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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Maria Sacharowa

    Maria Sacharowa

    Seit 2015 spricht zum ersten Mal in der Geschichte eine Frau für das russische Außenministerium. In Talkshows, auf Social Media und beim wöchentlichen Briefing für die internationalen Korrespondenten erklärt Maria Sacharowa Moskaus Sicht auf die Welt – Lügen und Desinformation inklusive. Mit ihr ist ein neuer Kommunikationsstil in die russische Diplomatie eingezogen: Statt Verbindendes zu betonen und Kompromisse zu suchen, setzt er auf Konfrontation und Provokation.

    Um sich vor Augen zu führen, wie Maria Sacharowa Russlands Auftreten in der Welt geprägt hat, hilft es, drei Namen zu nennen: Alexander Lukaschewitsch, Andrej Nesterenko, Michail Kamynin.1 Wer kennt sie noch? Wahrscheinlich niemand. Und selbst in Russland dürfte sich kaum jemand an ihre Gesichter erinnern. Lukaschewitsch, Nesterenko und Kamynin waren Sacharowas Vorgänger als Sprecher des russischen Außenministeriums: altgediente Diplomaten in grauen Anzügen, die in formelhaften Sätzen Dinge sagten, die sich höchstens Spezialisten merken konnten. 

    Spott, Sarkasmus und Eskalation

    Maria Sacharowa ist in jeder Hinsicht anders: Jeder kennt ihr Gesicht, sie ist dauerpräsent auf allen Kanälen, schrill, bisweilen vulgär, und bei manchem, was sie sagt, würde man sich wünschen, man könnte es schnell wieder vergessen. Anstelle diplomatischer Formeln sind Spott und Sarkasmus ihre rhetorischen Mittel. Wenn sie nicht gerade in den Talkshows staatlicher Propaganda-Kanäle auf den verlogenen Westen und die Nazis in Kyjiw schimpft, setzt sie diese Agenda auf Facebook und auf ihrem Telegram-Kanal fort, gerne auch in Reimform.2 Dafür hat sie umso mehr Zeit, seit sie weniger auf Dienstreisen geht: Die Beziehungen mit Europa und den USA liegen seit dem russischen Überfall auf die Ukraine auf Eis, und auch der Name der Außenamtssprecherin steht auf den Sanktionslisten in Berlin, Brüssel und Washington.

    Die Ernennung von Maria Sacharowa zur Sprecherin des russischen Außenministeriums im August 2015 markiert tatsächlich einen Wendepunkt. Sowjetische und russische Diplomaten waren nie leichte Verhandlungspartner. Aber seit der Krim-Annexion zeigt Moskau immer häufiger, dass es gar kein Interesse an Verhandlungen hat (und begründet das damit, dass der Westen im Allgemeinen und insbesondere die USA ohnehin ein falsches Spiel spielten). Russland verlässt den Europarat,3 kündigt Verträge zu Rüstungskontrolle4 und als bereits mehr als hunderttausend russische Soldaten an der ukrainischen Grenze stehen, fordert Putin den Rückzug der NATO auf den Stand von 19975 – ein Ultimatum, von dem er weiß, dass es nicht erfüllt werden kann.

    Zu einer Politik der Drohungen passt eine Sprache der Häme und Eskalation. Nicht ein tragfähiger Kompromiss wird als Erfolg gewertet, sondern wenn ein saftiger Satz Sacharowas für die Politik-Talkshows des Fernsehens taugt und sich als Meme im Netz verbreitet. Die Formulierung: „Maria Sacharowa hat XY in die Schranken gewiesen“ taucht in hunderten Meldungen staatlicher Medien auf.6 Mal ist es ein britischer Journalist, den Sie „auf den Topf setzt“, mal der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell. „Wenn Sie kein russisches Gas mögen, heizen Sie doch mit Ihrer Zeitung“, verspottet sie den Chefredakteur der italienischen La Repubblica.7

    Wenn Mittwochs das wöchentliche Briefing für die internationalen Medien stattfindet, ziehen die Korrespondenten im Pressezentrum des Außenministeriums schon vorsorglich die Köpfe ein: Früher haben Sprecher Fragen beantwortet. Sacharowa dagegen nutzt die Gelegenheit, um den Journalisten die Leviten zu lesen. Als sich ein finnischer Journalist 2017 nach dem Schicksal der Männer erkundet, die in Tschetschenien als schwul diffamiert, gefoltert und ermordet wurden, empfahl ihm Sacharowa, doch nach Grosny zu fahren, und diese Frage direkt an den Republikchef Ramsan Kadyrow zu richten – eine kaum verhohlene Drohung.8

    In den Fußstapfen des Vaters

    Dabei wird Maria Wladimirowna Sacharowa 1975 buchstäblich in die Welt der sowjetischen Diplomatie hineingeboren, die Weltläufigkeit ist ihr in die Wiege gelegt: Ihr Vater Wladimir Sacharow ist Asien-Spezialist im sowjetischen diplomatischen Dienst. Als Maria sechs Jahre alt ist, wird er an die Botschaft nach Peking versetzt und nimmt die ganze Familie mit. Ihre Mutter ist Kunsthistorikerin. Das China der 1980er Jahre wirkt im Vergleich zur UdSSR zurückgeblieben. Während in der Heimat die Ära der Stagnation andauert, können sich die sowjetischen Diplomaten in China als Vertreter des ersten sozialistischen Staates noch überlegen fühlen.
     
    Als die Familie 1985 nach Moskau zurückkehrt, beginnt Gorbatschow gerade, den Staat zu reformieren. 1990 geht es wieder nach Peking, und Sacharowa erlebt das Ende der Sowjetunion in China. Als sie 1993 erneut nach Moskau zurückkehrt, hat sich die alte Supermacht aufgelöst und die sowjetische Elite, in der Sacharowa aufgewachsen ist, hat ihre Privilegien verloren. Dennoch will sie in die Fußstapfen des Vaters treten, doch der hält nichts davon; die Diplomatie war in der Sowjetunion eine Männerdomäne. Also studiert Sacharowa an der Diplomatenschmiede des Moskauer Instituts für Internationale Beziehungen (MGIMO) Auslandsjournalismus. Während des Studiums arbeitet sie in der Presseabteilung des Außenministeriums und als Fremdenführerin für chinesische Touristen in Moskau. Nach ihrem Abschluss 1998 bekommt sie ihre erste Stelle als Redakteurin der Monatszeitschrift Diplomatischer Bote, in der das Außenministerium Reden und Verträge veröffentlicht – eine nicht besonders aufregende Aufgabe. Von 2003 bis 2005 leitet Sacharowa die Abteilung im Außenministerium, die die internationale Presse auswertet. Dann wird sie nach New York versetzt als Pressesprecherin der russischen Vertretung bei den Vereinten Nationen.

    Als der Präsident Dimitri Medwedew 2009 zur Generaldebatte bei den Vereinten Nationen nach New York reist, wird seine Sprecherin, Natalja Timakowa, dort auf Sacharowa aufmerksam. Medwedew gilt damals noch vielen als liberale Hoffnung und seine Sprecherin pflegt einen moderneren und offeneren Kommunikationsstil, als er bisher im Kreml üblich war. Dem liberalen Fernsehsender Doshd steht Timakowa wohlwollend gegenüber.9 Auf ihre Empfehlung hin holt Sergej Lawrow Sacharowa zurück nach Moskau und befördert sie zur stellvertretenden Leiterin seiner Presseabteilung. Dort nimmt sie sich des Themas Social Media an, das bisher nur ein Nischendasein im Presseamt führte. Wie Twitter und Facebook funktionieren und welche Bedeutung sie haben, lernt Sacharowa ausgerechnet von Michail Sygar, dem späteren Chefredakteur von Doshd. In den frühen Medwedew-Jahren scheint eine Liberalisierung des Landes vielen noch wie ein Naturgesetz, ebenso wie der wachsende Wohlstand. Die Boheme aus Medienleuten und IT-Unternehmern trifft sich mit jungen Staatsbediensteten wie Sacharowa auf denselben Veranstaltungen und Partys. Mit Putins Rückkehr in den Kreml und der Niederschlagung der Proteste im Winter 2011/2012 beginnen sich die Lager zu teilen. Sacharowa geht als eine von wenigen Regimevertreterinnen weiter in die Sendungen von Doshd und ist regelmäßig auf Radio Echo Moskwy zu hören. Im Mai 2020 willigt sie sogar zunächst ein, eine Debatte mit Alexej Nawalny zu führen, der da schon lange von allen Staatsmedien totgeschwiegen wird, macht dann aber im letzten Moment einen Rückzieher. Zwei Jahre später lebt ein Teil der Menschen, mit denen Sacharowa verkehrte, in der Emigration und sie selbst befeuert im Fernsehen den staatlich verordneten Hurra-Patriotismus. Das US-Außenministerium porträtiert sie unter der Kategorie Faces of Kremlin Propaganda.10

    Wie bei ihrem Chef Sergej Lawrow paaren sich bei Sacharowa Intelligenz, großes Wissen, Arroganz und Chuzpe. Sacharowa spricht neben Englisch auch Mandarin und hat nebenbei noch promoviert. Als erste Frau in ihrem Amt hat sie ihrem Vater bewiesen, dass er Unrecht hatte: Neben dem Außenminister selbst ist sie heute das Gesicht und die Stimme der russischen Außenpolitik. Sacharowa hat einen neuen Stil geprägt. Einen Stil, in dem es nicht darum geht, Verbindendes zu finden, sondern zu polarisieren. Ihre schrillen Auftritte sind Teil dieses Programms: Mal posiert die Diplomatin in Hotpants für ein Selfie, mal beschwört sie in scharlachrotem Mantel zum Jahrestag der Krim-Annexion die traditionellen Werte eines heiligen Russlands. Mal isst sie mit frivoler Geste vor der Kamera Erdbeeren, mal tanzt sie zur Eröffnung des ASEAN-Gipfels in Sotschi Kalinka11 für die versammelten Staatsgäste. 

     

    Maria Sacharowa auf einem Konzert anlässlich des achten Jahrestags der Krim-Annexion am 18. März 2022 im Moskauer Lushniki-Stadion / Foto © Alexander Vilf/Itar-Tass, Imago

    Als Leiterin der Presseabteilung des Außenministeriums gehört Sacharowa seit 2015 auch zum Kreis derjenigen, die sich zu regelmäßigen Briefings in der Präsidialverwaltung einfinden. Dort gibt der stellvertretende Leiter der Präsidialverwaltung Alexej Gromow12 die Agenda für die staatlichen Medien vor. Er legt fest, welche Themen hochgezogen, und welche verschwiegen werden, wer gefeiert und wer verspottet wird und wie aktuelle Ereignisse zu deuten sind. Die Runde ist die Herzkammer zur Gleichschaltung der russischen Medien und Maria Sacharowa kommt dabei die Rolle zu, diesen Spin auch in den internationalen Medien zu platzieren.

    Argumente und Stringenz sind dabei nachrangig. Getreu der Linie des Kreml leugnet Sacharowa bewiesene Fakten wie den Abschuss der malaysischen Boeing auf Flug MH17 oder die Massaker der russischen Armee in Butscha und streut Desinformationen. Im November 2017 behauptet sie in einer Fernsehsendung, das Weiße Haus in Washington habe Osama bin Laden empfangen – das Bild, das den Initiator der Anschläge auf das World Trade Center beim Shake Hands mit Hillary Clinton zeigt, ist ein Fake, der schon lange im Netz zirkuliert.13 Er wird umgehend entlarvt, aber das ist egal: Es geht eben nicht um rationales Überzeugen, sondern darum, das Publikum von den (für Russland oft nicht besonders günstigen) rationalen Argument weg auf emotionales Glatteis zu führen. Und darin ist Sacharowa eine Meisterin. 


    1. Ministerstvo inostrannych del Rossijskoj Federacii: Stranicy istorii ↩︎
    2. Maria Zarachova/Telegram am 21. Juni 2022 ↩︎
    3. Spiegel Ausland: Russland leitet Verfahren für Austritt aus Europarat ein ↩︎
    4. Wachs, Lydia (Stiftung Wisschenaft und Politik, 03.03.2023): New Start vor dem Aus? Rüstungskontrolle als Teil Moskaus nuklearer Erpressungsstrategie ↩︎
    5. Fischer, Sabine (Stiftung Wissenschaft und Politik, 22.12.2021): Moskaus Verhandlungsoffensive ↩︎
    6. „Marija Zarachova postavila na mesto …“ ↩︎
    7. RIA Novosti: Zarachova predložila glavredu la Repubblica topit‘ dom svoimi gazetami ↩︎
    8. YouTube/Meduza: Marija Zarachova otpravljaet finskogo žurnalista v Čečniju iskat‘ geev ↩︎
    9. Novaya Gazeta: Natal’ja Sindeeva: «Medvedev ne sobiralsja u nas rabotat’» ↩︎
    10. U.S. Department of State: Faces of Kremlin Propaganda: Maria Zakharova ↩︎
    11. YouTube/Krym.Realii: Predstavitel‘ MID Rossii stancevala «kalinku» na sammite ↩︎
    12. Gromow war Putins erster Pressesprecher nach dessen Ernennung zum Präsidenten 1999, bis er 2012 von Dimitri Peskow abgelöst wurde. 2012 machte ihn Putin zu Beginn seiner dritten Amtszeit zum stellvertretenden Leiter der Präsidialverwaltung. Zu seinen Aufgaben gehört die Gleichschaltung der Medien. ↩︎
    13. BBC: Reality Check: Was Hillary Clinton photographed with Osama Bin Laden? ↩︎

    Weitere Themen

    Undiplomatische Diplomatie

    Die Geschichte der NATO-Osterweiterung

    Das Massaker von Butscha

    Protestbewegung 2011–2013

  • „Aus Putins Sicht ist das Problem gelöst“

    „Aus Putins Sicht ist das Problem gelöst“

    Dass ein Vertrauter von Putin den Kreml direkt herausfordert und mit schweren Waffen auf die Hauptstadt zumarschiert, erschien am 23. Juni ungeheuerlich. Bei seinem „Marsch“ sagte Prigoshin Dinge, für die Oppositionelle in Russland viele Jahre Haft bekommen würden: Weder die Ukraine noch die NATO hätten eine Bedrohung für Russland dargestellt. Der Krieg sei nur begonnen worden, „weil ein paar Typen sich aufplustern wollten“. 

    Putin reagierte in einer Videobotschaft: „[…] womit wir es hier zu tun haben, ist Verrat. Unverhältnismäßige Ambitionen und persönliche Interessen haben zum Betrug geführt“. Am 29. Juni soll Putin offiziellen Angaben zufolge Prigoshin im Kreml empfangen haben.  

    War das nun ein Militärputsch? Еine Spaltung der politischen Elite? Ist Putin wirklich angezählt? The Bell hat mit dem Politikwissenschaftler Grigori Golossow gesprochen.

    Denis Kassjantschuk: Gleich nach dem Aufstand waren sich westliche Experten relativ einig, dass Putins Regime einen schweren Schlag erlitten habe. Ist das tatsächlich so? 

    Grigori Golossow: Ich weiß nicht, wieso sie das denken. Eigentlich hat Putin ein ernstes Problem, das ihm schon lange bewusst war, verhältnismäßig leicht gelöst – das Problem Prigoshin. Wie hätte Putin denn sonst erreichen können, dass sich die Wagner-Strukturen dem Verteidigungsministerium unterordnen, was ganz klar das Ziel der russischen Staatsmacht war. 

    Wie wird Prigoshin nun einen neuen Platz für sich finden? 

    Das ist die Frage. Aber Tatsache ist, dass jene, die am Aufstand beteiligt waren, nicht mehr wie früher Putins Vertrauen genießen werden (wenn sie es denn je genossen haben). Und insgesamt hat der russische Präsident infolge der jüngsten Ereignisse seine Kontrolle über die Sicherheits- und Machtstrukturen eher gestärkt. 

    In Russland wird oft von einem Kampf der Eliten gesprochen, von einem „Krieg zwischen unterschiedlichen Türmen des Kreml“​. Aber wirklich manifestiert hat sich dieser Kampf für das breite Publikum nie. Ist Prigoshins Aufstand eine solche Manifestation? Oder ist Prigoshin eine zufällige Erscheinung, eine Randfigur, deren Handlungen die Prozesse in den russischen Eliten nicht widerspiegeln?

    Ein Großteil dessen, was über die „Türme des Kreml“ gesagt wurde, war reine Phantasie. Was Prigoshins Handlungen betrifft, ist klar, dass er von der herrschenden Klasse ziemlich weit entfernt stand und dort kein sonderlich großes Vertrauen genoss. Mehr noch, er machte nie einen Hehl aus den tiefen Zerwürfnissen, die zwischen ihm und dieser Klasse bestehen. Prigoshins Aufstand lässt sich also nur im weitesten Sinne als Manifestation dessen interpretieren, was in den russischen Medien normalerweise als „Spaltung der Eliten“ bezeichnet wird. 

    Viele Beobachter fragten sich in den Monaten vor dem Aufstand: Warum stopft Prigoshin keiner das Maul? Warum lassen sie ihn vor aller Welt den Verteidigungsminister und den Generalstabschef grob beschimpfen? Und bedeutet das, dass die Situation für den Kreml außer Kontrolle gerät? War dem so?

    Das ist eine ziemlich naive Frage, wenn man bedenkt, welch kolossale Rolle die Söldnertruppe Wagner bis zuletzt auf dem Schlachtfeld spielte. Wie hätte man sie aus dem Weg räumen können, wenn doch sie es waren, die Bachmut eingenommen haben. Und das war die entscheidende Schlacht in der vorangegangenen Etappe der Kampfhandlungen.

    Genau das ist ja der Punkt, dass Prigoshin für Putin zum Problem wurde, weil man ihn nicht ausschalten konnte. Man musste ihn aber ausschalten, weil seine politischen Ambitionen offensichtlich wurden.  

    Wie kamen diese Ambitionen zum Ausdruck?

    Prigoshin strebte danach, als politische Figur in der Öffentlichkeit zu stehen. Er machte zutiefst politische Vorwürfe – die Regierung sei ineffektiv, deshalb sei die herrschende Klasse ineffektiv, korrupt und unfähig, die Interessen von Volk und Staat zu vertreten. Das ist eine populistische Position, die bei Wahlen gut funktioniert. Ich glaube zwar nicht, dass Prigoshin in nächster Zeit bei irgendwelchen Wahlen kandidieren wollte. Aber dass er schon begonnen hatte, sich nicht nur als militärischer Führer, sondern auch als Politiker einen Namen zu machen, das war ganz offensichtlich.

    Und ich nehme an, für Putin war das ein Teil des Problemkomplexes, der mit Prigoshins mangelhafter Loyalität zu tun hatte. Dieses Problem ist aus Putins Sicht jetzt gelöst. Und ich sehe das genauso.

    Es zeigt sich: Solange Putin an den Kontrollhebeln sitzt, hat Prigoshin keine Chance, in Russland eine politische Rolle zu spielen. Wenn sich die Situation grundlegend ändert und Prigoshin dann noch lebt und er sein in den letzten Monaten erarbeitetes politisches Kapital weiterentwickeln will, dann können sich für ihn durchaus realistische Perspektiven auftun. Sein politisches Kapital ist zwar nicht gerade groß, aber unter bestimmten Bedingungen durchaus ausbaufähig.

    Wahrscheinlich ist Putin die mangelnde Effektivität von Schoigu und Gerassimow bewusst, aber dafür sind sie so loyal

    Was meinen Sie, was war Prigoshins Ziel? Und warum hat er es nicht erreicht?

    Prigoshin hat klar gesagt, dass sein Ziel ein Führungswechsel im Verteidigungsministerium ist. Das glaube ich ihm. Wenn Prigoshin das gelungen wäre, dann wäre sein Einfluss nicht nur auf das militärische Establishment, sondern auch auf Putin kolossal gestiegen: Die Personen, die Schoigu und Gerassimow abgelöst hätten, hätten mehr in Prigoshins Gunst gestanden als unter der Kontrolle des Präsidenten. 

    Das ist der Grund, warum Putin sich darauf nicht einließ. Wahrscheinlich ist ihm die mangelnde Effektivität von Schoigu und Gerassimow bewusst, aber er schätzt sie für ihre Loyalität und glaubt, dass er sich rückhaltlos auf sie verlassen kann. Ich glaube, dass für ihn deshalb ein Rücktritt von Schoigu und Gerassimow nicht in Frage kam.

    Eine weit verbreitete Meinung über Putin ist, dass er Verrat nicht verzeiht. Bedeutet das, dass Prigoshin keine Ruhe mehr finden wird?

    Sobald Putin der Meinung ist, dass er seinen Teil der Abmachungen erfüllt hat und dass alle Fragen zu den Aktivitäten der Söldnertruppe Wagner in und außerhalb Russlands geklärt sind, kommt der Moment, von dem an Putin zu dem Schluss kommt, dass er mit Prigoshin nach eigenem Gutdünken verfahren kann. Und dann kann es durchaus sein, dass er sich an ihm rächen wird. Doch Prigoshin – der kann für seine Sicherheit sorgen. Was weiter mit ihm geschehen wird, ist also nochmal ein eigenes Thema.

    Wird es jetzt Säuberungen geben?

    Möglicherweise werden einige Offiziere mittlerer und sogar höherer Ränge ausgetauscht. Doch wenn es Umstellungen auf höchster militärischer Führungsebene gäbe, dann hieße das, dass Prigoshin sein Ziel erreicht hat. Deswegen sind solche Umbesetzungen nicht zu erwarten. 

    Im Westen ist die Meinung verbreitet, dass es für Putin schwer, wenn nicht sogar unmöglich sein wird, sein Ansehen bei den Russen wiederherzustellen. Was denken Sie darüber?

    In der politisierten Öffentlichkeit ist das Bild entstanden, die russische Führung sei geschwächt. Aber diese Vorstellung gab es auch früher schon. Sie wurde von einflussreichen Bloggern wie Girkin-Strelkow und anderen, die für den Krieg sind, kultiviert. Weit verbreitet war auch eine Skepsis gegenüber den Methoden, mit denen die Militäroperation geführt wurde. Diese Skepsis wurde auf die allgemeine Vorstellung von der Effektivität der russischen Regierung projiziert. 

    Wahrscheinlich hat sich diese Skepsis nach dem Aufstand ein wenig verstärkt. Aber man muss wissen, dass es sich da um eine vergleichsweise kleine Gruppe extrem politisierter Bürger handelt. Natürlich gibt es auch eine andere Gruppe von Bürgern, die Putin schon lange nicht unterstützt und seiner Regierung gegenüber immer skeptisch eingestellt war. Ich nehme an, dass sie zahlenmäßig größer ist als die der „Turbopatrioten“. Aber bezüglich jener Gruppe, die Putin nie unterstützt hat, hat sich ganz bestimmt nichts verändert: Sie waren früher nicht für ihn und sind es auch jetzt nicht. 

    Eine landesweite Unterstützung für Putin war während des Aufstands auch nicht zu sehen. Wie so oft musste der Kreml Staatsbedienstete mobilisieren, um Unterstützung vorzutäuschen. Was bedeutet das? Dass Putins Rückhalt übertrieben dargestellt wird?

    In Russland gab es nie eine Unterstützung für Putin, die in irgendeiner politischen Handlung hätte zum Ausdruck kommen können. Das liegt in der Natur des russischen Regimes, das darauf setzt, dass die Bürger sich aus der Politik heraushalten. Es wäre seltsam, wenn die Leute spontan auf die Straße gehen, eine Niederschlagung des Aufstands fordern und ihre Begeisterung für Putin zum Ausdruck bringen würden. Für Massenaktionen braucht es organisatorische Mechanismen. Doch das russische Regime ist so angelegt, dass unabhängig davon, wie viel Unterstützung Putin erfährt, derartige Demonstrationen gar nicht möglich sind. 

    Die Mehrheit der Russen hat ihren Schluss gezogen: Es ist noch einmal gut gegangen 

    Welche Schlüsse können die Russen aus den Ergebnissen dieses Aufstands überhaupt ziehen? Und bringt das die Staatsmacht ins Wanken?

    Die überwiegende Mehrheit der Russen hat meiner Einschätzung nach ihren Schluss gezogen: Es ist noch einmal gut gegangen. Das ist alles, was der großen Masse der Bevölkerung durch das Geschehen klar geworden ist. Ich glaube, viele haben diesen Aufstand als Bedrohung empfunden, vor allem die Moskauer. Aber es hat sich ja alles erledigt, na wunderbar.  

    Und die Eliten? Kommt es da zu einer Spaltung oder rücken sie jetzt noch näher um Putin zusammen?

    In der herrschenden Klasse herrscht schon lange eine negative Einstellung bezüglich Putins Handlungen. Die meisten in der russischen Elite fühlen sich von Putin hintergangen.

    Was lernen sie daraus? Die meisten neigen, nehme ich an, zu der Ansicht, dass Putin ihnen Probleme eingebrockt hat. Aber diese Probleme sind ihrer Meinung nach wiederum leichter unter Putins Mitwirkung zu lösen, wenn er an der Macht bleibt. Und sie glauben, dass das immer noch möglich ist. Und Putin nährt diesen Glauben natürlich nach Kräften. 

    Was ist jetzt Putins größte Herausforderung?

    Seine größte Herausforderung besteht darin, aus der Situation wieder herauszufinden, die er letztes Jahr im Februar geschaffen hat. Offenbar vor diesem Hintergrund schenkt Putin dem wachsenden Unmut in der herrschenden Klasse einiges an Aufmerksamkeit, er erwartet von seinen Sicherheitsdiensten, dass sie eventuell auftretende Unmutsbekundungen rasch unterbinden.

    In seiner Rede hat Putin den Westen beschuldigt, diesen Aufstand organisiert zu haben. Worin besteht die Logik dieser Vorwürfe, wenn wir doch genau wissen, wer der Organisator und die Hauptperson des „Marsches der Gerechtigkeit“ war?    

    Nun, hier gibt es keine Logik. Das ist die übliche Rhetorik: An allem Schlechten, was in Russland passiert, ist der Westen schuld

    An der Beziehung zwischen Putin und Lukaschenko hat sich nichts geändert

    Einige sagen, dass es für Putin die größte Erniedrigung war, sich auf Alexander Lukaschenkos Vermittlung verlassen zu müssen. Welche Rollen spielen die beiden jetzt füreinander ?

    Ich glaube nicht, dass Putin das als Erniedrigung empfindet. Er betrachtet Lukaschenko schon lange als seinen Juniorpartner. Wenn der Juniorpartner dem Senior bei der Lösung von Problemen helfen kann, dann ist das aus dem Blickwinkel der geschäftlichen und politischen Logik Russlands ein völlig normales Phänomen. Und da hat sich in der Beziehung zwischen Putin und Lukaschenko auch nichts geändert.

    Lukaschenko hat Putin einen wichtigen Dienst erwiesen und ist jetzt womöglich der Meinung, dass der russische Präsident in seiner Schuld steht. Aber die Balance ihrer Beziehung hat sich keineswegs verändert. Das ist eine ungleiche Partnerschaft mit Putin in der Führungsrolle.  

    Für den militärischen Aufstand und die Piloten, die dabei umkamen, wurde niemand bestraft. Was denken Sie, warum verzichtet die Staatsmacht hier auf Ermittlungen?

    Wegen diverser Umstände, die uns im Detail nicht bekannt sind, hat Putin beschlossen, sein Versprechen gegenüber Prigoshin zu halten. Dazu gehört, dass die Anschuldigungen gegen ihn fallengelassen werden und Prigoshin sich mit einem Teil seiner Anhänger nach Belarus absetzen kann. Aber das ist nur das, was wir wissen. 

    Vielleicht hat Prigoshin noch weitere Garantien bekommen. Tatsache aber ist, dass Putin ganz einfach Wort hält, und zwar jenseits jeder Rechtslogik, auf die Sie verweisen. Das sind in höchstem Maße politische Handlungen. Dass Justiz und Verwaltung in Russland politisiert sind, ist nichts Neues. Jetzt sehen wir ein weiteres Mal, dass politische Erwägungen weit über dem Gesetz stehen. 

    Prigoshins Aktion war kein versuchter Militärputsch. Es war ein Aufstand mit dem Ziel, konkrete Ziele durchzusetzen

    Sie haben bereits vor dem Aufstand geschrieben, dass eine militärische Revolte eines der Zukunftsszenarien Russlands sei. Sehen Sie das immer noch so? Oder werden jetzt die Schrauben angezogen, damit das so schnell keiner mehr versucht?

    Dass es eine militärische Revolte geben wird, habe ich nicht geschrieben. Allerdings musste man kein Prophet sein, um mit radikalen Aktionen von Prigoshin zu rechnen. 

    Was eine weitere Verschärfung der Sicherheitskomponente in der russischen Politik angeht, so folgt sie aus der Entwicklungsdynamik eines politischen Regimes, das sich unter Bedingungen des Krieges immer stärker auf die Streitkräfte und den Sicherheitsapparat verlassen können muss. Und wenn ein Land von einer solchen Dynamik erfasst wird, dann erhöht das generell die Möglichkeit einer militärischen Revolte.  

    Aber wie sieht eine solche Revolte aus? Das wiederum ist eine Frage, die von der Dynamik des Regimes abhängt. Militärische Revolten können ganz unterschiedlich sein. Es gibt Situationen, in denen die Sicherheitsstrukturen zusammen mit den Streitkräften die Macht an sich reißen und ein konsolidiertes Regime errichten, das ziemlich lange bestehen kann, wie das etwa in den 1970er Jahren in Chile der Fall war. Eine solche Wendung halte ich in Russland für extrem unwahrscheinlich.   

    Aber es gibt auch Situationen, in denen sich innerhalb der Sicherheitsstrukturen schwere Spannungen bemerkbar machen. Und dann kann eine unkonsolidierte Militärregierung entstehen. Solche Regimes halten nicht lange. Häufig lösen sie einander ab, ohne sich grundlegend voneinander zu unterscheiden. So etwas ist in Russland durchaus möglich, zeichnet sich aber derzeit nicht ab.

    Ich möchte aber noch einmal betonen, dass Prigoshins Aktion kein versuchter Militärputsch war. Es war ein Aufstand mit dem Ziel, konkrete Ziele durchzusetzen. Und selbst wenn die Aufständischen erfolgreich gewesen wären, hätten sie nicht ein Militärregime installiert, sondern einen Ausbau des Sicherheitsapparats in den Strukturen des russischen Regimes forciert. 

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  • Alexej Djumin

    Alexej Djumin

    „Torhüter Djumin ist einer, der galant den Puck ins Tor gleiten lässt, wann immer Wladimir Putin zum Schuss ansetzt.“1 Diese Szene aus der Nachthockeyliga, in der Alt-Stars gegen auserlesene Vertraute Putins antreten, steht bildlich für das innige Vertrauensverhältnis zwischen Putin und seinem ehemaligen Leibwächter. Im Februar 2016 ernannte Putin den damals 43-Jährigen zum Interimsgouverneur der unweit von Moskau gelegenen Oblast Tula. Kurz darauf bezeichnete der legendäre Journalist Sergej Dorenko, damals Chefredakteur des Radiosenders Goworit Moskwa, Djumin als wahrscheinlichsten Nachfolger Putins. Dorenko begründete sein Bauchgefühl folgendermaßen:

    „Djumin würde das politische Erbe Putins niemals in Frage stellen und lässt auch Putin selbst nie im Stich. Er wäre ein hervorragender Präsident für die Silowiki der Armee und alle anderen. Er ist ebenso hervorragend als Garant der Sicherheit für einen ruhigen Lebensabend.“2

    Seither sind über sieben Jahre vergangen. Djumin ist immer noch Gouverneur der Oblast Tula. Doch sein Stern leuchtete wieder auf, als Berichte über seine entscheidende Rolle bei der Abwendung des Vormarschs von Prigoshins Söldnertruppen erschienen. Manche sehen ihn bereits als potenziellen neuen Verteidigungsminister. 

    Bis zu seiner Berufung zum Gouverneur schien Alexej Djumin eine steile Karriere hinzulegen. Geboren am 28. August 1972 in Kursk, unweit der ukrainischen Grenze, erlangte er 1994 sein Diplom an der Woronesher Höheren Militäringenieurshochschule für Radioelektronik. Daraufhin war der Ingenieur für Nachrichtentechnik zwei Jahre bei der russländischen Luftwaffe tätig. Anschließend arbeitete er beim Föderalen Bewachungsdienst (heute Federalnaja Slushba Ochrany, FSO, damals noch Hauptabteilung für Bewachung). Der Nachrichtendienst ist nicht nur für die Sicherheit hochrangiger Staatsbediensteter im In- und Ausland zuständig, sondern auch für verschlüsselte Kommunikation. Im August 1999 wechselte Djumin in den Sicherheitsdienst des Präsidenten (Slushba Besopasnosti Presidenta, SBP), der wichtigsten Einheit des FSO. Bei diesem Aufstieg halfen auch Familienbeziehungen. Djumins Vater Gennadi – ein Militärarzt – trug durch seine Freundschaft mit dem Verteidigungsminister Pawel Gratschow (1992–1996) insbesondere in den 1990er Jahren zum Einstieg in den FSO und die folgende Karriere im Sicherheitsdienst bei. Diesen Werdegang bis hin zum stellvertretenden Leiter der Behörde hat Djumin sicherlich auch seiner Sozialisation in einer Militärfamilie und -hochschule mit ihrer hierarchischen Struktur zu verdanken. Dazu kommt seine frühe Bekanntschaft mit den informellen Praktiken des russischen „crony capitalism“ – ein Wirtschaftssystem, in dem der Staatsdienst mit persönlicher Bereicherung einhergeht.3 

    „Putin vertraut uns genauso wie sich selbst“

    Im Laufe der ersten beiden Amtszeiten war es hauptsächlich die bedingungslose Loyalität gegenüber Putin, die Djumins Aufstieg begünstigte. „Putin vertraut uns genauso wie sich selbst.“ So beschrieb Djumin einmal das Verhältnis zwischen dem russischen Staatschef und seinen engsten Leibwächtern.4 Djumin streitet ab, jemals Putins persönlicher Adjutant gewesen zu sein. Allerdings sprechen einige Details seiner Biographie dafür, die Djumin von regulären Offizieren des präsidialen Sicherheitsdienstes unterscheiden.5

    Zum einen gab er selbst in einem Interview preis,6 informelle Botschaften und Aufträge von Putin direkt an Minister und Gouverneure weitergegeben zu haben. Aufgrund seiner Nähe zum Präsidenten avancierte er zum Lobbyobjekt und Gatekeeper, der den Zugang zum Staatsoberhaupt regelte und Informationen überbringen konnte. Zudem war Djumin nicht nur Torhüter in der Nachthockeyliga und spielte mit Putin-Vertrauten, – wie Verteidigungsminister Sergej Schoigu, dem Gouverneur der Region Moskau Andrej Worobjow, dem ehemaligen Innenminister Raschid Nurgalijew oder den Oligarchen Arkadi Rotenberg und Gennadi Timtschenko – er stieg auch zum Vorsitzenden des Aufsichtsrats der Liga auf. 2012 fungierte er zeitweilig als Berater von Gennadi Timtschenko und dessen Petersburger Eishockeyklub SKA. Darüber hinaus erhielt Djumin während seiner Zeit im SBP Zugang zu exklusiven Grundstücken, die in der Nähe von Putins Residenzen in Nowo-Ogarjowo (Rubljowka) und im Waldai liegen. Letztlich sprechen mehrere Weiterbildungen dafür, dass Djumin in Putins Kaderreserve für höhere Aufgaben war: 2009 promovierte7 er mit einer Arbeit über Global Governance in der G8 an der RANCHiGS. 2013 absolvierte er eine Fortbildung in der Militärakademie des Generalstabs der russländischen Streitkräfte.

    Djumin blieb auch Putins Leibwächter, als dieser in der Zeit der „Tandem-Herrschaft“ zwischen 2008 und 2012 Premierminister war. Die Rückkehr Putins ins Präsidentenamt im Zuge der Rokirowka markierte nicht nur einen Bruch für das Putin-Regime. Eine weitere Herausforderung bestand darin, einen graduellen Generationenwandel in der Staatsverwaltung zu befördern, ohne dabei die Regimestabilität – und damit vor allem Putins Sicherheit – zu gefährden. Einige vormals hochrangige Sankt Petersburger Tschekisten mussten ihren Platz in der Elite verlassen. Als Ausgleich für das Bröckeln des Kooperativs Osero und die fortschreitende Alterung der verbleibenden Silowiki zog Putin eine Kohorte von Leibwächtern heran, zu denen er über die Jahre ein enges Vertrauensverhältnis aufgebaut hat.8 Deren herausragendster Vertreter war Alexej Djumin. Ab 2013 kommandierte er die Sondereinsatzkräfte des Generalstabs. Diese Eliteeinheit übernahm besonders heikle Aufgaben, etwa bei der Annexion der Krim. Putin zeigte sich zufrieden und bekleidete Djumin mit Orden. 2015 folgte eine Beförderung zum Stabschef und stellvertretenden Oberkommandeur des russländischen Heeres. Bis zum Ende desselben Jahres stieg Djumin sogar zum stellvertretenden Verteidigungsminister auf. In dieser Position verblieb er allerdings weniger als zwei Monate. Anfang Februar 2016 ernannte Putin ihn zum Interimsgouverneur der Oblast Tula – ein vorläufiger Karriererückschritt, dem möglicherweise ein unterschwelliger Konflikt mit Verteidigungsminister Schoigu vorausging.

    Ein Regionalpolitiker auf Zeit mit föderalem Lobbypotenzial

    Von Beginn an galt Djumins Versetzung nach Tula in der öffentlichen Wahrnehmung als eine Zwischenstation, sein Weg sollte zurück in die föderale Exekutive führen. Nicht nur begannen im Jahr 2016 die Spekulationen, Djumin könne im Rennen für die Putin-Nachfolge sein. Er stand auch laut Medien regelmäßig in der engeren Auswahl für prestigeträchtige Posten wie die Ministerien für Verteidigung oder Industrie und Handel. Dennoch versuchte Djumin von Beginn an, seine Moskauer Elitenetzwerke für sich und, bis zu einem gewissen Grad, für die Oblast Tula zu nutzen. Gleichzeitig weckten Unternehmen in der Oblast Tula vermehrt Interesse bei föderalen Eliteakteuren. Über diese versprach man sich Zugang zu Djumin und damit indirekt zu Putin, da dieser trotz Djumins Ausscheidens aus der Leibgarde für ihn weiterhin ein offenes Ohr behielt.

    Schon seit der Zarenzeit ist Tula ein Standort für Waffenproduktion. Auch heute noch ist die Region eines der wichtigsten Zentren der russländischen Rüstungsindustrie: Über ein Dutzend strategische Unternehmen des militär-industriellen Komplexes haben hier ihren Firmensitz. Das Gros dieser Waffenschmieden kontrolliert der von Sergej Tschemesow geleitete Rüstungskonzern Rostec. Aber auch das global agierende Unternehmen Almas-Antei, dessen Vorstand der ehemalige Premier und Ex-Chef des Auslandsgeheimdienstes Michail Fradkow9 ist, hat in der Region eine bedeutende Präsenz. 

    Djumin ist Präsidiumsmitglied des Staatsrats – das wichtigste Koordinationsgremium zwischen dem föderalen Zentrum und den Regionen. Seit Dezember 2020 hat er den Vorsitz des Staatsratsausschusses für Industrie inne. Damit gehört Djumin zu den zentralen Funktionären des militär-industriellen Komplexes. Eines der letzten Treffen von Putin mit den Chefs der größten Rüstungsunternehmen fand etwa im Dezember 2022 in Tula statt.

    Djumins tiefe Verwurzelung im russischen Elitenetzwerk verdeutlicht insbesondere der Sport. Obwohl Djumin als passionierter Hockeyspieler gilt, erlebte gerade der ehemals von Finanzsorgen geplagte Tulaer Fußballclub Arsenal ein neues Hoch. Seit Djumin Gouverneur von Tula geworden ist, konnte Arsenal zeitweise Sponsoringverträge mit Gazprom, Rostec, Rosneft sowie mit dem Metall- und Telekommunikationsmagnaten Alischer Usmanow an Land ziehen. Insbesondere der Rosneft-Boss Igor Setschin zeigte sich plötzlich höchst interessiert an der Oblast Tula: So erwarb Rosneft die traditionsreiche Gouverneursresidenz, die Djumin seither selbst nutzt. Rosneft gab 2016 bekannt, dass er in der Region vermehrt im Rahmen der Importsubstitution produzieren wolle. Des Weiteren betreibt Igor Setschin im Gebiet Tula ein weitläufiges Jagdgebiet.

    Djumins Netzwerke und der Wagner-Aufstand

    Djumins Beziehungen zu Eliteakteuren gehen aber weit über die Rüstungsindustrie und den Sport hinaus. Sie bieten zumindest einen Einblick in Djumins Positionierung vor und während des Wagner-Aufstands. Tschetscheniens Gewaltherrscher Ramsan Kadyrow spricht von Djumin als „älterem Bruder“,10 nach außen projizieren sie ein vertrauensvolles Verhältnis. Kadyrow pflegt ebenfalls enge Beziehungen zum Chef der Nationalgarde, Viktor Solotow, der viele Jahre Djumins direkter Vorgesetzter war. Djumin hat vielfältige private Kontakte zum Gouverneur der Oblast Moskau Andrej Worobjow: Sie gehen zusammen auf die Jagd, besteigen den Elbrus oder pilgern zum Berg Athos. Worobjow zählt aufgrund der Freundschaftsbande zwischen seinem Vater Juri Worobjow und Sergej Schoigu zu dessen engstem Vertrautenkreis jenseits des Verteidigungsministeriums. Deswegen gehören Djumin sowie Dimitri Mironow, ebenfalls ein ehemaliger FSO-Adjutant Putins, zum erweiterten Clan Schoigu-Worobjow-Timtschenko. Dennoch bleibt derzeit offen, wie angespannt das Verhältnis zwischen Schoigu und Djumin ist. Denn schon im Oktober 2022 berichteten unabhängige russische Medien, dass Prigoshin, Kadyrow und auch Mironow die Ernennung Djumins als neuen Verteidigungsminister lobbyierten. Sie begründeten dies mit den Rückschlägen der russländischen Armee an der ukrainischen Front.11

    Auch sein Verhältnis zu Prigoshin zeugt davon, dass Djumins Haltung zu Schoigu im besten Fall ambivalent ist und bei weitem nicht immer der Linie des Verteidigungsministeriums entspricht. Die Bekanntschaft der beiden datiert auf die Zeit, als Prigoshin das Catering für Putins Staatsempfänge übernahm. Djumin war dabei für die Sicherheit zuständig. Geleakte Telefon- und SMS-Daten aus den Jahren 2013 und 201412 legen nahe, dass Prigoshin und Djumin in regelmäßigem Kontakt standen, in den Jahren 2012 bis 2022 hatten die beiden mindestens 33 persönliche Treffen.13 

    Djumin spielte eine entscheidende Rolle bei der Gründung der Söldnergruppe Wagner und machte gar den ehemaligen GRU-Offizier Dimitri Utkin mit Jewgeni Prigoshin bekannt. Als Djumin 2016 das Verteidigungsministerium verließ, gingen die Staatsaufträge der Behörde an Prigoshin-Strukturen zurück. Gleichzeitig bekamen mit Prigoshin affiliierte Unternehmen vermehrt Aufträge in der Oblast Tula, etwa um die Tulaer Version des Park Patriot des Verteidigungsministeriums zu bauen. Und als Prigoshin im Spätherbst 2022 von der Präsidialadministration die Erlaubnis bekam, in Gefängniskolonien Häftlinge für seine stark dezimierte Söldnertruppe Wagner anzuheuern, so betrieb er dies insbesondere auch in der Oblast Tula.

    Dass die Wagner-Söldner beim „Marsch“ auf Moskau noch vor der Region Tula zum Stillstand kamen und wieder umkehrten, trug umso mehr zum „Mythos Djumin“ bei. Djumin selbst schwieg sich am Wochenende des Aufstands aus und ließ über seinen Pressedienst verkünden, dass er nicht an den Verhandlungen über die Beilegung des Aufstands beteiligt gewesen war. Am Sonntag, den 25. Juni, verbreitete Djumin ein Video, in dem er die neu geschaffene Söldnertruppe Tula besuchte. Diese hatte einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium abgeschlossen.

    Aus der Logik hochpersonalisierter autoritärer Regime heraus handelte Djumin in der heiklen Situation des Aufstands genau richtig. Er hielt sich öffentlich bedeckt und setzte im Hintergrund seine Ressourcen ein. Dabei schlug er sich demonstrativ auf die Seite Schoigus und des Verteidigungsministeriums. Gleichzeitig ließ er nicht den geringsten Verdacht aufkommen, dass er politische Ambitionen jenseits der Oblast Tula an den Tag legt. Denn wer sich zu früh in Stellung bringt, sei es für das Amt des Verteidigungsministers oder gar die Nachfolge Putins, der riskiert, dass konkurrierende Elitegruppen einem den Garaus machen. Derzeit bleibt unklar, inwiefern Djumin über unabhängige Machtressourcen und ein eigenes Team verfügt, die auch ohne Putins Patronage Bestand hätten. 

    Djumins Aufstieg ist einerseits sehr individuell. Andererseits ist er ein typisches Beispiel für die dynastische Weitergabe von Sozialkapital über Generationen und Regimewechsel hinweg.15 Die Person Djumin charakterisiert somit einen schleichenden Generationenwandel im Putin-Regime. Sie zeigt aber auch, wie putinistisch ein Russland selbst nach Putin aussehen könnte – unabhängig davon, ob Djumin Putins Nachfolger sein wird oder nicht. 


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  • Nawalnys Rückkehr: Politthriller mit offenem Ende

    Nawalnys Rückkehr: Politthriller mit offenem Ende

    „Wenn es ein Blockbuster wäre und nicht das echte Leben, würde man nach dem Film sagen: ‚Nein, das Sujet ist total überzeichnet, im echten Leben ist es nie so‘“, so beschreibt Fernsehmoderatorin Xenia Sobtschak auf Instagram Nawalnys Rückkehr nach Russland. 
    Das umgeleitete Flugzeug, Festnahme am Flughafen, Polizeistation, spontanes Gerichtsverfahren, Nawalnys Gegenangriff auf Putin, der viral geht und millionenfach angeschaut wird, gefolgt von Diffamierungen in der Staatsduma und Aufrufen zu landesweiten Protesten – die Ereignisse überschlagen sich, Hunderttausende verfolgen den Politthriller quasi in Echtzeit, in Livestreams der unabhängigen Fernsehsender und Online-Medien. 
    dekoder bringt eine Chronologie der Ereignisse, bietet Hintergründe und Ausblicke.

    13. Januar: Nawalny kündigt seine Rückkehr nach Russland an

    Seit Monaten war es ein heiß diskutiertes Thema in den russischen Medien: Kehrt Nawalny nach Russland zurück, oder wird er seine politische Tätigkeit und Korruptions-Recherchen aus der Emigration weiterführen? 

    Am 13. Januar veröffentlicht er ein Video auf Instagram

    [bilingbox]Die Frage: Zurückkehren oder nicht? hat sich mir nie gestellt. Einfach deswegen, weil ich ja nie weggegangen bin. Ich bin nur aus einem einzigen Grund nach Deutschland geraten, per Intensivtransport: Weil man mich ermorden wollte.~~~Вопрос „возвращаться или нет“ передо мной не стоял никогда. Просто потому, что я не уезжал. Я оказался в Германии, приехав в неё в реанимационной коробке, по одной причине: меня пытались убить.[/bilingbox] 

    Das Video endet mit den Worten: 

    [bilingbox]Russland ist mein Land, Moskau ist meine Stadt, ich habe Heimweh. Deswegen bin ich heute Früh auf die Website von Pobeda gegangen und habe Tickets gekauft. Am 17. Januar, am Sonntag, werde ich mit einem Pobeda-Flug nach Hause kommen. Kommt doch vorbei.~~~Россия – моя страна, Москва – мой город, я по ним скучаю. Поэтому сегодня утром я зашел на сайт компании „Победа“ и купил билеты. 17 января, в воскресенье, я вернусь домой рейсом „Победы“. Встречайте[/bilingbox]

    Nawalnys Entscheidung kam für viele überraschend. Denn zwei Wochen zuvor war er von der Föderalen Strafvollzugsbehörde zur Fahndung ausgeschrieben worden.

    Kirill Martynow: Freier Mensch und Bürger eines großen Landes

    Vielen ist von Anfang an klar, dass Nawalny festgenommen wird. Der Politikredakteur der Novaya Gazeta, Kirill Martynow, vermutet, dass Nawalny nicht nur von seinen Anhängern und Journalisten, sondern auch von Silowiki mit einem Haftbefehl empfangen wird. Er sieht in Nawalnys Entscheidung zur Rückkehr aber einen „fundamentalen politischen Sinn“: 

    [bilingbox]Viele Jahre lang hat der Kreml uns den Gedanken nahegebracht, dass er das einzige politische Subjekt im Land ist: Die Mächtigen handeln, der Rest erträgt. […] Die Rückkehr Nawalnys unter drohender Haft bedeutet, dass er sich dem fremden Willen nicht beugen will. Als freier Mensch und Bürger eines großen Landes demonstriert er, dass er sein Schicksal selbst in die Hand nehmen kann. […] 

    Genau so wird in modernen Theorien des Republikanismus politische Freiheit beschrieben: Frei ist der, der nicht der Willkür eines anderen ausgesetzt ist. Wenn ein Diktator schon über dein Schicksal entschieden hat, besteht die einzige Möglichkeit deine Freiheit zu verteidigen darin, alles aufs Spiel zu setzen und deinen eigenen Willen dieser Willkür entgegenzustellen.~~~Долгие годы Кремль приучал нас к мысли, что единственным политическим субъектом в стране является он сам: власти действуют, остальные претерпевают. <…> Возвращение Навального в Россию под угрозой тюрьмы означает, что он не хочет быть в этой чужой воле. Как свободный человек и гражданин великой страны он демонстрирует, что сам способен определять свою судьбу […]. Теоретики современного республиканизма именно так понимают политическую свободу: свободен тот, кто не находится в произвольной воле другого. Когда некий диктатор уже решил твою судьбу, единственный способ защитить свою свободу, заключается в том, чтобы поставить на кон все и противопоставить свою собственную волю этому произволу.[/bilingbox]


    17. Januar, 15:18 Uhr: Nawalny fliegt aus Berlin in Richtung Moskau ab

    Trotz Warnungen von Flughafen und Polizei kommen nach Angaben der Organisation Bely Stschjottschik (dt. etwa Weißer Zähler) rund 2000 Menschen zum Flughafen Wnukowo, um Nawalny zu begrüßen. Mehrere hunderttausend Menschen verfolgen das Ereignis live auf  Doshd  oder in einem der vielen anderen Livestreams. Silowiki drängen Nawalnys Anhänger aus dem Gebäude, 59 Menschen werden festgenommen. Nawalny landet endlich um 18:12 Uhr. Der Flug wurde jedoch umgeleitet – zum Flughafen Scheremetjewo.

    Etwa 2000 Menschen kommen zum Flughafen Wnukowo, um Nawalny zu begrüßen, Sicherheitskräfte drängen die Menschen aus dem Gebäude / Foto © Anatoli Shdanow/Kommersant

    Alexej Wenediktow: Putins persönlicher Gegner 

    Die Aufregung ist nicht zuletzt damit zu erklären, dass Nawalny nach seiner Vergiftung und Rückkehr nach Russland einen neuen Status hat. Im Livestream des Radiosenders Echo Moskwy spricht dessen Chefredakteur Alexej Wenediktow über die neue Rolle Nawalnys, mit der er nach Moskau zurückkommt:

    [bilingbox]Zwischen August und Januar hat sich Nawalnys Rolle verändert. War er vor August noch innenpolitischer Korruptionsermittler, FBK, ein ausländischer Agent oder wer auch immer – so ist er jetzt der persönliche Gegner Putins. […] Ständig attackiert er Putin persönlich. Wer ist mittlerweile Medwedew für ihn? Oder Rogosin? Niemand. Kleinvieh. Er und Putin. […] Mit aller Wucht versucht er, ihn zu beleidigen und zu kränken, was selbstredend eine Reaktion hervorrufen wird. Putin ist ein dünnhäutiger Mensch, der schnell beleidigt ist. […] Nach diesen fünf Monaten von August bis Januar betrachtet Putin, denke ich, Nawalny als Gefahr. ~~~С августа по январь изменилась роль Навального. Если до августа он был […] внутриполитический расследователь, ФБК, иностранный агент, неважно, кто — то сейчас он личный противник Путина. […] Он постоянно атакует лично Путина. Кто такой Медведев для него теперь? Кто такой Рогозин? Никто. Мелко. Он и Путин. […] И он всячески его пытается обижать и оскорблять, что, безусловно, будет вызывать реакцию. Путин человек тонкокожий и обидчивый. […] После августа — января, после этих 5 месяцев, я думаю, что он рассматривает Навального как угрозу.[/bilingbox]


    17. Januar, 21:00 Uhr (Moskauer Zeit): Nawalny wird am Flughafen Scheremetjewo festgenommen 

    Nach der Landung übertragen zahlreiche mitgereiste Journalisten live praktisch jeden Schritt Nawalnys bis zur Grenzkontrolle. Nawalny und seine Frau Julia geben keine Interviews – nur ein kurzes Statement vor den Kameras: 

    [bilingbox]Das ist für mich der schönste Tag, auch wenn Deutschland ein wunderbares Land ist […] Ich habe keine Angst, ich werde rausgehen und nach Hause fahren, denn ich weiß, dass ich im Recht bin, denn ich weiß, dass alle Strafverfahren fingiert sind.
    ~~~Это мой лучший день, несмотря на то, что Германия прекрасная страна. […] Я не боюсь, я выйду и поеду домой, потому что я знаю, что прав, потому что я знаю, что все уголовные дела сфабрикованные.[/bilingbox]

    Zahlreiche Journalisten begleiten Nawalny auf seiner Reise von Berlin nach Moskau / Foto © Insaf Basirov/sputnikimages
    Zahlreiche Journalisten begleiten Nawalny auf seiner Reise von Berlin nach Moskau / Foto © Insaf Basirov/sputnikimages

    Kurz darauf wird Nawalny an der Grenzkontrolle festgenommen und in die Polizeistation der Stadt Chimki gebracht, in der Nähe des Flughafens.

    Nawalny und seine Frau Julia kurz vor der Passkontrolle / Foto © Kira Jarmysch/Twitter

    Sergej Medwedew: Nawalny – der neue Mandela?

    Auch wenn die Festnahme zu erwarten war, reagieren viele Analytiker empört, dass Nawalny etwa die Begleitung durch seinen Anwalt verweigert wird. Der Politikwissenschaftler Sergej Medwedew zieht in einem Facebook-Post historische Vergleiche:

    [bilingbox]Gandhi, Mandela, Sacharow, Havel, Aung San Suu Kyi … Infolge der eigenen Panik, Feigheit und Stümperhaftigkeit hat der Kreml nun einen politischen Häftling von Weltrang. Früher konnten sie sich im Problemfall Nawalny noch unbemerkt mit regionalen FBK-Aktivisten rumschlagen, heute sind es Weltpolitiker, internationale Institutionen und Sanktionen. Ist das nicht ein wahnsinns strategischer Geniestreich?~~~Ганди, Мандела, Сахаров, Гавел, Аун Сан Су Чжи… В результате собственной паники, трусости и бездарности Кремль получил политзаключенного мирового калибра. Раньше можно было по проблеме Навального втихую разбираться с активистами ФБК по регионам, а теперь придется разбираться с мировыми лидерами, международными институтами и с санкциями. Молодцы, чо. Стратеги![/bilingbox]

    Die Umstände der Festnahme empörten viele Analytiker / Foto © Kira Jarmysch/Twitter

    Dimitri Peskow: Ich bin nicht auf dem Laufenden!

    Der Kreml weiß nichts von der Festnahme, Putin-Sprecher Dimitri Peskow antwortet auf die Frage des Mediums Podjom

    [bilingbox]Entschuldigung – wurde er in Deutschland festgenommen? Ich bin nicht auf dem Laufenden.~~~Прошу прощения. Его в Германии задержали? Я не в курсе.[/bilingbox]


    18. Januar, 14:30 Uhr: Im Fall Nawalny wird eine 30-tägige Untersuchungshaft angeordnet

    Bereits am nächsten Tag um 12:30 Uhr beginnt direkt in der Polizeistation von Chimki ein Gerichtsverfahren. Sowohl Nawalnys Anwälte als auch er selbst erfahren erst wenige Minuten vor Beginn von der kurzfristig angesetzten Verhandlung. Nawalny reagiert empört: „Hier ist überhaupt kein Gericht! Das ist irgendein Mist, verstehen Sie, irgendein Quatsch ohne Rechtskraft!“ Nach zweistündiger Verhandlung ordnet die Richterin eine 30-tägige Untersuchungshaft an.

    Auf die Verhandlung reagiert Nawalny empört: „Hier ist überhaupt kein Gericht! Das ist irgendein Mist, irgendein Quatsch ohne Rechtskraft!“ / Foto © Vladlen Los/Twitter

    Juri Dud: Staatliche Willkür

    Der Journalist und YouTube-Star Juri Dud vergleicht auf Instagram das Gerichtverfahren mit den „wilden 1990er Jahren“ und warnt davor, Willkür als Normalität zu akzeptieren:

    [bilingbox]Eine Sache, die die heutige Regierung nicht müde wird zu wiederholen, ist der Sieg über die 1990er Jahre. Nach dem Motto, man sei die Banditen losgeworden, die Armut und anderes Unrecht und Willkür. 
    ‚Nirgendwohin sind die 1990er Jahre verschwunden‘, sagt man gerne über die entfernte Provinz; doch die Ereignisse der vergangenen Tage rufen uns ins Bewusstsein, dass die 1990er Jahre auch im einige-Dutzend-Kilometer-Umkreis des Kreml immer wieder anzutreffen sind. Für alle, die das nicht wussten oder daran gezweifelt haben: Früher waren Unrecht und Willkür die Sache von Gangstern, heute macht das locker auch der Staat. Das Gericht über Alexej Nawalny hinter einem Tischchen in der Polizeiwache von Chimki – genau das ist Unrecht und Willkür. Das größte Risiko ist hier: Wenn die Willkür zur Norm wird, dann werden sehr oft alle zu Opfern, auch die, die diese Norm irgendwann geschaffen oder ausgeführt haben (googelt mal Genrich Jagoda, dessen trauriges Bild [während der Verhandlung – dek] direkt hinter Nawalny [an der Wand – dek] hing).~~~Одна из вещей, про которую сегодняшняя власть не устает повторять, – это победа над 90-ми. Типа избавились от бандюганов, нищеты и прочего беспредела. <…> «90-е никуда не уходили», – принято говорить про далекую провинцию, но события последних суток напоминают нам о том, что они регулярно случаются и в паре десятков километров от Кремля. Для всех, кто этого не знал или просто сомневался: раньше беспредел творили гангстеры, сейчас – это легко делает и государство. Суд, проведенный над Алексеем Навальным за партой в химкинском отделении полиции, это именно беспредел.
    Самый большой риск тут в том, что когда беспредел становится нормой, его жертвами очень часто становятся вообще все, в том числе те, кто эту норму когда-то устанавливал и исполнял (погуглите о Генрихе Ягоде, грустная фотография которого была прямо за спиной Навального).[/bilingbox]


    19. Januar: Die Staatsduma tagt 

    Nach den Neujahrsferien beginnt am 19. Januar die neue Sitzungsperiode der Staatsduma. Vorsitzende aller Fraktionen greifen das Thema Nawalny auf: Er sei Verräter, Agent der USA und Anstifter eines möglichen Maidans in Russland. 

    Wladimir Shirinowski sagt:

    [bilingbox]Es müssen in allen Strafrechtsfällen Urteile gesprochen werden: keine Scherze machen, sie weit weit weg von Moskau schicken, in den Norden, in die Tundra, wo die Vögel im Flug erfrieren und vom Himmel fallen. Das sind Menschen, die mit ihrem Handeln die Grundfesten unseres Staates unterminieren.~~~Надо по всем уголовным делам вынести приговоры, не шутить и отправить далеко-далеко от Москвы, на Север, туда, где тундра, где птицы на лету замерзают и падают на землю. Это люди, которые своими действиями подрывают устои нашего государства.[/bilingbox]


    19. Januar, 14:00 Uhr: Auf Nawalnys YouTube-Kanal erscheint das Video Ein Palast für Putin

    Während Nawalny in einem Untersuchungsgefängnis mit dem inoffiziellen Namen Matrosskaja tischina (dt. Matrosenruhe) einsitzt, wird es draußen unruhig. Auf seinem YouTube-Kanal erscheint ein fast zweistündiges Video, in dem Nawalny dem russischen Präsidenten Korruption in Milliardenhöhe vorwirft: Die Aufnahmen zeigen „Putins Palast“ in Gelenshik am Schwarzen Meer. Das Video bricht alle Rekorde. Es wird innerhalb eines Tages 25 Millionen Mal aufgerufen (am 21. Januar sind es bereits über 43 Millionen Aufrufe). 

    (englische Untertitel)

    Alexander Kynew: Nawalny spielt Schach und va banque

    Auf Echo Moskwy zeichnet Alexander Kynew die Dramaturgie der Ereignisse nach:

    [bilingbox]Da Nawalny ein mutiger Mann ist, ein Mann des Risikos, blieb ihm nichts anderes übrig. Und wenn man genau hinschaut, hat er ja eine gewisse symbolische Grenze überschritten. 
    Seit Jahren recherchiert Nawalny gegen verschiedene Personen: Tschaika, Medwedew, Mischustin, Russia Today und so weiter. Nie aber betrafen diese Ermittlungen Putin persönlich. Putin war sozusagen jenseits dieser Riege von Personen, über deren Geschäfte und Reichtum Nawalny berichtete. 
    Nun ist Nawalny zu den Recherchen bezüglich seiner eigenen Vergiftung übergegangen. Nun hat er die Hauptperson einbezogen. […] Das ist mittlerweile ein persönlicher Kampf. In gewissem Sinne hat der Kreml ihm aber auch keine andere Möglichkeit gelassen, denn es ist der Befehl zum offensichtlichen politischen Mord … Nun, jeder Hund, der in die Enge getrieben wird, zeigt Zähne. In diesem Fall spielt Nawalny also va banque.~~~Поскольку мы знаем, что Навальный — человек смелый, человек рисковый, у него ничего другого не осталось. И если внимательно посмотреть, он ведь перешел некую символическую грань. Много лет Навальный проводил расследования в отношении разных фигур — Чайка, Медведев, Мишустин, Russia Today и так далее, но никогда персонально Путина эти расследования не касались. Путин как бы находился вне этого перечня фигур, о бизнесе, богатстве которых Навальный рассказывал. Теперь он перешел на расследование про отравление. Теперь он перешел на главную фигуру. […] Это уже персональная, личная борьба. Но в каком-то смысле власть сама не оставила вариантов, поскольку команда на очевидное политическое уничтожение… в общем, любая собака, загнанная в угол, огрызается. Поэтому в данном случае Навальный пошел ва-банк.[/bilingbox]

    Auf VTimes fügt der Politologe hinzu, dass der Oppositionspolitiker sich mit dem Enthüllungsvideo auch Sicherheit verschafft:

    [bilingbox]Dass Nawalny – nun verhaftet – zum Gegenangriff übergeht, deutet darauf hin, dass er diese Entwicklung vorausgesehen hat. Es ist sehr wahrscheinlich, dass nun die Züge zwei, drei oder vier folgen werden. Ihn physisch aus dem Weg zu schaffen, ist nun unmöglich, denn das wäre faktisch eine Selbstanzeige. Mit diesen Enthüllungen hat er für seine Sicherheit gesorgt, und dass obwohl der Hass gegen ihn alle Grenzen der Vernunft überschreitet.~~~То, что Навальный контратакует, будучи арестованным, говорит о том, что он заранее предполагал такое развитие событий. С высокой долей вероятности можно говорить о том, что будут ходы два, три, четыре. Теперь его физическое устранение невозможно, это будет фактически явка с повинной. Этими разоблачениями он обеспечил себе безопасность, хотя степень ненависти к нему переходит все разумные пределы.[/bilingbox]


    19. Januar: Nawalny ruft zu landesweiten Protesten auf

    Nawalnys Video beginnt mit einem Aufruf zu Protesten am 23. Januar. Seitdem trommelt das Team des Politikers für landesweite Aktionen: Um 14 Uhr sollen Demonstranten Hauptstraßen und Plätze in mindestens 65 Städten besetzen, um „gegen Putins Willkür zu protestieren“. 

    Andrej Mowtschan: Mann der Mitte?

    Wie viele Menschen kann Nawalny zu den Protesten am Samstag mobilisieren? Dieser brennenden Frage geht auf Facebook auch der Journalist Andrej Mowtschan nach:

    [bilingbox]In den Augen der meisten Russen ist Nawalny ein Mensch mit einer seltsamen Vergangenheit (da war doch was mit Russischen Märschen, irgendein Greenmailing, irgendein Job in Kirow, irgendwelche nebulösen Geschichten von der Art ‚entweder er hat geklaut oder er wurde beklaut‘). Und der macht vor allem zwei Dinge: Er will an die Macht und deckt Korruption auf. Die Vergangenheit interessiert in Russland natürlich kaum jemanden (man blicke nur mal auf die Vergangenheit russischer Stars und Führer), die Gegenwart aber wird beim ‚tiefen Volk‘ wohl kaum Mitleid auslösen oder den Wunsch, sich hinter eine Fahne zu versammeln. […]

    Russland lebt damals wie heute von zwei Ideen: von der gemeinschaftlichen Verteilungsidee des ‚ehrlichen Diebes‘, die hier fälschlich ‚kommunistisch‘ genannt wird, und natürlich von der Idee der sakralen Autorität. Genau diese konkurrieren miteinander, ihre Symbiose garantiert die Unabsetzbarkeit der Staatsmacht. Und Dissidenten – ach, die können von Deutschland aus auf Sendung gehen oder im Gefängnis sitzen (oder auch nichts senden und nicht einsitzen) – das wird Unsereins beunruhigen, aber Russland sicher nicht.~~~В глазах большинства населения России Навальный – человек со странным прошлым (что-то там такое от русских маршей, какой-то гринмейл, какая-то работа в Кирове и какие-то туманные истории по типу «то ли он украл, то ли у него украли»), занимающийся в основном двумя делами: он пытается попасть во власть и разоблачает коррупцию. Прошлое в России конечно мало кого волнует (посмотрите на прошлое российских кумиров и вождей), а вот настоящее у «глубинного народа» вряд ли вызовет сочувствие или желание встать под знамена. 
    <…>
    Россия жила и живет двумя идеями – общинно-распределительной идеей „честного вора“, ошибочно называемой здесь „коммунистической“, и конечно сакрально-автократической. Именно они конкурируют между собой, их симбиоз обеспечивает несменяемость власти. А диссиденты – диссиденты могут вещать из Германии или сидеть в тюрьме (впрочем – могут и не сидеть, и не вещать) – это будет волновать нас с вами, но не Россию.[/bilingbox]

    Alexander Baunow: Der Kreml muss sich entscheiden

    Journalist Alexander Baunow argumentiert auf Carnegie, dass Nawalnys Rückkehr den Kreml in ein schwieriges Dilemma bringt:

    [bilingbox]Nawalny ist nicht mehr länger nur eine Figur der Innenpolitik […]. Nach der Vergiftung und der wundersamen Heilung im Land der Frau Merkel wurde er in den Augen der restlichen Welt zum berühmtesten, bekanntesten und gefährlichsten Kritiker Putins: Er wurde zum Anti-Putin, zum Politiker Nummer zwei, oder besser gesagt, sogar zum Politiker Nummer eins mit umgekehrten Vorzeichen. […]
    Der Kreml wird entscheiden müssen, was bedrohlicher ist: Nawalny als ein echter politischer Störfaktor bei den nächsten Wahlen oder eine mythologisierte Legende vom verfolgten Nawalny, der wahrscheinlich die ganze Unzufriedenheit bündeln wird und den ganzen Wunsch nach Veränderung zum Besseren.~~~Навальный перестал быть персонажем внутренней политики […]. После отравления и чудесного исцеления в стране госпожи Меркель он в глазах внешнего мира превратился в самого известного, именитого и опасного критика Путина, стал анти-Путиным, политиком номер два, вернее, даже политиком номер один с противоположным знаком. […]

    Власти придется определиться, что ей страшнее – реальный политический овод Навальный на ближайших и последующих выборах или мифологизированный, гонимый Навальный-легенда, который с большой вероятностью будет собирать все недовольство, все обиды и все желание перемен к лучшему.[/bilingbox]

    Nawalnys Verhaftung führt zu einer beispiellosen Solidaritätswelle. Für den Stab des Oppositionspolitikers nehmen auch bekannte Menschen Unterstützungsvideos auf. Unter ihnen: Musiker Noize MC, Andrej Makarewitsch, Krowostok und Gretschka, Schriftsteller Dimitri Gluchowski, Fotograf Dmitry Markov. Die Liste der Unterstützer wächst stündlich.

    Ende (Fortsetzung folgt)


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    Unter den reichsten Menschen der Welt ist und bleibt Putin der geheimnisumwobenste, resümierte im März 2019 Wladislaw Inosemzew. Der Wirtschaftswissenschaftler gab damit seine Einschätzung zu einem damals verabschiedeten US-Gesetz ab, dessen Aufgabe darin besteht, korrupte Machenschaften des russischen Präsidenten aufzudecken. Die US-Nachrichtendienste werden mit ihren Beweisen in keiner Weise Putins Legitimität beeinträchtigen, schrieb Inosemzew – wohl aber ein Licht auf die Geschäfte von Putins nächstem Umfeld werfen.

    Nun werfen nicht die ausländischen Nachrichtendienste dieses Licht, sondern vermehrt unabhängige russische Medien: So hat im November 2020 das Online-Magazin Projekt in seiner Recherche über die mutmaßliche Ex-Geliebte des Prä­si­denten berichtet, eine Millionärin. Das Investigativmedium Washnyje istorii zieht den Kreis enger und nähert sich Putins Tochter und ihrem Ex-Gatten an – der mit 32 Jahren zum jüngsten Dollarmilliardär des Landes wurde. 

    Im Januar 2019 entdeckte Troy Hunt, ein australischer Fachmann für Websicherheit, in einem Hackerforum etwas, das sogar ihn, der schon lange Jagd auf gestohlene Userdaten machte, in Staunen versetzte. Hunt ist ein Cyber-Robin-Hood: Seit vielen Jahren durchstöbert er Foren von Cyberkriminellen und kauft Datenbanken gehackter Accounts – nicht, um daran zu verdienen, sondern um die Opfer vor der drohenden Gefahr zu warnen. 

    Doch an jenem Tag stieß Hunt auf ein Archiv, dessen Dimensionen ihn verblüfften. In der Datenbank befanden sich 773 Millionen E-Mail-Adressen und 21 Millionen Passwörter. Der Verkäufer des Archivs nannte es Collection #1. Über Hunts Fund wurde weltweit berichtet, man sprach von der größten Sammlung gehackter Accounts, die jemals veröffentlicht wurde.
    Wer hätte ahnen können, dass in der riesigen Collection #1, zufällig entdeckt von einem australischen Cyber-Robin-Hood, zwischen hunderten Millionen E-Mail-Adressen der Kontakt eines Mannes auftauchen würde, den man ruhig als Hüter eines der wichtigsten Staatsgeheimnisse Russlands bezeichnen kann.

    Dieser Mensch arbeitet weder im Verteidigungsministerium, noch entwickelt er Geheimwaffen oder rekrutiert Mitarbeiter ausländischer Geheimdienste. Er ist ein Unternehmer aus Sankt Petersburg, von dem die meisten Menschen in Russland wahrscheinlich noch nie gehört haben. Und obwohl er bereits mit 32 Jahren zum jüngsten Dollarmilliardär des Landes wurde, gibt es in seiner Biografie Dinge, die noch viel mehr Aufmerksamkeit verdienen.

    Mit 32 Dollarmilliardär und Hüter wichtiger Staatsgeheimnisse

    Der Mann, um den es hier geht, ist in ein russisches Geheimnis eingeweiht, das mindestens so streng gehütet wird wie geheime Atomraketenstützpunkte: Er kennt Wladimir Putins Familie und weiß Bescheid über Hunderte Millionen Dollar schwere Offshore-Deals von Verwandten des Präsidenten.

    Woher hat dieser Mensch so viel Einblick in Wladimir Putins Familie und ihre Geschäfte? Ganz einfach: Mehrere Jahre lang war er selbst ein Mitglied der russischen First Family. Er heißt Kirill Schamalow und war verheiratet mit Wladimir Putins Tochter Katerina Tichonowa.


    Teil I

    Anfang 2020 erhielten Mitarbeiter von Washnyje istorii Zugang zum E-Mail-Archiv von Kirill Schamalow. Die Dokumente wurden den Journalisten von einer anonymen Quelle zugespielt, die sich vermutlich mithilfe der Daten aus der Collection #1 Zugang zu Schamalows E-Mail-Postfach verschafft hatte. Wir kennen weder seinen (oder ihren) Namen noch die Motive. Die Person schrieb nur, dass sie dieses Archiv auch anderen russischen Medien angeboten habe, aber niemand auch nur einen Blick auf das Material werfen wollte. Die Quelle stellte lediglich eine Bedingung: keine medizinischen Daten verwenden. Sie teilte uns außerdem mit, dass sie Schamalow über den Klau seines Accounts informiert habe.  

    Der Sohn von Putins Freund

    Kirill Schamalow ist der Sohn von Nikolaj Schamalow, einem der ältesten und engsten Freunde Wladimir Putins. Schamalow senior gehörte zum Kreis der Wenigen, die der Präsident regelmäßig zu seinem Geburtstag einlud. Mitte der 1990er Jahre waren Schamalow und Putin Mitgründer der berühmten Datschen-Kooperative Osero bei Sankt Petersburg. Als Wladimir Putin Präsident wurde, bekamen fast alle seine Datschen-Nachbarn hohe Posten in der Politik oder in Staatskonzernen.

    Nikolaj Schamalow (2020 wurde er 70 Jahre alt) hat sich nach Auskunft seiner Bekannten mittlerweile zur Ruhe gesetzt und verbringt viel Zeit bei der Jagd. Doch sein Geschäft wird von seinen Söhnen weitergeführt. Der älteste, Juri, leitet seit über 15 Jahren eine der größten privaten Rentenversicherungen Russlands, Gazfond. Eine noch beeindruckendere Karriere hat aber der jüngste Sohn Kirill gemacht.

    Die „Neuen Petersburger“

    Kirill Schamalows E-Mail-Archiv ist nicht nur deshalb von großer gesellschaftlicher Bedeutung, weil es bisher unbekannte Details zu wichtigsten Geschäftsabschlüssen und politischen Entscheidungen enthält. Dieses Archiv ist gewissermaßen eine Milieustudie zur russischen Elite im 21. Jahrhundert in eigens von ihr verfassten Briefen.

    Die russische Elite – das sind unter anderem die Kinder derjenigen, die in den Medien und im Volksmund als „Piterskije“, „die Petersburger“, bezeichnet werden: Putins zahlreiche Datschen-Nachbarn, seine Judo-Sparringspartner, Masseure und Kollegen aus der Petersburger Stadtverwaltung, die Anfang der 2000er Jahre Schlüsselpositionen im Land einnahmen. Doch seither sind mehr als 20 Jahre vergangen, die Piterskije sind gealtert, und an ihre Stelle sind ihre Kinder und Enkel getreten – die Neuen Piterskije.

    Zusammen mit den Schlüsselpositionen haben die Neuen Piterskije von ihren Eltern auch die Führungsmethoden übernommen. 

    2009 war Schamalow erst 27 Jahre alt. Aber er war bereits Vize-Präsident für Business Administration beim größten russischen Petrochemie-Konzern Sibur und hatte zuvor bereits bei Gazprom, Rosoboronexport, der Gazprombank und im Apparat der russischen Regierung gearbeitet.

    Doch der größte Sprung seiner Karriere kam erst später: 2014 erwarb Schamalow 17 Prozent des Unternehmens Sibur im Wert von fast 80 Milliarden Rubel [damals etwa 1,65 Milliarden Euro – dek] und erhöhte damit seine Anteile am Konzern auf mehr als 21 Prozent. Dieser Deal brachte ihn mit einem Schlag auf die Forbes-Liste der reichsten Russen und machte ihn außerdem zum jüngsten Dollarmilliardär des Landes. Zu diesem Zeitpunkt war Schamalow gerade mal 32 Jahre alt.

    Doch dem war ein noch bemerkenswerteres Ereignis vorausgegangen. Wie die internationale Nachrichtenagentur Reuters mitgeteilt hatte, heiratete Schamalow 2013 die Vorsitzende der Stiftung Innopraktika, Katerina Tichonowa. Mittlerweile gibt es in den Medien zahlreiche Beweise, dass es sich dabei um die jüngere Tochter von Wladimir Putin handelt; der Kreml jedoch verweigert schon seit vielen Jahren die Bestätigung der Verwandtschaft. 

    Kirill Schamalows E-Mail-Archiv lässt weder einen Zweifel daran, dass es sich bei Tichonowa um die Tochter des russischen Präsidenten handelt (aus Rücksicht auf ihre Sicherheit veröffentlichen wir hier keine persönlichen Dokumente), noch dass sie im Februar 2013 seine Frau wurde. Davon zeugen die gegenseitigen E-Mails sowie Fotos von ihrer Hochzeit, die nie zuvor an die Öffentlichkeit gelangten.

    Wahrscheinlich würden wir an dieser Episode ihres Privatlebens gar nicht rühren (wobei fraglich ist, wie privat das Leben des Präsidenten und seiner Familie sein kann), wäre da nicht Folgendes: In Schamalows Mails wird erwähnt, dass seine Offshore-Firma ein Aktienpaket des Konzerns Sibur im Marktwert von 380 Millionen Dollar für gerade mal 100 Dollar gekauft hat.

    Und dem zeitlichen Ablauf nach zu urteilen, könnten diese zwei unglaublichen Glücksfälle im Leben des jungen Geschäftsmannes – die Ehe mit der Präsidententochter und die quasi geschenkten Aktien des größten Petrochemie-Konzerns des Landes – miteinander zusammenhängen.


    Illustrationen © Natalja Jamschtschikowa

    Teil II

    Kirill Schamalows Mailfach sagt nichts darüber, wie und wo Katerina Tichonowa und er sich kennengelernt haben. Es gibt nur indirekte Hinweise darauf, dass Schamalow und Tichonowa sich seit ihrer Kindheit kennen und auch als Jugendliche in Kontakt geblieben sind. Wann aus ihrer Bekanntschaft mehr wurde, wissen wir nicht, aber 2012 waren sie bereits vollauf damit beschäftigt, sich ein gemeinsames Luxusleben in Russland und Frankreich einzurichten.

    Ein Anwesen auf der Rubljowka und ein Schloss in Biarritz

    Am 2. Juni 2012 bekam Schamalow eine E-Mail von der Frau, die von dem jungen Paar mit dem Um- und Ausbau einer Villa beauftragt worden war, und zwar im Dorf Ussowo an der Rubljowskoje Chaussee – einem der teuersten Orte Russlands. Das Haus befindet sich in der Nähe des Anwesens des Präsidenten in Nowo-Ogarjowo.

    „Sehr geehrter Kirill, anbei übersende ich Ihnen Fotos von den Möbeln, die Katja für den Garten ausgesucht hat. Sie sind alle in Italien vorrätig (wie uns bestätigt wurde). Für die Bestellung muss eine Vorauszahlung in Höhe von 60 Prozent der ausgewiesenen Gesamtsumme überwiesen werden“, schreibt ihm die Frau.

    Im Anhang findet sich eine Liste von Einrichtungsgegenständen für den kleinen Gartenpavillon: Tisch, Sofa, ein paar Sessel, Stoffvorhänge – im Gesamtwert von 53.000 Euro.

    Diese E-Mail leitete Kirill an Katerina Tichonowa weiter, mit dem Kommentar: 

    „Gefällt mir, keine Einwände. Was denkst du?“

    Insgesamt kosteten Umbau, Möbel und Einrichtung fast neun Millionen Euro. Nimmt man das Grundstück und das Haus selbst dazu, könnten sich die Gesamtkosten für das Anwesen auf etwa 15 bis 17 Millionen Euro belaufen.

    Das Haus in Ussowo war nicht die einzige teure Immobilie von Kirill Schamalow und Katerina Tichonowa. Zeitgleich zum Umbau des Anwesens bei Moskau richteten sie ein kleines Schloss in Frankreich ein.

    Im Oktober 2012 hatte Schamalow über seine Firma Alta Mira mit Sitz in Monaco eine Villa im Städtchen Biarritz gekauft. Das Anwesen gehörte früher der Familie von Gennadi Timtschenko, einem alten Freund von Wladimir Putin und einem der größten russischen Öl-Exporteure. Den Dokumenten in Kirill Schamalows Postfach nach zu urteilen, kostete ihn das Haus in Frankreich rund 4,5 Millionen Euro.

    Biarritz und seine Umgebung kann man ruhig als Auslandsreiseziel Nummer eins von Wladimir Putins Familie bezeichnen. Wie das Netzwerk OCCRP herausfand, erwarb 2013 ein weiterer russischer Staatsbürger ein Haus unweit von Kirill Schamalows Schloss: Artur Otscheretny. Er ist verheiratet mit Ljudmila Putina, der Ex-Ehefrau des russischen Präsidenten. Das Paar hatte 2013 offiziell die Scheidung bekanntgegeben, und 2016 entdeckte die Zeitung Sobesednik, dass Ljudmila Putina in den Papieren zu ihrer Sankt Petersburger Wohnung ihren Nachnamen in Otscheretnaja geändert hatte.

    Von 2013 bis 2014 ließen Schamalow und Tichonowa die französische Villa von Designern einrichten. Daran, dass die jüngste Tochter des russischen Präsidenten plante, das Mini-Schloss auch zu benutzen, gibt es keinen Zweifel: Sie war unmittelbar in die Gespräche um die Renovierung des Anwesens in Biarritz involviert.

    Unternehmer sollten bescheidener sein. Sie haben Recht

    Während der Schwiegersohn des russischen Präsidenten Aktien von Offshore-Firmen besaß, ausländische Konten eröffnete und Immobilien in Ländern der NATO erwarb, leitete Wladimir Putin den Prozess der „Nationalisierung der russischen Eliten“ ein. 2013, genau zu der Zeit also, als Schamalow und Tichonowa fleißig ihr französisches Schlösschen einrichteten, brachte Putin einen Gesetzentwurf in die Staatsduma ein, der es Beamten und Führungskräften von Staatsunternehmen verbieten sollte, Konten im Ausland zu eröffnen und ausländische Bankeinlagen oder Wertpapiere zu besitzen. Das Verbot erstreckte sich auch auf Ehepartner und minderjährige Kinder. Im Erläuterungstext hieß es, das Gesetz diene „der Gewährleistung der nationalen Sicherheit“.

    Das luxuriöse Anwesen von Schamalow und Tichonowa in Ussow kann der Präsident wohl ebenfalls kaum gutgeheißen haben. 2016 antwortete er auf die Frage einer Journalistin des Portals Znak nach dem nicht gerade bescheidenen Lebensstil der Chefs von Staatskonzernen: „Was unsere Geschäftsleute anbelangt, auch innerhalb von Unternehmen mit staatlicher Beteiligung und dass sie derart provokante Immobilien bauen, da stimme ich Ihnen zu – sie sollten bescheidener sein. Sie haben Recht. Ich habe ihnen das schon mehrfach gesagt. Und ich hoffe, dass sie darauf hören. […] Man muss verstehen, in was für einem Land wir leben, und die Leute nicht reizen.“

    Hochzeit in Igora

    Die Hochzeit mit Katerina Tichonowa wird in Kirill Schamalows Korrespondenz zum ersten Mal am 7. September 2012 erwähnt. An diesem Tag erhielt er eine E-Mail von einer Frau, die sich um die Hochzeitvorbereitungen kümmerte:

    „Ich möchte Ihnen und Jekaterina für die angenehme Bekanntschaft und unser Treffen danken. Wir haben die wichtigsten Punkte, die wir dort besprochen haben, in einer kurzen Übersicht zusammengefasst.“

    Dem Schreiben war ein kurzer Ablaufplan für die Hochzeitsfeier im Skiort Igora in der Nähe von Sankt Petersburg beigefügt. Ursprünglich sollte die Feier im Januar 2013 stattfinden, wurde dann aber auf den 23. bis 25. Februar verschoben.

    Ab Ende Januar versendete Schamalow an seine Freunde Hochzeitseinladungen mit detaillierter Beschreibung des Dresscodes: 

    „23. Februar. Herren: Dresscode Cocktail im russischen Stil. Samtjackett, dazu Halstuch, Hemd mit Stehkragen. Damen: Cocktail im russischen Stil. Kleid, Rock oder Sarafan, bodenlang, in Pastelltönen, Haare geflochten, Kopftuch;

    24. Februar. Herren: Creative Black Tie im russischen Stil. Smoking und Fliege dürfen farbig sein. Damen: Creative Black Tie im russischen Stil. Abendkleid in A-Form, Hochsteckfrisur mit Tiara-Kopfschmuck im Kokoschnik-Stil;

    25. Februar. Herren: Casual chic im russischen Stil. Lockerer Anzug mit Polohemd, Rollkragen oder Pullover. Damen: bodenlanger Glockenrock, Feinstrickpullover.“

    Insgesamt lud das Brautpaar rund 100 Gäste ein. Auf der langen Gästeliste fehlten die Eltern von Katerina Tichonowa – der Präsident und seine Gattin (zu diesem Zeitpunkt war die Scheidung noch nicht offiziell). Ihr Fehlen auf der Liste könnte allerdings auch mit dem Sicherheitskonzept erklärt werden, für das sechs Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes des Präsidenten (SBP) verantwortlich waren. Für diese hatte das junge Paar sogar eigens ein Haus angemietet.


    Teil III

    Seinem Postfach nach zu urteilen war Kirill Schamalow sowohl vor seiner Heirat mit Katerina Tichonowa als auch danach – als Schwiegersohn des russischen Präsidenten – Eigentümer von Offshore-Firmen. Ein Großteil der Firmen, die von Juristen aus verschiedenen Ländern geführt wurden, war auf Strohmänner registriert. Haupthüter der Offshore-Geheimnisse von Kirill Schamalow und dessen Vater Nikolaj war Dario Item, Botschafter des kleinen Inselstaates Antigua und Barbuda, der die Interessen seines Landes in Spanien, Monaco und Liechtenstein vertritt.

    Ein großzügiges Geschenk

    Im Juni 2013 kaufte Kirill Schamalows Offshore-Firma Kylsyth Investments Ltd. mit Sitz in Belize von einer anderen Offshore-Firma, Volyn Portfolio Corp. mit Sitz auf den britischen Virgin Islands, 38.000 Aktien einer dritten Offshore-Firma auf der Insel Guernsey, Themis Holdings Ltd. Zu diesem Zeitpunkt war die Themis Holdings Ltd. die Muttergesellschaft des Unternehmens Sibur. Mit anderen Worten: Mit dem Kauf von Anteilen der Themis Holdings Ltd. erwarb Kirill Schamalow automatisch 3,8 Prozent am Konzern Sibur. Bereits vor diesem Deal hatten ihm 0,5 Prozent der Holding gehört: Insgesamt hielt er nun also einen Anteil von 4,3 Prozent.

    Doch das Interessanteste an dieser Reihe von Deals ist nicht einmal, dass Wladimir Putins Schwiegersohn – ungeachtet der vom Präsidenten geplanten „Nationalisierung der Eliten“ – exotische Offshores für seine Investitionen in ein strategisches russisches Unternehmen benutzte, sondern wie viel er für diese Aktien bezahlt hat: 3,8 Prozent der Anteile am Konzern Sibur kosteten ihn bloß einhundert Dollar. Dabei hat Schamalow selbst in einem Interview mit der Zeitung Kommersant den Gesamtwert des Konzerns auf rund zehn Milliarden Dollar geschätzt. Damit könnte der Marktwert seines Aktienpakets bei etwa 380 Millionen Dollar liegen (den Rabatt für fehlenden Anspruch auf Kontrollrechte nicht mitgerechnet) – oder, mit anderen Worten: 3,8 Millionen Mal höher, als der Schwiegersohn des russischen Präsidenten dafür bezahlt hat.

    Der Pressedienst von Sibur übermittelte Washnyje istorii eine Stellungnahme von Dimitri Konow, dem Vorstandsvorsitzenden des Konzerns: 

    „Die Transaktionen im Jahr 2013 fanden im Rahmen eines 2011 von Aktionären ins Leben gerufenen Programms statt, das der zusätzlichen Motivationssteigerung eines breiten Kreises von leitenden Managern des Unternehmens dienen sollte. In jeder Etappe gab es andere Teilnehmer und unterschiedliche Bedingungen für die verschiedenen Teilnehmergruppen. Die Bedingungen für den Aktienverkauf der von Ihnen angesprochen Transaktion unterschieden sich nicht von denen für einige andere Manager. Exklusive Bedingungen für K. N. Schamalow persönlich gab es nicht. Womöglich ist Ihnen nicht bewusst, dass bei der Bewertung des Aktienwerts die Höhe der Schulden der betreffenden juristischen Person berücksichtigt wird/wurde“, teilte Konow mit.

    Washnyje istorii hat sich jedoch die Verträge von elf Topmanagern genau angeschaut, die an dem Optionsprogramm von Sibur teilgenommen haben, von dem Konow spricht. Sie alle haben echtes Geld für ihre Anteile bezahlt – abzüglich eines Rabatts von etwa 15 Prozent des Marktwerts, was der gängigen Praxis solcher Motivationsprogramme entspricht. So musste beispielsweise der geschäftsführende Direktor Sergej Komyschan laut Vertrag für 0,26 Prozent an Sibur-Aktien 21,6 Millionen Dollar zahlen. Das heißt, für ein fünfzehn Mal kleineres Paket als das des Präsidenten-Schwiegersohns hat Komyschan 216.000 Mal mehr bezahlt. Alexej Filippowski, der Vizepräsident des Unternehmens, musste für sein Paket von 0,15 Prozent 12,7 Millionen Dollar zahlen.

    Auf unsere Frage, warum andere Manager im Gegensatz zu Schamalow echtes Geld für ihre Aktien bezahlen mussten, entgegnete Dimitri Konow bloß, unsere Zahlen seien „inkorrekt“. Welche Zahlen seiner Ansicht nach korrekt sind, sagte er allerdings nicht.

    Wenn man die Dinge beim Namen nennt, ist also Folgendes passiert: Die Offshore-Firma des Schwiegersohns des russischen Präsidenten hat für 100 Dollar etwas gekauft, was eigentlich rund 380 Millionen kostet.

    Und das war erst der Anfang der beispiellosen Bereicherung von Kirill Schamalow.

    Auf der Suche nach der passenden Mitgift

    Kirill Schamalow hatte sehr viel Glück mit seinen Beratern und Assistenten. Den E-Mails nach zu urteilen, war ein ganzes Team für ihn tätig: Es recherchierte Investitionsprojekte für ihn, schrieb Redebeiträge für seine Auftritte bei Foren und Sitzungen des Direktorenrats, inklusive der Antworten auf mögliche Fragen aus dem Publikum. Ganz wie zu Studienzeiten, als man ihm dabei half, sein Diplom zu verteidigen und seine Rede für den Prüfungsausschuss vorzubereiten. 

    Nach der Hochzeit mit Tichonowa hatten die zahlreichen Helfer des Präsidenten-Schwiegersohns alle Hände voll zu tun: Sie mussten ein groß angelegtes Finanzprojekt finden, das in den Besitz ihres Chefs übergehen sollte. E-Mails mit märchenhaften Angeboten über Milliarden von Dollar landeten eine nach der anderen in Schamalows Postfach – und Wladimir Putins Schwiegersohn suchte sie sich so aus, wie wir uns im Supermarkt Milch aussuchen.

    Am 16. Mai 2013 schickte Schamalows Assistent Denis Nikijenko ihm den Vorschlag, Anteile an gleich drei Unternehmen zu kaufen – Rostelekom, Tele2 und Trikolor TV –, um sie danach zu einem „nationalen Telekommunikations-Champion“ zu vereinen, wie es in dem Schreiben hieß. Die Gesamtkosten für die Realisierung dieser Idee beliefen sich auf neun Milliarden Dollar. Wo sollte Schamalow dieses Geld hernehmen? Nikijenko erklärte das in einer Notiz:

    „Die finanzielle Grundlage für den Erwerb könnten Kreditressourcen von der WTB, Sberbank und Gazprombank bilden. Zur Bildung der 20 bis 30 Prozent sogenannter Eigenmittel wäre es denkbar, befreundete Finanzinstitutionen zu beteiligen, zum Beispiel Gazfond oder Gazprombank.“

    Abgesehen davon, dass Schamalows Assistent vorschlägt, dieses enorme Vorhaben auf Kosten von Staatsbanken zu finanzieren, enthält das Zitat eine weitere interessante Formulierung: die „20 bis 30 Prozent ‚sogenannte Eigenmittel‘“.

    Jeder, der bei der Bank eine Hypothek aufnehmen will, um eine Wohnung zu kaufen, muss 20 bis 30 Prozent des Kaufpreises selbst aufbringen. Genauso ist es, wenn ein Investor Aktiva erwerben will, besonders wenn es sich dabei um riesige Projekte über hunderte Milliarden Rubel handelt. Wie aus Nikijenkos E-Mail hervorgeht, hatten Schamalows Betraute jedoch offenbar nie vor, Eigenmittel ihres Chefs einzusetzen. Stattdessen schlugen sie vor, „befreundete Finanzinstitutionen zu beteiligen, zum Beispiel Gazfond“ – der, wie der Zufall es will, von Schamalows älterem Bruder Juri geleitet wird.

    Im April 2014 schrieb Nikijenko Schamalow schließlich eine weitere E-Mail, die gleich mehrere Vorschläge enthielt. Der erste war, 51 Prozent an dem Konzern VSMPO-Avisma zu erwerben, dem weltgrößten Titanproduzenten (dieses Paket kostete zu diesem Zeitpunkt über eine Milliarde Dollar).

    „Warum 51 Prozent? Wenn eine Person, die mehr als 50 Prozent der Anteile an einem Unternehmen besitzt, auf der Sanktionsliste landet, können US-Bürger und -Konzerne keine Geschäfte mehr mit diesem Unternehmen machen. Weil die USA an einer Zusammenarbeit mit VSMPO-Avisma interessiert sind, wäre es somit unwahrscheinlich, dass der Konzern oder ein Teilhaber auf die Sanktionsliste kommt“, erklärte Nikijenko die Vorteile einer Übernahme des Titankonzerns.

    Der zweite Vorschlag bestand darin, ein zusätzliches Aktienpaket des Konzerns Sibur zu erwerben.

    „Die Unternehmensbeteiligung von GNT (gemeint ist Gennadi Nikolajewitsch Timtschenko – Anm. Washnyje istorii) schränkt die operative Geschäftstätigkeit des Konzerns ein. Sibur erhält bereits Absagen von Banken und Geschäftspartnern (weil Timtschschenko auf der Sanktionsliste der USA steht – Anm. Washnyje istorii). Um dieses Problem zu lösen, schlagen wir vor, GNT seine Anteile abzukaufen. Die Transaktion kann durch zwei Manager des Unternehmens mit nachträglicher Zusammenführung der Anteile in eine Hand realisiert werden (dieser Vorgang, bei dem eine künstliche Schuld geschaffen und daraufhin von einem zweiten Aktienpaket getilgt wird, ist gut erprobt)“, heißt es in dem Schreiben.

    Wie der weitere Verlauf zeigt, entschied sich Kirill Schamalow offenbar für diesen Vorschlag. Das Interessanteste an der E-Mail ist die Beschreibung des Schemas für den Kauf der Sibur-Aktien von Gennadi Timtschenko: die Schaffung einer „künstlichen Schuld“ und deren Tilgung durch ein weiteres Aktienpaket. Derartige Schemata werden in der Rechtsliteratur und in Handelsgerichtsurteilen als populäres Mittel beschrieben, um die Kontrolle über Unternehmen zum Spottpreis zu bekommen.

    Der Kauf von Sibur

    Am 1. August 2014 registrierte Kirill Schamalow unter seiner Privatadresse in der Zoologitscheskaja Uliza in Moskau die Firma Jausa 12. Laut seinen E-Mails kaufte diese Firma bereits sechs Tage später, am 7. August, 17 Prozent von Sibur. Der Marktwert dieses Aktienpakets lag bei fast 80 Milliarden Rubel [damals etwa 1,65 Milliarden Euro – dek]. Gegenüber Kommersant sagte Schamalow, die Mittel dafür habe er bei der Gazprombank geliehen (in dessen Direktorenrat sein Bruder Juri sitzt – Anm. Washnyje istorii), als Sicherheit hätten eigene Vermögensgegenstände gedient. Welche Vermögensgegenstände das genau waren, sagte er nicht.

    Im Rahmen des Sibur-Optionsprogramms hatte Schamalow fast zum Nulltarif über vier Prozent der Holding akkumuliert. Mit dieser Kreditsicherheit hätte er theoretisch ein Darlehen von rund 500 Millionen Dollar bekommen können. Aber woher hatte der junge Geschäftsmann das restliche Geld für den Erwerb der Aktien?

    Leider enthält Schamalows Korrespondenz keine Antwort auf diese Frage, vorausgesetzt man will nicht die E-Mail seines Assistenten Denis Nikijenko als solche werten, in der zum ersten Mal die Idee der Übernahme von Timtschenkos Sibur-Anteilen mithilfe einer „künstlichen Schuld und ihrer Tilgung durch ein zweites Aktienpaket“ geäußert wurde.

    Wann und wie Schamalows Firma Jausa 12 ihren Riesenkredit abbezahlt hat, wissen wir nicht. Der letzte im Rosstat zugängliche Jahresabschluss stammt aus dem Jahr 2016, in der Zeile „Verbindlichkeiten“ sind dort immer noch 80 Milliarden Rubel angegeben. Den Daten des Föderalen Steuerdienstes zufolge beschloss Schamalow im September 2017, Jausa 12 aufzulösen, was er im Dezember desselben Jahres auch tat.

    Wie dem auch sei, als zweitgrößter Aktionär der größten Petrochemie-Holding des Landes (mit einem Anteil von 21,3 Prozent), zog Schamalow die Aufmerksamkeit der Medien auf sich. Wahrscheinlich, um den Fragen zu seinen Verwandtschaftsbeziehungen und der Herkunft seines Vermögens zuvorzukommen, gab der Schwiegersohn des Präsidenten der Zeitung Kommersant ein Interview. Das Blatt stellte keine unangenehmen Fragen.

    Das Interview endete mit einer patriotischen Äußerung Schamalows: „Ich bin in Russland geboren, aufgewachsen und lebe hier. Mein Business ist hier. Und zwar komplett nach russischem Recht, nicht irgendwo im Offshore. Irgendwelche Hintertürchen und Geschäfte im Ausland – das ist nichts für mich“, erklärte Wladimir Putins Schwiegersohn. Dabei hat er offenbar vergessen, dass er die Sibur-Aktien über eine Firma in Belize gekauft hatte, sein Schloss in Frankreich auf eine Firma in Monaco gemeldet war und er 2015, im selben Jahr, in dem das Interview stattfand, mehrere Konten in der Schweiz eröffnet hatte. Aber 2017, als die Sanktionen einen immer weiteren Kreis von Wladimir Putins Bekannten erfassten, begannen Schamalows Finanzbeauftragte, die Geschäfte seiner Firmen und Fonds mit Konten bei europäischen Banken einzustampfen, und registrierten auf seinen Namen einen eigenen Fonds – den Centurion International Fund auf der Insel Labuan, einem Offshore-Gebiet in Malaysia. Der Fonds läuft über Offshore-Unternehmen aus Belize – einem winzigen Staat an der Karibischen Küste.


    Teil IV

    Kirill Schamalow konnte man durchaus auch vor seiner Liebesbeziehung mit Katerina Tichonowa zu den einflussreichsten Persönlichkeiten Russlands rechnen – dank der Freundschaft seines Vaters mit dem russischen Präsidenten und seinen eigenen zahlreichen Beziehungen zu Vertretern der Neuen Petersburger. Schamalow war erst 27, als er gebeten wurde, im Streit um die Moskauer Flughäfen Einfluss auf die Entscheidung der Handelsgerichte zu nehmen. Durch die Ehe mit Katerina Tichonowa stieg er allerdings in eine ganz andere Liga auf: Vom Sohn eines Freundes wurde er zum Familienmitglied Wladimir Putins – mit allen Möglichkeiten, die dieser Status mit sich brachte.    

    Ein gemütliches Zuhause

    Einer der Hochzeitsgäste war Kirill Dmitrijew, Chef des Russian Direct Investment Funds (RDIF). Er stand als Gast der Braut auf der Liste: Dmitrijew ist mit Natalja Popowa verheiratet, Katerina Tichonowas Stellvertreterin bei der Stiftung Innopraktika.  

    Der von Dmitrijew geleitete Staatsfonds ist einer der wichtigsten staatlichen Player innerhalb der russischen Wirtschaft. Sie wurde 2011 auf Initiative des Präsidenten (damals Dimitri Medwedew) und des Premierministers (damals Wladimir Putin) gegründet. Hauptaufgabe des RDIF ist es, führende russische Unternehmen zu finanzieren und ausländische Investoren für Projekte zu ködern. Seit seiner Gründung hat der RDIF fast zwei Billionen Rubel [Stand Januar 2021: 22 Milliarden Euro – dek] in verschiedene Unternehmen in Russland investiert.    

    Dem vorliegenden Archiv zufolge bekam Schamalow die ersten Mails von Dmitrijew Mitte 2012, also in einer Zeit, als er sich gerade mit Tichonowa ein gemütliches Zuhause errichtete. Die jungen Paare (Dmitrijew und Popowa, Schamalow und Tichonowa) waren miteinander befreundet. Sie machten mehrfach zusammen Urlaub im Ausland, und Schamalow und Dmitrijew schrieben einander alle paar Tage zu den verschiedensten Themen.  

    Unter anderem schickten der Schwiegersohn des russischen Präsidenten und der Chef des RDIF einander permanent Links und diskutierten Wirtschaftsmeldungen. Das war aber noch nicht alles – mehrmals finden sich in Schamalows Posteingang vertrauliche Dokumente des RDIF, die Dmitrijew seinem geschäftstüchtigen Freund übersandte.

    Eine Hand wäscht die andere

    Kirill Dmitrijew versorgte seinen Freund Schamalow nicht nur mit Informationen, sondern auch mit enormen Summen aus der Staatskasse für sein Unternehmen. Im Januar 2015 schickte der RDIF-Direktor dem Präsidenten-Schwiegersohn einen Artikel der Vedomosti mit dem Titel RDIF unterstützt Sibur. Darin hieß es, Dmitrijews Staatsfonds plane gemeinsam mit ausländischen Investoren, in ein Projekt von Sibur zu investieren, das den Bau eines Petrochemiewerks mit dem Namen Sapsibneftechim in Tobolsk, Oblast Tjumen, vorsah.      

    „Langsam kommen wir in die Gänge :-)“, schreibt Dmitrijew in einer E-Mail. „Super!“, antwortet Schamalow, der zu dem Zeitpunkt der zweitgrößte Aktionär von Sibur ist. 

    Sapsibneftechim ist das größte Petrochemiewerk Russlands. Es wurde im Mai 2019 in Betrieb genommen. Seine Fertigstellung kostete insgesamt schätzungsweise 9,5 Milliarden Dollar. Ende 2015 erklärte der RDIF auf seiner Website, er habe gemeinsam mit anderen Investoren mehr als ein Drittel der Projektfinanzierung zur Verfügung gestellt (3,3 Milliarden Dollar). Doch für die Errichtung einer so großen Anlage reichte Schamalows Firma die Beteiligung des befreundeten Staatsfonds nicht. Und so griff ihm der Schwiegervater unter die Arme. 

    Im Oktober 2015 stimmte Wladimir Putin zu, dass Sibur 1,75 Milliarden Dollar aus dem Nationalen Wohlstandsfonds erhalten soll. Dieser Fonds ist eigentlich für die Förderung der privaten Altersvorsorge der Staatsbürger da, sowie dafür, Defizite in der Rentenkasse auszugleichen.

    Doch nicht nur Schamalow profitierte von seiner Freundschaft mit Kirill Dmitrijew. Dem Chef des RDIF brachte seine enge Bekanntschaft mit Wladimir Putins Schwiegersohn ebenfalls satte Gewinne. Ein Beispiel dafür ist der Kauf des Sibur-Terminals für die Verladung von Flüssigerdgas am Handelshafen Ust-Luga durch den RDIF. Aus der Korrespondenz geht hervor, dass nicht alle Top-Manager von Sibur so begeistert von der Idee waren, den Terminal zu verkaufen. Im November 2015 war der Deal unter Dach und Fach: Für 700 Millionen Dollar hatte der RDIF zusammen mit einem Investorenkonsortium den Terminal in Ust-Luga gekauft.

    Auf die Anfrage von Washnyje istorii, warum er Schamalow vertrauliche Dokumente des RDIF zukommen ließ und inweiweit er dafür gegenüber dem von ihm geleiteten Staatsfonds hafte, reagierte Kirill Dmitrijew nicht.

    Begehrter Partner mit Ressourcen

    Das Besondere am Business von Wladimir Putins Schwiegersohn war nicht nur, dass es ihm gelang, Aktien eines strategischen Unternehmens millionenfach unter ihrem Marktwert einzukaufen, sondern er war auch ein enorm gefragter Partner, bei dem Unternehmer mit den verlockendsten Angeboten buchstäblich Schlange standen. Unter anderem wurden Schamalow Beteiligungen an verschiedensten Firmen offeriert, ohne dafür irgendwelche Gelder zu verlangen – offenbar in der Annahme, dass Putins Schwiegersohn diesen Unternehmen etwas bieten könne, was im heutigen Russland wertvoller ist als Geld. 

    So bekam Schamalow 2017 von seinem ehemaligen Studienkollegen Dimitri Utewski eine Beteiligung an einer großen Müllentsorgungsfirma in der Nähe von Sankt Petersburg angeboten. Utewski versprach ein „fixes Jahreseinkommen“ und bat im Gegenzug – wörtlich – um eine „administrative Ressource (mindestens auf der Ebene eines Gouverneurs)“. Wie Schamalow konkret auf diesen Vorschlag reagierte, wissen wir nicht, aber in seinem E-Mail-Verkehr gibt es genügend Beispiele dafür, wie er seinen Partnern half, Probleme auf höchster Staatsebene zu lösen.

    Zusammen mit seinem Vater war Schamalow jahrelang Miteigentümer des [Zementherstellers – dek] Russkaja zementnaja kompanija und der Holding Sibirski zement. Oleg Scharykin, Hauptgesellschafter dieser Firmen, sagte einmal in einem Interview mit dem Kommersant, mit Schamalow senior verbinde ihn eine Freundschaft: „Nikolaj Terentjewitsch und ich sind vor allem gute Freunde, und unsere Geschäfte beruhen auf zwischenmenschlichen Beziehungen.“

    2016 fand sich dieser Scharykin in einer unangenehmen Situation wieder: Am 7. April hatten Ermittlungsbeamte und FSB-Mitarbeiter seinen Wohnsitz in der Siedlung Nikologorskoje bei Moskau und seinen Firmensitz in Moskau durchsucht. Bereits am 11. April, also nur vier Tage später, erhielt Kirill Schamalow eine E-Mail von Waleri Bodrenkow, dem Vizepräsidenten von Sibirski zement. Betreff: „Lightversion für den Garanten“, im Attachment mehrere Belege und ein an Wladimir Putin adressierter Brief von Oleg Scharykin. (Mit „Garant“ ist der russische Präsident gemeint, i. S. v. „Garant der Verfassung“ – Anm. d. Red. Washnyje Istorii

    In dem Brief an den „Garanten“ schrieb Scharykin, die Durchsuchungen seien von seinem „Businesskontrahenten“ Andrej Murawjow initiiert worden, dem ehemaligen Präsidenten von Sibirski zement. 

    „Ich bitte Sie inständig, verehrtester Wladimir Wladimirowitsch, diese Situation unter Ihre persönliche Kontrolle zu bringen und der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation den Auftrag zu erteilen, das Vorgehen der Organe des FSB und des Ermittlungskomitees der RF im Zuge der Durchsuchung meines Wohnsitzes rechtlich zu überprüfen“, heißt es am Ende von Scharykins Brief. 

    Kirill Schamalow ließ diese E-Mail nach Erhalt umgehend ausdrucken. Wir wissen nicht, ob er sie danach seinem Schwiegervater vorlegte, aber es war nicht das einzige Mal, dass Scharykin ihn um Hilfe bat, und im Archiv finden sich Beweise, dass Wladimir Putins Schwiegersohn diese Bitten erhörte.   

    Ein Jahr später, im April 2017, schickte Oleg Scharykin Kirill Schamalow zwei weitere an den russischen Präsidenten gerichtete Briefe. In einem beklagte er sich, dass seine Firma Keramitscheskije technologii optische Elemente für Boden- und Weltraumteleskope entwickele, aber die staatliche Gesellschaft Roskosmos sie nicht kaufe:     

    „Ich würde Sie bitten, dem Generaldirektor der Staatlichen Weltraumorganisation Roskosmos I. A. Komarow den Auftrag zu erteilen, ein gemeinsames Programm zur Verwertung der vorhandenen Technologie zu erarbeiten“, appellierte Scharykin an Putin. 

    Wie es aussieht, konnte Schamalow seinem Partner zumindest teilweise helfen. Zwei Wochen später, am 12. Mai 2017, schrieb Scharykin ihm wieder eine E-Mail: 

    „Guten Morgen, Kirill. Hier die Protokolle. Das Treffen mit KSW verlief gut, er hat sich alles genau angesehen. Festen Händedruck.“

    Die Abkürzung KSW entspricht den vollständigen Initialen von Kirijenko Sergej Wladilenowitsch, dem ehemaligen Chef von Rosatom und zu jenem Zeitpunkt – wie auch heute noch – stellvertretender Leiter der russischen Präsidialadministration. Seinem Schreiben hängte Scharykin das Protokoll des Treffens mit dem Chef von Rosatom an, bei dem die weitere Zusammenarbeit des Staatskonzerns mit der Firma Keramitscheskije technologii besprochen wurde. Anfragen von Washnyje istorii ließ Scharykin unbeantwortet.  


    Teil V

    Katerina Tichonowa verwendete für den Mailwechsel mit Kirill Schamalow mehrere E-Mail-Adressen. Für ihren Hauptaccount aber wählte sie einen Usernamen, der viel über Wladimir Putins Tochter und ihre Interessen verrät: Hypatia von Alexandria. So hieß eine Gelehrte im antiken Alexandria, die Philosophie, Mathematik und andere Disziplinen unterrichtete. Hypatia wurde nicht nur für ihre wissenschaftlichen Erfolge, sondern auch für ihre Bescheidenheit gepriesen. 

    Hypatia: Bescheidenheit und Rock’n Roll 

    In den Mails des jungen Paares ging es, abgesehen von der Einrichtung ihrer schicken Häuser in Russland und Frankreich, vor allem um zwei Themen: Rock‘n‘Roll-Akrobatik und das Innovationsprojekt Innopraktika.

    Die von Tichonowa geleitete Stiftung wurde 2012 gegründet. Sie verbindet das Zentrum für nationale intellektuelle Reserven der MGU mit der Stiftung Nationale intellektuelle Entwicklung zur Förderung wissenschaftlicher Projekte von Studenten, Doktoranden und jungen Wissenschaftlern, die ebenfalls der MGU untersteht. Vornehmlich kümmert sich Innopraktika um die Vermittlung zwischen Business und Wissenschaft, um innovative Technologien in Russland zu entwickeln und sie auf dem Markt zu positionieren. Die Liste der Partner von Innopraktika würde jede russische Nonprofit-Organisation vor Neid erblassen lassen. Zu ihnen zählen die mächtigsten Konzerne, darunter auch solche mit staatlicher Beteiligung: Rosneft, Rosatom, Sibur, Rostec, Gazprombank, RDIF und viele mehr.  

    Innopraktika wurde für viele Großunternehmer gewissermaßen zur Eintrittskarte in die Sphäre führender Forschungs- und Entwicklungsprojekte (zumindest an der MGU). Und wie Katerina Tichonowas E-Mails zeigen, wusste sie ihre Ehe mit Schamalow für die Voranbringung ihres Fonds zu nutzen. Mehrmals bat die Tochter von Wladimir Putin ihren Mann außerdem, zusammen mit seinen Partnern ihr liebstes Hobby zu finanzieren – Rock‘n‘Roll-Akrobatik. 

    Am 14. April 2014 schickte sie ihrem Mann den Entwurf einer E-Mail von Iwan Sbitnew, dem Präsidenten des russischen Verbands der Rock‘n‘Roll-Akrobatik, die an den Generaldirektor des Erdgasförderunternehmens Nowatek, Leonid Michelson, adressiert war:

    „[…] Wir möchten Sie bitten, die Möglichkeit einer Unterstützung für den russischen Verband der Rock‘n‘Roll-Akrobatik in Form einer Spende für die satzungsgemäße Tätigkeit in Höhe von einer Million Dollar jährlich über fünf Jahre zu prüfen“, stand am Ende seiner E-Mail.    

    Innerhalb der nächsten zehn Tage leitete Tichonowa zwei weitere Schreiben gleichen Inhalts von Sbitnew an Schamalow weiter, eines an den Präsidenten der Gazprombank Andrej Akimow (ohne Angabe der Summe) und eines an den Generaldirektor von Sibur, Dimitri Konow (10 Millionen Rubel [damals rund 200.000 Euro – dek]).  

    Die Chefs dieser russischen Großkonzerne, die Tichonowa um Unterstützung bat, schlugen ihre Bitten nicht ab: Sibur, Nowatek und die Gazprombank tauchten mehrfach in der Liste der Partner und Sponsoren des Verbandes der Rock‘n‘Roll-Akrobatik auf. 

    Trennung

    Anfang 2018 berichtete die internationale Nachrichtenagentur Bloomberg von der Trennung Kirill Schamalows und Katerina Tichonowas. Etwa ein halbes Jahr zuvor hatte Schamalow das Sibur-Aktienpaket verkauft, das er 2013 von Gennadi Timtschenko erworben hatte. Bloombergs Quellen zufolge machte Schamalow mit diesem Verkauf keinen Gewinn, weil er dieses Paket als Garantie des Vertrauens des russischen Präsidenten bekommen hatte. In Schamalows E-Mail-Archiv finden sich keine Angaben dazu, wie viel er für die Sibur-Aktien bekommen hat. 

    2018 kam Kirill Schamalow auf die Blacklist der USA, weil er nach seiner Hochzeit mit der Tochter des russischen Präsidenten „zu einem ausgewählten Kreis von Milliardären aus dem Umfeld von Wladimir Putin gehörte“. Die amerikanischen Behörden waren mit dieser Entscheidung reichlich spät dran: Die letzte E-Mail von Schamalow an die Präsidententochter stammt vom 15. Juni 2017. Er leitete Tichonowa eine E-Mail von einem berühmten Sankt Petersburger Architekten mit mehreren Planungsentwürfen für eine Villa im Grünen weiter (ohne genaue Adressangabe). Danach gibt es im Archiv keine E-Mails mehr zwischen den beiden.   

    Kirill Schamalow und Katerina Tichonowa ignorierten die Anfragen von Washnyje istorii. Wir baten auch den Pressesprecher des russischen Präsidenten, Dimitri Peskow, um einen Kommentar zur Nutzung von Offshore-Firmen durch Wladimir Putins Schwiegersohn, zum Kauf von Aktien millionenfach unter dem Marktwert und zu den Luxusimmobilien in Russland und Frankreich, über die Schamalow zusammen mit der Präsidententochter verfügte. Dazu sagte Peskow wörtlich: „Solche Fragen sind schon oft unbeantwortet geblieben.“   

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  • „Wir müssen das Triumphale aus der Geschichte tilgen“

    „Wir müssen das Triumphale aus der Geschichte tilgen“

    Imperium, das waren immer die anderen, vor allem die USA: Der Begriff war in der Sowjetunion stets dem „kapitalistischen Westen“ vorbehalten. Unter anderem durch zahlreiche Marketingmaßnahmen russischer Unternehmen bekam der Ausdruck nach dem Zerfall der Sowjetunion eine andere Färbung. So konnte man schon Mitte der 1990er Jahre in der Zeitschrift Imperium des Geschmacks blättern, eine Schönheitssalon-Kette verpasste sich den Namen Imperium des Stils, es gab einen Imperium-Vodka und die Reisebüro-Kette Imperium des Tourismus

    Auf diesen fruchtbaren Boden fiel in den frühen 2000er Jahren auch die Idee von der Wiederherstellung des Imperiums. Nach dem Ende des Kalten Krieges, so hieß es darin, hat sich der Westen als arroganter Sieger aufgeführt: In seinem eitlen Stolz habe er alles darangesetzt, Russland zu demütigen. Russland sei jedoch „von den Knien auferstanden“ und zum alten Glanz des Sowjetimperiums zurückgekehrt.

    Der Politikwissenschaftler Sergej Medwedew ist überzeugt, dass diese Erzählung den Menschen in Russland von oben aufgesetzt worden ist. Der Ökonom Sergej Gurijew hat den Preisträger des diesjährigen Pushkin House Prize in seiner Interview-Reihe auf Doshd-TV befragt, die einer der ewigen russischen Fragen gewidmet ist: „Was (soll man denn) tun?“ Was muss man tun, um ein freies und wohlhabendes Russland aufzubauen, und was muss man als Erstes tun, wenn sich eine Gelegenheit für den Wandel bietet? VTimes hat das Interview verschriftlicht, darin erklärt Medwedew, warum er davon überzeugt ist, dass der Aufbau eines normalen und modernen Nationalstaates zum Greifen nahe ist. Und das Rezept dafür, so der Politologe, ist denkbar einfach.

    Politologe Sergej Medwedew (links) im Gespräch mit Sergej Gurijew darüber, warum er glaubt, dass der Aufbau eines modernen Nationalstaates zum Greifen nahe ist / Foto © vtimes
    Politologe Sergej Medwedew (links) im Gespräch mit Sergej Gurijew darüber, warum er glaubt, dass der Aufbau eines modernen Nationalstaates zum Greifen nahe ist / Foto © vtimes

    Sergej Gurijew: Sergej, heute wird überall auf der Welt von der Verschiebung globaler Werte hin zu nationalen Identitäten gesprochen. Hat Russland eine besondere Identität, einen Sonderweg?

    Sergej Medwedew: Ich bin Konstruktivist, und ich glaube, dass jede soziale Wirklichkeit erfunden ist. Jede nationale Idee, jede Ideologie ist vollständig konstruiert, von einer Elite erdacht und über die Massenmedien verbreitet – und sie lässt sich innerhalb von ein paar, sagen wir zehn, Jahren durchaus verändern. 

    Sicher, einige Mythen inspirieren die Menschen. Doch das sind keine ewigen Werte, kein Sonderweg – es sind durchsichtige Folien, die Medienleute, PR-Manager, Polittechnologen und Leute aus der Präsidialadministration vor uns drapieren. Bis dieses Tableau wieder abgenommen und durch ein anderes ersetzt wird. 

    Das Tableau lässt sich also innerhalb von zwei oder zehn Jahren vollständig austauschen? Werden denn die Werte und Identitäten von der Präsidialadministration und von Medienleuten gezielt entworfen? Oder geschieht das als Reaktion auf eine Nachfrage der Gesellschaft?

    Das geht von beiden Seiten aus. Sehen Sie sich an, wie sich das Tableau in den letzten 30 Jahren verändert hat: Das Ende der 1980er und der Anfang der 1990er waren geprägt von einer Ideologie der Normalität: „Hinter uns liegen 70 Jahre kommunistischer Finsternis, doch jetzt tritt Russland in die Gesellschaft der zivilisierten Nationen ein, öffnet sich der Welt.“ Das war eine natürliche Reaktion der Gesellschaft, in Kombination mit der wirkmächtigen Publizistik der Perestroika.

    Es ist kein Sonderweg – es sind durchsichtige Folien, die Medienleute, PR-Manager, Polittechnologen vor uns drapieren

    Auch Putin war ein Produkt dieser Ideologie. Ich kann Putins Worte bei einem Treffen mit Vertrauten nur unterschreiben: Er wurde gefragt, ob Russland eine nationale Idee haben solle. Woraufhin er gereizt erwiderte, offenbar konnte er diese Frage nicht mehr hören, Russlands einzige nationale Idee sei die Wettbewerbsfähigkeit. Das war damals das vorherrschende Paradigma der gesamten Elite und der Bevölkerung.

    Später wurden uns allmählich neue Folien drübergelegt: die Idee der Autarkie, der Souveränität, einer souveränen Demokratie. Und dann fällt endgültig der Vorhang – 2014, mit der Annexion der Krim: „Russland muss die imperiale Vergangenheit wiederherstellen, Russland geht einen Sonderweg“, hieß es dann. Das alles geschah innerhalb von 15 Jahren.

    2014 zeigte, dass einige Veränderungen im Narrativ auf sehr große Zustimmung in der Gesellschaft stießen. Durchaus möglich, dass nicht einmal Putin mit so einer positiven Reaktion auf die Ereignisse mit der Krim gerechnet hatte. 
    Womit hängt das zusammen? Gibt es gewisse Stereotype im russischen kollektiven Bewusstsein, die vielleicht mit nostalgischen Gefühlen für das Imperium, das Russische Reich, mit den Schulbüchern im Geschichtsunterricht zusammenhängen? 

    Ich würde das [mit Nietzsche – dek] als Ressentiment bezeichnen, als ein postimperiales Trauma. Alle postimperialen Nationen mussten es durchleben – Großbritannien, Frankreich. Auch Russland hat es während des Ersten und des Zweiten Tschetschenienkrieges durchlebt; bis heute prägt das postkoloniale Erbe das gesamte Denkschema in Bezug auf Tschetschenien

    Die Krim hat unerwartet einen wunden Punkt des kollektiven Bewusstseins berührt und die fortdauernde imperiale Gestalt aufgezeigt. 

    Gab es ein solches Kränkungsgefühl in den 1990ern? Ich erinnere mich nicht daran

    Ich hatte ja gesagt, jede Ideologie sei konstruiert, doch es gibt einige langwährende Modelle, die mindestens zwei, wenn nicht drei Jahrhunderte halten: Nämlich das imperiale Selbstbewusstsein, die imperiale Selbstwahrnehmung: Die Elite und die Massen betrachten sich als Teil eines riesigen territorialen Projekts.

    In dieser Hinsicht hinkt Russland furchtbar hinterher. Alle haben sich mehr oder weniger an die postimperiale Weltordnung angepasst, doch Russland will zurück ins 19. Jahrhundert, zurück zum „europäischen Konzert der Großmächte“, zu Gortschakow und zu den großen Erzählungen, als Stalin sich in seiner weißen Jacke mit Churchill und Roosevelt über die Karte beugte, um Europa und die Welt aufzuteilen

    Dieses Gefühl des Ressentiments und der Kränkung wurde von der politischen Elite kreiert. Gab es ein solches Kränkungsgefühl in den 1990ern? Ich erinnere mich nicht daran. Aber nachdem Putin an die Macht kam, etwa Mitte der 2000er Jahre, begann man uns zu erzählen, Russland sei zu kurz gekommen. Die Elite erklärte die Russen zu armen Leuten: „Ihr Lieben seid zu kurz gekommen, die ganze Welt hat euch gelinkt. Wir schotten uns ab und rächen uns an der Welt, die uns missverstanden und nicht akzeptiert hat.“ Das ist eine Ideologie, die von Null auf konstruiert wurde und aus der das Verhältnis zur Krim und dem Rest der Welt erwächst. 

    Aber das postimperiale Ressentiment ist nicht nur ein russisches Problem. Wie Sie richtig gesagt haben, mussten es viele europäische Länder überwinden, als sie den Nationalstaat errichtet haben. Es gibt auch weniger moderne Staaten wie den Iran, der ein Imperium in seiner Region sein will. Oder die Türkei, deren Präsident die hundertjährige Geschichte leugnet, in der eine säkulare Republik geschaffen wurde, und der eine Variante des Osmanischen Reichs wiedererrichten möchte. 

    Als Konstruktivist denken Sie sicher darüber nach, wie sich dieses Ressentiment überwinden ließe, wie sich die Debatte hinlenken ließe zum Aufbau eines Nationalstaates ohne imperiale Ambitionen?

    Ich denke, der Lauf der Geschichte wird das Ressentiment aufheben. Ein harter Schlag, ein Schlag in die Magengrube, war der Verlust der Ukraine. Diesen Schlag wird Russland wohl nicht so schnell verkraften – vielleicht auch nie. Brzeziński hatte Recht, als er sagte, dass der russische Imperialismus in der Ukraine beginnt und endet, dass Russland aufhört ein Imperium zu sein, sobald es die Ukraine verliert.

    Die russische Politik hat zwei Referenzpunkte. Der erste ist Washington, alles, was gesagt oder getan wird, die gesamte Ideologie und alle Auftritte von Sacharowa sind vor allem auf Washington ausgerichtet. Russland misst sich an Amerika. 

    Die russische Politik hat zwei Referenzpunkte. Der erste ist Washington, der zweite die Ukraine

    Der zweite Referenzpunkt ist die Ukraine. Ich sehe das als eine Art Exorzismus, wenn die Dämonen heulend hervorkommen, jedes Mal, wenn die Rede auf die Ukraine, den Donbass oder die Krim kommt. Das sind die Krämpfe eines postimperialen Ressentiments. Dieses Ressentiment wird von den Wellen der Geschichte weggespült. Aber um den hohen Preis des Blutvergießens in der Ukraine, unzähliger vertriebener Menschen, der Bombenangriffe in Aleppo – alles Dinge, die zweifellos als Kriegsverbrechen eingestuft werden müssen.

    Gibt es eine zweite Krim? Würden sich die Russen genauso über eine nicht nur symbolische, sondern tatsächliche Angliederung von Belarus freuen? Gibt es noch mehr Hebel wie damals 2014, an denen die russischen Eliten ansetzen könnten?

    Ich hoffe nicht. Der Krimsekt ist schal geworden. Belarus ist noch ein Joker, den man aus dem Ärmel ziehen könnte, aber der Effekt wäre deutlich kleiner als nach der Krim.

    Heute scheint mir die Geschichte das wesentliche Schlachtfeld zu sein. Nicht nur in Russland, sondern auch im Ausland. 

    Belarus ist noch ein Joker, den man aus dem Ärmel ziehen könnte, aber der Effekt wäre deutlich kleiner als nach der Krim

    Putin hat sich plötzlich zum Historiker Nummer eins erklärt, veröffentlicht Fachartikel und das russische kollektive Bewusstsein empört sich wöchentlich über irgendein Denkmal.

    Der Präsident veröffentlicht Fachartikel mit unverkennbaren imperialen Tendenzen, propagiert einen stalinistischen Blick auf die Welt. Das Fernsehen trieft vor Propaganda. Unsere Schulbücher widersprechen dem, was man in den Nachbarstaaten in Geschichte lernt.

    Es gibt also zwei Felder. Das erste ist das Fernsehen. Wir konnten wunderbar beobachten, wie die Hass- und Propaganda-Maschine vorübergehend gestoppt wurde, um die Fußballweltmeisterschaft abzuhalten. Plötzlich verwandelten sich die Russen in freundliche Gastgeber. 

    Das zweite ist eher ein lang angelegtes Projekt: die Geschichtsbücher. Was müsste dort stehen, damit sich die Schüler von heute zivilisiert verhalten, wenn sie in zehn, 20 oder 30 Jahren die Elite der russischen Gesellschaft bilden?  

    Bei der Fußballweltmeisterschaft haben Sie Recht. Sogar die Russen haben es geglaubt. Viele meiner Freunde schrieben auf Facebook: „Sieh einer an, wir sind normale Menschen, die Polizisten lächeln.“ Doch dann kam der heiße Sommer von 2019.  

    Geschichte kann nicht aus einem einzigen Narrativ bestehen. Wir sollten uns auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen und die Tatsache anerkennen, dass Russland viele Geschichten hat. Jede Ethnie innerhalb der Russischen Föderation hat ihre eigene Geschichte. 

    Wir sollten uns auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen und die Tatsache anerkennen, dass Russland viele Geschichten hat

    Damit werden wir immer wieder konfrontiert. Wenn beispielsweise die Tataren gegen die Verherrlichung von Iwan dem Schrecklichen protestieren. Für sie ist er ein Aggressor, der den tatarischen Staat zerstört hat. 

    Ich denke, wir sollten uns darauf einigen, dass mehrere Perspektiven auf die Geschichte im Unterricht behandelt werden müssen.

    Es gibt ein Ensemble, eine Sinfonie verschiedener historischer Stimmen, unsere Vergangenheit ist diese hochkomplexe, polyphone Partitur

    Geschichte muss in Russland auch die Geschichten der kleinen Völker einschließen, die Geschichten der besiegten Völker, beispielsweise die Geschichte aus Sicht der Tschetschenen. In russischen Schulen muss über die Deportation der Tschetschenen gesprochen werden, über den 200-jährigen Tschetschenienkrieg, über den Imam Schamil

    Die eine Geschichte gibt es nicht – es gibt ein Ensemble, ein Orchester, eine Sinfonie verschiedener historischer Stimmen, unsere Vergangenheit ist diese hochkomplexe, polyphone Partitur. 

    Wir haben die jahrhundertelange Erfahrung einer erfolgreichen Koexistenz verschiedener Ethnien und Religionen

    Außerdem müssen wir das Triumphale aus der Geschichte tilgen, uns von der Idee verabschieden, dass da einst das große Russische Reich war, dessen Nachfolger wir sind. Wir leben in der Vergangenheit, wir gehen vorwärts, doch unser Blick ist nach hinten gewandt. Wir werden ständig stolpern, weil niemand vorwärts gehen kann, wenn er nicht nach vorn schaut. Aber wir schielen auf das Russische Reich und begreifen nicht, dass Russland ein schon fast zerfallenes Imperium ist.   

    Das Russische Reich erlebte seinen Zerfall in zwei Akten: 1917 und 1991, und jetzt befinden wir uns in der Mitte des komödiantischen dritten Aktes. Im Gegensatz zu anderen großen Imperien ist das Russische Reich immer noch nicht ganz zerfallen. Russland begreift sich bis heute im großen territorialen Paradigma der letzten Jahrhunderte. Ich glaube, Witte sagte einmal: „Ich weiß nicht, was Russland ist, aber ich weiß, was das Russische Reich ist.“ Wir meinen auch heute noch dieses Imperium, wenn wir „Russland“ sagen. Wir schaffen es nicht, Russland als einen Nationalstaat zu denken. 

    Gerade deswegen ist ein kleinster gemeinsamer Nenner notwendig. Aber welcher könnte das sein? Ist Russland ein europäisches Land? Sind die klassische russische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, das Streben nach Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und Wertschätzung der Bildung ein gemeinsames Fundament, um Russland als einen Teil der europäischen Kultur betrachten zu können? Oder wird auch das von einem Teil der Gesellschaft angenommen und von einem anderen abgelehnt werden? 

    Letzteres, denke ich. Ich würde mir natürlich wünschen, dass die Bewohner des Fernen Ostens und alle Völker des Kaukasus sagen: Russland ist eine europäische Kultur. Aber ich möchte diese Position niemandem als die einzig richtige aufdrängen. Für mich ist die Multikulturalität der kleinste gemeinsame Nenner – der Dialog der Kulturen, der Ethnien, der Religionen und der gegenseitige Respekt. Wir respektieren die Geschichte des tschetschenischen Volkes und das tschetschenische Volk respektiert die russische Geschichte. 

    Genau das ist nämlich Russlands Stärke, weil wir die jahrhundertelange Erfahrung einer erfolgreichen Koexistenz verschiedener Ethnien und Religionen haben, die beispielsweise Frankreich fehlt. Wir sehen ja, was in den Banlieues passiert. In russischen Großstädten sind die Vertreter des Islam integriert und bilden keine ethnischen Enklaven. Das ist eine einzigartige Erfahrung, die Russland kultivieren, fördern und in den Rest der Welt tragen sollte. 

    In russischen Großstädten sind die Vertreter des Islam integriert und bilden keine ethnischen Enklaven. Das ist eine einzigartige Erfahrung, die Russland kultivieren, fördern und in den Rest der Welt tragen sollte

    Außerdem braucht die russische Nation für ihren Aufbau ein antistaatliches Pathos. Denn der starke Staat, der Leviathan, war immer Russlands Rettung und Russlands Verhängnis zugleich. Russland war nicht nur ein Imperium, Russland war auch ein riesiger halbmilitaristischer Staat, der während der Putin-Ära in all seiner mittelalterlichen Pracht wieder zum Leben erwacht ist.

    Es gibt zwei Hürden, die Russland den Weg in die Moderne versperren: das Imperium und der Staat. Und gerade das sind die beiden wesentlichen Klammern des Putinismus.

    Wir haben Angst vor dem Staat, vor diesem ehernen Reiter, der über die gefluteten Weiten unserer Heimatstadt galoppiert. Überall wittern wir staatliche Interessen und fühlen uns ihnen unterworfen.  

    Sie haben Recht, wir haben Angst vor dem Staat. Wir vertrauen ihm nicht. Auch unsere Lust, gegen das Gesetz zu verstoßen, rührt daher, dass der russische Bürger im letzten Jahrhundert eines mit Sicherheit wusste: Das Gesetz ist nicht gerecht. Weil es von oben kommt und nicht aus einem demokratischen Konsens hervorgeht. Aber es kann keine moderne Gesellschaft ohne Rechtsstaatlichkeit, ohne Vertrauen in die staatlichen Institutionen geben. Wie können wir dieses Vertrauen schaffen?

    Dieses Vertrauen entsteht über funktionierende Institutionen. Die gab es in Russland bereits. Wir haben gesehen, wie Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre allmählich eine Infrastruktur des Rechts entstand und auch funktionierte, bis die Rechtsinstitute von der administrativen Vertikale und all der politischen Bürokratie entmachtet wurden.

    Ich würde gern über Vertrauen sprechen, nicht nur das Vertrauen zum Staat, sondern auch zueinander. Das fehlende Vertrauen, so scheint mir, versperrt der russischen Gesellschaft den Weg in eine erfolgreiche Zukunft. Zynismus ist heute ein wesentliches Instrument, mit dem die russische Elite das Volk manipuliert. Deswegen sagen die Menschen Dinge wie: „In unserem Land wird es nie etwas Gutes geben, weil wir schlechte Menschen sind und einander nicht vertrauen. Die Hoffnung, dass wir eine erfolgreiche, prosperierende Gesellschaft werden, können wir gleich vergessen.“ Was kann man diesem Zynismus entgegensetzen? Wie bringt man die Menschen dazu, einander zu vertrauen?

    Sie haben Recht … In seinem Buch Trust bezeichnet Francis Fukuyama das Vertrauen als Grundlage des Humankapitals. Die Kapitalisierung eines Landes bemisst sich nicht am Bruttosozialprodukt, sondern am Vertrauen, das einen viel größeren Wert hat als die Wirtschaftsgüter. Auch der amerikanische Kapitalismus basiert, wie auch jedes erfolgreiche Unternehmen, auf Vertrauen, wie es das zum Beispiel zwischen den Protestanten oder den russischen Altgläubigen gab. 

    Dass bei uns das Vertrauen fehlt, beweisen die Zäune: Russland ist kein Land der gemeinschaftlichen Sobornost, sondern ein Land der massiven Sabornost, ein Land der Zäune [Sabornost]. Eine Fahrt über die Rubljowka ist eine Fahrt durch einen Tunnel aus massiven Zäunen.     

    Dass bei uns das Vertrauen fehlt, beweisen die Zäune: Russland ist ein Land der Zäune

    Vertrauen beginnt mit den Institutionen, genauer gesagt mit der Transparenz von gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen, mit ihrer Auskunftsbereitschaft, Rechenschaft und Verantwortung. Mit einer fairen, unbestechlichen, transparenten Justiz, mit Rechtsinstituten. Damit, dass der FSB seine Archive öffnet, dass Finanzströme transparent gemacht werden, die derzeit alle unter Verschluss sind. Damit beginnt Vertrauen – es geht nicht darum, dass wir einander lächelnd in der Metro grüßen, obwohl das natürlich auch schön wäre. Die Institutionen schaffen oder vernichten das Vertrauen, sie erzeugen diese Muster des Zynismus, des Misstrauens und des Hobbschen Kampfes aller gegen alle.

    Wir haben viel über das Imperium gesprochen, vielleicht wäre es noch wichtig, über die Dekolonisation zu sprechen. Was müssen wir tun, damit Russland aufhört, Teile seines Landes oder die Nachbarstaaten als Kolonien zu betrachten?

    Lernen und die Welt mit offenen Augen betrachten, das müssen wir tun. Es ist doch befremdlich, wenn Leute, die deine Ansichten zur Ukraine und der Krim teilen, plötzlich explodieren, wenn es um Black lives matter, Greta Thunberg oder um Me too geht. Ich möchte das alles auf einen Nenner bringen, denn das alles sind Anzeichen der Dekolonisation. 

    Es ist doch befremdlich, wenn Leute deine Ansichten zur Krim teilen, aber explodieren, wenn es um Black lives matter, Greta Thunberg oder um Me too geht

    Wir leben in einem durch und durch kolonialen Diskurs. Er besteht nicht nur darin, dass Russland den Kaukasus erobert und Sibirien kolonisiert hat. Sondern auch darin, dass die Macht in den letzten Jahrhunderten bei den Männern, den Weißen, den Bewaffneten, den Erwachsenen lag. Diese Machtverhältnisse geraten jetzt ins Wanken. Und das passt vielen nicht.

    Die Lösung wäre also eine Anerkennung der Pluralität und die Dekolonisation. Die moderne Demokratie ist genau das Instrument, das den Menschen dabei hilft, sich zu einigen. Wenn wir vernünftige, moderne, politische Institutionen schaffen, schaffen wir auch die Grundlage dafür, dass Russland ein normaler Nationalstaat wird und von seinen imperialen Eskapaden Abstand nimmt. Es gibt keine besondere Politik der Dekolonisation, es braucht nur den Aufbau eines normalen, modernen Staates.    

    Genauso ist es. Dafür müssen die Institutionen gut funktionieren. Sobald sie es tun, lösen sich die Probleme zwischen Russland und Tschetschenien, zwischen Männern und Frauen, die Frage nach dem tatarischen Sprachunterricht in den Schulen und vieles mehr.

    Die Dekolonisation ist kein Import aus dem Westen, der der eigenständigen russischen Kultur aufgedrängt wird, sondern ein weltumspannender Prozess des 21. Jahrhunderts, bei dem Russland, wie so oft, hinterherhinkt. 

    Die Dekolonisation ist kein Import aus dem Westen, der der eigenständigen russischen Kultur aufgedrängt wird, sondern ein weltumspannender Prozess

    Gaidar sprach in seinen Büchern von einer 40- bis 50-jährigen Verspätung, mit der Russland bei den wesentlichen kulturellen Errungenschaften ankommt. So ist es auch jetzt: Russland steht jetzt da, wo der Westen in den 1960ern war, und versucht nun mit denselben Herausforderungen fertigzuwerden. 

    Bleibt nur zu hoffen, dass Russland aus der Erfahrung der anderen Länder lernt und diesen Weg schneller zurücklegt. 

    Ja, die Normalität ist viel näher, als wir glauben, wir müssen nur das Denken in Stereotypen ablegen und die Hand nach der Normalität ausstrecken – und nach den Menschen, mit denen wir leben.

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Wie Merkel lernte, mit dem Gopnik zu reden

    Wie Merkel lernte, mit dem Gopnik zu reden

    Alexej Nawalny ist Opfer eines Verbrechens“, nachdem die Nowitschok-Vergiftung des russischen Oppositionspolitikers nachgewiesen war, fand Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrem öffentlichen Statement ungewöhnlich deutliche Worte. Und fügte hinzu: Die Bundesregierung verurteile dies aufs Allerschärfste und erwarte, dass die russische Regierung sich erklärt. Die reagierte Mitte September, indem sie den deutschen Botschafter in Moskau einbestellte. Sie sprach von „unbegründeten Anschuldigungen und Ultimaten an die Adresse Russlands“, was eine „Diskreditierung unseres Landes in der internationalen Arena“ bedeute. Es wurde gefordert, dass Deutschland diese „Hysterie“ unverzüglich einstelle.

    Der Dialog mit Russland geriet in letzter Zeit, etwa nach dem Abschuss der Boeing MH17, der Angliederung der Krim, dem Krieg in Syrien, immer wieder auf den Prüfstand – liegt er nun endgültig auf Eis? Ja – und das ist gut so, meint Maxim Mironow, Wirtschaftswissenschaftler an der privaten IE Business School in Madrid. In seinem Blogbeitrag, den auch Echo Moskwy veröffentlichte, vergleicht er Putin mit einem Gopnik: Mit einem solchen „Hinterhof-Intellektuellen“ könne man keinen Dialog führen – denn er wird jeden in einen Endlosmonolog hineinziehen, aus dem nur er selbst als Sieger hervorgehen kann.

    Ich bin in einem ziemlich proletarischen Stadtteil von Nowosibirsk aufgewachsen, mit Gopniki bekam ich es schon als Kind zu tun. 
    „Zu tun bekommen“ ist nicht ganz das richtige Wort, eher waren die Gopniki die dortige Elite und gaben im Kiez den Ton an. Wenn dich eine Gruppe von Gopniki anquatschte, dann endete die Sache meist damit, dass sie dir Geld abknöpften. Das konnte ganz unterschiedlich ablaufen. Eine klassische Szene sah so aus:

    „Hast du Geld?“

    Was erwidert man auf so eine Frage? Wenn man nein sagt, kommt sofort:

    „Und wenn wir welches finden?“

    Diese Frage ist schon heikler. Wenn man nämlich sagt, „dann sucht halt“, und sie finden welches, muss man das Geld abdrücken, denn man hat ja dreist gelogen und muss für seine Dreistigkeit büßen. Verweigert man die Durchsuchung aber, dann ist das noch schlimmer, weil man damit ja quasi zugibt, dass man gelogen hat (sonst hätte man ja kein Problem damit, sich durchsuchen zu lassen). Also sagt man vielleicht lieber gleich die Wahrheit und antwortet auf die Frage nach dem Geld ehrlich „ja, hab ich“. Dann folgt die Aufforderung:

    „Leih mir bis morgen x Rubel, ich brauch Zigaretten.“

    Ablehnen geht nicht, sonst beleidigst du den guten Kerl. Und klar ist, dass „leihen“ in dem Fall nicht heißt, dass jemand vorhat, dir das Geld zurückzugeben. Kurz, egal, was man auf diese Frage antwortet – das Geld ist man los. 

    Ein paarmal wurde ich ordentlich verdroschen

    Viele meiner Bekannten dachten, man müsse nur lernen, mit den Gopniki po ponjatijam zu sprechen – dann könne man negative Konsequenzen vermeiden, wenn sie dich zum Dialog auffordern. Aber diese Hoffnung war vergebens: Da halfen keine Fertigkeiten. Denn wenn sie dich erst am Wickel hatten, dann konnten sie dir auch erfolgreich erklären, warum du ihnen dein Geld geben musst. Das Ziel war ja nicht, den Dingen auf den Grund zu gehen und die Wahrheit ans Licht zu bringen. Das Ziel dieser Dialoge war ausschließlich, dir zu erklären, dass du ihnen Geld geben musst. 

    So hattest du schon verloren, wenn du dich überhaupt auf ein Gespräch eingelassen hast. Das hatte ich relativ bald kapiert und versuchte, ihnen auszuweichen. Möglichst ruhig und neutral, etwa: „Keine Zeit, Mann, muss zur Schule“, und dann schnell weg, bevor ihnen darauf eine Antwort einfällt. Wenn ich nicht schnell wegkam, dann war es am besten, gleich auf Konfrontation zu gehen, zum Beispiel: „Was interessiert dich das?“ Ich kam natürlich nicht drumherum und wurde ein paarmal ordentlich verdroschen. Dafür hörten sie danach aber auch auf, mir Geld abzuknöpfen (obwohl ich immer welches dabeihatte). 

    Jede Schlägerei ruiniert das Image der „Edelmänner“

    Was ich auch schon als Kind verstand: Gopniki wollen keine offenen Konflikte. Sie vermöbeln dich vielleicht ein Mal, zur Abschreckung. Aber wenn das nicht wirkt, lassen sie dich wahrscheinlich in Ruhe und widmen sich anderen, mit denen sie es leichter haben. 
    Warum aber wollen Gopniki keine offenen Konflikte? Das hat zwei Gründe: Erstens kann durch offene Konflikte ein für sie unangenehmer Tumult entstehen. Einmal, als sie mit meinem Kopf in der Schule eine Fensterscheibe zertrümmert haben, wurden der Notarzt und die Polizei gerufen, und diese „Schulelite“ und ihre Eltern über mehrere Tage verhört. Jede Gewaltanwendung kann außer Kontrolle geraten und die unerwünschte Aufmerksamkeit Dritter erregen. Im Fall einer freiwilligen Spende sinkt dieses Risiko gegen Null. 

    Zweitens – und das ist entscheidender – ruiniert jede Schlägerei das Image der „Edelmänner“. Ihr ganzes Geldbeschaffungskonzept beruht darauf, dass sie höflich sind und leise und ruhig mit dir reden. Jedes Mal, wenn sie sich das Geld mit Gewalt nehmen, stellt sie das auf eine Stufe mit ganz banalen Räubern. Aber die Gopniki sind sehr bedacht auf ihr Image als Hinterhof-Intellektuelle.

    Meine Erlebnisse vor 30 Jahren haben viel mit dem zu tun, was Putin mit Merkel veranstaltet

    Warum fällt mir das jetzt ein, und warum erzähle ich das so lang und breit? Weil das, was ich da vor 30 Jahren erlebt habe, viel zu tun hat mit dem, wie Putin Merkel an der Nase herumführt. Putin versucht, sie in einen endlosen Dialog zu verwickeln, in dem, egal, wie man es dreht und wendet, Putin als Sieger hervorgeht. Dieser Dialog sieht derzeit so aus:

    20. August. Peskow erklärt, in Russland werde es Ermittlungen geben, falls sich der Verdacht auf eine Vergiftung Nawalnys erhärtet.

    24. August. Die deutsche Klinik Charité erklärt, Nawalny sei vergiftet worden. Man sollte meinen, die Bedingung, die Peskow am 20. August gestellt hat, sei nun erfüllt. Die Ermittlungen müssten beginnen. Doch am nächsten Tag stellt der Kreml eine neue Bedingung:

    25. August. Peskow zufolge gibt es bisher keinen Anlass zu Ermittlungen, da nicht bekannt sei, welcher Substanz Nawalny ausgesetzt war.
    Welchen Schluss zieht daraus wohl ein normaler Mensch? Aus irgendeinem Grund muss vor Beginn der Ermittlungen die Substanz identifiziert werden. Sobald klar ist, womit Nawalny vergiftet wurde, wird mit den Ermittlungen begonnen. 

    2. September. Die deutschen Behörden erklären, Nawalny sei mit Nowitschok vergiftet worden, wobei dies auf höchster Ebene verkündet wurde – von der Bundeskanzlerin persönlich. Beginnt nun der Kreml seine Untersuchungen, wie Peskow am 25. August versprochen hat? Fehlanzeige. Es folgen lauter neue Forderungen und Ausreden: Ein gemeinsames Gremium mit russischen Ärzten soll her, Deutschland habe Russland die Daten nicht weitergeleitet, wenn Nawalny vergiftet wurde, dann in Deutschland und nicht in Russland, die Ermittler des Innenministeriums sollen Zugang zu Nawalny bekommen.

    Sobald eine Bedingung erfüllt ist, werden neue gestellt 

    Wir sehen: Die Forderungen des Kreml wachsen wie die Häupter der Hydra. Sobald eine Bedingung erfüllt ist, werden neue gestellt. Das ist ein Endlosspiel, das Merkel nicht gewinnen kann, wenn sie sich an Putins Regeln hält. Angenommen, Deutschland lässt zu, dass sich russische Spezialisten selbst davon überzeugen, dass es Nowitschok war. Zeigt man ihnen einfach die Befunde, dann werden sie wahrscheinlich sagen: „Wir glauben euch das nicht, zeigt uns, wie ihr es gefunden habt.“ Wenn Deutschland das macht (womit unsere Chemiewaffenentwickler an die wertvolle Information kommen würden, an welcher Stelle sie versagt haben), können sie immer noch sagen: „Ja, Nowitschok ist nachweisbar. Aber wer sagt, dass es bei uns produziert wurde, das Rezept haben ja auch die Länder der NATO.“ Wie kann man beweisen, dass das Nowitschok aus Russland kommt? Rein theoretisch könnten deutsche Experten nach Russland fahren und alle Orte untersuchen, an denen Nawalny an jenem Morgen gewesen ist. Und da gibt es dann zwei Szenarien. 

    Der Gopnik Putin zieht Merkel in einen Endlosmonolog, aus dem nur er als Sieger hervorgehen kann

    Wenn sie nichts finden (der Geheimdienst hatte ja drei Wochen Zeit, die Spuren zu beseitigen), dann heißt es im Kreml: „Aha, seht ihr, bei uns wurde nichts gefunden, also habt ihr ihn vergiftet.“ Und wenn die deutschen Experten doch etwas finden, dann kommt wieder die alte Leier: „Und wer garantiert, dass ihr das nicht mitgebracht habt, es wissen doch alle, dass Nowitschok in den NATO-Ländern hergestellt wird.“ 
    Wenn die Deutschen aber gar nicht nach Russland fahren (etwa aus Sorge um die eigene Sicherheit), dann sagen sie im Kreml: „Aha, seht ihr, sie wollen nicht kommen, obwohl wir sie einladen. Das beweist, dass sie es waren.“ Wenn Deutschland unsere Experten nicht hereinlässt: „Seht ihr, sie lassen unsere Experten nicht rein, wollen keine Kontrolle – also haben sie was zu verbergen.“ Und wenn Deutschland auf die sinnlosen Forderungen nicht reagiert: „Seht ihr, sie antworten nicht mal auf unsere Fragen, wie sollen wir da ein Verfahren einleiten?“ 

    Der Gopnik Putin versucht, Merkel in einen Endlosmonolog hineinzuziehen, aus dem nur er als Sieger hervorgehen kann. Je weiter er in diesem Dialog kommt, desto mehr Asse hat er im Ärmel. Zu jeder Antwort aus Deutschland kann man zehn neue Fragen stellen (zum Thema und am Thema vorbei), zu jeder Tatsache zehn alternative Erklärungen vorbringen und zu jeder Schlussfolgerung zehn Zweifel säen. Einen Gopnik kann man weder von irgendetwas überzeugen noch kann man ihm etwas beweisen. Er ist Kläger und Richter in einer Person. Den Überzeugungsgrad Ihres Arguments wird der Gopnik beurteilen, nicht Sie, so überzeugend Ihnen das Argument auch vorkommen mag. Dabei ist sein Ziel nicht, die Wahrheit zu finden, denn die kennt er bereits.

    Einen Gopnik kann man nicht überzeugen: Er ist Kläger und Richter in einer Person

    Putin fährt diese Taktik – den Partner in einen Endlosmonolog zu verstricken und lauter Zweifel zu säen – nicht zum ersten Mal. So war es im Fall der malaysischen Boeing, bei der Vergiftung der Skripals und bei Litwinenko. Aber es ist das erste Mal, dass Merkel sich nicht auf diese Gopnik-Spielchen einlässt. Nach zwei Runden Schlagabtausch („beweisen Sie, dass er vergiftet wurde“ und „dann sagen Sie, womit“), hat Deutschland einfach beschlossen, Putin zu ignorieren und alle Untersuchungsergebnisse an die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) sowie seine G-7-Partner weiterzugeben. Offenbar hat niemand mehr Lust, seine Zeit mit endlosen Gesprächen zu vergeuden, bei denen man am Ende auch noch selbst schuld ist.

    Warum windet Putin sich wie ein Aal? 

    Zu guter Letzt noch die wichtigste Frage: Warum windet Putin sich wie ein Aal, anstatt dem Beispiel der Saudis zu folgen, die nach der misslungenen Beseitigung eines unliebsamen Journalisten acht Schuldige gefunden und verurteilt haben? 

    Dafür gibt es zwei Erklärungen: Erstens, Putin „verrät seine Leute nicht“. Es ist klar, dass das Attentat auf Befehl Putins verübt wurde. Liefert er die Täter aus, würde das seine Autorität innerhalb der mafiösen Sicherheitsstrukturen untergraben. 
    Zweitens mögen die Gopniki, wie ich bereits erwähnte, keinen Aufruhr und erledigen ihre Arbeit lieber still und in Ruhe. Daher auch die Taktik mit den „höflichen Menschen“ bei der Krim-Annexion, ohne einen einzigen Schuss – nach dem Motto, die haben uns die Krim doch freiwillig gegeben. Daher der langjährige Prozess der Machtmonopolisierung, der im Großen und Ganzen ruhig und ohne offene Konflikte abgelaufen ist. Daher auch der langjährige Druck auf Nawalny. Alles im Rahmen des „Gesetzes“. Und wenn es kein passendes Gesetz gibt, erfindet man eben eins.

    Wenn Putin zugibt, dass einer von seinen Silowiki versucht hat, Nawalny zu ermorden, dann würde er de facto eingestehen, dass er mit seinen „intellektuellen Gopnik-Gesprächen“ nichts bei ihm ausrichten konnte und anfangen muss, wie ein Hinterhof-Gangster zu handeln – mit roher Gewalt. Aber Putin schätzt sein eigenes Image als Hinterhof-Intellektueller sehr, der „seit Mahatma Gandhis Tod keinen ordentlichen Gesprächspartner mehr hat“.

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  • Sergej Sobjanin

    Sergej Sobjanin

    Der sowjetische Gassenhauer „Beste Stadt der Welt“ dröhnt aus den Lautsprechern, Menschen jubeln und halten Transparente mit der Aufschrift „Unser Bürgermeister“ hoch. Die Stimmung ist gut, obwohl einige der offiziell 50.000 Teilnehmer von ihren Arbeitgebern dazu eingespannt werden, an den Feierlichkeiten teilzunehmen.1 Der Event-Moderator ergreift das Mikro: „Unser Kandidat Sergej Sobjanin führt mit 56 Prozent. Heute ist ein doppelter Feiertag: Tag der Stadt und Tag des Wahlsiegs!“2

    Letztendlich gewinnt Sobjanin die Moskauer Bürgermeisterwahl 2013 mit rund 51 Prozent. Der unterlegene Oppositionspolitiker Alexej Nawalny kreidet schon kurz nach den Feierlichkeiten Wahlfälschungen an und versammelt seine Anhänger genau dort, wo Sobjanin tags zuvor seinen Triumph feierte – am Bolotnaja Platz.

    Der Amtsinhaber wählte diesen Ort wahrscheinlich nicht zufällig: Die Chiffre Bolotnaja steht schon seit fast zwei Jahren für die Proteste gegen Wahlfälschung. Schon während dieser Proteste stellte Sobjanin fest, dass Moskauer unzufrieden seien und Reformen wollten; er forderte eine „ernste Veränderung“ der Kommunikation mit der Bevölkerung und ihre Teilnahme an der Lokalpolitik.3

    Eine Bürgermeisterwahl später steht Sobjanin so gut da wie nie zuvor: 2018 gibt es bei der Wahl keine richtigen Konkurrenten, die Wahlbeteiligung bleibt aber dennoch auf gewohntem Niveau von rund 30 Prozent. Bolotnaja-Proteste sind Vergangenheit, und Sobjanin holt eines der landesweit besten Ergebnisse aller Gouverneurswahlen 2018: Etwa 70 Prozent stimmen für ihn. Gab es wirklich eine „ernste Veränderung“, oder worin besteht der Erfolg des Bürgermeisters – der in der Corona-Krise 2020 als „russischer Söder“ von sich Reden macht?

     

     


    Zum Zoomen mit dem Mausrad die Strg-/Ctrl-Taste gedrückt halten oder in den Vollbild-Modus wechseln. Quelle: ZIK

     

    In Moskau, so schreibt der Journalist und „noodleremover“ Alexej Kowaljow, gebe es praktisch keine Lokalmedien. Es komme zwar eine Vielzahl an Zeitungen und kostenlosen Anzeigenblättern raus, auch Fernsehkanäle gebe es und Onlinemedien; dem überwiegenden Großteil von ihnen sei aber eines gemeinsam – sie gehören der Stadtverwaltung. Und diese, so Kowaljow, gebe ihren Medien auch ihre eiserne Regel vor: „drei Moskau, drei Sobjanin“. Dieser Richtschnur zufolge müsse in jedem Text über Moskau das Stadtoberhaupt Sergej Sobjanin ausschließlich in positivem Licht und mindestens drei Mal erwähnt werden.4 Dafür gebe die Moskauer Stadtverwaltung Schätzungen zufolge umgerechnet 500 US-Dollar pro Minute aus.5

    Für Kowaljow ist klar: Diese Mittel werden in den Personenkult um Sobjanin investiert. Dessen Spitzenplatz in den Beliebtheits-Ratings russischer Gouverneure sei ein Zeugnis dafür.

    „Mann ohne Eigenschaften“

    Doch worin besteht dieser Personenkult? Sobjanin erscheint für viele doch eher farblos, fern jeder Glorifizierung: Ihn umweht der Stallgeruch einer Amtsstube, seine seltenen Interviews gleichen bürokratischen Deklarationen, die öffentlichen Reden wirken gestanzt und maschinell. Vielleicht ist es auch der Grund, weshalb Sobjanin von seinen frühen Weggefährten den Spitznamen „Roboter“ abbekam, und weshalb der Journalist Kirill Martynow in Sobjanin gar einen „Mann ohne Eigenschaften“ sieht.6

    Sobjanins Biografie auf der Website des Moskauer Bürgermeisters liest sich knapp und trocken. Die meisten der insgesamt dreizehn aufgeführten Stationen aus dem Werdegang bestehen aus Ein- bis Vierzeilern: 1958 kommt er in der Oblast Tjumen zur Welt, 1980 erlernt er den Schlosserberuf, 1984 übernimmt Sobjanin ein Parteiamt. 1989 folgt der Juraabschluss, 1991 wird er Bürgermeister einer Kleinstadt, 1994 Duma-Vorsitzender des Autonomen Kreises der Chanten und Mansen. 2001 ist Sobjanin Gouverneur der Oblast Tjumen, 2005 kommt er nach Moskau und leitet fortan die Präsidialadministration. Nach einem kurzen Intermezzo als stellvertretender Regierungschef wird Sobjanin 2010 zum Bürgermeister von Moskau ernannt.

    Die letzten zwei Punkte seiner offiziellen Biografie sind demgegenüber etwas ausführlicher: 2013 reicht er sein Rücktrittsgesuch beim Präsidenten ein, um eine vorgezogene Gouverneurswahl zu ermöglichen. Am 18. September 2018 tritt er sein Amt erneut an: Er bedankt sich für das Vertrauen und verspricht die „Fortsetzung der Umgestaltung auf dem Gebiet des Gesundheitswesens, des Transports, des Blagoustrojstwo […].“7

    Sergej Sobjanin gilt als „Mann Putins“. Quelle - Wikimedia
    Sergej Sobjanin gilt als „Mann Putins“. Quelle – Wikimedia

    Blagoustrojstwo

    Der Begriff Blagoustrojstwo war im August 2018 Thema von The Economist, er bezeichnet eine Verbesserung der städtebaulichen Gestaltung und bezieht sich im Artikel hauptsächlich auf das massive Moskauer Umbauprogramm seit 2011. Laut Economist sehen die Machthaber darin ein Instrument zur Demonstration von Effektivität und zur Förderung von Loyalität – insofern ist Blagoustrojstwo eine Art Legitimationsstrategie. Viele Moskauer wiederum sehen in der Chiffre etwas Ähnliches, allerdings mit anderen Vorzeichen: Blagoustrojstwo sei eine Beschwichtigungsstrategie, die die urbane Mittelschicht von neuen Bolotnaja-Protesten abhalten soll.8 Während manche Wirtschaftswissenschaftler Blagoustrojstwo auch als ein Konjunkturprogramm verstehen, sehen einige Korruptionsforscher darin eher größere Anreize zu Raspil.9

    Bei vielen Moskauern kommt Sobjanins Umbauprogramm jedenfalls an: Viele der unliebsamen Verkaufsbuden (russ. „Larki“), die die Hauptstadt förmlich zupflasterten, werden abgerissen. Die asphaltierten Trottoirs, die zuvor oft mit Pfützen übersät waren, erstrahlen nun verbreitert und mit Pflastersteinen (russ. „Plitki“) in neuem Glanz. Moskauer Parkanlagen und Boulevards sind sauber, saniert und herausgeputzt. Die notorisch verstopften Straßen werden genauso ausgebaut wie Parkplätze, es gibt 30 neue Metrostationen, mehr Busse und dutzende Kilometer Fahrradwege. Der 2017 eröffnete Sarjadje-Park unweit des Kreml gehört nun laut dem US-amerikanischen Nachrichtenmagazin Time zu den 100 Greatest Places 2018. Für Proteste dagegen sorgten die Pläne, mehrere tausend Wohnhäuser, darunter zumeist sogenannte Chruschtschowki, abzureißen.
    Es gibt jedoch auch Verbesserungen, die zwar nicht vom Bürgermeister abhängen, ihm jedoch auch in die Hände spielen: So halten beispielsweise die Autofahrer nun in Moskau meistens tatsächlich vor dem Zebrastreifen, und Taxifahrten werden erheblich günstiger. Kurzum: Die Qualität des öffentlichen Raumes steigt unter Sobjanin, genauso wie die gefühlte Lebensqualität.

    Parallel dazu steigen auch die Ausgaben des Moskauer Haushalts: in sieben Jahren um fast das Doppelte.10 2017 sind sie ungefähr so hoch wie die Ausgaben von einem Viertel aller restlichen Regionen Russlands. Pro Kopf gibt Moskau ungefähr das Dreifache des Landesdurchschnitts aus.11

    Dazu gehören auch Sozialausgaben: So sind die Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln für Moskauer Rentner seit dem 1. August 2018 kostenlos. Die Stadtverwaltung erweitert daneben auch das Freizeitangebot für Rentner, und mit Inkrafttreten der unliebsamen Rentenreform erhalten auch Menschen im Vorrentenalter (Steuer-)Vergünstigungen und diverse Ermäßigungen für städtische Dienstleistungen.

    Urbanisierung und Zentralisierung

    Die Ausgabenflut erklärt für viele Beobachter auch den Wahlerfolg Sobjanins im September 2018. Finanziert wurde sie vor allem durch fortschreitende Zentralisierung von Ressourcen in Moskau.

    Das  vielerorts gemutmaßte Kalkül ging offenbar auf: Ein Wiederaufflammen der Bolotnaja-Bewegung ist derzeit nicht vorstellbar. Doch lebt die Hauptstadt gewissermaßen noch mehr auf Kosten anderer Regionen als vor dem Umbau. Das Realeinkommen sinkt landesweit schon seit vier Jahren in Folge, und es stellt sich vermehrt die Frage, ob die restlichen 82 Föderationssubjekte mit dieser Art des Länderfinanzausgleichs weiterleben können, ohne Sozialproteste zu riskieren.

    Parallel dazu kommt auf Russland möglicherweise ein anderes Problem zu: Je lebenswerter das Zentrum empfunden wird und je schwieriger das Leben in der Peripherie, desto mehr Menschen kommen ins Zentrum. Diese Entwicklung setzt eine zweifache Abwärtsspirale in Gang: Die Peripherie verarmt noch mehr, das Zentrum wird mit zunehmenden ökologischen und sozialen Problemen konfrontiert. Stadtsoziologische Studien zeigen, dass eine solche Binnenmigration zur Ghettoisierung von Großstadträndern führen kann. So wächst auch die Bevölkerungsdichte in Moskauer Banlieues schon seit vielen Jahren, vor allem Vororte wie Mytischtschi kämpfen mit gravierenden sozialen Problemen.12

    Während der Corona-Krise macht sich die Journalistin Tatjana Jurassowa dorthin auf. In ihrer Reportage13 für die Novaya Gazeta stellt sie fest, dass in Mytischtschi nur 13 bis 15 einsatzbereite Rettungswagen gibt – also mindestens zehn weniger, als gesetzlich vorgeschrieben. So kommt es, dass Patienten mit Herzinfarkt oder in anderen lebensbedrohlichen Situationen durchschnittlich drei Stunden auf den Notarzt warten müssen, obwohl das Gesetz 20 Minuten verlangt. 
    Das Krankenhaus von Mytischtschi ist chronisch unterversorgt, schreibt Jurassowa: Es gibt nicht genug Krankenhausbetten, elementare Hygienestandards werden nicht eingehalten, viele Ärzte und Pfleger sind nach den Gehaltskürzungen der vergangenen Jahre weggegangen – nach Moskau.

    Krisenmanager

    Dessen Bürgermeister Sobjanin ist der erste hochrangige Politiker Russlands, der sich während der Pandemie mit einer Gesichtsmaske zeigt. Insgesamt scheint es vielen Beobachtern in Russland, dass Sobjanin in der Corona-Krise das Ruder an sich reißt: Während Putin sich kaum über konkrete Maßnahmen äußert, ist Sobjanin der erste Politiker Russlands, der den Wahrheitsgehalt offizieller Infektions-Statistiken anzweifelt. Er ist auch der erste Politiker des Landes, der eine allgemeine Ausgangssperre verhängt und ein „smartes“ Kontrollsystem einführt: Jeder Gang vor die Tür erfordert in Moskau einen Antrag, man bekommt daraufhin einen QR-Code, mit dem man sich bei Polizeikontrollen ausweisen kann. Verstöße gegen die Ausgangssperre werden mit Geldstrafen von bis zu 40.000 Rubel (März 2020: rund 460 Euro) geahndet. 

    Laut einer Modellrechnung wären in Moskau 117.000 Menschen an Corona gestorben, wenn man keine Maßnahmen gegen die Ausbreitung getroffen hätte.14 Vielleicht hatte Sobjanin solche Zahlen vor Augen, als er solch drastische Schritte einleitete. Und vielleicht hat der Journalist Iwan Dawydow also Recht, wenn er schreibt, dass Sobjanin nicht zum Sündenbock gemacht werden will, wenn sich auch in Russland alles nach italienischem Szenario entwickelt.

    Auf jeden Fall könnte das „smarte“ Kontrollsystem dem Moskauer Bürgermeister aber auch nach Corona nützlich sein: Schon vor der Krise hat er in der Stadt ein engmaschiges Überwachungssystem mit Gesichtserkennung aufbauen lassen. Da manche Verstöße gegen die Ausgangssperre damit nachgewiesen werden konnten, wissen die Behörden nun offenbar, wie Massenüberwachung funktioniert. Sie wissen nun auch, wo die Moskauer tatsächlich leben – früher hatte die Regierung nur Zugang zu Meldeadressen. Aus solchen Gründen befürchten manche Menschenrechtler, dass Sobjanin die Kontrollsysteme nach Corona beibehalten wird, auch um neue Bolotnaja-Proteste zu verhindern. 

    Aktualisiert am 02.04.2020


    1. vgl. lenta.ru: Na razogreve u Sjutkina ↩︎
    2. zitiert nach: republic.ru: Pobednyj Konzert Sobjanina ↩︎
    3. zitiert nach: vedomosti.ru: Sobjanin: Vybory pokazali, čto ljudi chotjat peremen ↩︎
    4. vgl. noodleremover.news: Kul’t ličnosti Sergeja Sobjanina, kto ego obsluživaet, kto i skol’ko za ėto platit ↩︎
    5. vgl. republic.ru: Tri Sobjanina v edinyj den’ golosovanija ↩︎
    6. vgl. kmartynov.com: Samozvanez sobjanin ↩︎
    7. vgl. mos.ru: Sobjanin Sergej Semjonovič. Biografija ↩︎
    8. vgl. economist.com: What a campaign to revive Russia’s urban spaces means for civil society ↩︎
    9. vgl. rbc.ru: Rassledovanie RBK: Kto zarabatyvaet na rekonstrukzii Moskvy ↩︎
    10. vgl. budget.mos.ru: Struktura i dinamika raschodov ↩︎
    11. vgl. republic.ru: Stoličnaja lovuška: Čego stoit bojat’sja vlasti posle pobedy Sergeja Sobjanina na vyborach? ↩︎
    12. vgl. novayagazeta.ru: Korotišči berut stolizu v kol’zo ↩︎
    13. Novaya Gazeta: Vračam govorjat: «Šejte maski sami!» ↩︎
    14. Meduza: V Moskve vveli žestkie karantinnya mery ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Verfassungskrise 1993

    Verfassungskrise 1993

    Nachdem sich der Rauch verzogen hatte, blieb in der Fassade des Weißen Hauses ein großes, schwarzes Loch. Die Panzergranaten waren in der 14. Etage auf Geheiß des Präsidenten Boris Jelzin eingeschlagen, um den Widerstand des Parlaments zu brechen. Es war dasselbe Weiße Haus, vor dem Boris Jelzin zwei Jahre zuvor, während des Augustputsches gegen Michail Gorbatschow, noch auf einen Panzerwagen gestiegen war und zur Verteidigung der Errungenschaften der Perestroika aufgerufen hatte; dasselbe Haus, in dem sich die Befürworter der Perestroika 1991 verschanzt hatten und dabei von tausenden Moskauern schützend umringt worden waren.

    In der politischen Ikonografie Russlands ist das Weiße Haus damit ein höchst widersprüchliches Symbol: Es steht für die letzte Phase der sowjetischen Macht und für den Aufstieg Jelzins zum Sinnbild der Demokratie in Russland, zugleich markiert es aber auch den Anfang vom Ende einer jungen postsowjetischen, parlamentarischen Demokratie.

    Der Beschuss des Weißen Hauses ist bis heute für manche russische Beobachter ein Verbrechen1, andere sehen darin eine Notwendigkeit. Der Oktober 1993 bedeutet tatsächlich einerseits die Geburtsstunde der demokratischen Verfassung Russlands, setzt andererseits aber auch den Grundstein für das heutige illiberale politische System des Landes.

    Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war die Verfassung der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik von 1978 zunächst in Kraft geblieben. Am 27. Oktober 1989 wurde sie angepasst: Zum obersten gesetzgebenden Organ wurde der neugeschaffene Volksdeputiertenkongress bestimmt. Aus den jährlich zusammenkommenden 1000 Volksdeputierten ging der permanent tagende Oberste Sowjet mit 252 Abgeordneten hervor, an deren Spitze der damals 48-jährige Ruslan Chasbulatow stand.

    Was diese modifizierte Verfassung nicht vorauszusehen und abzufedern vermochte, war die Reibung, die zwischen dem im Sommer 1991 geschaffenen russischen Präsidentenamt und dem Parlament entstand. Es trafen politische Kulturen, persönliche Ambitionen und verschiedene gesellschaftliche Vorstellungen aufeinander. 
    So gingen für das Parlament die politischen und ökonomischen Reformen des Präsidenten zu schnell. Folgerichtig verweigerte es im Dezember 1992 dem wirtschaftsliberalen Premier Jegor Gaidar die Bestätigung im Amt. Der Präsident Boris Jelzin dagegen wollte in erster Linie schnelle Reformen: Politik und Wirtschaft sollten in Einklang mit Gaidars Vorstellungen ohne Rücksicht auf soziale Folgen nach demokratisch-marktwirtschaftlichem Muster umgekrempelt werden. Dazu hatte ihn das Parlament zuvor mit temporären Vollmachten ausgestattet, doch nun drohte es dem Präsidenten, ihm diese wieder zu entziehen. 
    Hinzu kamen das Charisma und das politische Gewicht Jelzins, im In- wie im Ausland, die mit seiner verfassungsmäßig nachrangigen Position nicht im Einklang standen. So wurden die alte Verfassung und das Parlament für Jelzin zu einem politischen Hindernis, das es zu beseitigen galt.

    Jelzin gegen alle

    Ein Referendum im April 1993, das Jelzin als eine Art Vertrauensfrage definierte, konnte er weitgehend für sich entscheiden. Das Ergebnis bot ihm eine hinreichende Basis, im September das Dekret Nr. 1400 und damit die Auflösung des Parlaments zu erlassen. 
    Doch der Volksdeputiertenkongress wehrte sich gegen die Auflösung sowie gegen einen Verfassungsentwurf, der das Verschwinden des Kongresses vorsah. Nicht zu Unrecht berief er sich auf die eigene demokratische Legitimität, die rechtlich nicht geringer war als jene Jelzins.

    Der Vorsitzende des Obersten Sowjets, Ruslan Chasbulatow, und der Vizepräsident Alexander Ruzkoi, widersetzten sich nun dem, was sie als einen präsidialen Handstreich empfanden. Dabei bekamen sie Rückendeckung vom Verfassungsgericht unter Waleri Sorkin, das Jelzins Dekret für verfassungswidrig erklärte. Chasbulatow und Ruzkoi bildeten ein Schattenkabinett und glaubten, genug Rückhalt in Gesellschaft und Militär zu besitzen. Doch hatten sie nur eine obsolete Rechtsordnung auf ihrer Seite, und Jelzin schickte sich nun an, diese zu ändern.

    Die Ereignisse eskalierten: Chasbulatow, Ruzkoi und andere Volksdeputierte verschanzten sich im Weißen Haus, die Proteste gegen Jelzin schwollen an und führten am 2. Oktober zu massiven Zusammenstößen. Das Militär schlug sich größtenteils auf Jelzins Seite und ging gewaltsam gegen die Protestierenden vor. Es rückte zum Weißen Haus vor und beschoss es, bis der Widerstand der Parlamentarier am 5. Oktober in sich zusammenbrach.

    Laut offiziellen Angaben starben dabei 187 Menschen, über 400 wurden verletzt. Jelzin wurde weder für die Gewalt noch für den Verfassungsbruch belangt. Er habe, so die Argumentation, einen Bürgerkrieg abgewendet. Der Verfassungsbruch sei eine durch die Geschichte diktierte Notwendigkeit gewesen.2

    Eine politische Kultur der Stärke und Kompromisslosigkeit

    Es mag richtig sein, dass das Parlament, wie der Politologe Alexander Sungurow argumentierte, nie wirklich ein Parlament im westlichen Sinne gewesen sei: Es war vielmehr der letzte Sowjet der sozialistischen Periode, ein Rat, der über deutlich mehr Vollmachten und Kompetenzen verfügte als eine demokratische Legislative üblicherweise hat.3 Dennoch war die Verfassungskrise von 1993 ein Test für die Demokratie und ein Grundstein für die gegenwärtige politische Kultur Russlands. Diese ist nun von der sogenannten Machtvertikale geprägt, die Stärke für alles hält und Kompromisse als Zeichen von Schwäche verachtet. Stärke, so die Befürworter dieser Machtvertikale, sei das Kennzeichen der Macht. Stärke produziere Angst und, wie Sergej Lawrow unlängst formulierte, „aus Angst entsteht Respekt“.4 In dieser Einschätzung spiegelt sich für viele Beobachter die Mentalität der politischen Klasse Russlands.

    1993 war Wladimir Putin noch ein unscheinbarer Beamter in Sankt Petersburg. Doch offensichtlich lernte er die Lektion, die sein späterer Ziehvater Jelzin ihm 1993 gab: Wie Gleb Pawlowski bemerkte, schuf Jelzin damals erst die Bedrohung eines aufsässigen Parlaments, die er dann mit Gewalt aus der Welt schaffte.5 Auch Putin schuf vor seinem Amtsantritt im Jahr 2000 eine Drohkulisse: Kaum im Zentrum der Macht angelangt, schickte er das Militär wieder nach Grosny. Bei diesem zweiten Angriff auf Tschetschenien ließ die russische Militärmaschinerie so gut wie keinen Stein auf dem anderen. Diesmal war diese politische Kultur der Stärke und Kompromisslosigkeit aber schon vollends durch die russische Verfassung gedeckt.

    Superpräsidentialismus statt Parlamentarismus

    Die Folgen der Ereignisse von 1993 sind heute verfassungsrechtlich ebenso schwerwiegend wie politisch-kulturell. Dass die alte Verfassung von 1978 nicht für das postsowjetische Russland taugte, wussten damals beide demokratisch legitimierten Institutionen. Doch sie fanden aus dieser Sackgasse keinen legalen Ausweg und stellten sich solange stur, bis Jelzin Panzer auf die Straßen Moskaus schickte.
     

    Panzer der Jelzin-treuen Streitkräfte gaben am 4. Oktober 1993 Schüsse auf das Weiße Haus in Moskau ab. / Foto © ITAR-TASS/imago-images

    Letztlich drückte er mit Waffengewalt eine Verfassung durch, die einen möglichen russischen Parlamentarismus im Keim erstickte und seitdem nur noch ein Zentrum der Macht vorsieht: den russischen Präsidenten. Zwar ist diese Verfassung formal die demokratischste, die das moderne Russland jemals hatte, doch fehlen ihr Checks and Balances, die wechselseitige Kontrolle der Institutionen. Der Präsident schwebt förmlich über dem politischen System, während Parlament und Regierung kaum mehr als Ausführungsorgane der Politikvorgaben aus dem Kreml sind.

    Die neue demokratische Verfassung begründete einen Superpräsidentialismus, wie ihn kaum eine andere demokratische Verfassungspraxis kennt. Eine demokratische Verfassung allein vermag also nicht, eine liberal-demokratische Ordnung zu begründen. Denn es ist diese Zentralität des Präsidenten, die das politische System Russlands nach wie vor prägt.

    Die Wurzeln liegen in den Ereignissen vom Oktober 1993. Apologeten des Systems weisen darauf hin, dass nur die Machtfülle des Präsidenten einen „Erfolg“ im Zweiten Tschetschenienkrieg brachte, und dem Land Wirtschaftswachstum sowie Stabilität beschert hätte sowie zuletzt territoriale Zugewinne. All dies war aber auch untrennbar mit der autoritären Konsolidierung des Landes verbunden. Mag das schwarze Loch im Weißen Haus nun schon lange übertüncht sein, die politische Ordnung Russlands bleibt mit dem Makel der Gewalt von 1993 behaftet.

     

    Zum Weiterlesen:
    Bruner, M. Lane (2002): Strategies of Remembrance, Columbia
    Lukin, Alexander (2000): The Political Culture of the Russian ‘Democrats’, Oxford

    Diese Gnose wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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