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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Wir zerstören, was wir erreicht haben”

    „Wir zerstören, was wir erreicht haben”

    Versöhnung ist Arbeit. Russland und Deutschland waren auf dem Weg schon ziemlich weit – und sind jetzt gerade dabei, das alles wieder aufs Spiel zu setzen, warnt der Historiker Alexej Miller. Während Russland heute dem Tag des Sieges gedenkt, spricht Miller im Interview auf Colta.ru eindringlich über Erinnerung als Raum des Streits und Dialogs.


    In Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

    Haben sich die nationalen Narrative geändert? Sind sie früher menschlich gewesen, während sie jetzt ihre Zähne zeigen?

    Der Ansatz der Erinnerungspolitik hat sich verändert. Die Erinnerungskultur hat sich verändert. In den 1990er Jahren und Anfang der 2000er Jahre dominierte in Europa jene alte europäische Erinnerungskultur, die, ganz einfach gesagt, folgenden Kern hat: Das Schlüsselereignis, an dem alles gemessen wird, ist der Holocaust. Daraus ergibt sich, dass die Opfer des Holocaust die wichtigsten Opfer sind. Das bedeutet wiederum, dass sich im Alten Europa niemand zum „Hauptopfer“ erklären kann. Diese Rolle ist schon besetzt. Stattdessen müssen alle schauen, wie und in welchem Maße das eigene Land, das eigene Volk am Holocaust beteiligt war – aktiv, passiv, wie auch immer.

    Dieser Prozess hat lange, hat Jahrzehnte gedauert. Jacques Chirac hat erst 1995 offiziell zugegeben, dass die Franzosen am Holocaust beteiligt waren. Das ist das, was man im Grunde als kosmopolitische Erinnerungskultur beschreiben könnte. Und es muss gesagt werden, dass eine solche Erinnerungskultur nach dem Zerfall der Sowjetunion auch in Russland dominiert hat. Die Idee war folgende: Lasst uns mit den Polen über die „weißen Flecken“ reden – über die schwierigen Themen unserer Geschichte. Und weshalb reden wir mit ihnen darüber? Um die ganze Wahrheit zu sagen und uns dann zu versöhnen.

    Gab es diesen Wunsch?

    Es gab diesen Wunsch. Und generell eine Vorstellung davon, was Erinnerungspolitik ist, nämlich: die Wahrheit zu sagen und Buße zu tun.

    War dieser Wunsch nicht zusätzlicher Ballast auf dem politischen Annäherungskurs? Oder war es und ist es ein eigenständiges Ziel?

    Das ist gar nicht wichtig. Es gibt da nichts Eigenständiges. Es ist Politik. Wenn wir von Erinnerungspolitik sprechen, ist es wichtig, den Akzent darauf zu setzen, dass es eben Politik ist.

    Schauen Sie: 2009 wurde wieder der Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkrieges begangen. Wladimir Putin fuhr auf die Westerplatte und erklärte, dass die Rote Armee keine Freiheit bringen konnte, weil sie selbst nicht frei war. Er sagte, dass es dennoch eine Befreiung vom Nationalsozialismus gewesen sei und dass wir uns sehr für den Hitler-Stalin-Pakt schämen. Das war 2009. Und es war klar, dass er dabei davon ausging, dass auch die anderen Reue zeigen würden. Die anderen hatten [das Abkommen von – dek] München, wir den Hitler-Stalin-Pakt. Wir sind schuldig und ihr seid schuldig, jeder auf seine Art. Stattdessen bekam er zu hören: „Oh, ja! Du hast ganz richtig gesagt, dass ihr Schuld habt, zeigt also Reue. München hat damit nichts zu tun.“ Dann erfolgte eine weitere Verschlechterung der politischen Beziehungen. Und als Folge davon sagt Putin dann 2014: „Hitler-Stalin-Pakt? Das war zutiefst durchdachte, besonnene Politik. Welche Möglichkeiten hätten wir sonst gehabt?

    Das heißt, die Bewertung solcher Schlüsselmomente hängt für ihn in sehr hohem Maße vom realen politischen Kontext ab.

    Wenn wir von Erinnerungspolitik sprechen ist es wichtig, den Akzent darauf zu setzen, dass es eben Politik ist

    Aus dem Dialogmodus, bei dem davon ausgegangen wurde, dass wir jetzt über Geschichte sprechen, um uns zu versöhnen, sind wir zu einem Modus agonistischer Erinnerung übergegangen.

    Da ist die Frage dann nicht mehr, wie wir jetzt Geschichte erörtern und auf welcher Seite es welchen Anteil an Wahrheit gibt (wobei davon ausgegangen wird, dass es auf jeder Seite ein gewisses Stück Wahrheit gibt). Das Ziel ist nun nicht mehr Versöhnung, sondern Konfrontation, die Figur des „Anderen“ wird benutzt.

    Der agonistische Ansatz setzt allerdings eine gewisse gegenseitige Achtung der beteiligten Seiten voraus. In Osteuropa aber stürzen wir uns immer mehr in einen antagonistischen Modus, in dem das Gespräch ein anderes ist: Wir sind die Opfer, ihr seid die Täter, zeigt Reue! Das ist kein Dialog, das ist eine lange Geschichte, und eine recht schwierige.

    ‘Wir sind die Opfer, ihr seid die Täter, zeigt Reue!‘ Das ist kein Dialog, das ist eine lange Geschichte, und eine recht schwierige

    Soweit ist es gekommen, und dazu, dass die neuen Mitgliedsstaaten der EU in der modernen europäischen Erinnerungspolitik versucht haben und bis heute versuchen – nicht ohne Erfolg –, das zentrale Thema Holocaust durch das Thema Totalitarismus zu verdrängen. Wobei beim Thema Totalitarismus alles klar ist – das geht an die Adresse von Russland. Und schon ist Russland dann jenes „Fremde“. Die Deutschen haben im Grunde Reue gezeigt, haben, so meint man, ihre Lektion gelernt, und das ist gut so, Gott sei Dank.

    Obwohl es immer noch manchmal dazu kommt, dass Polen erneut Reparationen von Deutschland fordert. Doch heute geht es da nicht um die Frage des Dialogs über strittige, schwierige, schmerzliche Themen der Erinnerung, sondern lediglich darum, wie wir, in welcher mehr oder weniger gemeinen, mehr oder weniger groben Form wir die eigene Sichtweise bekräftigen und aus unseren politischen Opponenten Übeltäter machen.

    Das heißt, die Konflikte werden zunehmen?

    Zweifellos.

    Und es gibt keine Alternative?

    Nein.

    Und die Konflikte werden sich zu einem gegenseitigen trolling entwickeln?

    Ja. Die Frage ist nur die Dimension, wie viele Länder sich beteiligen und welche Ressourcen dabei eingesetzt werden. Weil es bis jetzt gleichwohl bestimmte Leistungsträger der „antitotalitären Front“ gab: die baltischen Staaten, Polen, die Ukraine … Und wir wurden unsererseits nicht müde, sie an den Holocaust zu erinnern und in welchem Dreck sie dabei stecken.

    Jetzt nimmt das aber ganz andere Dimensionen an, in dem Sinne, dass in Westeuropa das Bild von Russland als Spinne oder Krake auf die Titelseiten der Magazine zurückgekehrt ist: So sei das Regime der Zaren bei uns gewesen, so sei das Stalinsche Regime gewesen, und so sei heute das Regime Putin. Das ist die Sicht der dortigen Karikaturisten.

    Russland ist jetzt eindeutig zum „Anderen“ geworden, wieder zum im europäischen Kontext „konstituierenden Anderen“

    Und es kommt wirklich zu sehr ernsten Verschiebungen, zu sehr ernsten Verlusten. Ein Beispiel: In der russischen Kultur der letzten Jahrzehnte (auch nach dem Krieg) gab es zwei Bilder – oder zwei Narrative – von den Deutschen. Es gab einerseits den Deutschen in Stiefeln und mit einer Schmeisser. Und andererseits den Deutschen in Apothekerschürze und mit Brille. Da waren sogar komische Rollenwechsel möglich. So oder so dominierte aber das Bild des Deutschen als Träger von Technik und Wissen, als Professor, Akademiemitglied, Apotheker, Arzt, als Partner zur Modernisierung – all diese Figuren. Und vor unseren Augen hat in den letzten drei, vier Jahren dieses Bild einem anderen Platz gemacht, dem Narrativ vom grausamen, dominanten usw. Deutschen.

    Es verschlechtert sich an allen Ecken und Enden. Russland ist jetzt eindeutig zum „Anderen“ geworden, im europäischen Kontext wieder zum „konstituierenden Anderen“. Es ist wieder in diese Rolle zurückgekehrt, und die Klischees alter Zeiten sind wieder lebendig geworden.

    Diese gegenseitigen Salven Geschichtspolitik, die haben doch einen unmittelbaren Einfluss auf die innenpolitische Agenda und verleihen der staatlichen Erinnerungspolitik innerhalb Russlands einen bestimmten Sinn. Befördert dieser Einfluss die Geschlossenheit und die Eintracht in der Gesellschaft in Russland, oder verschärft er im Gegenteil die Spaltung?

    Ich würde die Frage anders stellen. Erinnerung muss keineswegs unbedingt Eintracht fördern. Insbesondere bei sehr schwierigen Fragen. Das Problem bei uns besteht darin, dass ein quasiliberaler Diskurs einen Woodoo-Kult veranstaltet, indem gesagt wird, solange wir Stalin nicht aus seinem Grab holen, habe das Land keine Zukunft. Die Zukunft Russlands hängt in nur ganz geringem Maße davon ab, ob wir Stalin ausgraben oder nicht, ob wir Lenin begraben oder nicht. Das ist meiner Ansicht nach eine höchst mythische Sache. In manchen Fällen sind es einfach nur völlig idiotische Initiativen. Zum Beispiel die „Unsterbliche Baracke“. Die wurde als Antwort auf das „Unsterbliche Regiment“ ins Leben gerufen.

    Doch wohl eher als Antwort auf die Verstaatlichung des „Unsterblichen Regiments“…

    Wenn Sie gegen die Vereinnahmung des „Unsterblichen Regiments“ durch den Staat kämpfen wollen, dann müssen Sie nicht unbedingt eine „Unsterbliche Baracke“ gründen und die Bezeichnung „Unsterbliches Regiment“ verlachen, sie profanieren.

    Es stimmt, dass die Vereinnahmung durch den Staat eine sehr ernste Sache ist. Die Regierung hat allmählich gelernt, wie es die verschiedenen gesellschaftlichen Initiativen unter ihre Kontrolle bringen kann.
    Und ich denke, dass es die Regierung nicht groß schert, eine einheitliche Geschichtslinie zu vermitteln, weil sie selbst gar keine solche einheitliche Linie hat.

    Und das Thema Großer Vaterländischer Krieg?

    Auch da gibt es keine einheitliche Linie. Wir können sagen, dass wir den Hitler-Stalin-Pakt bedauern, und später dann wieder sagen, dass wir ihn nicht bedauern. Das, was der Große Vaterländische Krieg bedeutet und unser heldenhaftes Volk in diesem Krieg, da gibt es keine einheitliche Linie des Regimes, sondern eine der gesamten Gesellschaft – mit Ausnahme jener, die sich ihr entgegenzustellen versuchen.

    Die Meinungsunterschiede beginnen dort, wo es um die Rolle Stalins im Krieg geht. Im Grunde ist die Regierung bestrebt, keine einheitliche Interpretationslinie aufzunötigen.

    Die Vergangenheit ist keine Grundlage für Einigkeit. Grundlage für Einigkeit ist die Gegenwart und die Zukunft

    Tatsächlich vereint die Vergangenheit die Menschen nicht, sondern spaltet sie. Die Vergangenheit kann keine Grundlage für Einigkeit sein. Grundlage der Einigkeit ist die Gegenwart, und die Zukunft. Wenn Sie Klarheit haben, wie die Zukunft aussehen wird, dann haben Sie auch Klarheit darüber, wie die Vergangenheit zu interpretieren ist. Wenn es keine Klarheit über die Zukunft gibt, von welcher Einigkeit bei der Geschichtsinterpretation kann dann die Rede sein? Die Folge ist nun, dass die Vergangenheit zu einem Raum für gegenseitigen Hass geworden ist.

    Es gibt da die Studie der Freien Historischen Gesellschaft mit dem Titel „Welche Vergangenheit braucht das künftige Russland?“, die sehr intensiv erörtert wurde. Was wäre, wenn Alexey Miller eine solche Studie geschrieben hätte …?

    Ich würde eine solche Studie nicht schreiben. Auf keinen Fall. Ich habe mich viele Jahre mit Fragen der Geschichtspolitik beschäftigt. Ich versuche nicht, der Gesellschaft zu erzählen, welche Erinnerung sie braucht; ich versuche zu verstehen und der Gesellschaft zu zeigen, wie diese Mechanismen funktionieren und wer daran beteiligt ist. Ich arbeite ja nicht für Medinski. Aber auch nicht gegen Medinski. Das heißt, er gefällt mir nicht. Wenn sie ihn in die Portiersloge versetzen würden, wäre ich nur dafür.

    Ich versuche nicht, der Gesellschaft zu erzählen, welche Erinnerung sie braucht

    Gleichzeitig stehe ich bei diesem Spiel nicht auf Seite irgendeiner Partei. Eben deshalb, weil ich mir das anschauen und sehen möchte, wer wie spielt. Und ich kann auch keine Partei erkennen, für die ich spielen wollen würde. Deswegen würde ich so etwas nicht schreiben.

    Erinnerung, das ist ein Raum des Streits und des Dialogs. Dann ist sie auch lebendig. Andererseits darf es in dieser Erinnerung keinerlei falsche, „ultimative“ Themen geben, nach dem Motto: Wenn wir nicht morgen schon Stalin ausgraben, wird bei uns nichts Gutes herauskommen.

    Sie glauben also nicht an Symbole? Ein ausgegrabener Stalin, wäre das nicht ein starkes Symbol?

    Das ist ein starkes Symbol. Nur, dass es überhaupt keine Lösung ist. Denn Ihrer Brigade, die Stalin ausgräbt, wird eine weitere folgen, die diese dann vermöbelt und sie zusammen mit Stalin wieder eingräbt. In einem Heldengrab. Dann wird noch etwas Gold der Skythen dazugelegt, um das Bild zu vervollständigen. Wenn wir uns den Film Die Reue, aus dem dieses Bild [des Ausgrabens – dek] stammt, heute anschauen, dann sehen wir, wie aufgeblasen er ist – und wie unklug, im Großen und Ganzen.

    Es ist doch normal, dass wir ihn jetzt so beurteilen.

    Das ist ganz normal, aber dann kommen Sie mir um Gottes Willen nicht immer mit diesem Ausgraben von Stalin!

    Bei uns gibt es in diesem Bereich sehr viele Mythen. Unter anderem diese: Nur bei uns allein klappt es nicht, und bei allen anderen geht alles gut.

    Die Deutschen haben Reue gezeigt. Aber begonnen hat es damit, dass die Deutschen nach 1945 sich 15 Jahre lang geweigert haben, überhaupt davon zu sprechen. Mehr noch: Europa hat sich bis in die 1980er und 1990er Jahre geweigert, über seine Verwicklung in den Holocaust zu sprechen – dieses demokratische, schöne, gewaschene, gestriegelte Europa mit sauberen Nägeln, mit einer florierenden Wirtschaft und voller Selbstbewusstsein.

    Europa hat sich lange geweigert, über seine Verwicklung in den Holocaust zu sprechen – dieses demokratische, schöne, gewaschene, gestriegelte Europa mit sauberen Nägeln, mit einer florierenden Wirtschaft und voller Selbstbewusstsein

    Auf den Bildern waren irgendwelche Leute mit Mützen der französischen Gendarmerie zu sehen, die Juden irgendwohin abführten, aber die Franzosen waren keineswegs an etwas beteiligt! Es war möglich, jahrzehntelang diese Bilder zu sehen, zu sagen, dass man nichts damit zu tun hatte, und es dann 1995 einzugestehen.

    Und bis heute wird darüber geredet, wie erfolgreich Europa ist, wie sehr es sich modernisiert, wie besonders und prächtig es ist – und gleichzeitig schafft man es darüber zu schweigen, dass zur Grundlage der Globalisierung, der Modernisierung und all dieser Dinge der Sklavenhandel und der Kolonialismus gehören.

    Und die Deutschen, die ja angeblich alles sehr richtig gemacht haben, haben in Wirklichkeit bei weitem noch nicht die ganze Arbeit gemacht. Da reicht ein Blick auf das Rathaus in Bamberg. Es ist das schönste Gebäude der Stadt und steht auf einer Brücke. Dort hängen drei Gedenktafeln. Auf einer steht, dass sie dem Gedenken an den Antifaschisten Claus [Schenk Graf] von Stauffenberg gewidmet ist, der versucht hatte, Hitler umzubringen. Und das macht Stauffenberg zum Antifaschisten.
    Eine zweite Tafel ist dem Gedenken an Tausende Einwohner der Stadt gewidmet, die den Bombenangriffen zum Opfer fielen – Frauen und Kinder, und an soundso viel tausend Bamberger (bis auf den letzten Mann genau gezählt), die auf den Schlachtfeldern des Krieges gefallen sind, also Soldaten der Wehrmacht, und an soundso viel tausend Vermisste.
    Und daneben hängt eine weitere Tafel, zum Gedenken an die jüdischen Einwohner Bambergs, die nicht mehr da sind. Bei denen hatte sich niemand die Zeit genommen, sie auch nur zu zählen. Die eigenen Opfer wurden vom ersten bis zum letzten gezählt, die Juden aber, nun, wer zählt da schon nach, die gab es, und jetzt sind sie nicht mehr da. Schade natürlich. Umso mehr, als man uns [Russen – dek] die ganze Zeit vorwirft, dass wir an etwas schuld seien. Wenn man diese drei Tafeln sieht, wird einem einiges klar.

    Auch sollte man wissen, dass die Münchener Stadtverwaltung zehn Jahre lang eine Genehmigung für Stolpersteine verweigerte, weil man der Ansicht war, sie würden bei Regen eine Rutschgefahr bedeuten. Daher sollte man nicht erzählen, dass es bei allen erfolgreich läuft.

    2012 hab ich den Deutschen und Polen gesagt: Jetzt kommt Kaczyński, und dann ist Ihre ganze Versöhnung für die Katz. Und ich hatte Recht.

    Es gab einmal eine Veranstaltung in Moskau, die der deutsche und der polnische Botschafter organisiert hatten, zur Erinnerungspolitik. Die hatten mich aus irgendeinem Grund eingeladen, um als Vertreter aus Russland zu sprechen. Und sie sprachen lange davon, wie die Deutschen und die Polen an einer Versöhnung gearbeitet haben, und boten an, uns beizubringen, wie man sich versöhnen könnte. Das war, wenn ich mich recht entsinne, 2012.
    Ich sagte daraufhin, dass wir keine Lehren bräuchten, weil wir auch ohne Bischofsbriefe den Deutschen verziehen hätten; dass es mit den Polen allerdings einen Bischofsbrief gegeben habe, der aber nichts genützt hätte. Und dass ich es so formulieren würde: Jetzt kommt Kaczyński, und dann ist Ihre ganze Versöhnung für die Katz.
    Und ich hatte Recht. Weil ich die Geschichtspolitiken studiere und weiß, wie so etwas strukturiert ist. Dass man an der Versöhnung arbeiten muss. Dass es immer zwei Narrative gibt. Womit wir wieder am Anfang unseres Gesprächs waren.

    Jetzt haben wir den Schlamassel

    Jetzt zerstören wir – vor aller Augen, gemeinsam mit den Deutschen, mit vereinten Kräften, das, was wir erreicht haben, und verfallen in gegenseitigen Hass. So sieht’s aus. Jetzt wird uns [Russen – dek] schon wieder erzählt, wie ein deutscher [Wehrmachts-] Soldat in eine Hütte kommt, ein Kind weint, der Soldat zertrümmert ihm den Kopf am Türrahmen und er legt sich schlafen. Solche Geschichten sind uns die letzten 25 Jahre nicht erzählt worden. Hat es solche Dinge gegeben? Es hat sie gegeben. Wurden sie die letzten 25 Jahre erzählt? Nein. Nun aber werden sie wieder erzählt. Andererseits ist es auch so, dass sowjetische Soldaten 2,5 Millionen deutsche Frauen vergewaltigt haben …

    Mir ist da mal folgende Geschichte passiert: Die BBC rief mich an, das ukrainische Programm, kurz vor dem 9. Mai, und sie sagten: „Wir wollen uns mit Ihnen über den 9. Mai unterhalten.“ Mir war schon klar, worauf das hinauslaufen würde. Sie kamen sogleich auf die Vergewaltigungen als Schlüsselbefund des 9. Mai. Ich sagte ihnen: „Leute, ihr sendet in die Ukraine. Die heldenhafte Rote Armee, die Deutschland befreit hat, bestand zu ungefähr einem Viertel aus Ukrainern. Also besteht die Annahme, dass rund ein Viertel jener deutschen Frauen von Ukrainern vergewaltigt wurden – über eine halbe Million. Bittet eure Hörer, dass sie Reue zeigen, und berichtet dann vom Ergebnis, dann gehen wir dieses Thema auch hier in Russland an.“

    Die Sendung wurde nicht ausgestrahlt. Da können wir sehen, wie dieser Raum zerfällt. Niemand will mit dem Anderen reden. Das Gespräch gerät zur Provokation, oder zum Trolling. Jetzt haben wir den Schlamassel.

    Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

     

    Mit dem Fokusthema Russland in Europa widmet sich die Körber-Stiftung der Wiederbelebung eines offenen, kritischen und konstruktiven Dialogs zwischen Russland und seinen europäischen Nachbarn.

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  • Panel #1: Gelten in Russland andere Werte als im Westen?

    Panel #1: Gelten in Russland andere Werte als im Westen?

    Haben Russland und Westeuropa wirklich unterschiedliche Werte? Haben Begriffe wie „Toleranz“ oder „Demokratie“ hier wie dort eine andere Bedeutung? Gibt es „spezifisch russische Werte“? Und lohnt es sich überhaupt, über Werte zu streiten?

    dekoder hat drei Experten dazu befragt – acht Fragen und je drei unterschiedliche Meinungen:

    Andrej Kortunow, Politikwissenschaftler, Generaldirektor des Russischen Rates für Internationale Angelegenheiten, Präsident der Stiftung Nowaja Jewrasija (dt. „Neues Eurasien“)

     

     

     

    Evgeniya Sayko, Kulturwissenschaftlerin, Kollegiatin am Hertie-Innovationskolleg, Berlin, arbeitet an dem Projekt „Wertediskurs mit Russland: klären, formulieren, vermitteln“. (Foto © Wolfgang Frank/Hertie-Stiftung)

     

     

     

    Gasan Gusejnov, Kulturhistoriker und Philologe, Professor an der Higher School of Economics, Moskau.

     

     

     


    Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

    1. 1. Alle sprechen über unterschiedliche Werte in Russland und im Westen: Gibt es überhaupt so einen großen Unterschied?

      Andrej Kortunow: Werte – das ist ein sehr breiter Begriff. Wenn über das Auseinanderklaffen der Werte in Russland und dem Westen gesprochen wird, ist damit meistens der russische Sozialkonservatismus gemeint. Zum Beispiel zieht sich durch, dass der Familie und der Religion in Russland eine größere Bedeutung zukommt als im Westen. Bei der Zahl der Scheidungen allerdings unterscheidet sich Russland nicht signifikant von anderen europäischen Ländern.
      Die Religiosität ist in Russland stärker ausgeprägt als in Großbritannien oder Spanien, aber schwächer als in Polen oder sogar in Deutschland. Zwischen Russland und dem Westen klafft etwas anderes auseinander, und zwar die Narrative und, allgemeiner, die Mentalität der politischen Eliten – sofern der Begriff einer politischen Elite auf Russland überhaupt anwendbar ist.


      Evegniya Sayko: Die größten Unterschiede gibt es vor allem auf der rhetorischen Ebene. Während sich die europäische Gemeinschaft über einen gemeinsamen „Wertekanon“ definiert, werden in Russland Stimmen lauter, dass das Land eigene Werte besitze. Eine Auseinandersetzung mit den genauen Unterschieden und ihre Benennung findet aber dabei kaum statt. 
      Betrachtet man aber unterschiedliche Werte-Studien, so sieht man, dass die Russen „westlicher“ eingestellt sind, als es dem Selbstbild nach beabsichtigt ist und als es dem Fremdbild nach scheint. 
      Wertestudien wie die von World Values Survey zeigen, dass zumindest die gesellschaftlich-politischen Werte der Russen gar nicht so weit entfernt sind von denen der anderen Europäer: Sie lehnen Korruption ab und meinen, dass Demokratie die beste Regierungsform ist. Wertedifferenzen gibt es dennoch in Bezug auf Sexualität und Moral: So lehnen viele Russen Homosexualität ab, und es gibt eine unterschiedliche Wahrnehmung der Geschlechterrollen.

      Gasan Gusejnov: Der grundlegende Unterschied liegt im Wertesystem, nicht in den Unterschieden einzelner, jeweils für sich genommener Werte. Im Wertesystem Russlands wird der Staat als Subjekt begriffen, das Priorität hat vor jedem einzelnen Bürger und vor der Zivilgesellschaft als ganzer. Das ist der kardinale Unterschied zwischen europäischen und russischen Werten. Ein Beispiel: In Russland wundert man sich ob des Aufhebens, das in Großbritannien um den Anschlag auf das Leben des Agenten Skripal und seine Tochter gemacht wird. „Was soll’s, da wird ein Verräter aus dem Weg geräumt! Worüber soll man sich da wundern?“

    2. 2. Ist die Wertehierarchie in Russland und im Westen eine andere?

      Andrej Kortunow: Eine Besonderheit war in Russland schon immer die deutliche Ausrichtung auf den sozialen Paternalismus. In Russland gibt es größere Erwartungen an den Staat oder an den Arbeitgeber als in vielen anderen westlichen Ländern. Aber gleichzeitig ist man bereit, vom Staat oder dem Arbeitgeber mehr hinzunehmen als das im Westen durchschnittlich der Fall ist. 
      Der soziale Paternalismus ist jedoch kein Alleinstellungsmerkmal der russischen Gesellschaft: Er existiert in unterschiedlichen Formen unter anderem auch in den Ländern Süd- und Mitteleuropas sowie in Ostasien
      Die russischen Werte stehen in diesem Sinne den allgemein-westlichen Werten gar nicht so sehr entgegen, als vielmehr der angelsächsischen Variante; Russland ist dem katholischen Westen näher als dem protestantischen. Aber die Distanz zwischen dem orthodoxen Russland und dem protestantischen Westen ist immer noch weitaus kleiner, als jene zwischen Russland und beispielsweise dem buddhistischen Osten.

      Evgeniya Sayko: Es wird oft angenommen, dass die Russen eine andere Wertehierarchie hätten als zum Beispiel die Deutschen; dass sie etwa „traditioneller“ seien. Damit ist gemeint, dass für die Russen Kollektivismus, Patriotismus oder Religiosität eine deutlich größere Bedeutung haben. 
      Bei genauer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass es sich dabei oft um Mythen handelt. Zum Beispiel wird die besondere Religiosität der Russen immer wieder hinterfragt, auch von den Gläubigen selbst. Denn nur ein paar Prozent der Bevölkerung führen ein wirklich religiöses Leben, halten also zum Beispiel die Fastenzeiten der Russisch-Orthodoxen Kirche ein oder nehmen regelmäßig an der Eucharistie teil.

      Gasan Gusejnov: Ja, die Wertehierarchie unterscheidet sich durchaus. Der Staat ist in Russland keine Maschine, die das würdige Leben der Bürger gewährleisten möge, sondern ein spezielles Mega-Subjekt, das sich über die Gesellschaft erhebt. Mit dieser Vorgabe kann jeder Bürger oder jede Gruppe, die Persönlichkeitsrechte verteidigt, beinahe automatisch zum Staatsfeind erklärt werden. Genau deswegen empfinden viele beispielsweise die Rache des Staates an einer Privatperson als etwas ganz Normales.


    3. 3. Bedeuten Wörter wie Menschenrechte, Freiheit, Toleranz, Diversität oder Gerechtigkeit im Russischen etwas anderes? Gibt es eine Kluft zwischen der russischen und der deutschen Bedeutung dieser Wörter?

      Andrej Kortunow: Natürlich gibt es einen Unterschied, der verbunden ist mit historischen, kulturellen, ja, sogar linguistischen Besonderheiten Russlands und anderer Länder. Beispielsweise der Begriff „Gerechtigkeit“ – er ist ein ganz zentraler für den russischen kulturellen Code und äußerst wichtig für das Verständnis der gesamten Geschichte des Landes. 
      Traditionell hat die russische Gesellschaft von den Machthabern eben jene „Gerechtigkeit“ gefordert und nicht „Freiheit“. Der Begriff „Toleranz“ wurde erst vor recht kurzer Zeit aus dem Westen übernommen, und ist schon sehr schnell mit einer negativen Konnotation belegt gewesen: Toleranz als Synonym für Indifferenz und Gleichgültigkeit.

      Evgeniya Sayko: Die Konfrontation mit dem sogenannten Westen und seinen Werten spiegelt sich auch in der Sprache wieder. Die inhaltliche Diskussion über „europäische Werte“ und eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Bedeutung der damit verbundenen Begriffe findet im öffentlichen Diskurs Russlands kaum statt. Stattdessen ist eine sehr emotionale Positionierung Russlands als Gegensatz zum Westen zu beobachten, teilweise mit abwehrender bis beleidigender Lexik. Da entstehen Wortspiele und neue Wörter wie „Gayropa“.  
      Da es keine ernsthafte inhaltliche Auseinandersetzung mit diesen Werte-Begriffen gibt, werden solche Wörter zum großen Teil zu leeren Worthülsen. Einige Begriffe, wie Toleranz oder Menschenrechte, bekommen in Russland auch eine ironische oder sogar ablehnende Konnotation. Mit einer solch negativen Konnotation wurden etwa die Begriffe „Toleranz“ und „Diversität“ in der Flüchtlingsdebatte belegt.

      Gasan Gusejnov: Ich würde nicht von der russischen Sprache als solcher sprechen wollen, sondern nur über die Sprache moderner Politiker und über die öffentliche Alltagssprache. Wenn man in Russland über europäische Werte spricht, dann spricht man über eine Reihe heuchlerischer Einstellungen, an die sich in Wirklichkeit niemand halte: „Menschenrechte? Aber die gelten doch gar nicht für alle.“ „Demokratie? Die gibt es doch nicht mal im Westen überall.“ „Rechtsstaat? Aber selbst der hält doch dem Druck des großen Geldes nicht stand!“
      In der modernen russischen Sprache werden alle genannten Wörter entweder in Anführungsstrichen verwendet oder ironisch, in Kombination mit Wörtern wie „sogenannte“ oder „hochgelobte“, oder im Wortsinn, dann aber als Druckmittel auf Russland, als Instrument, um Russland seiner vorgeblichen Eigenart zu berauben.

    4. 4. Gibt es Werte, die man als „spezifisch russisch“ bezeichnen kann? 

      Andrej Kortunow: Man muss sehr vorsichtig sein, wenn es um Begründungen von Einzigartigkeit der russischen Gesellschaft geht. Wir haben es mit einer komplexen Gesellschaft mit unterschiedlichen Schichten zu tun, in der man ganz unterschiedliche Wertvorstellungen findet. 
      Doch wenn ich mir eine ganz freimütige Äußerung erlauben darf, würde ich sagen, dass  individueller Erfolg in Russland weniger als Wert wahrgenommen wird als im Westen. Und größerer Wert wird der persönlichen Opferbereitschaft beigemessen. Wobei hier natürlich die historischen und religiösen Besonderheiten berücksichtigt werden müssen.

      Evgeniya Sayko: Es gibt zumindest Versuche, einige Werte als „spezifisch russisch“ zu bezeichnen. Im Gegensatz zu westlichen oder europäischen Werten wird oft das Konzept von traditionellen Werten oder vom „Sonderweg“ Russlands dargestellt. Die Hauptbotschaft lautet: Wir sind nicht so wie ihr. 
      Der Soziologe Lew Gudkow erklärt, dass dieser Mechanismus als Kompensation der negativen Identität dient. Das neutralisiert die tiefe Frustration und das Gefühl einer unbefriedigenden Situation im Land. Außerdem basiert die Konsolidierung der eigenen Gesellschaft auf der Konfrontation mit „dem Westen“.

      Gasan Gusejnov: Hier findet sich ein grausames Paradox. Nach mehreren Jahrzehnten aufgezwungenen Kollektivismus (im sowjetischen Sozialismus) halten sich in Russland viele von Natur aus für Kollektivwesen, obwohl die russische Gesellschaft in Wirklichkeit atomisiert ist. Die Bevölkerung Russlands hält sich für friedliebend, als wichtigste Einimpfung der Friedensliebe gilt der Große Vaterländische Krieg. Und neuere oder noch laufende eigene blutreiche Kriege (von Afghanistan bis Tschetschenien und Syrien) gelten nicht als aggressiv und martialisch.
      In Russland wird „Gerechtigkeit“ höher gewertet als formales „Recht“, gleichzeitig toleriert es massenweise Korruption auf allen Ebenen des gesellschaftlich-staatlichen Lebens. Die Menschen halten sich für „lieb und gut“ und „barmherzig mit den Sündern“ (A. S. Puschkin), sind in Wirklichkeit aber unduldsam und der Nächstenliebe abgeneigt.

    5. 5. In Russland wird Demokratie oft als Dermokratie (vom Wort dermo – Scheiße) bezeichnet. Heißt das, dass Demokratie in Russland kein Wert ist?

      Andrej Kortunow: Demokratie wird in Russland oft stark vereinfacht betrachtet: als freie Wahlen oder eine im politischen Exkurs anwesende Opposition. Im Grunde läuft also alles auf eine direkte, plebiszitäre Demokratie hinaus. 
      Weit weniger Aufmerksamkeit liegt auf den demokratischen Institutionen und Mechanismen, die nicht nur die Rechte der Mehrheit, sondern auch die der Minderheit garantieren. Ein derart reduziertes Verständnis lässt den Wert der Demokratie in den Augen der Gesellschaft sinken. 
      Nichtsdestotrotz wäre es übertrieben zu sagen, die Demokratie würde überhaupt keinen Wert darstellen – ihre Bedeutung zeigt zumindest die traditionell hohe Wahlbeteiligung.

      Evgeniya Sayko: Der Begriff „Demokratie“ wurde tatsächlich durch die sozialen Transformationen der 1990er Jahre in der Wahrnehmung der Bevölkerung ziemlich diskreditiert. Zumindest die „russische Version“ dieses politischen Modells. Denn für viele sind die Vorteile des demokratischen Systems und ihre Effizienz nicht deutlich geworden. Viele Russen assoziieren damit Armut und Kriminalität der 1990er Jahre und nehmen das Wort „Demokratie” als Fiktion, Mythos oder Parodie wahr.
      Allerdings erklärt sich Russland offiziell auch in seiner Verfassung als demokratisches Land. Übrigens hat das auch die Sowjetunion schon in den 1970er Jahren gemacht und sich als „echte Demokratie“ im Gegensatz zur „vermeintlich“ westlichen (hauptsächlich US-amerikanischen) Demokratie dargestellt. 
      Das alles zeigt, dass die ursprüngliche Bedeutung des Begriffes „Demokratie“ immer noch nicht ausreichend geklärt ist, der Begriff aber durchaus einen Wert darstellt und eine Anziehungskraft hat.

      Gasan Gusejnov: Es gibt einige abwertende Deformationen des Wortes Demokratie (dermokratija, dt. in etwa „Scheißokratie“, demokradija, dt. in etwa „Demo-Kleptokratie“). 
      Unter Demokratie wird in der Regel die Mehrheitsherrschaft verstanden, oder auch das ultimative Recht der Mehrheit, die Minderheit zu unterdrücken. Diese Sichtweise ist in vielfacher Hinsicht geleitet von der Vorstellung, dass Stabilität und die Unerwünschtheit jedweden Risikos einen Wert darstellt. Genau daher rührt die Vorstellung, dass Stabilität möglich ist, indem eine politische Kraft (die Mehrheit) endgültig über andere (die Minderheit) siegt.

    6. 6. Wie bewertet man in Russland das, was in Europa als „europäische Werte“ bezeichnet wird?

      Andrej Kortunow: Wir müssen festlegen, welche europäischen Werte hier gemeint sind. Präsident Putin beispielsweise betont sehr oft, dass gerade Russland die rechtmäßige Erbin wahrer europäischer Werte ist, die Europa heute immer öfter ablehnt. Das sind zum Beispiel christliche Werte, Werte der traditionellen Familie, des Patriotismus und so weiter. 
      Aber wenn wir von Europa sprechen, beziehen sich russische Politiker praktisch nie auf Werte, die in der Epoche der europäischen Aufklärung vorangebracht wurden. Die Haltung gegenüber europäischen Werten ist, was die Politik betrifft, höchst selektiv.
      Was die Bevölkerung als Ganzes betrifft, so sehe ich – abgesehen von einigen Ausnahmen (zum Beispiel sind in Russland Homophobie und Gender-Chauvinismus weiter verbreitet als in vielen europäischen Ländern) – keine prinzipiellen Unterschiede zwischen Russland und Europa.

      Evgeniya Sayko: Es gibt zwei gegensätzliche Interpretationsschemata: Einerseits versteht man unter europäischen Werten demokratische Grundprinzipien wie Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte sowie ihre Umsetzung nach europäischen Muster als Vorbild auch für Russland. Laut dem Lewada-Zentrum, halten 35 Prozent der Befragten diese politischen europäischen Werte für bedeutsam für Russland. Auch der russische Präsident Wladimir Putin nannte sie im Jahr 2005 „maßgebliche Wertorientierungen“ für die russische Gesellschaft. 
      Andererseits änderte sich in den letzten Jahren aber der Blickwinkel: Jetzt ist im öffentlichen Diskurs Russlands immer mehr die Rede vom Verfall Europas und seiner Werte, gerade im Zusammenhang mit Toleranz und Homosexualität. Es ist von einer Krise der Moral sowie von der Abkehr von christlichen abendländischen Werten die Rede. In diesem Zusammenhang wird Russland auch als Bewahrer der ursprünglichen europäischen Werte dargestellt.

      Gasan Gusejnov: Die Hauptaspekte der „europäischen Werte“ (Demokratie, Menschenrechte, friedliche politische Beilegung von Konflikten, Vermeidung von Gewalt, Gender-Gleichberechtigung und so weiter) halten in Russland sehr viele für Schwäche, Heuchelei, Korruption, Hörigkeit gegenüber den USA („Yankee-Huren“), Dominanz der LGBT-Community in der Politik („Gayropa“), Verleugnung eigener Werte (der „nationalen Identität”) um eines „kosmopolitischen Liberalismus“ willen. Unter „Menschenrechten“ versteht man in Russland oft die Verteidigung der Rechte von Minderheiten und die Vernachlässigung der Rechte der Bevölkerungsmehrheit.

    7. 7. Kann man russischen Politikern vertrauen, wenn sie ihre Handlungen mit dem Hinweis auf Werte bekräftigen?

      Andrej Kortunow: Politikern zu vertrauen, ob nun in Russland oder in Europa, ist sowieso ein Risiko, unabhängig davon, worüber sie sprechen und worauf sie sich beziehen. Aber ich glaube nicht, dass alle Bezugnahmen auf Werte per se heuchlerisch sind. Ohne Werte kann man nicht leben, das Bedürfnis nach Werten gehört zu den Grundbedürfnissen des Menschen, genau wie die Politik. 
      Aber die Grenze zwischen aufrichtigen Überzeugungen und politischem Zynismus, wenn nämlich Werte als ein politisches Instrument benutzt werden, ist sehr schmal und nicht immer auszumachen.

      Evgeniya Sayko: Im russischen politischen Diskurs wird auf zweierlei Art von Werten gesprochen: Zum einen geht es um „unsere Werte“. Diese Überzeugung, dass es „besondere russische Werte“ gibt, hält der Politphilosoph Grigori Judin für einen der gefährlichsten Mythen der heutigen Staatspropaganda. 
      Zum anderen werfen russische Politiker ihren „westlichen Partnern“ immer wieder vor, dass die sich in Wertedebatten moralisierend und überlegen zeigten, den Russen würden bestimmte Werte „aufgedrängt“, während dem Westen gegenüber oft andere Maßstäbe gelten („doppelte Standards“). Tatsächlich ist „eine globale Mission des westlichen Werte-Denkens“ in vielerlei Hinsicht gescheitert. 
      In diesem Zusammenhang ist die Frage nach dem Vertrauen weniger relevant als die, welche Ziele und Botschaften hinter einer solchen Rhetorik stecken.

      Gasan Gusejnov: Ich glaube, dass man in der derzeitigen Situation offiziellen russischen Politikern nicht vertrauen kann, weil ihnen der Weg in die Politik nur wegen ihrer Loyalität zu Putin freigemacht wurde. Das kann man an denen sehen, die „Gayropa“ zum Trotz „russische Werte“ verfechten, während ihre Kinder im Westen leben und keineswegs anstreben nach Russland zurückzukehren. Aber es gibt auch andere Beispiele.

    8. 8. Warum ist es so schwierig, Wertedebatten zu führen? Muss man das überhaupt tun?

      Andrej Kortunow: Werte sind keine Atomsprengköpfe und keine Kubikmeter Gas. Man kann sie schwer messen, und über Werte lässt sich schwer streiten. Im Streit um Werte kann ein und dasselbe Wort für verschiedene Teilnehmer völlig unterschiedliches, ja sogar genau das Gegenteil bedeuten. 
      Manchmal heißt es, kommt, lasst uns nicht über Werte streiten, konzentrieren wir uns lieber auf Interessen. Aber der Witz ist, dass unsere Interessen im Großteil der Fälle durch unsere Werte bestimmt werden, und keineswegs andersrum. Deswegen müssten wir über Werte sprechen, obwohl es nicht das einfachste Gespräch ist.

      Evgeniya Sayko: Wertedebatten bergen das Risiko in ein bekanntes Schema abzugleiten: Entweder „wir haben gemeinsame, also richtige, Werte“ (dann gibt es auch kein Problem) oder „wir haben unterschiedliche Werte“, womit oft gemeint ist, dass einer die „richtigen“ und der andere eben die „falschen“ Werte hat. Aus diesem Konflikt entstehen dann Vorwürfe wie „Ihr haltet euch nicht an unsere Werte“, beziehungsweise „Ihr drängt uns Werte auf, die uns nicht entsprechen“. 
      Trotzdem kann man diese Debatte führen, aber unter zwei Bedingungen: 
      Erstens muss man zuerst die Begriffe klären, beginnend mit dem eigenen Verständnis von europäischen, westlichen, universellen und traditionellen Werten. 
      Zweitens, muss man die so ermittelten Unterschiede genau betrachten und sie gemeinsam aufschlüsseln. Dieser Diskurs fordert von beiden Seiten eine ehrliche Auseinandersetzung – auch mit der eigenen Sichtweise. Und das darf auch anstrengend sein.

      Gasan Gusejnov: Man muss über Werte sprechen. Aber man muss sich darauf vorbereiten. Schließlich haben sich die „europäischen Werte“ in der heutigen Form erst nach dem Zweiten Weltkrieg herausgebildet. Diese Werte als eine Art ewiges geistiges Eigentum Europas anzusehen, ist gefährlich. Wichtig ist, wie sich diese Werte herausgebildet haben und wie sie neu interpretiert wurden. Außerdem muss man Werte im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Normen diskutieren, die es den Menschen erlauben, nach ihren Werten zu leben.
      In Russland wird es so lange Widerstand gegen die Werte-Diskussion geben, bis die Gesellschaft als ganze anfängt, „Lenin aus dem Mausoleum zu tragen“ und sich von der sowjetischen Vergangenheit verabschiedet, von der kriminellen Erfahrung und den letzten Jahrzehnten.

    erschienen am 20.04.2018

    Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

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    Besondere russische Werte?!

  • Besondere russische Werte?!

    Besondere russische Werte?!

    „Wir haben eben andere Werte als ihr“: Egal, ob es um LGBT, häusliche Gewalt oder auch politische Konflikte geht, in den letzten Jahren betont Russland in Streitfragen mit dem Westen immer wieder die  „besonderen russischen Werte“. Sie sind auch im Disput zwischen russischer Staatsmacht und Liberalen oft ein Hauptargument. Doch welche konkreten Werte sind damit gemeint? Und worin unterscheiden sie sich von „westlichen Werten“?

    Der Moskauer Soziologe Grigori Judin sprach am Hertie Innovationskolleg in Berlin im Rahmen des Projektes von Dr. Evgeniya Sayko Wertediskurs mit Russland über solche Werte-Debatten, Republic bringt eine Kurzfassung des Vortrags:


    In Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

    Der Mythos von den „besonderen russischen Werten“ ist einer der gefährlichsten, den die Staatspropaganda den Menschen sowohl innerhalb als auch außerhalb der Landesgrenzen eingeimpft hat. In seiner Extremversion lautet er: „Im Gegensatz zum Westen hat Russland Werte.“

    Die Wirksamkeit dieses Mythos lässt sich kaum überbewerten. Einerseits hört man immer häufiger europäische Politiker sagen, man müsse mit Russland einen Dialog über gemeinsame Werte führen. Dieser Dialog endet dann aber jedes Mal in der gleichen Sackgasse: „Was sind eure Werte?“ „Andere als eure.“ „Und welche genau?“ „Besondere.“

    Gleichzeitig sprechen die Russen von Werten in einem Atemzug mit Mentalität und anderen sinnentleerten Begriffen, die sich gut eignen, wenn man sich selbst erklären will, warum etwas unnütz ist und sowieso nicht klappt.

    Werte – ein ziemlich neues rhetorisches Phänomen

    „Werte“ sind in der politischen Rhetorik Russlands vergleichsweise neu. Weder für die Jelzin- noch für die frühe Putin-Zeit waren sie charakteristisch – damals sprach man vielmehr von „Entwicklung“, „Demokratie“ und „Freiheit“.

    Diese Begriffe fügten sich in die Ideologie der Modernisierung: Es gibt für alle Gesellschaften den einen richtigen Entwicklungsweg, der über liberale Demokratie und einen freien Markt führt. Von diesem Weg ist Russland abgekommen und nun hat es die Aufgabe, den Westen, der schon um Längen voraus ist, einzuholen. Über Werte diskutierten damals hauptsächlich Politologen, von denen viele daran glaubten, dass man für Fortschritt, Demokratie und Freiheit erst die richtigen Werte innerhalb der Bevölkerung braucht.

    Vor etwa zehn, zwölf Jahren änderte sich alles. Die Russen waren ermüdet von der Ideologie der nachholenden Modernisierung, derzufolge sie vom Westen lernen sollten: Der Westen kommt und erklärt euch, wie ihr euer Land organisieren müsst, um richtig zu leben. Genau das war (und ist bis heute) die Rhetorik der russischen Liberalen seit Ende der 1980er Jahre. Dumm nur, dass sich Menschen nicht gerne belehren lassen, besonders wenn es zu lange geschieht und sie sich nicht einmal sicher sind, ob sie darum gebeten haben. Es entstand ein Minderwertigkeitskomplex und Russlands Eliten sahen dann im Zuge der arabischen und der Farbrevolutionen plötzlich, dass der Glaube an die Überlegenheit des Westens sie – unter anderem – die Macht kosten könnte. Genau in diesem Moment begannen die Staatsdiener, allen voran der Präsident, die Sprache der „besonderen Werte“ zu sprechen.

    Der Westen kommt und erklärt euch alles

    Die russische Werte-Debatte der letzten zehn Jahre ist sehr einfach gestrickt. Fast alle genannten Werte lassen sich leicht in zwei Schubladen stecken. In der ersten liegen die westlichen Werte, die europäischen, liberalen und allgemein-menschlichen sowie ein Fehlen von Werten. In der zweiten liegen die besonderen, traditionellen, konservativen und russischen Werte, die im Gegensatz zu den anderen stehen, und außerdem das Vorhandensein von moralischen und geistlich-kirchlichen Werten. Es liegt auf der Hand, dass die beiden Schubladen nicht ohne einander existieren: Ihre Opposition gründet auf dem Prinzip Westen versus Russland. Spricht in Russland jemand von Werten, dann will er mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit entweder sagen: „Wir müssen so sein wie der Westen“, oder er will sagen: „Wir müssen unter uns bleiben“.

    Sehr viel seltener wird über konkrete Werte diskutiert. Wenn Wladimir Putin jene Werte aufzählt, die für ihn und das Land am wichtigsten sind, fällt die Liste symptomatisch inhaltsleer aus: Leben, Liebe, Freiheit, Nächstenliebe, Ehrlichkeit, Gerechtigkeit, Güte. So ähnlich antwortet ein Kind, wenn es gefragt wird: „Welche Eigenschaften sind am wichtigsten, wenn man ein braver Junge sein will?“

    Die innere Leere der Werte-Ideologie ist im Übrigen leicht zu erklären. Sie kommt daher, dass Werte-Bekenntnisse nicht darauf abzielen, Werte zu verteidigen. Sie funktionieren nur ex negativo – man braucht sie in Russland nur, um die „uns fremden“ Werte abzulehnen.

    Werte-Bekenntnisse nur ex negativo

    Es ist zwecklos, in den Russen nach irgendwelchen besonderen „konservativen“ Werten zu suchen. Gilt womöglich in Russland eine gemeinnützige Tätigkeit mehr als persönlicher Erfolg? Soziologische Umfragen sind ein nur wenig verlässliches Instrument, denn sie fallen der Propaganda als erstes zum Opfer. Aber selbst die bescheinigen den Russen eher einen stark ausgeprägten Individualismus, keineswegs Konservatismus. Wie die führenden russischen Werte-Forscher Wladimir Magun und Maxim Rudnew zeigen, ist für Russland eine individualistische Orientierung charakteristisch, die mit der Zeit immer stärker wird.

    Sind die Russen womöglich immun gegen das Hauptleiden der Neuzeit – das Schwinden von althergebrachten Beziehungen und Vertrauen? Nein. Wie aus den Erhebungen des World Value Survey hervorgeht, ist Vertrauensmangel und der hohe Grad sozialer Atomisierung nach wie vor ein zentrales Problem: 66 Prozent der Befragten geben an, dass man anderen Menschen nicht vertrauen könne. Von familiären und religiösen Werten braucht man gar nicht erst zu reden: Zum Beispiel sind in Deutschland Kirchengemeinden um ein Vielfaches stärker und aktiver als in Russland, und die Scheidungsrate ist deutlich geringer.

    Die Werte-Rhetorik ist leeres Gerede: Russland hat heute keine „besonderen Werte“, die es sich selbst und der Welt anzubieten hätte. Man sollte aber gleichzeitig genau hinhören, was hinter den hochtrabenden Worten steckt und in den Herzen der Russen tatsächlich Anklang findet. Der Begriff „Werte“ wird in Russland verwendet, um sich selbst vom sogenannten „Westen“ abzugrenzen, um zu zeigen, dass man „nicht so“ ist. Das Wort verspricht Freiheit – die Freiheit von ideologischer und moralischer Abhängigkeit, von der Rolle eines unzulänglichen Erwachsenen, der belehrt werden muss.

    Die Erziehungsmetapher: Ihr habt mir gar nichts zu sagen

    Die Ideologie der Modernisierung mit ihrer Unterteilung in entwickelte und Entwicklungsländer zwingt eine Erziehungsmetapher auf. Russland hatte sich in der Rolle des Heranwachsenden so gut eingerichtet, dass es die offensichtlichen Schwachstellen der Metapher aufdeckte, die ihre Schöpfer nicht bedacht hatten. Nämlich, dass ein Heranwachsender längst nicht immer brav den Belehrungen der Erwachsenen und „Entwickelten“ folgt: Viel häufiger rebelliert er, strebt nach Unabhängigkeit und hat keine Lust, dass jemand über ihn bestimmt. Er weigert sich, etwas zu tun, nur weil es alle tun, und erklärt, er sei eben „nicht so“, und überhaupt, wer seid ihr schon, dass ihr mich belehren wollt? Unter diesen Bedingungen autoritären Druck auszuüben und auf „allgemein-menschliche Werte“ zu verweisen, ist die denkbar schlechteste Strategie.

    Aber vielleicht wird ja ausgerechnet in Russland die Sprache der Werte irgendwie falsch benutzt? Dem ist leider nicht so. Die Werte-Philosophie geht zurück auf die Arbeiten von Hermann Lotze Mitte des 19. Jahrhunderts. Und sie hat schon mehr als einmal ihr aggressives Potential gezeigt. Die Idee, der Mensch würde von höheren, ewigen Werten geleitet, die aus einer anderen Welt sind, führt schnell zu der Überzeugung, dass es zwischen Menschen, die unterschiedliche Werte vertreten, auch sonst keine Verständigung geben kann.

    Mit dem Verweis auf die ‚eigenen Werte‘ legitimiert man die ewige Feindschaft mit dem imaginierten Westen

    Max Weber bezeichnete in seiner berühmten Rede [Wissenschaft als Beruf, 1917 – dek] den Widerstreit der Werte als einen „Kampf der Götter“, zwischen denen es keinen Kompromiss gibt und geben kann. Jeder Versuch, „universelle Werte“ aufzustellen, führe unweigerlich zum Vorwurf der Anmaßung und zur Beschuldigung, man wolle seine eigenen Interessen als allgemeingültige Werte ausgeben. Im Grunde ist das genau die Position, die Russlands Elite heute erfolgreich auf der internationalen Bühne einnimmt.

    Die Logik von Werten erlaubt es, Unterschiede zwischen den Menschen als radikal, ergo als unüberwindbar zu beschreiben. Zwischen verschiedenen Standpunkten kann es einen Dialog geben, zwischen verschiedenen Wertesystemen aber nicht. Werte sind wie Geschmack (versuchen Sie mal jemanden davon zu überzeugen, dass Käsekuchen besser schmeckt als Apfelstrudel), mit dem einzigen Unterschied, dass Werte unser gesamtes Leben durchdringen, uns abverlangen, dass wir für sie einstehen und die feindlichen Werte bekämpfen. „Die Wertlehre feiert, wie wir sahen, in der Erörterung der Frage des gerechten Krieges ihre eigentlichen Triumphe“1, konstatierte Carl Schmitt 1960 in seiner Streitschrift mit dem sprechenden Titel Die Tyrannei der Werte. Genauso funktioniert die Sprache der Werte heute in Russland: Mit dem Verweis auf die „eigenen Werte“ legitimiert man die ewige Feindschaft mit dem imaginierten Westen.

    Wenn von „besonderen Werten“ die Rede ist, liegt die Betonung immer auf dem ersten, nicht auf dem zweiten Wort. Russland ist in keiner Hinsicht besonders in Bezug auf seine Werte, aber es hat den Komplex einer Kolonie, die sich aus der Fremdherrschaft befreien will. Trotz allem Lamento, „freiheitliche Werte“ seien nichts für die Russen, steckt hinter der fixen Idee, die eigene Einzigartigkeit hervorzuheben, das Streben nach der Emanzipation von einem allwissenden und autoritären Westen. Und auch wenn die Russen bislang kaum eine Vorstellung davon haben, was sie stattdessen wollen, kommt man schwer umhin, in diesem Drang eine echte Freiheitsliebe zu sehen, die Respekt verdient.  


    1.Schmitt, Carl (1967): Die Tyrannei der Werte, Berlin [3. Aufl., 2011]   

     

    Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

     

    Mit dem Fokusthema Russland in Europa widmet sich die Körber-Stiftung der Wiederbelebung eines offenen, kritischen und konstruktiven Dialogs zwischen Russland und seinen europäischen Nachbarn.

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    In Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunktes Russland in Europa.

     

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    erschienen am 14.03.2018

    Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

     

    Mit dem Fokusthema Russland in Europa widmet sich die Körber-Stiftung der Wiederbelebung eines offenen, kritischen und konstruktiven Dialogs zwischen Russland und seinen europäischen Nachbarn.

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