — но ещё менее разумно в этом случае пускаться в рассуждения о том, что причиной ареста могло быть недовольство проводимой Улюкаевым экономической политикой.

    Всё, что мы знаем о том, как делаются дела в Российской Федерации, говорит нам, что никакие разногласия по экономическим вопросам никогда не могли служить поводом для подобных мер. […]

    Так что, в нынешней ситуации в шутку предполагать, что Алексей Улюкаев отбил любимую женщину у высокопоставленного силовика, разумнее, чем рассуждать о борьбе против экономической политики, которую проводил министр. Возможно, личный фактор в таких громких делах играет приоритетную роль — и мы не можем даже догадываться о том, что легло в основу этого дела.[/bilingbox]

     

    erschienen am 15.11.2016

     

    Nesawissimaja Gaseta: Putin für 2018 fest im Sattel

    In der Tageszeitung Nesawissimaja Gaseta fasst Wirtschaftsredakteurin Anastassija Baschkatowa Meinungen zusammen – um darüber hinaus nach politischen Schlussfolgerungen mit Blick auf die nächsten Wahlen zu fragen.

    [bilingbox]Die Verhaftung des Wirtschaftsministers Alexej Uljukajew hat ein großes öffentliches Echo hervorgerufen. Die Mehrheit der Experten meint, dass der „Fall Uljukajew“ – unabhängig davon, ob noch weitere Verhaftungen folgen werden oder nicht – ein klares Signal an die Vertreter der Elite ist, dass niemand im Land unantastbar bleibt.

    Experten stellen in dem Fall viele Unstimmigkeiten fest, und Uljukajew selbst leugnet die Version der Ermittler, indem er seine Verhaftung als Provokation bezeichnet. Als wichtigste politische Folge aus der Verhaftung zeichnet sich ab, dass Ausmaß und Reichweite des Vertrauens innerhalb der zur Elite zählenden Gesellschaftsschichten abnehmen wird. Und das wiederum lässt vermuten, dass Wladimir Putin – in der Rolle des einzigen politischen Moderators im Land – auch nach 2018 Präsident bleiben wird.~~~Арест министра экономического развития Алексея Улюкаева вызвал большой общественный резонанс. Большинство экспертов считает: независимо от того, последуют или нет новые аресты, «дело Улюкаева» – ясный сигнал для представителей элиты, что неприкасаемых в стране нет. Эксперты отмечают в деле много несоответствий, а сам Улюкаев оспаривает версию следствия, называя свой арест провокацией. Но, как представляется, главное политическое последствие ареста – это сокращение уровня и радиуса доверия в элитных слоях общества, что предполагает следующее: Владимир Путин останется президентом и после 2018 года, исполняя функцию единственного политического модератора в стране.[/bilingbox]

     

    erschienen am 16.11.2016

     

    dekoder-Redaktion

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  • Infografik: Wie beliebt ist Putin?

    Infografik: Wie beliebt ist Putin?

    Am 18. September wählen die russischen Staatsbürger ihr Parlament – die Staatsduma. Obwohl die Volkskammer nur eine geringe Rolle in der politischen Landschaft Russlands spielt, ist diese Wahl von enormer Bedeutung. Sie wird ein Stimmungsbarometer abgeben und somit mittelbare Folgen für die wohl meistbeachtete Statistik Russlands haben: die Zustimmungswerte des Präsidenten.

    Was sagen uns diese Zahlen? Ist Putin wirklich dermaßen beliebt? In welchem Zusammenhang stehen die Umfragewerte mit den politischen Ereignissen? Diskutieren Sie mit uns auf facebook!

     


    Quelle: Lewada-Zentrum

     

    Wie beliebt ist Putin? Diese repräsentative Infografik verdeutlicht die Höhen und Tiefen in den Zustimmungswerten seit Putins Amtsantritt im Jahr 2000. Das unabhängige Meinungsforschungsinstitut Lewada, das kurz vor der Dumawahl 2016 zum sogenannten ausländischen Agenten erklärt wurde, ermittelt sie in regelmäßigen Abständen.

    Wir versahen diese Grafik mit wichtigen Ereignissen, die das Auf und Ab der Werte erklären können. Sie können in bestimmte Zeiträume hineinzoomen, um ein genaueres Bild zu bekommen. Beachten Sie dabei aber den Leitspruch, der in jedem Statistik-Lehrbuch zu finden ist: „Traue keiner Statistik, die Du nicht selber gefälscht hast.“

    Denn zum einen: Was heißt „Zustimmung“? Drückt dieses Wort tatsächlich Beliebtheit aus oder einfach nur den Umstand, dass die Befragten nichts Schlechtes über Putin sagen können? Solche Begriffe sind dehnbar und verzerren somit das Ergebnis. Hinzu kommt die Tendenz, bei Umfragen eine Meinung kundzutun, die eher auf soziale Zustimmung träfe als die wirkliche Meinung. Soziale Erwünschtheit nennt man dieses Phänomen. Es dürfte zwar in allen Ländern eine wichtige Rolle spielen, in autokratischen Systemen aber umso mehr, wo die Bürger einem gewissen Anpassungsdruck ausgeliefert sind.

    Lassen wir aber mal die eigentlichen Zustimmungswerte außer Acht und betrachten nur die Kurve. Da zeigt sich, dass es die höchsten Zuwachsraten nach Konflikten gibt: wie der Antiterror-Operation im Moskauer Dubrowka-Theater im Oktober 2002, der Verhaftung Chodorkowskis im Oktober 2003, dem Georgienkrieg im August 2008 und der Krim-Angliederung im März 2014. In die umgekehrte Richtung, nämlich nach unten, ging es nach solchen Ereignissen wie dem Untergang der Kursk im August 2000, der Orangen Revolution Ende 2004, den Sozialprotesten 2005 und den Bolotnaja-Protesten 2011/12. 

    Alles nur Zufall? Manche Soziologen sehen durchaus Zusammenhänge. Einen möglichen eröffnet Lew Gudkow, Direktor des Lewada-Zentrums: In Zeiten von Konflikten laufe die Propaganda-Maschinerie auf vollen Touren. Sie wende sich an sowjetische und imperiale Vorstellungen, aktiviere Feindbilder und suggeriere Gefahr. Dies mobilisiere die Gesellschaft und solidarisiere sie hinter dem Präsidenten, so Gudkow.

    Vor dem Hintergrund anhaltend schlechter Beziehungen zwischen Russland und den USA staunten viele Beobachter, als die antiamerikanischen Stimmungen in der russischen Gesellschaft nach der Fußball-WM 2018 rapide sanken. Das Ab in der Kurve erklärten sie mit rund drei Millionen ausländischen WM-Touristen, die das seit Jahren verbreitete Bild des russophoben Ausländers ins Wanken brachten. Die renommierte russische Politologin Lilija Schewzowa etwa meinte in diesem Zusammenhang, dass die propagandistischen Feindbilder mitsamt der Formel belagerte Festung immer weniger Anklang fänden: „Allem nach zu urteilen ist den russischen Bürgern sehr bewusst, dass die Konfrontation Russlands mit dem Westen ein Ablenkungsmanöver ist: von innenpolitischen Problemen und von der Unfähigkeit der Regierenden, diese zu lösen“, so Schewzowa.


    Text: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am 12.09.2016

     


    Die Erstellung dieser Infografik wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

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  • Das Labyrinth der Pandora

    Das Labyrinth der Pandora

    Was heißt Regieren und Regiert-Werden in Russland? Wie funktioniert das politische System überhaupt, nach welchen Regeln wird hier gespielt? Und hat das alles eine Zukunft?

    Wer all diese Fragen beantworten möchte, müsste eigentlich eine Dissertation verfassen. Der renommierte Journalist Maxim Trudoljubow dagegen, Redakteur der Wirtschaftszeitung Vedomosti, vertraut der kurzen Form: In seinem Essay auf Inliberty.ru verdichtet er hochkomplexe Zusammenhänge in starker Metaphorik. Und schreibt dabei unter anderem an einer Debatte zur politischen Ethik fort, die sein Kollege Andrej Archangelski eröffnet hatte – mit der These, dass sich nach dem Ende der Sowjetunion ein breites ethisches Loch aufgetan hätte, auch in der Politik.

    MAUS IM LABYRINTH

    Läuft eine Maus durch ein Labyrinth, muss sie sich den Gesetzen des Labyrinths unterwerfen – und all ihre Kräfte darauf verwenden, sich in der sich ständig wandelnden Konstruktion zurechtzufinden. Sie muss die nächste Abzweigung suchen und dann weiterrennen. Sie hat keine Leiter, auf die sie klettern und dann schauen könnte, wie die Wege aussehen, die sie entlangrennt. Sie hat keinen Überblick und weiß nicht einmal, dass es sich um ein Labyrinth handelt. Wegweiser oder Beschriftungen gibt es nicht – nur Türen und Gänge, Gänge und Türen. Sie kann die Wände nicht durchbrechen, sie weiß nicht, dass das möglich ist, und sie ist nicht verpflichtet, es zu versuchen. Tut sie es doch, kann sie wegen Beschädigung der Wand bestraft werden. Man kann der Maus also kaum vorwerfen, dass sie nicht versucht, die Wand zu durchbrechen.

    Aufgabe der Legislative: Nicht die Experten stören!

    Lassen Sie uns eine kleine Zeitreise machen und für einen Moment in die Werkstatt schauen, in der das Labyrinth gebaut wird:

    Einer der Architekten ist Igor Schuwalow, der Erste Stellvertretende Premierminister Russlands. Er ist es, der die Idee der Unterordnung der Legislative unter die Exekutive formuliert hat, und zwar in seiner Dissertation Die Regierung der Russischen Föderation im Prozess der Gesetzgebung aus dem Jahr 2004. Er wollte seinerzeit begründen, dass die Regierung der beste Gesetzgeber ist: „Die meisten Entwürfe für föderale Gesetze sollten von der Regierung kommen. Die dortige Praxis und die tatsächlichen Verhältnisse sind derzeit oft der föderalen Gesetzgebung voraus. Die Regierung der Russischen Föderation verfügt über beträchtliche Möglichkeiten und ist in der Lage, diese Prozesse zu verfolgen.“ Sprich: Aufgabe der gesetzgebenden Gewalt ist es, die Experten nicht bei der Arbeit zu stören.

    Herrschaft der Technokraten

    Schuwalow ging es vor allem um die Gesetzgebung. Die Manager, die mit Medien, NGOs und Unternehmen arbeiteten, haben zwar keine Dissertationen hinterlassen, aber ihre Argumente sind ähnlich: Schafft uns die Demagogen aus den Augen und lasst uns arbeiten, arbeiten, arbeiten. Wir kennen das aus dem, was Alexej Wolin über die Medien gesagt hat und wie sich Wladimir Putin über gesellschaftliche Organisationen äußerte: Gesetze, Medien, Unternehmen und Zivilgesellschaft, das sind Instrumente für die, die wissen, was zu tun ist. Die Schöpfer und Betreiber des derzeit in Russland herrschenden Systems nehmen das System nicht als autokratisch oder als „Putins Diktatur“ wahr, sondern als Herrschaft von Experten, von Meistern, von Leuten, die sich auskennen – also als Technokratie.

    Politik der „Projekte“

    Was wir um uns herum wahrnehmen, ist das Ausarten einer Expertokratie. Es sind Exzesse einer versuchten Rückkehr zu nutzenorientierter Politik, zu einer Politik in „Projekten“ und dazu, dass der Erfolg von Politik mit den Begriffen effektiv und nicht effektiv gemessen wird.

    Die Bürger, die einfachen Beobachter, nehmen dieses System nicht als Technokratie wahr, sondern als Regime einer gewissenlosen Elite, die jedwede Orientierung verloren hat, weil sie nie für irgendetwas bestraft wird. Doch das wiederum will das System nicht verstehen. Die Systemadministratoren denken, dass nur Inkompetente, Unwissende und Zurückgebliebene dort ein Übel vermuten, wo die Administratoren selbst lediglich zu behebende Bugs und entsprechende Kosten ausmachen.

    2011 hat die Gesellschaft versucht, wieder ethische Werte  in Umlauf zu bringen: Das Gute und das Böse, Wahrheit und Lüge wurden für kurze Zeit zu Maßstäben für die Legitimität der Staatsmacht. In Russland drohte plötzlich die „Gefahr“, dass Ethik im politischen Raum eine Rolle spielen könnte. Und selbst wenn wir der These folgen würden, dass die Proteste zumindest in gewissem Maße von einem einzelnen, abgespaltenen Teil der Elite inszeniert wurden, so ist das zwar ein Versuch „von oben“ – aber eben doch ein Versuch, sich eine Ethik anzueignen.

    Mobilmachung entlang der Linie Freund – Feind

    Die Systemadministratoren antworteten mit einer punktgenauen Verteilung von Wohltaten und einer eiligen Totalmobilmachung entlang der Linie Freund – Feind. Es begann die Verfolgung ausländischer Förderer, Verleger, Lehrer und ihrer Agenten.  

    Dann initiierte Russland bewaffnete Konflikte, die die russische Gesellschaft in ihrer Haltung gegenüber den Feinden polarisierten – wer ist nicht alles als Feind gebrandmarkt worden an einer der launischen Biegungen der Generallinie.

    Alles ging den Technokraten leicht von der Hand, weil sie wissen, auf welchem Nährboden sie operieren. Die russische (sowjetische) Massenkultur ist vom Feindesmotiv durchzogen. Wo bei den Amerikanern das Böse zu finden ist, ist bei uns der Feind – also muss man einen Krieg anzetteln.

    Gefangene einer monströsen Illusion

    Die aktuelle Lage ist kompliziert. Nicht, weil Ideologen oder Nationalisten an der Macht wären, sondern weil es „Ultrarealisten“ sind, die das Land führen. Leute, die davon überzeugt sind, dass sie die verrottete Natur des Menschen durch und durch kennen, dass sie über alle Daten zur Gesellschaft und Wirtschaft Russlands verfügen und dass sie in der Lage sind, dem undankbaren Publikum eine ausreichende Menge Nutzen zu bringen. Vielleicht sind diese Leute Zyniker – wer weiß? Gut möglich aber auch, dass sie Gefangene einer monströsen Illusion sind.

    Viele Einzelmechanismen, die technische Kenntnisse und Fertigkeiten erfordern, funktionieren: Die Zentralbank funktioniert, Dokumente durchlaufen Abstimmungsprozesse, Nationale Projekte werden aufgelegt und umgesetzt.

    Wobei die Ergebnisse nach unabhängigen Maßstäben, die gerade die technokratischen Leistungen erfassen, katastrophal sind: Die Arbeit unserer staatlichen Verwaltung hält in Hinblick auf ihre Qualität einem Vergleich mit den Nachbarländern nicht Stand, die Staatsausgaben sind ineffizient und wirken sich negativ aus, außerdem wurden keine Wachstumsquellen erschlossen, die von den Rohstoffvorkommen unabhängig wären.

    Ein Labyrinth mit sich ständig ändernden Routen

    Doch gibt es niemanden, der an das Handeln der „Meister“ eine solche Messlatte anlegt; diejenigen, die das hätten tun können, wurden geschasst. Das Ganze gerät zu einem l’art pour l’art: Diese Konstruktion, geschaffen von Experten zu dem Zweck, sich gegen alternative Bewertungen abzusichern, ist ein Labyrinth mit sich ständig ändernden Routen. Das permanente Verschieben der Verbindungen zwischen den Gängen (das Revidieren von Gesetzen, die Änderung der Spielregeln) ist für die Betreiber notwendig, damit sie keiner bei der Arbeit stört. Ungestörtes Handeln ist ihr Hauptzweck, ein anderes erklärtes Ziel haben sie nicht.

    All das geschieht des Labyrinthes wegen: um es weiter umbauen zu können, damit es möglichst wenig Mäuse schaffen, den Kopf zu heben und sich zu überlegen, wie man hinter die Trennwände schauen könnte.

    Die in Russland geschaffene Architektur der Gesellschaft ist sinnlos und gleichzeitig äußerst klug. Klug in dem Sinne, dass sie einen bedingungslosen Gehorsam programmiert. Und zwar nicht einen Gehorsam gegenüber einer Idee, sondern gegenüber der Aufgabe, durch Gänge zu rennen, die ständig verschoben werden.

    Wenn dem so ist – ist das System dann nicht eigentlich harmlos? Wäre dann nicht das Schlimmste, was es anrichten kann, dass es der Maus Holzlatten und Nägel wegnimmt, wenn sie versucht, sich eine Leiter zusammenzuzimmern, um die Konstruktion von oben zu betrachten? Zumal es manchen Mäusen diese Materialien sogar lässt und sich nicht besonders daran stört.

    Revolution ohne Banner

    Es gibt hinter den Wänden auch gar nicht viel zu sehen. In der Banalität des Bösen untersucht Hannah Arendt eingehend das Verhalten eines Menschen, der sich weigert, den Kopf zu heben und sich bewusst zu machen, an welchem systemischen Verbrechen er beteiligt ist. Hinter den damaligen Verbrechen standen Führer, die Gesetze waren verbrecherisch und nahmen Millionen Menschen ihre Würde, und alles fand im Zeichen einer für jeden sichtbaren Flagge statt. Auch das sowjetische System hatte seine Flaggen und seine Ideologie; es proklamierte seine eigene Idee des gesellschaftlichen Wohls, auf das jeder seinen Eid abzulegen hatte, der in die führende Partei eintreten wollte, und damit, potentiell, in die Elite.

    Unsere Architekten hingegen tragen keinerlei Flaggen, auf denen etwas geschrieben steht, sie stehen nicht für die Idee irgendeines Wohls, nicht einmal eines willkürlich verkündeten. Welche Flagge halten die Präsidentenberater, der Premierminister und seine Stellvertreter denn hoch? Das sind Fachleute, Verwalter, und mehr nicht. Und sie arbeiten immer besser, weil sie auf immer weniger Barrieren stoßen. Schon sind Telegraphenstation, Fernsprechamt, Postämter, Fabriken, Parteien, gesellschaftliche Organisationen, Künstler- und sämtliche anderen Verbände erobert.

    Doch halt – ist das alles nicht das Gleiche, was schon vor einem Jahrhundert Menschen taten, die mit einer machtvollen revolutionären Idee gewappnet waren? Es ist ähnlich und unähnlich zugleich, denn es gibt jetzt kein niedergeschriebenes Programm, und die Leute kommen auch nicht in Lederjacken daher, sondern in Anzügen, und das alles hat keinen Namen.

    Man verzichtet darauf, die Dinge beim Namen zu nennen

    Ja, es hat keinen Namen – und hierin liegt das Geheimnis und der Sinn des Ganzen. Man verzichtet darauf, die Dinge beim Namen zu nennen (Enteignung ist nicht Enteignung, Krieg ist nicht Krieg, ein abgeschossenes Flugzeug ist kein abgeschossenes Flugzeug), und damit auch auf ethische Urteile. Mehr braucht es nicht. Darin besteht schon der Eid – und damit akzeptiert man gleichzeitig ein System, das derart in Freund und Feind unterscheidet.

    Das ist selbst in Kleinigkeiten bemerkbar: Die neuernannte Chefredakteurin einer Zeitschrift fühlt sich genötigt, in einem Interview zu erklären, dass sie auf Berufsethos verzichte.

    Der Eifer, mit dem das System alle, selbst potentielle, Quellen ethischer Urteile bekämpft, zeugt davon, dass genau hier der Übergang zur Politik stattfindet. Kontrollierte Medien, Organisationen und Prominente verzichten auf Werturteile. Und werden so zu Instrumenten, um Freund, die eigenen Leute, von Feind, den anderen, abzugrenzen.

    Gleichzeitig können anscheinend jene, die nicht auszuschalten sind, im politischen Bereich für zehn arbeiten. Die erstaunliche Leistung Alexej Nawalnys besteht darin, dass er – auch wenn er von einer unmittelbaren Beteiligung am politischen Prozess ausgeschlossen ist – dort gleichwohl als Institution präsent ist. Das Gewicht, das seine Untersuchungen und Einschätzungen zu politischen Figuren erlangen, und die Kräfte, die darauf verwandt werden, um die jeweils Betroffenen reinzuwaschen (jetzt ist es der „Architekt“ Igor Schuwalow selbst; zuvor hatte es Juri Tschaika, Maxim Liskutow, Wladimir Jakunin, Andrej Kostin und viele andere getroffen), belegen etwas Wichtiges: Eine Politik zu betreiben, die jegliches moralisches Urteilen über das Regime unmöglich machen will, gelingt nur mit übermäßiger Kraftanstrengung. Der Utilitarismus, der dabei herauskommt, ist ein schadhafter. Und die moralische Entrüstung schafft sich dennoch Gehör. Schließlich ist Nawalny nicht der einzige, der dieses Feld bearbeitet. Ob man es will oder nicht: Es gibt außer ihm auch andere, und es wird sie weiterhin geben.
    Das Bedürfnis, das aktuelle Geschehen moralisch zu beurteilen, ist stärker als alle Versuche, eben dieses Bedürfnis medientechnologisch zu neutralisieren. Selbst eine für Ethik taube Gesellschaft wie die russische will einen Austausch darüber, was „gut“ ist, und was „schlecht“. Weil der Mensch eben nicht nur ein politisches Wesen ist, sondern auch ein moralisches.

    Büchse der Pandora

    Das ist eine gute Nachricht und eine schlechte zugleich: Es bedeutet einen Haufen Risiken für die Zukunft, weil es ein potentielles Schlachtfeld gegen das politische Böse eröffnet. Jene Macht ohne Banner und Namen, die endlos ihr Labyrinth errichtet, um die Versuchsmäuse mit irgendeiner physischen Aktivität beschäftigt zu halten, produziert gleichzeitig eine riesige Büchse der Pandora. Dort stopft sie ihre Verbrechen hinein, Verbrechen, die im Namen vom Nichts begangen und auch nicht als Verbrechen bezeichnet werden, und schöpft ihre Daseinsberechtigung aus der Überzeugung: Was nicht benannt wird, das existiert auch nicht.



    Diese Übersetzung wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

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  • Administrative Ressource

    Administrative Ressource

    Am 24. März 20061 fuhr der Polit-Stratege Wladislaw Surkow in eine unscheinbare Nebenstraße im Moskauer Stadtteil Kitaj-Gorod. Hier, unweit der FSB-Zentrale an der Lubjanka, befand sich das Hauptquartier der Russischen Partei des Lebens. Surkows Mission war es, diese winzige Öko-Partei des Putin-Vertrauten Sergej Mironow mit einigen anderen kleineren Gruppen zu einer Mitte-Links-Partei mit Wachstumspotential zusammenzuführen. Mit ausdrücklicher Unterstützung des Präsidenten sollte so eine neue loyale Kraft geschaffen werden, die in kontrollierter Konkurrenz zur Regierungspartei steht und diese möglicherweise eines Tages würde ersetzen können. Ein, wie Surkow es ausdrückte, zweites Standbein der Macht.2 Es soll hier nicht um die Partei Gerechtes Russland gehen, die infolge dieser Aktion entstand – sondern darum, was Surkow dort eigentlich tat, an diesem Freitag in Kitaj-Gorod.

    Der Kreml-Berater – damals war Surkow stellvertretender Chef der einflussreichen Präsidialadministration – bediente sich des sogenannten administratiwny ressurs (dt. Administrative Ressource). Dieser relativ unscharfe Begriff wird im politischen Diskurs Russlands und anderer post-sowjetischer Staaten oft verwendet. Er ist mitunter schwer von einfacher Korruption zu unterscheiden, da die Nutzung der Administrativen Ressource oft nicht nur politische, sondern auch wirtschaftliche Folgen hat. Im weitesten Sinne bezeichnet er eine Art Amtsbonus: Einen Vorteil, den Amtsinhaber aus ihrer formalen Machtposition ziehen und gegenüber Mitbewerbern und Kontrahenten in Wirtschaft und Politik einsetzen können. In diesem Fall nutzte Surkow die hohe Organisationsfähigkeit der staatlichen Behörden und die informellen Verbindungen zwischen Mironow und Putin, um die politische Landschaft im Sinne der Regierung zu beeinflussen.

    Die Administrative Ressource (im Russischen meist abgekürzt: „adminressurs“) ist also das Potential von Vertretern der Exekutive auf allen Verwaltungsebenen, organisatorische und finanzielle Ressourcen innerhalb des Staatsapparates für die eigenen Zwecke zu nutzen. Dazu zählen die Mehrheitsbeteiligung des Staates an den größten Fernsehsendern ebenso wie die Möglichkeit, Polizei, Sicherheitsdienste, Gerichte und zahlreiche Lizenzierungsbehörden für Einflussnahme auf den politischen Prozess zu missbrauchen.3 Durch Einsatz dieser Instrumente werden unter anderem Wählerstimmen mobilisiert und unerwünschte Kandidaten und Gruppen eingeschüchtert oder ganz aus dem Rennen genommen – zum Beispiel durch plötzliche polizeiliche Ermittlungen.

    Die vielen Gesichter des adminressurs

    Ein Beispiel: Im September 2013, kurz vor den Bürgermeisterwahlen in Moskau, häuften sich die Berichte, dass Rentner Anrufe von der Pensionsverwaltung erhielten. Die Beamten stellten den Senioren einen Präsentkorb mit Nahrungsmitteln in Aussicht – wenn sie ihn spätestens bis zum Tag vor den Wahlen abholen würden.4 Bediente sich der amtierende (und später wiedergewählte) Bürgermeister Sergej Sobjanin seiner Behörden, um eine wichtige Wählergruppe mithilfe von Geschenken von sich zu überzeugen?

    Ein weiteres Beispiel: Im April 2016 durchsuchte die Steuerfahndung Büros der ONEXIM-Gruppe von Michail Prochorow. Der Firmengruppe gehört unter anderem das Investigativportal RBC. Das Medium war, so interpretierten es zahlreiche Beobachter, in seiner Berichterstattung zu weit gegangen und wurde durch den Einsatz der Steuerbehörde nun subtil darauf hingewiesen. Die Chefredaktion musste gehen.

    Schließlich ein Fall, den die Organisation Golos im August 2016 aufdeckte: Von 241 Firmen, die im Jahr 2015 über eine Million Rubel an die Partei Einiges Russland gespendet hatten, erhielten 80 im Laufe des Jahres staatliche Aufträge im Gegenwert von mehr als dem Zehnfachen des gespendeten Betrags.5 Über den Umweg von Unternehmen, die für ihre Spenden „belohnt“ wurden, gelangten so effektiv Staatsmittel in die Kassen der Regierungspartei. Hier überschneiden sich Korruption und Nutzung der Administrativen Ressource.6

    Die Sache hat System

    All diese Fälle von Parteigründungen und indirekter -finanzierung über Wahlgeschenke bis hin zum gezielten Einsatz der Steuerfahndung zeigen, wie breit das Spektrum der Administrativen Ressource ist. Wie zentral dieses Phänomen ist, wird jedoch noch einmal deutlicher, wenn man es in einen breiteren analytischen Zusammenhang stellt.

    Der Politikwissenschaftler Richard Sakwa sieht Russland als „dualen Staat“: Einerseits strukturiere die Verfassung das politische Geschehen, indem sie demokratische Verfahren als Legitimationsgrundlage politischer Handlungen definiere und Normen der Rechtsstaatlichkeit setze. Formal müssen sich alle Akteure daran orientieren. Andererseits werde diese konstitutionelle Ordnung ständig durch informelle Praktiken der Exekutive samt ihrer Beamtenschaft konterkariert: Diese parallele Existenz von zwei widersprüchlichen Funktionsprinzipien – dem demokratisch-konstitutionellen und dem informell-„parastaatlichen“ – hemme die Entwicklung hin zu offenem demokratischem Wettbewerb, schütze aber zugleich auch vor einem Abgleiten in vollumfänglichen Autoritarismus.7

    Begriff und Gebrauch der Administrativen Ressource zeigen genau diese Doppelbödigkeit, die Hybridität der russischen Politik. Regime, die keinen Wert auf demokratische Legitimation legen, müssen sich keiner komplexen legalistischen Mittel bedienen, um ihre Ziele zu erreichen. Die russische Verfassung hingegen – und das Bedürfnis, nach außen auf demokratische Verfahren innerhalb des Landes verweisen zu können –  zwingt die Eliten dazu, ihre politischen Ziele wenigstens formal innerhalb der geltenden Regeln zu verfolgen. Daher die Parteigründungen auf Initiative des Kreml, daher die Steuerfahndung, und daher auch die Wichtigkeit der Wahlen – an deren Ausgang auch aufgrund des Einsatzes der Administrativen Ressource kaum ein Zweifel besteht.


    1. Vielleicht auch am 26. – die Quellen widersprechen sich hier. Für einen Auszug aus dem geleakten Gesprächsprotokoll des Treffens siehe: Kommersant: Stenogramma-minimum ↩︎
    2. March, Luke (2009): Managing opposition in a hybrid regime: Just Russia and parastatal opposition, in: Slavic Review 68(3), S. 504-527, hier S. 511 ↩︎
    3. Siehe etwa Hale, Henry (2005): Regime Cycles: Democracy, Autocracy and Revolution in Post-Soviet States, in: World Politics 58(1), S. 133-165, hier S. 144; Blakkisrud, Helge (2011): Medvedev’s New Governours, in: Europe-Asia Studies, 63(3), S. 367-395, hier S. 386 ↩︎
    4. Slon.ru: Moskovskaja mėrija zadarivaet pensionerov produktovymi naborami ↩︎
    5. Rbc.ru: «Golos» obnaružil schemu skrytogo finansirovanija «Edinoj Rossii» ↩︎
    6. Eine Einführung in die Begrifflichkeit und auch die wirtschaftliche Dimension der Administrativen Ressource gibt der Ökonom Rustem Nureew hier: Administrativnyj resurs i ego ėvoljucija v postsovetskoj Rossii ↩︎
    7. Sakwa, Richard (2010): The dual state in Russia, in: Post-Soviet Affairs, 26(3), S. 185-206 ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

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    Presseschau № 30: RBC – Medium unter Druck

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    Dimitri Peskow

    Jedinaja Rossija

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    Polittechnologie

  • Krieg der Silowiki

    Krieg der Silowiki

    In Russlands Elite tobt ein Machtkampf. Am Donnerstag, 28. Juli, hat Wladimir Putin innerhalb eines Tages gleich mehrere Führungsposten umbesetzt: Bei dem heftigen Stühlerücken erhielten zwei FSB-Männer Gouverneursposten in Kaliningrad und Jaroslawl. Während der ehemalige Gouverneur der Oblast Kirow, der einst liberale Politiker Nikita Belych, in U-Haft sitzt, ging sein Amt nun an Igor Wassiljew über – einen ehemaligen KGB-Kollegen Putins. Das Zollamt bekam ebenfalls einen neuen Leiter: Wladimir Bulawin. Auch der war jahrzehntelang bei den Geheimdiensten tätig.

    Bei dieser Art von russischem Macht-Roulette wird durchaus auch Milde gewährt: Gegen den Gouverneur Sewastopols, das von Korruptionsskandalen erschüttert ist, wird nicht ermittelt. Sondern die Krim wurde als eigenständiger föderaler Kreis kurzerhand abgeschafft und der ehemalige Gouverneur empfiehlt sich nun als bevollmächtigter Vertreter des Präsidenten – in Sibirien.

    Experten werten das für Außenstehende komplett undurchsichtige Ämterkarussell zwei Monate vor den Parlamentswahlen als geschickten Schachzug: um nämlich die Geheimdienste FSB und FSO zu stärken und die regionalen Machteliten so unter Kontrolle zu halten – und zwar schon im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen 2018.

    Ekaterina Schulmann warnt auf slon.ru jedoch vor allzu voreiligen Schlüssen und Vereinfachungen. Die These der renommierte Politologin dagegen lautet: Die Konkurrenz unter den Silowiki wächst – und das ist gut so.

    Weshalb sollte sich ein gewöhnlicher Bürger für Veränderungen in den Verwaltungsstrukturen und für den Kampf der Silowiki untereinander interessieren, wenn er selbst nicht in diesen Strukturen arbeitet und kein Silowik ist?

    Die Notwendigkeit, die FSB-Abteilung Innenrevision unterscheiden zu können von der Abteilung für Wirtschaftssicherheit ebendort, den speziellen Sicherheitsdienst des Präsidenten zu unterscheiden vom Föderalen Dienst für Bewachung (FSO) insgesamt, die Abkürzung GUEBiPK entschlüsseln zu können, sowie auf der Karte problemlos die Dörfer Jaschtscherowo, Akulinino, Sosny und Osero zu finden – das hat etwas ziemlich Überflüssiges und Entwürdigendes.    

    Viel vernünftiger erscheint das Aufspüren von „Tendenzen“ und „Trends“ in all den zusammengewürfelten Zufälligkeiten, die unsere Nachrichten täglich füllen. Versuchen wir mal, das Geschehen wenigstens ansatzweise zu verstehen. Ohne, dass man dafür irgendwelche komplexen Schemata wie „dieser und jener ist ein Mann XYs“ abspeichern muss, noch irgendwelche Namen zu kennen braucht.   

    Keine „Säuberung“, sondern der Lauf der Dinge

    Was wir hier sehen, ist keine koordinierte Kampagne, kein „Kampf gegen Korruption“, keine „Säuberung“, sondern der unvermeidliche Lauf der Dinge: Innerhalb der Elite verschärft sich die Konkurrenz, weil die Ressourcen knapper werden. Das ist die Hauptursache für das, was passiert. Es gibt ein paar zusätzliche Gründe, die zeitlich damit zusammenfallen:

    Der wichtigste davon ist der naturgegebene Generationenwechsel (die „ersten Begleiter“ des Präsidenten sind alt geworden, junge Silowiki sind in die Generalsränge hineingewachsen und haben nun einen Generalsappetit). Was ist also hier anders?

    Der Jäger kann schnell zum Gejagten werden

    Der Unterschied zwischen Korruptionsbekämpfung und Säuberung liegt eigentlich ausschließlich in der Haltung der Person, die diese Termini benutzt (Operation „Saubere Hände“ ist eher was Gutes, Ausrottung von Andersdenkenden – schlecht) – organisatorisch ist es praktisch dasselbe. Die weltweite Erfahrung mit Unternehmungen dieser Art zeigt: Charakteristisch für sie ist die Bildung spezieller Organe (Sonderausschüsse, eigene Unterabteilungen der Staatsanwaltschaft, Chambre Ardente etc.), manchmal auch die Einführung spezieller Gesetze.
    Es braucht außerdem eine ideologische Grundlage, die vorab deklariert wird (das Jahr des großen Umbruchs, Feuer auf das Hauptquartier, ethnische Säuberung), und keine nachträgliche mediale Ausschlachtung jedes weiteren „Opfers“.     

    In unserem Fall funktioniert die Jagd nach dem Motto „Jeder wie er will und kann“. Für erfolglose Teilnehmer gibt es keine Sicherheitsgarantie – der Spieß kann umgedreht und der Jäger zum Gejagten werden, wie der Fall Sugrobows zeigte.  

    In diesem neuen Krieg sinkt der Wert der „persönlichen Loyalität zum Präsidenten“. Alle sind ungefähr gleich loyal in dem Sinn, dass alle die gleichen Worte sagen. Eine Vielfalt von Ansichten und Meinungen bei wichtigen Fragen gibt es innerhalb der herrschenden Bürokratie schon ziemlich lange nicht mehr. Einfacher ausgedrückt: Wenn alle Patrioten und Staatsfreunde sind, wird der Wettbewerb, wer der glühendste Patriot und wer der überzeugteste Staatsfreund sei, gar nicht mehr durchgeführt.

    DEN EINEN KREML GIBT ES NICHT UND AUCH KEINE ANWEISUNGEN

    Schon lange ist empirisch nachgewiesen, dass es keinerlei formale „Anweisungen aus dem Kreml“ gibt. Genauso wie es nicht den einen Kreml gibt – sondern einen kollektiven Akteur. Erst recht ist der „direkte Erlass des Präsidenten“ ein apparativer Mythos – sofern er nicht in Form einer öffentlichen Erklärung oder eines Dekrets daherkommt. Einen fiktiven Kreml umringen Klans von Bürokraten, die ihm unterschiedlich nahe stehen. Und jeder von ihnen versucht zu erraten, was genau die Obrigkeit im Sinn hat, um entsprechend zu handeln.   

    Da um administrative und finanzielle Ressourcen gekämpft wird, muss man wissen, dass es sich bei den Gegnern aber eigentlich gar nicht um Klans, sondern vielmehr um Interessengruppen handelt. Eine solche Gruppe ist nicht zwangsläufig deckungsgleich mit der Belegschaft einer Behörde. Deswegen ist es nicht ganz richtig, von einer Konfrontation zwischen FSB und FSO oder zwischen FSB und Innenministerium zu sprechen. Das ist wieder so ein Mythos wie die vor einigen Jahren beliebten „Kremltürme“. Denen hatte man sogar irgendwelche ideologischen Diskrepanzen zugeschrieben: in den einen säßen die „Liberalen“, in den anderen die „Hardliner“.

    Die Grenzen sind fließend

    So wird zum Beispiel die Abteilung Innenrevision eines jeden staatlichen Gewaltorgans um FSB-Kader aufgestockt. Innerhalb des FSB selbst wiederum steht diese Abteilung ebenfalls im Konflikt mit anderen Verwaltungsbereichen. Es ist nicht unüblich, dass die Stellvertreter eines Amtschefs verschiedene Gruppen repräsentieren, längst nicht alle von ihnen sind Strohmänner der Leitung.

    Noch komplizierter wird die Situation dadurch, dass Grenzen und Zusammensetzung dieser Gruppen fließend sind. So gerne man das Machtsystem Russlands auch mit der Mafia vergleicht, es ist dennoch anders strukturiert: Es besteht nicht aus Verbänden, die ihrem Patron bis in den Tod treu ergeben sind, sondern aus Opportunisten mit gewöhnlicherweise wachsendem Appetit. Es eint sie weder eine Ideologie noch Pläne zur Neustrukturierung Russlands noch die Liebe zum Chef, sondern einzig und allein die Hoffnung auf ihr Stück vom Ressourcenkuchen.

    Die scheinbar beständigen Parteien „alte Freunde Putins“ oder „Kollegen aus der DDR“ lösen sich auf, die „Datschenkooperative Osero“ wird vom Dorf Jaschtscherowo ersetzt.   

    Da wir es hier weder mit einer Anti-Korruptionskampagne noch mit einer Säuberung wie zu Sowjetzeiten zu tun haben, lohnt es sich, einige wichtige Merkmale des Geschehens hervorzuheben:

    Es gibt keine oberste Säuberungszentrale

    Erstens gibt es keine oberste Säuberungszentrale, kein Kampagnenkommando; jeder bemüht sich nach Maßgabe eigener Vorstellungen. Derzeit sieht der FSB wie der führende Vollstrecker und das „Richtschwert“ aus, doch innerhalb des Geheimdienstes ist eine Umgestaltung der Abteilung für Wirtschaftssicherheit  im Gange – vor dem Hintergrund dessen, dass die Abteilung Innenrevision gestärkt wird. Die Schwächung des Ermittlungskomitees kann eine Stärkung der Generalstaatsanwaltschaft bedeuten. Der Kampf um den Zoll – eine Quelle mächtiger Finanzströme – wird zum Objekt harter Konkurrenz werden, unter anderem auch abteilungsintern.  

    Es gibt keinen endgültigen Sieger

    Zweitens wird es keinen endgültigen Sieger geben. Damit das System in seiner aktuellen Form bestehen bleibt, muss es das labile Gleichgewicht zwischen den Schlüsselakteuren stützen – kein einziger von ihnen kann alle anderen besiegen. Ja, es können sich nicht einmal zwei führende Spieler herauskristallisieren, die gegeneinander antreten.

    Beispiele dafür, wie das System dieses Gleichgewicht aufrechterhält, konnten wir bei der Gründung der Nationalgarde sehen. Sie ist ein neues, starkes Organ, sowohl personalmäßig (vorgesehen sind darin bis zu 400.000 kampfbereite Mitarbeiter) als auch, was die Nähe seines Chefs zum Präsidenten betrifft. Zeitgleich mit der Auslagerung der gesamten bewaffneten Einheit aus dem Innenministerium stärkt man das Ministerium aber, indem man das Föderale Migrationsamt (FMS) und den Föderalen Dienst für Drogenkontrolle (FSKN) darin eingliedert. Dem neuen Gesetz zufolge gibt man der Nationalgarde keine Ermittlungs- und Fahndungsvollmachten, und ihr Leiter wird Mitglied des großen, nicht aber des kleinen Sicherheitsrates (kein ständiges Ratsmitglied).

    Zeitgleich mit der Einführung eines Gesetzespakets zur Gründung der Nationalgarde beginnt eine Umgestaltung und Verstärkung jener FSB-Unterabteilungen, die für Korruptionsbekämpfung und Wirtschaftssicherheit zuständig sind. Parallel dazu wiederum werden mehrere Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes des Präsidenten zu Gouverneuren ernannt. So versucht das System, Schieflagen zu vermeiden.

    Die angeregten Strafverfahren verlaufen im Sand

    Drittens werden die angeregten Strafverfahren weder vertieft noch erweitert, wie das für Säuberungsprozesse eines Apparates von Fremdkörpern oder für großangelegte Kampagnen zur Korruptionsbekämpfung ansonsten üblich ist. Im einen wie im anderen Fall zieht jeder Beteiligte konzentrische Kreise von Kollegen und Bekannten hinter sich her, in schwierigen Fällen auch Verwandte, Nachbarn und sonst alle, deren Namen er sich beim Verhör entsinnen kann.

    In der jüngsten Geschichte Russlands entsprach allein der Fall YUKOS diesem Muster. Und der wurde, auch wenn er das gesellschaftliche Klima enorm beeinträchtigte und die Standards der Gerichts- und Rechtsschutz-Maschinerie sinken ließ, nicht zum Musterszenario für folgende Prozesse. Sondern er verkapselte sich als Einzelfall im Körper des Systems – weder abgestoßen noch integriert.

    Die gegenseitigen Angriffe der Silowiki untereinander sind jedoch eher punktuell. Es sind nicht so viele davon betroffen, und das Ziel ist oft nicht die Inhaftierung als solche, sondern eine Untersuchungshaft (wo man mit dem Opfer um einiges leichter darüber verhandeln kann, ob es Erwirtschaftetes und unter seiner Kontrolle Befindliches würdigeren Personen überlassen will) oder eine simple Amtsenthebung.

    Vergleichweise vegetarische Gepflogenheiten

    Natürlich ist das alles ein Entwicklungsprozess eines Systems – und hier ist das Fehlen von Intention und Drehbuch merkwürdigerweise dem Allgemeinwohl eher zuträglich. Das Ausbleiben von Massenverhaftungen und geräuschvoll beginnende, doch milde (außergerichtlich) verlaufende Verfahren gegen Staatsbedienstete lassen zwar den kollektiven Sinn für Gerechtigkeit unbefriedigt (Gerechtigkeit ist allem Anschein nach generell eins der aussterbenden Dinge des Jahrhunderts). Doch man muss auch zugeben, dass die Beibehaltung vergleichsweise vegetarischer, elitärer Gepflogenheiten gewissermaßen ein Szenario der Art abwendet, wie wir es in aller Pracht in der Türkei bewundern können.

    Die Silowiki kontrollieren sich gegenseitig

    Eine Situation, in der Silowiki in ständiger Ressourcenknappheit und permanenter Angst voreinander leben müssen, kann natürlich nur eine Parodie auf das System von Gewaltenteilung und gesellschaftlicher Kontrolle sein, das es in Demokratien gibt. Aber immer noch besser als allmächtige Silowiki, die vor Nichts und Niemanden Angst haben.  

    In so einem Krieg, wie wir ihn derzeit beobachten, sind die Beteiligten erstens dazu gezwungen, ein Minimum an Leistung zu zeigen (salopp gesagt, wenigstens durchblicken zu lassen, dass sie ihre Arbeit machen, darauf achten, dass die Elektritschkas fahren und die Zolleinnahmen steigen).

    Zweitens nutzen alle Konfliktparteien aktiv die Presse. Wir sind daran gewöhnt, das Leaks zu nennen und als irgendwie unehrenhaft für Journalisten und Medien zu erachten. Doch tatsächlich macht eine solche Öffentlichkeit die politischen Akteure selbst abhängig von der allgemeinen Meinung: Wenn deine Schuhschachteln und Fotos jederzeit in den Nachrichten gezeigt werden können, überlegst du dir unwillkürlich, ob du, solange du im Amt bist, nicht wenigstens nach außen hin lieber bescheidener lebst, und den Palast mit den hellblauen Türmchen erst im Ruhestand bauen lässt.      

    Das System braucht die Konkurrenz, zum Glück

    Doch diese positiven Effekte können nur dann eintreten, wenn der Krieg der Silowiki keinen eindeutigen Sieger hervorbringt. Wenn sich nicht eine neue Superstrafbehörde KGB 2.0 herausbildet, die alle anderen säubert und selbst vor niemandem Angst hat.

    Zum Glück fordern die Interessen einer Systemsicherheit (und nicht einer erdachten „Staatssicherheit“) eine Bewahrung des Gleichgewichts, die nur zu erreichen ist, wenn die Konkurrenzsituation bestehen bleibt. Es ist eben die Existenz eines Siegers und nicht der Krieg aller gegen alle, die zu dem führen kann, wonach Beobachter oft gefragt werden: zur Spaltung der Führungselite und zu Umsturzplänen.

    Einen Komplott zu schmieden hat dann Sinn, wenn das dadurch entstehende Risiko niedriger ist als das Risiko, das eine Niederlage im Wettstreit der Eliten mit sich bringt. Mit anderen Worten: Wenn es einen absoluten Sieger gibt und alle anderen sind Verlierer, werden sich diese Verlierer zusammenmauscheln – Schlimmeres kann ihnen ja nicht mehr passieren. Wenn aber niemand den Sieg davonträgt, keine Runde die letzte ist und alle Teilnehmer etwas zu verlieren haben, dann büßen Pläne zur gewaltsamen Machtergreifung ihren Reiz ein. Daher wird die oberste Staatsgewalt mit allen Mitteln dazu beitragen, dass der Kampf unentschieden bleibt.

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  • Oden an die Hunde von Schuwalow

    Oden an die Hunde von Schuwalow

    Kein Hundeleben, das die Corgis des russischen Vize-Premiers Igor Schuwalow führen: Der Fonds für Korruptionsbekämpfung des Oppositionsführers Alexej Nawalny ermittelte unlängst, dass sie im Privatjet zu internationalen Hundeausstellungen geflogen wurden. Olga Schuwalowa, die Frau des führenden Politikers, widersprach den Vorwürfen nicht und merkte nur an, die Corgis würden auf den Schauen „die Ehre Russlands verteidigen“.

    Erst im Juli war Schuwalow außerdem vorgeworfen worden, eine ganze Etage mit Wohnungen mitten im Zentrum Moskaus aufgekauft zu haben. Woher der Reichtum des Politikers genau kommt, der vor seiner Politikkarriere ein erfolgreicher Geschäftsmann gewesen sein soll, bleibt offen.

    Warum, so fragt der Historiker und Journalist Sergej Medwedew auf slon.ru, regen sich nur so wenige in Russland darüber auf? Und er geht sogar noch weiter: Nicht nur, dass sich keiner darüber aufrege – im Grunde legitimiere der Protz erst die Macht.

    Das Corgi-Paar von Igor Schuwalow fliegt im Privatjet von Hundeschau zu Hundeschau – Foto © krpress.ru
    Das Corgi-Paar von Igor Schuwalow fliegt im Privatjet von Hundeschau zu Hundeschau – Foto © krpress.ru

     

    „Was blickst du so finster, Bruder“, fragte Kirila Petrowitsch, „gefällt dir etwa mein Hundezwinger nicht?“ – „Doch“, antwortete Dubrowski barsch, „der Zwinger ist herrlich, Ihre Leute werden wohl kaum ein so schönes Leben haben wie Ihre Hunde.“  (Alexander Puschkin, Dubrowski)


    Wenn es Igor Iwanowitsch Schuwalow nicht gäbe, würde es sich lohnen, ihn zu erfinden: mit dem adelig klingenden Namen und dem Schloss in Österreich, dem Londoner Apartment im ehemaligen Gebäude des MI6-Geheimdienstes in Whitehall und dem Familiensitz in Saretschje, wo auch Suslows Parteien-Datscha steht. Mit dem Rolls-Royce für 40 Millionen Rubel und einem eigenen Stockwerk in einem Wolkenkratzer am Kotelnitscheskaja-Ufer. Mit all diesen Dingen aus der Kategorie „Wirkt albern, aber die Leute kaufen es“ und der Bereitschaft, für Putin „auch mal zurückzustecken“. Und nun auch noch mit dem Corgi-Paar, das mit dem Businessjet von Hundeschau zu Hundeschau geflogen wird.

    Er ist eine richtige Pelewin-Figur. Der Cargo-Kult auf zwei Beinen. Ein Destillat vom postsowjetischen Transit.

    Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde

    Da helfen auch keine Anwaltsvergangenheit und kein Teflonlächeln. Keine treuherzigen Erklärungen im Stil von „Alles hart erarbeitet“ und „Alles rechtmäßig versteuert“. Und keine Ehegattin, die ganz einfältig erläutert, die Corgis flögen, um die Ehre Russlands zu verteidigen. Und noch nicht einmal Margarita Simonjan, die auf Echo noch unmissverständlicher verkündet: „Ich denke, nur reiche Leute sollten Beamte werden, nur … ein Mensch, der sehr viel Geld verdient und sich im Business bewiesen hat. Bis 40, und mit 45 dann ein richtiger Kerl ist – also Boote, Flugzeuge, Brillanten und Pelze kauft …“ Wahrlich, wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde.

    Manchmal scheint es, als sei das Projekt Schuwalow eine PR-Provokation. Eine Bombe gegen das bestehende Regime. Eine moderne russische Marie Antoinette samt ihrem „Sollen sie doch Kuchen essen“. Ein Katalysator für Revolution und Volkszorn.

    „Er macht es, weil er ’ s kann“

    Aber die Wirklichkeit sieht natürlich anders aus. Von Revolution ist keine Spur, und statt Zorn gibt es nur Schmunzeln und Internethumor. Alle enthüllenden Posts von Nawalny versinken im Treibsand der russischen Gesellschaft. Einer Gesellschaft, die zynisch ist, anämisch und anomisch, und die Gewalt und Macht wesentlich höher schätzt als Recht und Moral.

    Meme und Karikaturen über Schuwalows Hunde posten und teilen stets dieselben Hunderttausend facebook-Nutzer. Der Rest des Landes betrachtet es mit Gleichgültigkeit und folgt der unumstößlichen Volksweisheit: „Er macht es, weil er´s kann.“

    Wie der Politologe Wladimir Gelman feststellt, steht dies in fundamentalem Widerspruch zur spätsowjetischen Kampagne für den „Kampf gegen Privilegien“. Eine der wichtigsten Losungen der Perestroika. Als die Publizisten dazu aufriefen, zu den leninschen Normen der Partei-Bescheidenheit zurückzukehren, und als man sich im Volk Apokryphen darüber erzählte, wie Jelzin, als er schon Erster Sekretär im Moskauer Stadtkomitee der KPdSU war, mit dem Trolleybus zur Arbeit fuhr.

    Warum reagiert die Gesellschaft nicht?

    Wo ist das alles hin? Warum reagiert die Gesellschaft weder auf Nachrichten über Korruption noch auf den provokanten Konsum der Staatsdiener?

    Gelman spricht von Ermüdung und Apathie: Mit der Peitsche kommt man gegen das Beil nicht an. „Die Erfahrung vom erfolglosen Kampf gegen Privilegien in der Epoche der Perestroika und die nachfolgenden Ereignisse, in denen der russischen Öffentlichkeit – mit wenigen Ausnahmen – die Rolle von Statisten zukam, haben die Russen davon überzeugt, dass eine Auflehnung gegen eine Obrigkeit, die über die Stränge schlägt, sinnlos, wenn nicht sogar gefährlich ist.“

    Auf der anderen Seite gibt es einen gemeinhin anerkannten Gesellschaftsvertrag, der da heißt Alle klauen. Die Nachrichten über Korruption, der verschwenderische Konsum und provokante Luxus der Wirtschaftselite fungieren als Ablassbrief für ebensolches Verhalten quer durch alle Gesellschaftsschichten: Der Blick nach oben verschafft den Menschen das moralische Recht Steuern zu hinterziehen, Schmiergelder zu zahlen oder anzunehmen und über die eigenen Verhältnisse zu leben.

    „Alle klauen“ – so heißt der Gesellschaftsvertrag

    Das Beispiel der Obrigkeit erzeugt eine „Alles-ist-erlaubt“-Atmosphäre in der Gesellschaft: Wenn die Hunde des Vize-Premiers mit Privatjets fliegen, warum darf die gesamte Führungsriege der Wolgograder Region dann nicht in die Toskana fliegen, um den Geburtstag des Gouverneurs Boschenow zu feiern? Wenn ein Wagen mit Blaulicht die durchgezogene Mittellinie durchkreuzen darf, warum kann ein gewöhnliches Auto dann nicht den Stau auf dem Seitenstreifen umfahren?

    Macht fußt auf der Behauptung des eigenen Status, nicht auf Wahlen

    Aber neben der traditionellen Kungelei über die verschiedenen sozialen Schichten hinweg gibt es auch noch eine tieferliegende, strukturelle Ursache, warum Schuwalows zur Schau gestellter Reichtum das Regime nicht diskreditiert, sondern sogar legitimiert: Macht fußt in Russland nicht auf Wahlen, sondern auf Gewalt und auf der Behauptung des eigenen Status. Sprich darauf, wie effektiv jemand durch Gewalt- und Symbolwirkung den Diskurs beherrscht. Für die Legitimation der Macht braucht es den Überfluss: öffentliche Prügelstrafen, demonstrativen Luxus und die Verachtung von Gesetz und moralischen Normen. Genau so funktioniert auch die Macht eines Kirila Petrowitsch Trojekurow in der patriarchalen Welt von Dubrowski.

    So betrachtet sind diese ganzen Darstellungen von Reichtum – Putins Schlösser, die Uhr des Patriarchen, der Autokorso der Absolventen der FSB-Akademie mit den Mercedes-Geländewagen, die Bentley-Festzüge in Tschetschenien, Schuwalows Hunde oder die Löwen in Kadyrows Privatzoo – allesamt Attribute patriarchaler Macht. Und gewichtige Argumente in der Ständehierarchie, gegen die wiederum nur wieder dieselben Hunderttausend facebook-Nutzer und ein paar engagierte Städter aufbegehren. Der Großteil der Bevölkerung nimmt sie schweigend hin, als unvermeidliche, herrschaftliche Kapriolen, die man zuweilen sogar sozial gutheißt.

    Ein Geschenk von Soros, das wäre kompromittierend

    Die Corgis im Business-Jet haben also keine kompromittierende Symbolwirkung. Im Gegenteil: Sie bestätigen nur das Recht auf Macht, die Kastenzugehörigkeit. Etwas anderes wäre es natürlich, wenn die Hunde nicht Toscha und Cäsarewitsch hießen, sondern Maidan und Bandera. Oder wenn Schuwalow sie von Soros geschenkt bekommen hätte. Oder wenn sie weiße Bänder an ihrem Halsband tragen würden. Das wäre kompromittierendes Material! Aber der Besitz von Anwesen und Konten im Ausland und die herrschaftlichen Allüren, kurzum der Euter, den man bei den modernen russischen Koreikos jederzeit fühlen kann, gilt unter den Bedingungen des jetzigen Regimes als Zeichen von Loyalität und Zugehörigkeit zum System.

    Eine katastrophale Kluft in der Gesellschaft

    Die aktuelle Evolutionsstufe der russischen Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sich die Herrschaftsschicht das einfache Volk nun endgültig vom Hals geschafft hat. Sie kümmert sich nicht länger um ein schickliches Image. Im Gegenteil: Sie erhebt ihre Privilegien und Launen sogar zur Norm.

    Herrschaftliche Megaprojekte – angefangen bei den Olympischen Spielen und der Fußball-WM bis hin zu Hochgeschwindigkeitszügen und den Maßnahmen zur Erhöhung des Komforts in Moskau – bei gleichzeitiger Zerstörung der sozialen Infrastruktur, die Verachtung für die Not der Menschen, die immer wieder in den Äußerungen von hohen Beamten und Abgeordneten durchklingt: All das zeugt vom endgültigen Verlust der sozialen Solidarität und von der katastrophalen Kluft, die sich in der russischen Gesellschaft auftut. Eine der wesentlichen Folgen der Putinschen Konterreformen.

    Dienstadel wie zu Zeiten von Iwan dem Schrecklichen

    Während der letzten hundert Jahre, seit 1917, hat sich Russland bemüht, eine moderne Gesellschaft zu errichten. Sie sollte auf Prinzipien der Solidarität, der politischen Gleichheit und auf einem Gesellschaftsvertrag gründen (auch wenn das in vielerlei Hinsicht nur proklamierte Ziele blieben, denn auch in der UdSSR herrschten Statusprivilegien und eine berufliche Ständeordnung). Aber im 21. Jahrhundert setzte eine vernichtende De-Modernisierung ein – und zwar der Macht, der Gesellschaft, der Ökonomie und des kollektiven Bewusstseins.

    Alles in allem entfernt sich Russland von der modernen Bürokratie und vom Oligarchen-Staat aus Zeiten des Frühkapitalismus. Und es steuert auf eine feudale, aristokratische Regierung zu. Auf die Schaffung eines Dienstadels wie zu Zeiten von Iwan dem Schrecklichen, dem Urvater der russischen Staatsmacht. Sein neuestes Denkmal wird am 3. August in Orlow enthüllt.

    Igor Schuwalow setzt mit seinem sorgfältig konstruierten Aristokratismus einen politischen Trend – Foto © Wikipedia unter CC BY 3.0
    Igor Schuwalow setzt mit seinem sorgfältig konstruierten Aristokratismus einen politischen Trend – Foto © Wikipedia unter CC BY 3.0

    Auch Igor Schuwalow setzt hierbei mit seinem sorgfältig konstruierten Aristokratismus einen politischen Trend, wenn auch im britischen Stil – von den königlichen Corgis bis zum Anwesen in der Whitehall Street.

    Es wird neue Gesetze brauchen: vererbbare Titel und Rechte

    Verfolgt man diese Abstiegslinie auf den Stufen der Geschichte weiter, müssten wir vom Dienst- bald zum Erbadel kommen. Nicht ohne Grund bezeichnete der Politologe Jewgeni Mintschenko die 2010er Jahre schon 2012 als einen „dynastischen Abschnitt“ im Evolutionssystem. Charakteristisch ist für diesen Abschnitt das Streben der Elite, eine Erbschaftsaristokratie zu errichten. Sie soll ermöglichen, den erworbenen Besitz an die Sprösslinge weiterzugeben. Allein das Erbrecht kann die Elite vor erneuten Umverteilungen bewahren, die bei einem Machtwechsel in Russland unvermeidlich wären. Und in Zeiten von Krieg, Terror und Sanktionen Stabilität und Nachfolgerschaft gewährleisten.

    Dafür wird es neue Gesetze brauchen: vererbbare Titel und Rechte, einen rechtlichen Sonderstatus für Adelige, Immunität, Garantien der Unantastbarkeit von Privatleben und Besitz (wie das funktioniert, zeigte bereits die Verurteilung der Ökologen Jewgeni Witischko und Surena Gasarjan wegen einer Aufschrift am Zaun der Datscha des Gouverneurs Alexander Tkatschow). Und es braucht Informationsschutz für Eintragungen von Aristokraten in Grundbüchern, damit Ermittlungen wie „Tschaika“ oder „Anwesen auf der Kotelnitscheskaja“ nicht mehr vorkommen.

    Oden an die Hunde von Schuwalow

    Dass es auch für die Haustiere der Herrschaften einen Sonderstatus braucht, versteht sich von selbst. Konnte doch Mitte des Jahrhunderts ein Bauer, der die Hand gegen den Hund eines Adeligen erhebt, zum Tode verurteilt werden. Und weil Sergej Jessenin einst ein anrührendes Gedicht für den Hund von Katschalow schrieb, werden die zeitgenössischen Dichter wohl Oden an die Hunde von Schuwalow verfassen müssen. Denn sie verteidigen in der Tat die Ehre Russlands. Sie sind Russlands Symbole und Role Models. Sie sind das Beispiel für prestigeträchtigen Konsum und eben jenen Erfolg, über den die fachkundige Margarita Simonjan zu urteilen weiß.

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  • Der Geist der Korruption

    Der Geist der Korruption

    Für die Bezeichnung von Korruption gibt es im Russischen verschiedene Begriffe. Viele kommen aus Jargon und Umgangssprache, wie etwa wsjatka, sanos, otkat, Administrative Ressource und viele andere. Dass es so vielfältige Bezeichnungen für korrupte Verhaltensweisen gibt, ist eng mit den sozialen Praktiken und ideellen Einstellungen in der Sowjetepoche und den ersten drei Jahrzehnten nach dem Zerfall der UdSSR verbunden.

    Das Phänomen der Korruption in Russland ist komplex und bisher nur unzureichend erforscht. Illegale Bereicherung wird in der Gesellschaft auf beinahe allen Ebenen als akzeptable, legitime Form betrachtet, um den Lebensunterhalt zu sichern. Die Verwurzelung im Alltagsleben sowie die Mannigfaltigkeit der Korruptionsformen drücken sich auch in der Sprache aus. Im offiziellen Diskurs wird oft das Fremdwort Korrupzija gebraucht.

    Ein Phänomen mit vielen Namen

    In der Umgangssprache finden sich zahlreiche, teils duldsame Jargon-Ausdrücke: die Substantive wsjatka oder wsjatotschnitschestwo (von wsjat, dt. nehmen), sanos, otkat und Ausdrücke wie sanesti (dt. etwas vorbeibringen), otkatit (dt. etwa zurückschaffen, im Sinne von Korrputionsgegenleistung), dat na lapu (dt. auf die Pfote geben), podmasat (dt. einschmieren) und viele andere. Literarische und traditionelle Wörter wie kasnokradstwo (dt. etwa Veruntreuung, wörtlich Haushaltsklau) oder msdoimstwo (dt. Bestechung), die in Wörterbüchern und klassischen Werken noch vorkommen, sind fast völlig aus dem Sprachgebrauch verschwunden.

    Außerdem kommen sowohl in der offiziellen wie in der alltäglichen Sprachpraxis Euphemismen zum Einsatz, durch die von Seiten der Sprecher zum Ausdruck kommt, dass mafiöse Praktiken oder die Verflechtung von Staat und Unterwelt legitimiert sind. Der wichtigste dieser Ausdrücke ist der halboffizielle Terminus Administrative Ressource. Dieser meint die Ausnutzung einer Stellung in der staatlichen Hierarchie, um sich Teile der öffentlichen Mittel anzueignen oder Familienangehörigen lukrative Erwerbsmöglichkeiten zu verschaffen.

    Hier werden zwar Gegenleistungen nicht unmittelbar erkauft, aber es wird doch in einem korrumpierenden Sinne der Vorgang der Ressourcenverteilung manipuliert – was Korruptionsnetzwerke weiter wachsen lässt.

    Ehrlich verdientes Geld galt als verwerflich

    Die Ursache wird verständlich, wenn man die sozialen Praktiken und Einstellungen aus der sowjetischen Epoche und den ersten drei Jahrzehnten nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems miteinander vergleicht.

    Mit Marx kann kann man die sowjetische Ära als Epoche der asiatischen Produktionsweise begreifen. Dies meint Ausbeutung ohne die Bildung von Eigentum. In der UdSSR war nicht nur das Privateigentum an „Werkzeugen und Produktionsmitteln” verboten, auch der gewöhnliche Besitz, die persönlichen Habseligkeiten, wurden beschränkt.

    Eine aggressive Form der Uneigennützigkeit wurde dagegen verherrlicht. Ein Arbeiter, der weniger erhielt als den Gegenwert seiner Arbeit und keine Gehaltserhöhung forderte, wurde als „selbstlos“ gepriesen, und sogar ehrlich verdientes Geld galt im sowjetischen Diskurs als verwerflich.

    Die Korruption, die in der UdSSR blühte, betraf nicht so sehr finanzielle Eigentumsverhältnisse (also die Möglichkeiten des Privateigentums) als vielmehr die Anhäufung von Einfluss und die Fähigkeit, mit Staatsbesitz so umzugehen, als sei es der eigene.

    Immobilien und Geld häuften sich zu Sowjetzeiten nur in einem sehr engen Kreis an. Traditionell hatte (in Russland) dabei nur der oberste Herrscher das Recht, Bürgern Eigentum zuzuteilen: Vor der Revolution war der Zar der einzige rechtmäßige Eigentümer überhaupt. Im sowjetischen Russland war es hingegen das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei und seine Führung.

    Postsowjetische Massen-Korruption

    Die Propagierung der Uneigennützigkeit hatte in der UdSSR fast schon religiösen Charakter. Und die Angst wegen Unternehmertums zu sterben1 war ein Teil der ideologischen Indoktrination. Nach dem Zerfall des sozialistischen Systems verbanden sich daher drei gedankliche Linien, die ein festes Programm bildeten:

    • einerseits Selbstlosigkeit und Uneigennützigkeit 
    • andererseits ein praktisches Verlangen, endlich ein eigenes Haus, eine eigene Wohnung oder ein eigenes Stück Land zu besitzen
    • und schließlich ein fester Glaube daran, dass alles vom Chef abhängt.

    Dadurch kam es im Folgenden zu dem verblüffenden historischen Phänomen der postsowjetischen Massen-Korruption.

    Die nach dem Zerfall der UdSSR gesetzlich erlaubte allgemeine Bereicherung wurde von den meisten Leuten geradezu als Erlaubnis von oben aufgefasst. Stillschweigend akzeptierte die Gesellschaft die Bedingungen, unter denen das sogenannte Volkseigentum in Privateigentum umgewandelt wurde. Allerdings erfolgte die Privatisierung größtenteils nach dem Motto „jeder nimmt, was er kann“.

    Ein traditionelles Mittel der Staatsführung

    Dass die ehemaligen Chefs und Geheimdienstmitarbeiter am meisten abbekamen, hat niemanden verwundert. Als die Ära des späten Jelzin in die Ära Putin überging, herrschte ein Konsens bezüglich der nun folgenden Umverteilungen. Der oberste Chef und Eigentümer hatte nach Auffassung der meisten Russen nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, persönlich die Verteilung aller Ressourcen sicherzustellen und dabei alle drei Aspekte des Eigentums zu legitimieren: Besitz, Handhabung und Verteilung.

    Die massiven Proteste gegen Korruption im März 2017 deuteten zwar einen zaghaften Wertewandel an, doch insgesamt bleibt das Protestpotential eher gering: Veruntreuung von Staatseigentum und Bestechlichkeit werden nicht als Exzess oder Verletzung des geschriebenen Gesetzes gesehen, sondern als traditionelles Mittel der Staatsführung.

    Auf Korruptionsenthüllungen von ausländischen oder russischen Organisationen (wie dem Fonds für Korruptionsbekämpfung von Alexej Nawalny, Transparency International, ICIJ etc.) reagiert nur ein kleiner Teil der russischen Gesellschaft mit Protestaktionen: Die Anschuldigungen Nawalnys an die Adresse Medwedews brachten am 26. März 2017 zwar landesweit einige zehntausende Menschen auf die Straße, die große Mehrheit der Gesellschaft quittierte diese Enthüllung aber mit Schweigen. Die krassesten Veruntreuungen von staatlichem Eigentum, die zum Teil mit der russischen Staatsspitze verbunden sind, werden als legitim aufgefasst. Und jeglicher Versuch, etwas dagegen zu unternehmen, wird schon innerfamiliär unterbunden: Die Familienmitglieder wissen, dass sie ihr gesamtes Eigentum verlieren können, wenn einem Kettenglied in der gegenwärtigen Machtvertikale danach ist.


    1. Es ist bemerkenswert, dass Versuche einer selbständigen unternehmerischen Tätigkeit ohne die Genehmigung der politischen Führung stets verhindert wurden – auch mit der Todesstrafe. Im Jahr 1984 wurde Juri Sokolow, der Direktor des Feinkostladens Jelissejew, in Moskau wegen „Diebstahls sozialistischen Eigentums in besonders hohem Ausmaß” erschossen. Im Jahr 1987 traf es den Chef eines Gemüselagers: Mchitar Ambarzumjan. Da die Sowjetunion ein Land des ständigen Mangels war, wurden besondere Handelsketten eingerichtet, über die nur besonders nah an der politischen Führung stehende Personen mit Waren versorgt werden sollten. Versuche der Mitarbeiter, dabei über die gesteckten Grenzen hinauszugehen, wurden zur „ungesetzlichen unternehmerischen Tätigkeit” erklärt – ungesetzlich dabei war der Charakter der „[gnose-1943]Blat[/gnose]-Aufteilung”. Von hier aus verbreitete sich der Korruptionssumpf, der nach Ansicht einiger Ökonomen die gesamte Wirtschaft der Sowjetunion in den Ruin trieb. ↩︎
    2. Weiterführende Literatur: ↩︎
    3. Passarge, Malte/Behringer, Stefan/Babeck, Wolfgang (Hrsg.) (2014): Handbuch Compliance international: Recht und Praxis der Korruptionsprävention, Berlin; [Russland: S.445-480] ↩︎
    4. Dawisha, Karen (2014): Putin’s kleptocracy: who owns Russia? New York ↩︎
    5. Golunov, Sergey (2014): The elephant in the room: corruption and cheating in Russian universities, Stuttgart

      ↩︎

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  • Korruption in Russland – soziologische Aspekte

    Korruption in Russland – soziologische Aspekte

    Korruption wird in Russland manchmal wie das Wetter gesehen: Etwas, was das Leben schwierig macht, worauf man selbst jedoch keinen Einfluss hat. Viele nehmen Korruption als unveränderlichen Teil des Lebens wahr. Weil alle, vor allem aber „die da oben“ korrupt seien, wundert oder echauffiert sich auch niemand mehr, wenn wieder ein neuer Korruptionsskandal ans Licht kommt. Korruption ist in vielen Bereichen allgegenwärtig: Sie vermindert die Leistungsfähigkeit staatlicher Institutionen und ist ein Hindernis für die Modernisierung des Landes.

    International vergleichende Studien attestieren Russland regelmäßig ein sehr hohes Korruptionsniveau. Da Korruption im Verborgenen stattfindet, ist ihre genaue Bestimmung allerdings schwierig, die Dunkelziffer hoch. Das Nationale Antikorruptionskomitee schätzt die jährlichen Verluste auf 300 Millarden US-Dollar. Das entspricht 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.1 Allerdings findet Korruption nicht zwingend monetär statt (etwa in Form von Bestechungsgeldern), sondern auch als Gefallen und Gegengefallen, oft innerhalb persönlicher Netzwerke.

    Wie konnte es so weit kommen?

    Die Ursachen sind komplex und vielfältig: Sie reichen von tradierten historischen Praktiken wie dem Kormlenie über institutionelle Mängel wie einem schwachen Rechtsstaat bis hin zu ökonomischen Gründen wie niedrigen Gehältern, die dazu verleiten, Bestechungsgelder anzunehmen.

    Korruption war bereits in der Sowjetunion verbreitet, zum Beispiel in Form von Gefälligkeiten innerhalb persönlicher Blat-Netzwerke, die vorrangig dazu dienten, Mangelwaren auszutauschen. Doch erst die Systemtransformation und die Monetarisierung in den 1990er Jahren ermöglichten den Anstieg der Korruption auf ein systemisches Ausmaß. Inzwischen gibt es keinen gesellschaftlichen Bereich, der nicht von Korruption durchdrungen ist: Politik, Justiz, Wirtschaft, Verwaltung, Militär, Kirche, Polizei bis hin zum Gesundheits- und Bildungswesen.

    Korruption, der ständige Begleiter

    In vielen Alltagsbereichen ist Korruption so fest verankert, dass sie von den Betroffenen nicht mehr als solche wahrgenommen wird – „Geschenke“ an Ärzte und Lehrer sind ebenso Normalität wie das Einberechnen von Bestechungszahlungen in unternehmerische Kostenkalkulationen: Laut Transparency International Russland liegt der Handelspreis für Milch 15 bis 20 Prozent höher, als er müsste: Die Hersteller kalkulieren den Mehrpreis ein, um Beamte für Lizenzen schmieren zu können.2 Dadurch ist letztlich jeder von Korruption betroffen, selbst Personen, die kein Schmiergeld annehmen oder zahlen.

    Spätestens wenn es um die eigene Gesundheit oder um Kindergartenplätze für den Nachwuchs geht, sind viele Russen zu Korruption bereit (und gezwungen). So wird auch das meiste Schmiergeld in der Alltagskorruption im Gesundheits- und Bildungsbereich aufgewendet, und das Korruptionsrisiko gilt hier, neben der notorisch korrupten (Verkehrs-)Polizei, als besonders hoch.3

    Und ein Ende nicht in Sicht

    Rhetorisch wird der Korruption seit Jahren der Kampf angesagt. Besonders Dimitri Medwedew setzte die Korruptionsbekämpfung während seiner Präsidentschaft auf die Agenda. Doch obwohl regelmäßig neue Gesetze und Initiativen verabschiedet werden, verbessert sich in der Praxis nur wenig. In einer Lewada-Umfrage von 2014 gaben 39 Prozent der Russen an, Korruption in der Politik habe in den letzten 15 Jahren zugenommen; 33 Prozent sahen sie als unverändert an und nur 20 Prozent bemerkten einen Rückgang.4

    Der Grund für die ineffektive Bekämpfung liegt nicht zuletzt im politischen System Putins, in dem Institutionen, die für die Korruptionsbekämpfung zentral sind, sukzessive geschwächt wurden: freie Medien, unabhängige Gerichte, die politische Opposition und die Zivilgesellschaft. Der korruptionsanfällige Bürokratieapparat hingegen wurde enorm ausgebaut.

    Antikorruptionsinitiativen haben es immer schwerer: Der Fonds für Korruptionsbekämpfung von Alexej Nawalny ist ebenso staatlichen Repressalien ausgesetzt5 wie Transparency International und die INDEM-Stiftung, deren Arbeit durch das Agentengesetz behindert wird. Gleichzeitig haben zuletzt mehrere investigative Recherchen auf Korruption unter einigen Vertrauten von Präsident Putin hingewiesen – und darauf, dass solche Verwicklungen meist straffrei bleiben.6

    Auch in der Bevölkerung ist das Vertrauen gering, dass die Korruption wirksam bekämpft werden kann: In einer kürzlich durchgeführten Umfrage7 geben 70 Prozent der Respondenten an, nicht an ihre wirksame Eindämmung zu glauben (immerhin 44 Prozent sehen allerdings Putin als einen Bekämpfer der Korruption). Nimmt man all diese Voraussetzungen zusammen, so scheint ein Rückgang der Korruption nicht absehbar.


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  • Polittechnologie

    Polittechnologie

    Polittechnologija bezeichnet in Russland und anderen postsowjetischen Staaten ein Menü von Strategien und Techniken zur Manipulation des politischen Prozesses. Politik – als Theater verstanden – wird dabei als virtuelle Welt nach einer bestimmten Dramaturgie erschaffen. Politische Opponenten werden mit kompromittierenden Materialien in den Medien bekämpft, falsche Parteien oder Kandidaten lanciert oder ganze Bedrohungsszenarien eigens kreiert.

    Zwar sehen sich russische Polittechnologen mitunter in europäischer, auf das alte Rom und später Niccolò Machiavelli1 zurückgehender, Tradition. Verwandt ist der Begriff auch mit dem US-amerikanischen Konzept des political Consulting, also der Politikberatung beziehungsweise den spin Doctors: 1996 beispielsweise war ein Team um den Clinton-nahen Richard Dresner kurzzeitig für Boris Jelzin2 tätig, und die Russische Assoziation der Politikberater3 um Igor Mintusow oder Jewgeni Mintschenko versteht sich als Vertretung der PR- und GR4-Berater. Dennoch ist Polittechnologija als ein eigenständiges Konzept zu verstehen, dessen Wurzeln bis auf die Geheimpolizei Ochrana im Zarenreich, auf die psychologische Kriegsführung (aktive Maßnahmen) des KGB und auf die Sowjetpropaganda zurückzuführen sind. Zugleich spielt es auf Werbesprache und französische postmoderne Denker wie Jean Baudrillard oder Roland Barthes an. In Viktor Pelewins Generation P wurde es zudem literarisch verewigt.

    Die Hochzeit der Polittechnologen waren die 1990er und frühen 2000er, in denen Politik über das Fernsehen mit einer entsprechenden Dramaturgie als virtuelle Welt in einem Theater5 vermittelt wurde, ganz nach dem Motto „Nichts ist wahr und alles ist möglich“6. Mehr oder minder kompetitive Wahlen waren von Informationskriegen begleitet, für die Politiker aus Quellen jenseits der legalen Wahlfinanzierung für oft horrende Summen Polittechnologen anheuerten, die den Gegner bekämpften. Zu den Mitteln gehörten graue und schwarze PR7  (Provokationen durch öffentlich gewalttätige Gruppen, das Unschädlichmachen von Medienressourcen des Gegners, das Lancieren von spoiler-Parteien und Doppelgängerkandidaten und so weiter) oder Kompromat – „kompromittierende Materialien“. Diese werden in den Medien über Schmiergeld als sogenannte Sakasucha oder Dshinsa platziert und diskreditieren den Gegner mithilfe frei erfundener Geschichten oder illegal beziehungsweise geheimdienstlich beschaffter Informationen, suggerieren Nähe zur organisierten Kriminalität oder geben Details aus dem Privatleben preis. Zu neueren Formen der Polittechnologie im Internet gehören Hackerattacken und Trollfarmen8, die content entweder lahmlegen oder inhaltlich manipulieren.

    In der gelenkten Demokratie der 2000er Jahre greifen zudem Präsidialadministration (vor allem die Abteilung für Innenpolitik), amtierende Gouverneure oder Bürgermeister auf Administrative Ressourcen zurück, um Wahlen manipulativ für sich zu entscheiden. Dies beinhaltet ungleiche Wahlkampffinanzierung, Instruktionen an staatliche Medien (Temniki), Einschalten von Gerichten und Staatsanwaltschaft gegen Opponenten oder Betrug am Wahltag (wie Zwangsabstimmung bei Staatsangestellten, mehrfache Abgabe von Stimmzetteln oder Fälschungen beim Auszählen).

    In den 1990er und frühen 2000er Jahren gehörten Gleb Pawlowski, Marat Gelman, Igor Mintusow und Sergej Markow mit der Stiftung für effektive Politik zu den einflussreichsten Polittechnologen. Alexej Chesnakow, Konstantin Kostin oder Dimitri Badowski verbanden in ihrer Karriere den Staatsdienst in der Präsidialadministration mit einer Beratungstätigkeit für staatliche Akteure und Einiges Russland oder die Allrussische Volksfront. Andere, wie Dimitri Orlow, spezialisieren sich vor allem auf Parteien oder, wie Michail Winogradow oder Jewgeni Mintschenko, auf die russischen Regionen.

    In der Wahrnehmung der Bevölkerung ist Polittechnologie meist negativ konnotiert und wird oft auch mit Politologie, also Politikwissenschaft, verwechselt, was nicht nur vom manipulativen Charakter des politischen Prozesses im postsowjetischen Russland, sondern auch von der tiefen Krise der Geistes- und Sozialwissenschaften zeugt9.


    1. Nicht von ungefähr ist nach dem Fürstenberater eine der bekanntesten russischen Agenturen benannt: Nikkolom. ↩︎
    2. Zasurskiĭ, I. (2004): Media and power in post-Soviet Russia, New York, S. 72 – 76 ↩︎
    3. rapc-congress.ru: II Kongres Russijskoj associacii političeskich konsulʼtatov (RAPK) ↩︎
    4. government relations ↩︎
    5. Wilson, A. (2005): Virtual politics: faking democracy in the post-Soviet world, New Haven ↩︎
    6. Pomerantsev, Peter: Nichts ist wahr, alles ist möglich ↩︎
    7. Ledeneva, A. V. (2006): How Russia really works: The informal practices that shaped post-Soviet politics and business, New York, S. 28 – 56 ↩︎
    8. The New York Times: The Agency ↩︎
    9. Kharkhordin, O. (2015): From Priests to Pathfinders: The Fate of the Humanities and Social Sciences in Russia after World War II, in: The American Historical Review, 120(4), S. 1283-1298 ↩︎

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  • Symbolischer Wohlstand

    Symbolischer Wohlstand

    Der ungeschriebene russische Gesellschaftsvertrag scheint sich zu wandeln: Statt materieller Sicherheit bietet der Staat seinen Bürgern nun zunehmend eine Art seelischen oder moralischen Bonus. Eine durchaus zweischneidige Art der Kapitalanlage, meint Maxim Trudoljubow von den Vedomosti.

    Wenn das Geld ausgeht, müssen die Herrschenden, wer auch immer es sei, von einer großzügigen Sozialpolitik übergehen zu einem reichen spirituellen Leben. Statt Brot zu verteilen, nährt man selbstlosen Patriotismus. Statt Freiheiten zu gewähren, zieht man die Zügel straff.

    Die Grundlage des ungeschriebenen Vertrags mit dem Kreml war lange Zeit eine ganz und gar materielle: Der Anstieg des Realeinkommens gewährleistete das Einverständnis mit der generellen Linie der Chefetage. Aber in irgendeinem Moment – möglicherweise wegen des Maidans, möglicherweise wegen des Abfalls des Ölpreises – hörte diese Grundlage auf, materiell zu sein. Zwischen den Bewertungen der Wirtschaftslage des Landes und den Popularitätsratings des Kreml besteht insofern kein Zusammenhang.

    Plötzlich war der Wohlstand, der stets das zentrale Thema der Verhandlungen mit der Staatsmacht war, nicht länger materiell sondern symbolisch. Und sogar der wichtigste russische Indikator, den man längst in den Medien anstelle von Börsenindizes und Wechselkursen veröffentlichen müsste – das Beliebtheits-Rating des Präsidenten – spiegelt heute nicht mehr den Sättigungsgrad des Konsumhungers wider, sondern die Verbesserung des symbolischen oder moralischen Selbstgefühls eines bedeutenden Teils der Bevölkerung.

    Es muss viele geben, die zum Glauben ans Symbolische bekehrt wurden – über die gewaltige Zahl sprechen all jene, die Stimmen auszählen und in der Gesellschaft Meinungen zu dem ein oder anderen Thema erfragen (ob man das, was die Menschen im heutigen Russland auf die Fragen in Interviews antworten, als frei geäußerte Meinungen ansehen kann, soll bitte jeder selbst entscheiden).

    Der neue Wohlstand hat wohl kaum direkt etwas zu tun mit der subjektiven Befriedigung im Leben – mit dem, was der Einfachheit halber in verschiedenen internationalen Indizes Glück genannt wird. Das ist ein modischer Kennwert, der seinerzeit sogar das Bruttosozialprodukt ersetzen oder ergänzen sollte. Das Glücksniveau in der Russischen Föderation ist in den Putin-Jahren gestiegen, bleibt aber niedrig. Der Index Happy Planet beispielsweise versucht  zu messen, in welchem Maße ein Staat dazu in der Lage ist, seinen Bürgern ein langes, stabiles und gesundes (auch in ökologischer Hinsicht) Leben zu ermöglichen. Russland steht in diesem Index auf Platz 122 von 151. Im World Happiness Report, der die subjektiv empfundene Lebensqualität erfasst, belegt Russland Platz 64 von 158. Und wenn man den ganz und gar [staats-]loyalen Sozialen Optimismus betrachtet, der von dem russischen Meinungsforschungzentrum WZIOM erhoben wird, so zeigt sich, dass dieser sinkt: Im August 2014 betrug der Index der Lebenszufriedenheit der Russen 77 Punkte, im August 2015 lag er bei 56 Punkten.

    Im Grunde handelt es sich hierbei weder um Zufriedenheit mit dem Leben, noch um Freude über seine hohe Qualität, Dauer oder seine allgemeinen Annehmlichkeiten. Vermutlich ähnelt der russische symbolische Wohlstand einem moralischen Wohlbefinden, das üblicherweise darin besteht, dass man bei einem Streit auf Seiten der Guten ist oder in einem Kampf mit dem Bösen und der Dunkelheit auf Seiten des Guten und des Lichts. Ein tiefes Gefühl der eigenen Richtigkeit, vor dem Hintergrund der Unrichtigkeit aller anderen; die Freude, Teil von etwas Großem und Starkem zu sein; die Befriedigung, es „dem Westen gezeigt zu haben“. Möglicherweise gesellt sich hier auch ein Gefühl von Geborgenheit hinzu – ein Leben hinter Festungsmauern. Dieses Gefühl von Geborgenheit findet übrigens keine faktische Entsprechung, da jeder durch Zufall den Spezialkräften im Namen eben jener Sicherheit zum Opfer fallen kann, doch darum geht es jetzt nicht. Es geht darum, dass die Menschen umgesiedelt sind: aus Russland in eine magische Welt der Symbole.

    Und noch etwas. Es mag eine Festung sein, aber es ist kein Zufluchtsort. Flüchtende aufzunehmen oder solche, die ein besseres Leben suchen, will und kann Russland nicht. Menschen aus anderen Ländern, einschließlich der Syrer oder Ukrainer (an deren Wunsch, ihr Land zu verlassen, Russland heute unmittelbaren Anteil hat), die aufrichtig in Russland leben und arbeiten wollen, haben es extrem schwer, hier unterzukommen. Das Verhältnis zu Migranten in der russischen Festung ist offen feindselig, aber auch das ist offensichtlich Teil des moralischen Wohlbefindens und des symbolischen Wohlstands, der für die Gesellschaft so unabdingbar ist.

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