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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Unmoral als System

    Unmoral als System

    Der Mensch sei von Natur aus schlecht, alle Ideale per se utopisch und Wahrheiten manipuliert – viele halten solche Aussagen auch heute noch für Grundprinzipien des Menschseins. Aus dieser Sicht erscheint jede Hoffnung auf eine bessere Zukunft sinnlos, argumentiert Andrej Archangelski. Die Zukunft als solche wird zum Feind, die Ablehnung progressiver Werte, der Amoralismus werden zum eigenen Wertesystem. Dies macht für Archangelski die Ideologie des Putinismus aus und die zynischen Grundlagen eines Totalitarismus 2.0. Auf Carnegie politika fragt er, wie eine Rückkehr zur Moral möglich sein kann.

    Anfang der 2000er Jahre tauchte im öffentlichen Diskurs in Russland ein bemerkenswerter Begriff auf – nepolschiwzy, frei übersetzt „die Nichtlügner“. Der Begriff ging auf Alexander Solschenizyns 1974 erschienenen Essay Schit ne po lschi (dt. Nicht nach der Lüge leben) zurück und war in erster Linie eine abwertende Bezeichnung für Menschen, die antisowjetisch eingestellt waren. Aber er hatte auch einen tieferen Sinn: Der Begriff verhöhnte nicht nur die sowjetische Hölle, sondern bestritt selbst die Möglichkeit, nicht nach der Lüge zu leben.

    Die Aufforderung, ohne Lüge zu leben, war der ideelle Kern der Perestroika

    Dabei war die Aufforderung, ohne Lüge zu leben, der ideelle Kern von Gorbatschows Perestroika: Damals glaubte die Gesellschaft, dass man aufhören müsse, sich gegenseitig anzulügen, um die angestauten Probleme zu lösen. Und genau das wurde in den 2000er Jahren plötzlich wieder absurd und utopisch. „Erzähl ihr mal, wie man ohne Lüge lebt“, sang [der Sänger der bekannten Band Leningrad] Schnur über eine Petersburger Prostituierte, mit der er natürlich Mitgefühl hatte.

    Hier liegt auch die Wurzel der Putinschen Ideologie: Im Unterschied zum offiziellen Patriotismus und den traditionellen Klammern wurde sie zwar nie öffentlich verkündet, aber dennoch wurde den Menschen konsequent und unermüdlich eingeimpft: Ohne Lüge zu leben, ist eine Utopie. Alle lügen. Der Mensch ist in seinem Kern ein niederes Wesen, das sich niemals bessern wird; jegliche „große Umwälzungen“ werden nichts in ihm ändern; er wird, wo auch immer sich ihm die Gelegenheit bietet, stehlen und lügen. Niemand bleibt sauber, unter keinen Umständen.

    Dieses Konzept hielt auch Einzug ins Propagandafernsehen, wo es jedes Mal herangezogen wird, wenn die russische Staatsmacht sonst nichts mehr zu bieten hat. Zum Beispiel, als sich nicht länger verheimlichen ließ, dass unsere Sportler gedoped waren. „Das machen doch alle“, war von der Propaganda schließlich abfällig zu vernehmen, nachdem sie sich wochenlang darüber ausgelassen hatte, dass Feinde ihnen das Zeug „untergejubelt und in den Tee gemischt“ hätten.

    „Das machen doch alle“

    „Das machen alle.“ Das heißt mit anderen Worten: „Es gibt keine Heiligen“, keiner ist besser als der andere. Niemand ist rein. Genau darauf baut Putins gesamte Ideologie auf, und sie ist in diesem Sinne sehr praktisch. Wenn niemand besser ist als der andere, wenn alle gleich schlecht sind (die im Westen sowieso) – was wollen die dann von uns?

    Das ist Putins Moral, denn es regiert sich leichter, wenn es grundsätzlich nichts gibt, was man menschliches Ideal nennen könnte. Wenn es kein Ideal gibt, dann eröffnet sich ein grenzenloser Raum für Interpretationen, dann kann es gar keine Wahrheit geben – denn alles ist Manipulation. Damit wird auch der politische Handlungsspielraum extrem groß. „Es gibt keine Heiligen“ – dieses oberste Gebot des Zynismus hat uns die Propaganda in den letzten 20 Jahren unterschwellig eingetrichtert, parallel zu offiziösen Auslassungen über unsere moralische Überlegenheit.

    Der Krieg fügt sich in diesem Sinne sehr gut in Putins Ideologie, und zwar mit seiner totalen Amoralität. Alle sollen mit in den Dreck gezogen werden, auch die, die vielleicht noch sauber waren („Ihr werdet euch nicht reinwaschen können“): die Befürworter, die Gegner, die Neutralen. Mit der Entfesselung dieses Krieges hat das Putin-Regime mit einem Schlag alle früheren moralischen Grundfesten weggefegt; man kann heute unmöglich eine weiße Weste tragen – es sei denn, man lässt sich freiwillig vom System missbrauchen.

    Alle Politiker sind Lügner, Lügen ist ihr Beruf

    „Das ganze Leben gründet auf Betrug, alle Politiker sind Lügner, Lügen ist ihr Beruf.“ Diese Vorstellung von der immanenten Amoralität des bourgeoisen Lebens (natürlich im Gegensatz zum sowjetischen) stammt aus der Hauptquelle des sowjetischen Wissens über den Westen: der Zeitschrift Krokodil und ähnlichen Publikationen. In den 2000er Jahren diente sie als Basis für die stillschweigende Legitimierung der Ideologie in Putins Russland. Das gilt auch für die Vorstellung, dass der Kapitalismus von Natur aus unmoralisch ist.

    Der Amoralismus, der sich in den 2000er Jahren in Russland etablierte, war zunächst nur eine Lücke, eine weltanschauliche Leerstelle, die sich nach dem Zerfall der UdSSR auftat. Die „Suche nach einer nationalen Idee“ war damals die wohl letzte freie öffentliche Debatte in Putins Russland, und sie führte zu nichts. Doch irgendwann stellte sich zur allgemeinen Verwunderung heraus, dass alles auch einfach so funktioniert.

    Ideelle Leere bietet mehr Raum als jedes Dogma 

    Dieser Hohlraum anstelle der einstigen Sowjetideologie war zunächst ungewohnt, aber dann wurde er für den Kreml gewissermaßen zu einer postmodernen Entdeckung. Das Wertevakuum, die Ungewissheit, die ideologische Schwammigkeit des 21. Jahrhunderts entpuppte sich als etwas, das besser funktioniert als sämtliche Dogmen oder Deklarationen. Die ideelle Leere bietet per Definition mehr Raum als jedes Dogma. In der Politik ist Amoralität überaus praktisch, weil sie einen extrem breiten Korridor an Möglichkeiten eröffnet.

    Der Amoralismus eignet sich zwar nicht als offizielle Doktrin, aber als implizite Lebenspraxis, als etwas, „über das man nicht spricht, aber das alle wissen“. Der Amoralismus hat jedoch nicht nur einen praktischen Nutzen, er ist auch das beste Mittel gegen die Zukunft – Russlands Hauptproblem am Anfang des 21. Jahrhunderts.

    Amoralismus eignet sich nicht als offizielle Doktrin, aber als implizite Lebenspraxis

    Die totalitären Regime des 21. Jahrhunderts erschaffen im Gegensatz zu denen des 20. Jahrhunderts keine neuen Utopien – sie speisen sich aus den Utopien der Vergangenheit. Der Hauptfeind des Totalitarismus 2.0 ist die Zukunft als solches. Hier eignet sich der Amoralismus hervorragend als Ideologie. Im Unterschied zu progressiven Postulaten („Der Mensch kann mit der Zeit besser werden“) basiert der Amoralismus auf dem Gegenteil: Die menschliche Natur kann grundsätzlich nicht verändert werden, der Mensch wird immer so und so bleiben. Folglich ist auch jede Hoffnung auf die Zukunft sinnlos.

    Die autoritären Regime des neuen Typs gründen bewusst auf der Angst der Bevölkerung vor der Zukunft. Gleichzeitig flüstern sie ihren Bürgern ein, dass „alles Gute längst geschafft ist“, dass die Menschheit ihr Potenzial bereits ausgeschöpft habe. Weiter geht es nicht; man kann nur in der Ewigkeit verharren oder die Stufen in die Vergangenheit hinabsteigen und versuchen, die Geschichte von neuem durchzuspielen. Im Amoralismus bleibt die Zeit quasi stehen.

    Ein weiterer Aspekt des Amoralismus als Ideologie ist der Kampf gegen das Ideal. Grundsätzlich und gegen jedes. Ja, dieses Wort darf es gar nicht geben. Nicht umsonst wurde die Intelligenzija (die in Russland als die einzige Hüterin von humanistischen Idealen gilt) die letzten 20 Jahre sorgfältig und zielgerichtet verlacht.

    Wie befreit man sich aus dem Fangeisen des Amoralismus? 

    Wie aber befreit man sich aus diesem Fangeisen des Amoralismus? Wie durchbricht man den Abwärtsstrudel, den Teufelskreis? Alle denkenden Russen – sowohl die, die gegangen, als auch die, die geblieben sind – befinden sich heute in Geiselhaft dieses Postulats: Eine Zukunft zu erschaffen ist nicht mehr möglich. Und tatsächlich ist es jetzt so gut wie unmöglich, sich eine bessere Zukunft vorzustellen, weil man zuerst den Albtraum der Gegenwart überwinden muss. Jeder Versuch, unter diesen Umständen nach Idealen zu suchen, ist utopisch. Im besten Fall wird man zum Gespött der Leute.

    Über die Zukunft zu sprechen ist jetzt eine riskante Sache. Selbst die russische Sprache scheint nicht besonders geeignet für Variantenreichtum, für Wahrscheinliches und Relatives. Sie eignet sich nur für das Ewige und Unveränderliche. Über die Zukunft nachzudenken ist per Definition eine unsichere, wackelige Angelegenheit. Doch wir werden es wieder lernen müssen. Man kann dem Amoralismus heute nur auf Augenhöhe begegnen, indem man über die Zukunft nachdenkt, diskutiert und reflektiert – egal, wie utopisch und unwahrscheinlich das auch erscheinen mag.

    Über die Zukunft zu sprechen ist jetzt eine riskante Sache

    Die Rückkehr zur Moral ist zudem unmöglich ohne die Rückkehr zur Politik im europäischen Sinne – als Raum von konkurrierenden Ideen und Wettbewerb. Denn freie Politik ist heute die praktische Umsetzung der Moralität, die das Gegenteil von Amoralismus ist. Moral wird im gesellschaftlichen Diskurs ausgehandelt und formuliert. Politik ist die kollektive Verkörperung der Moral im 21. Jahrhundert, aber natürlich nur die echte Politik und nicht ihr Surrogat. Genau dort, in der Politik und den damit verbundenen Prozessen (in erster Linie Wahlen), werden in einem ganz praktischen Sinne die Grenzen zwischen Gut und Böse verhandelt.

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  • Gerechtigkeit (Sprawedliwost)

    Gerechtigkeit (Sprawedliwost)

    Gegen die breite Ablehnung in der Bevölkerung und gegen die Stimmen aller anderen Parteien hat die Regierungspartei Einiges Russland am 19. Juli 2018 in der Staatsduma in erster Lesung eine Gesetzesänderung über die Erhöhung des Rentenalters befürwortet. 
    In der Sache geht es um die Frage, ob das Rentenalter ab 2019 bis sukzessiv 2034 bei Frauen von 55 auf 63 Jahre und bei Männern von 60 auf 65 Jahre heraufgesetzt werden soll.1Mehr als 80 Prozent der Bürger äußern sich entschieden gegen diese Pläne2, die sie als äußerst ungerecht empfinden. 
    Gerade in der Klage über Ungerechtigkeit scheinen die in einer Gesellschaft geltenden Gerechtigkeitsvorstellungen auf. Und so werfen auch die Reaktionen auf die Erhöhung des Rentenalters ein Schlaglicht darauf, was in der russischen Bevölkerung als gerecht und was als ungerecht gilt.


    In Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

    Eine besonders starke Empörung ruft der Umstand hervor, dass die geplanten Reformen auf einer grundlegenden Ebene die Vorstellung von einem gerechten (Tausch-)Verhältnis zwischen Staat und Bürger verletzten. Dieses beruht auf der Idee, dass die Bürger für die Allgemeinheit Leistung erbringen und dafür eine Gegenleistung in Form von Lohn, gesellschaftlicher Anerkennung und Sicherheit im Alter erhalten.
    Das Gefühl, es mit Ungerechtigkeit zu tun zu haben, wird unter anderem durch die Art und Weise, wie die Gesetzesreform in Gang gebracht wurde, zusätzlich verstärkt. Einerseits entstand der Eindruck, sie sollte im Schatten der Fußballweltmeisterschaft im eigenen Land unauffällig durchgewinkt werden, andererseits nährte dieser zeitliche Zusammenfall den Verdacht, dass mit der Rentenreform die enormen Kosten der Weltmeisterschaft kompensiert werden sollen. 

    Verantwortlich für das zweifelhafte Vorgehen, das vielen als Betrug am Volk gilt, wird die bürokratische Elite gemacht, die traditionell immer der Korruption und des Egoismus verdächtig ist.

    Der Bürokratie als Ursache für Ungerechtigkeit steht in der Wahrnehmung der „gerechte Herrscher“ als Hüter der Gerechtigkeit gegenüber. Eben nach diesem Muster hat sich Putin bisher aus der Debatte über die Rentenreform herausgehalten, um eventuell in einem späteren Stadium mit einer Abmilderung der Pläne auftreten zu können. Immerhin steht er im Wort, denn 2005 hat er sich klar gegen die Erhöhung des Rentenalters ausgesprochen.3

    Soziale versus politische Gerechtigkeit

    Hier nur kurz skizziert, scheinen in diesem Fall einige Besonderheiten des Gerechtigkeitsverständnisses in Russland auf. Zunächst ist auffällig, dass es meist Verletzungen der sozialen Gerechtigkeit sind, die von weiten Teilen der Bevölkerung wahrgenommen werden und zu Protesten führen können. Moralische Gerechtigkeit als Anforderung an das politische Führungspersonal spielt eine wichtige Rolle, und auffällig ist die herausgehobene Stellung des Staatsführers als höchste gerechtigkeitsschaffende Instanz. 
    Diese Prioritäten im Verständnis von Gerechtigkeit haben ihre Wurzeln in der politischen Ordnung der Sowjetunion, in der rechtsschaffende Institutionen schwach ausgeprägt und nicht unabhängig waren. Herrschaft durfte nicht in Frage gestellt werden und blieb immer stark personalisiert. Der soziale Status und das materielle Wohlergehen des Einzelnen in der Gesellschaft hingen ausschließlich von der Obrigkeit ab.4

    Gleichzeitig bedeutet dies nicht, dass Prinzipien der politischen Gerechtigkeit (wie Gewissens- und Meinungsfreiheit, Gewaltenteilung und Kontrolle der Macht) sowie der juridischen Gerechtigkeit (wie Forderung nach unabhängigen Rechtsorgangen und Gleichheit aller vor dem Gesetz) keine Rolle spielen würden. Alle russischen Reformer seit den Dekabristen waren diesen Ideen verpflichtet, und alle politischen Führungen bis heute sehen sich unter dem Zwang, diesen Forderungen wenigstens formal zu entsprechen.

    In den verschiedensten konkreten politischen Situationen hat sich jedoch immer wieder gezeigt, dass im Zweifelsfall die soziale Gerechtigkeit gegen die politische ausgespielt wird. Der Mensch lebt zwar „nicht vom Brot allein“5, aber ohne Brot lässt sich auch nicht leben. 
    Die Begründung der Ordnung unter Putin folgt dieser Logik, indem permanent der Zusammenbruch der Staatlichkeit in den 1990er Jahren als negatives Gegenbild zur Gegenwart beschworen wird. Es heißt, hätte Putin nicht Anfang der 2000er Jahre das Ruder herumgerissen, so gäbe es heute keinen Staat mehr und damit weder elementare persönliche noch jegliche soziale Sicherheit, die Gesellschaft wäre in einen Urzustand ohne Gerechtigkeit verfallen. Wo es nichts mehr gäbe, ließe sich auch nichts verteilen.
    Angesichts dieser elementaren Bedrohung scheint die Sicherung der Ordnung die erste Aufgabe des „gerechten Herrschers“, und dem hat sich im Zweifel alles andere unterzuordnen. Bürger, die in dieser Situation die Einhaltung von Prinzipien politischer Gerechtigkeit einfordern, haben es schwer und sehen sich leicht dem Vorwurf ausgesetzt, die Gesellschaft spalten, den Staat schwächen und die Einheit zerstören zu wollen. Sicherheit ist an die Stelle von Gerechtigkeit getreten.6

    Prawda – Wahrheit und Gerechtigkeit

    Auch die Frage, ob sich nun das Verständnis von Gerechtigkeit in Russland von dem in Europa unterscheidet, führt letztlich zur Idealisierung von Einheit als idealem, gottgegebenen Zustand. Diese wurzelt in der engen Verbindung von kirchlicher und weltlicher Gewalt, einer harmonischen Einheit, der sogenannten „Symphonia“, die aus der byzantinischen Tradition ins Moskowiter Zarentum übernommen wurde. Die Vorstellungen von einer göttlichen Ordnung des Guten werden mit dem Begriff Prawda beschrieben, der „Wahrheit“ und zugleich „Gerechtigkeit“ bedeutet.7 Der andere Begriff für Gerechtigkeit, Sprawedliwost, bezieht sich ursprünglich eher auf die moralische Integrität des Individuums.8 Heute werden die Begriffe oft synonym benutzt, eine deutliche Abgrenzung der Semantiken fällt schwer. 
    Es ist aber zu betonen, dass die doppelte Bedeutung des Worts Prawda als Wahrheit und Gerechtigkeit spätestens seit dem 19. Jahrhundert zum Merkmal der kulturellen Identität Russlands hochstilisiert wurde und bis heute dazu dient, ein spezifisches, russisches Verständnis von Gerechtigkeit zu konstatieren. Dazu gehört auch, dass der Gedanke der Gerechtigkeit kaum mit den Vorstellungen von einem autonomen Recht, von Gesetz, Rechtsgleichheit und Rechtsstaat in Verbindung gebracht wird. Auf dieser Grundlage lässt sich auf populistische Weise ein Gegensatz zum „Westen“ konstruieren, der vergeblich versuche mit dem Rechtsstaat Gerechtigkeit zu verwirklichen, während Russland schon aus Tradition über ein höheres Verständnis von Gerechtigkeit verfüge.

    Derartigen Diskursen haftet Beliebigkeit an, oder sie folgen einer bestimmten Intention. Sehr viel greifbarer und „wahrer“ sind dagegen Forderungen nach Gerechtigkeit in konkreten gesellschaftlichen Konflikten. In den vergangenen Jahren waren es meist Verstöße gegen die soziale Gerechtigkeit, die vermochten, die Menschen zu Protesten zu mobilisieren; ob bei der Monetarisierung von Sozialleistungen oder dem Abriss von Plattenbauten, es kommt zu einer explosiven Situation, wenn den Bürgern etwas genommen werden soll, was ihnen verdienter- und damit gerechterweise zusteht. Kritisches Potential und Dynamik entstehen außerdem, wenn die Bürger den Eindruck gewinnen, von einer moralisch zweifelhaften Führung betrogen und für dumm verkauft zu werden. So provozierten allzu offensichtliche Wahlmanipulationen die landesweiten politischen Demonstrationen im Dezember 2011.


    1. Duma.gov.ru: Odobren v pervom čtenii proekt zakona o soveršenstvovanii pensionnoj sistemy ↩︎
    2. Levada.ru: Pensionnaja reforma ↩︎
    3. Am 27. September 2005 im Rahmen der alljährlichen im Fernsehen übertragenen Fragestunde Primaja linia. ↩︎
    4. vgl. Brewer, Aljona/Lenkewitz, Anna/Plaggenborg, Stefan (Hrsg., 2014): „Gerechte Herrschaft“ im Russland der Neuzeit: Dokumente, München ↩︎
    5. Bibelwort, hier: Bezug auf Titel eines bekannten Romans von Valdimir Dudincev, der in der sowjetischen Tauwetterperiode 1956 erschien und die Wirtschaftsbürokratie kritisierte. ↩︎
    6. vgl. Kuhr-Korolev, Corinna: Gerechtigkeit und Herrschaft. Von der Sowjetunion zum neuen Russland, Paderborn 2015. ↩︎
    7. Der erste Gesetzeskodex der Kiewer Rus aus dem 11. Jahrhundert hieß Russkaja Prawda. ↩︎
    8. vgl. Haardt, Alexander u. a.: Kulturen der Gerechtigkeit: Normative Diskurse im Transfer zwischen Westeuropa und Russland, unveröffentlichter Antrag beim BMBF auf Förderung eines Verbundprojektes ↩︎

     

    Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

    Mit dem Fokusthema Russland in Europa widmet sich die Körber-Stiftung der Wiederbelebung eines offenen, kritischen und konstruktiven Dialogs zwischen Russland und seinen europäischen Nachbarn.

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    Infografik: Wer ist Freund, wer Feind?

  • Infografik: Wer ist Freund, wer Feind?

    Infografik: Wer ist Freund, wer Feind?

    Alle politischen Handlungen und Motive lassen sich auf die Unterscheidung von Freund und Feind zurückführen, so schrieb es 1927 Carl Schmitt.1 Viele russische Politikwissenschaftler meinen, dass man den deutschen Philosophen lesen müsse, um die russische Politik zu verstehen. Sergej Medwedew zum Beispiel behauptet, dass Putins Politik dann im Einklang mit Schmitts Theorie des Ausnahmezustandes stünde, wenn der Präsident gegen Normen verstößt2 – sei es bei systematischen Repressionen, die verfassungswidrig sind, oder bei der Angliederung der Krim, die das Völkerrecht verletzt. Andere Wissenschaftler betonen gar, dass Putins grundsätzliches Politikverständnis aus Schmitts Freund-Feind-Unterscheidung bestünde. 

    Die Schmittsche Unterscheidung von Freund und Feind beschäftigt auch das unabhängige Lewada-Institut. Seit 2006 ermittelt es in jährlichen (außer 2008) Meinungsumfragen, wie die russische Gesellschaft das Verhältnis verschiedener Staaten zu Russland einschätzt:3 Welche fünf Länder sind Russland am freundlichsten gesinnt, welche am feindlichsten?


    Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

    Meinungsumfragen funktionieren in Russland nach einem besonderen Prinzip, meint der Soziologe Grigori Judin. Die Meinungsforscher nehmen sehr oft „einfach die Abendnachrichten und befragen am nächsten Morgen die Menschen, ob sie mit diesem oder jenem Gedankenkonstrukt einverstanden sind, das am Vorabend verbreitet wurde“. 
    Diese Umfrage macht es besonders deutlich, denn die Antworten sind nahezu deckungsgleich mit der jeweiligen politischen Linie des Kreml, die wiederum auch die Fernsehnachrichten bestimmt, aus denen die meisten Menschen in Russland wiederum ihre Informationen beziehen. 
    Was sind dann solche Meinungsumfragen überhaupt wert? Zumindest zeigen sie den Trend, was schon für sich interessant sein kann. Außerdem spiegeln sie in Umkehrung der These von Judin auch die Abendnachrichten. In diesem Sinne sind Meinungsumfragen indirekte Mediendiskursanalysen. Schließlich zeigen sie auch, wie die (geäußerte) öffentliche Meinung in Russland gemacht wird. Im konkreten Fall heißt das, dass der Kreml Feindbilder forciert und damit die (geäußerte) Resonanz in der Gesellschaft erzeugt. Der Topos wird schon seit einigen Jahren von russischen Staatsmedien verbreitet: Russland sei von Russophoben umzingelt, die danach trachten, das Land genauso in die Knie zu zwingen wie in den 1990er Jahren. Auch im Inneren der belagerten Festung Russland gebe es feindlich gesinnte Menschen, die sogenannten ausländischen Agenten, also Agenten des eigentlichen Belagerers der Festung. 
    Viele Wissenschaftler meinen, dass die Konstruktion dieser Feindbilder von innenpolitischen Problemen ablenken soll und durch „Gefahren“ den sogenannten konstituierenden Anderen schaffe, der eine einende Kraft stiftet und so das Volk hinter dem Präsidenten versammelt.4 Feindbilder sind demnach also Legitimationsstrategien.

     


    Zum Zoomen mit dem Mausrad die Strg-/Ctrl-Taste gedrückt halten. Quelle: Lewada-Zentrum

    Russlands wichtigster Referenzpunkt

    Dieser Zusammenhang wird vor allem bei der Frage „Wie stehen Sie zu den USA?“ deutlich. Die russische Soziologie erklärt das Auf und Ab in dieser Meinungsumfrage mit dem besonderen Verhältnis vieler Russen zur Supermacht USA: Die USA seien für sie der wichtigste Referenzpunkt, so etwas wie das Maß aller Dinge – sowohl in positiver wie auch in negativer Hinsicht.

    In letzterer bedeutet es auch, dass die USA seit 2013 zu den am feindlichsten gesinnten Staaten stets an erster Stelle stehen – 2018 glauben es 78 Prozent der Befragten. Bis zur Mitte der 1990er Jahre sahen das aber nur rund sieben Prozent so.5 Viele Wissenschaftler erklären den krassen Umschwung auch mit der jahrelangen antiamerikanischen Propaganda, die – angefangen mit Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz6 – letztendlich in der Formel belagerte Festung gipfelte.7

    „Handlanger“

    Im feindlich gesinnten Fahrwasser der USA, so der Tenor von Staatsmedien, schwimme auch die Ukraine. Schon 2009 war das Land in der Umfrage nur wenige Prozentpunkte von den USA entfernt. Die Daten für 2008 fehlen, es ist aber wahrscheinlich, dass die Ukraine schon damals – und nicht erst 2009 – den Sprung von 23 auf 41 Prozent machte (der Wert bei den USA stieg entsprechend von 35 auf 45 Prozent). Der damalige ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko galt für die russischen Staatsmedien nämlich schon 2008 als ein Handlanger der USA. 2010 wurde Juschtschenko abgewählt, und da der neue Präsident Viktor Janukowitsch kremlnah war, wurde die Ukraine auch nicht mehr als feindlich gesinnt wahrgenommen: Der Wert fiel auf 13 Prozent.
    2013 lag er gar bei elf Prozent, doch vor dem Hintergrund des Euromaidans, der Krim-Angliederung und des Krieges im Osten der Ukraine kletterte er in der Folgezeit kontinuierlich auf 49 Prozent im Jahr 2018.

    Ähnlich verhielt es sich mit Georgien: Auch dort galt der Präsident (Micheil Saakaschwili) für die Staatsmedien Russlands als ein Handlanger der USA. 2008 entfesselte er zudem den Georgienkrieg, und 2009 besetzte Georgien die Spitzenposition im Ranking der feindlich gesinnten Staaten.

    Interessant ist auch die Entwicklung bei den baltischen Ländern: Abgesehen von besagten Ereignissen 2008 und 2009, waren sie bis 2011 stets in der Top-Fünf der feindlich gesinnten Staaten. Vor allem Estland sticht 2007 hervor – damals ging es um die Demontage eines Denkmals des sowjetischen Soldaten in Tallinn, was scharfe Kritik aus dem Kreml und eine entsprechende Kampagne in den staatlich-gelenkten Medien provozierte. Interessanterweise halbierte sich im Folgejahr der Wert bei Estland, auch Litauen und Lettland wurden in der Folgezeit immer weniger als feindlich gesinnt wahrgenommen.

    Sonderfall Türkei

    Von gestern auf heute zum Feind, morgen zurück – nach diesem Schema verlief 2016 die ermittelte Haltung zur Türkei. Von einem Prozent stieg der Wert auf 29, bevor er im Folgejahr auf acht Prozent fiel. Hintergrund war der türkische Abschuss eines russischen Kampfjets an der Grenze zu Syrien im November 2015. Ende Juni 2016 äußerte Erdogan in einem Brief sein Bedauern über den Abschuss, kurz darauf gab es ein Telefonat zwischen Putin und Erdogan. Danach waren die Beziehungen wieder so gut, dass manche Beobachter sich an Orwells 1984 erinnerten, wo Ozeanien abwechselnd mit Eurasien oder mit Ostasien Freund-Feind spielte.

    Sanktionen

    Einen steilen Ausschlag in der Statistik gab es 2018 für Großbritannien: Der Wert schnellte von 15 im Jahr 2017 auf 38 Prozent. Auslöser war der Fall Skripal. 27 Staaten entschlossen sich zu einem Schulterschluss mit Großbritannien und wiesen über 140 russische Diplomaten aus. Die russischen Machthaber protestierten, und die staatlich-gelenkten Medien ätzten in einer massiven Kampagne gegen Theresa May.
     
    Schon seit der Angliederung der Krim wettern sie gegen Angela Merkel. 2013 stand Deutschland noch mit 14 Prozent auf dem vierten Rang der freundlich gesinnten Länder, 2017 teilte es sich mit Litauen und Lettland aber schon den dritten Platz im Ranking der feindlich gesinnten. Da sich der Wert bei Frankreich nach 2014 nur minimal veränderte, liegt der Referenzschluss nahe, dass Merkel im Kreml als Motor der Einführung und turnusmäßiger Verlängerungen der EU-Sanktionen gegen Russland gilt. Deswegen wurde in russischen Staatsmedien gegen die Bundesregierung, weniger gegen Frankreich gehetzt.

    Freundlich gesinnte Staaten

    Wolodja [Koseform von Wladimir – dek], verdirb nicht den Abend“, soll der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko mal gesagt haben. Die zahlreichen Spitzen und Vorwürfe, die er bei seiner siebeneinhalbstündigen Pressekonferenz Anfang 2017 in Richtung Russland losließ, deuteten einen Umschwung in der traditionellen Freundschaft an. Obwohl Belarus seit 2006 mit 34 bis 55 Prozent immer das Freunde-Ranking anführt, müsste der Beziehungsstatus wohl dennoch auf „es ist kompliziert“ geändert werden. So wird in jüngster Zeit in Belarus ein Verbot des St. Georgs-Bandes diskutiert – solche Initiativen bewerteten russische Staatsmedien aber als Affront gegen Russland. Außerdem gilt Lukaschenko für viele Beobachter ohnehin als zunehmend unberechenbar8, seine ständigen Volten und Pendelbewegungen könnten durchaus irgendwann in einer Westbindung münden. 

    Eine solche ist bei dem zweitplatzierten „freundlich gesinnten“ China in nächster Zeit nicht zu erwarten. Doch ließe sich der Beziehungsstatus von Russland und China eher als Zweckfreundschaft beschreiben. Bis zur Angliederung der Krim pendelte China nämlich bei etwa 20 Prozent, 2014 verdoppelte sich der Wert, auch 2018 steht er bei 40 Prozent.

    Damit überholte China die traditionelle Nummer zwei – Kasachstan. Der kasachische Präsident Nasarbajew war schon 1989 Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Kasachischen Sozialistischen Sowjetrepublik, 1990 übernahm er nahtlos die Präsidentschaft. Russland verbindet mit Kasachstan nicht nur die längste Landgrenze, sondern auch die Nachbarschaft in Ranglisten der Pressefreiheit9 oder Bürger- und Freiheitsrechte.10

    Neu in der Top-Fünf der am freundlichsten gesinnten Länder ist seit 2016 Syrien. Zuvor unter „ferner liefen“, schnellte das Land auf den vierten Rang, 2018 zählen rund 21 Prozent der Befragten Syrien zu einem freundlich gesinnten Land.

    Wirksamkeit der belagerten Festung

    Diese Meinungsumfrage untermauert die Eingangsthese von Grigori Judin: Die öffentliche Meinung wird durch Fernsehnachrichten gelenkt, in denen der Kreml Feindbilder forciert. Da die öffentliche Meinung aber nur ein Produkt dieser Umfrage ist, bleibt es infrage gestellt, ob die Technologie des „konstituierenden Anderen“ tatsächlich zu einer wirksamen Legitimationsstrategie taugt. Die wirkliche Meinung der Menschеn in Russland bleibt nämlich ungewiss. Ebenfalls unbeantwortet bleibt also auch die Frage, ob es dem Kreml im Ergebnis gelingt, durch Feindbilder von den massiven innenpolitischen Problemen abzulenken. Und so liegt es für manche Politikwissenschaftler auf der Hand, dass die Legitimationsstrategie belagerte Festung eigentlich einer Ohnmacht gleiche.11 Ähnliches lässt sich übrigens auch von Carl Schmitts Freund-Feind-Schema behaupten.

    Grafik: Daniel Marcus
    Text: Anton Himmelspach
    Stand: Juli 2018


    1.vgl. Schmitt, Carl (1996): Der Begriff des Politischen, S. 26
    2.Forbes: Slovo suverena: počemu dlja ponimanija Putina nužen nemeckij filosof
    3.levada.ru: "Druz'ja" i "wragi" Rossii
    4.vgl. Pain, Emil (2007): Imperskij sindrom i imitacija nacional’nogo stroitel’stva v Rossii, in: Sociologija: teorija, metody, marketing, 2007/3, S. 38-59
    5.polit.ru: Otnošenie k SŠA v Rossii i porblema antiamerikanizma
    6.vgl. rbc.ru: Ego Fulton: k desjatiletiju mjunchenskoj reči Vlamidira Putina
    7.vgl. republic.ru: Pjat’ mifov ob Amerike, tiražiruemych v Rossii und the-village.ru: Sociolog Lev Gudkov – ob effektivnosti propagandy v Rossii
    8.vgl. The New York Times (2014): As Crisis Saps Economy, Belarus Replaces Premier
    9.vgl. Reporter ohne Grenzen: Rangliste der Pressefreiheit 2018
    10.vgl. Freedom House: Freedom in the World 2018. Table of Country Scores
    11.vgl. Newtimes.ru: Lilija Ševcova: „Vopros liš’ v tom, soglasjatsja li ėlita i narod bezropotno vernut’sja v voennoe vremja, kuda ich stalkivaet vals’“

    Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa.

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  • Bystro #3: Fußball & Gesellschaft

    Bystro #3: Fußball & Gesellschaft

    Ein schneller Überblick über die Fußball- und Fankultur in Russland – in sieben Fragen und Antworten. Einfach durchklicken.


    In Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

    1. 1. Die WM findet dieses Jahr zwar in Russland statt – aber interessieren sich die Russen überhaupt für Fußball? Ist Eishockey nicht viel wichtiger?

      Im Gegenteil, Fußball ist in Russland sehr beliebt, das hat historische Gründe. In den 1920er Jahren wurde der Fußball zum urbanen Massenereignis in Moskau. Bereits in den 1930er Jahren sprachen sowjetische Offizielle vom Fußball als „Spiel des Volkes“ (russ. narodnaja Igra), das sich überall in der Sowjetunion großer Beliebtheit erfreue. 
      Eishockey war damals auch wichtig, stand aber nie in Konkurrenz zum Fußball. Zunächst liegt das an den Spielzeiten der beiden Sportarten, die sich nie überschnitten. Lange war es Usus, dass Fußballspieler im Winter beim Eishockey mitmachten – wie etwa Wsewolod Bobrow, der berühmte Stürmer des Armeesportklubs ZDKA (heute ZSKA) in der Nachkriegszeit. 

    2. 2. Eishockey war zu Zeiten der Sowjetunion international viel erfolgreicher als der Fußball, hatte es also nicht auch mehr Fans?

      Im Kalten Krieg hatte das Eishockey eine andere Funktion als der Fußball. Die nationalen Meisterschaften galten als eher langweilig, da alle Mittel nach Moskau flossen, um eine schlagkräftige Auswahl bei internationalen Wettkämpfen zu haben. Der Fußball hingegen war in allen Sowjetrepubliken beliebt und gerade in der späten Sowjetunion von starker innerer Konkurrenz geprägt. 
      Die große Liebe zum Fußball geht auf die Zeit der großen Derbys der starken Moskauer Mannschaften vor und nach dem Krieg zurück – und die Herausforderung durch Teams aus der Ukraine, Georgien und Armenien in den Jahrzehnten danach. Sie hält sich bis in die Gegenwart, auch wenn es lange – gerade international – wenig zu feiern gab (mit Ausnahme vielleicht der UEFA-Pokalsiege von ZSKA und Zenit, 2005 und 2008).

    3. 3. Man hört viel von Hooligans im russischen Fußball. Warum sehen wir davon (bislang) nichts während der WM?

      Russland hat ein großes Interesse, die Organisation dieses sportlichen Mega-Ereignisses als solide erscheinen zu lassen. Bilder gewalttätiger Exzesse würden diesen Anschein trüben. Referenzbeispiel wäre die Fußball-EM 2016, wo es etwa in Marseille zu Straßenschlachten zwischen englischen und russischen Hooligans kam. 

      Inwiefern neben hoher Ticketpreise, dem Verteilsystem der FIFA sowie dem Sicherheitskonzept der Behörden auch informelle Kontakte zwischen Fangruppierungen und der Politik ursächlich dafür sind, dass es bislang ruhig geblieben ist, ist spekulativ. 
      Für solch eine informelle Einflussnahme gäbe es jedenfalls historische Vorbilder. In den 1980er Jahren übte neben der sowjetischen Miliz auch die Jugendorganisation Komsomol Druck auf die Anführer der Fanbewegung aus. Deren aktuelle Anführer sind den Behörden auch heute bekannt. 

    4. 4. Welche Fankultur gibt’s sonst noch im russischen Fußball?

      Die „Fanbewegung“ (russ. fanatskoje Dwishenije) verbindet Elemente des Teamsupports aus der Ultrakultur, die ausgehend von Italien die Fankultur in vielen Ländern Europas revolutionierte, mit gewalttätigen Praktiken einer ursprünglich von englischen Vorbildern abgeleiteten Hooligankultur. Seit Mitte der 1970er Jahre entstand die Bewegung zunächst zur Unterstützung der großen Moskauer Mannschaft Spartak, bald darauf Dynamo und ZSKA, und weitete sich Ende der 1970er Jahre in andere Städte der Sowjetunion aus. 
      Teamsupport im Stadion, Auswärtsfahrten und Gewalt gegenüber anderen Gruppen und der Miliz (Polizei) verschmolzen zu einer Jugendkultur, die mit und nach dem Ende der Sowjetunion mit erwähnten Einflüssen aus Westeuropa angereichert wurde. Sie sucht sich ihre Vorbilder aber zunehmend in anderen Ländern Osteuropas, beziehungsweise betrachtet sich nun selbst als Vorbild für Fanbewegungen etwa in Deutschland. 

    5. 5. Fans vom FC Zenit haben einen Spruch: „Zenit hat alle Farben außer Schwarz“. Wie sieht es mit Rassismus im russischen Fußball aus?

      Der russische Fußball hat spätestens seit den späten 1980er Jahren ein großes Rassismusproblem. Rassistische Aussagen finden sich bei allen großen Mannschaften der beiden Hauptstädte, von Zenit über ZSKA, Dynamo, aber auch Spartak
      Das Fallbeispiel Spartaks ist besonders interessant, da die Mannschaft in der sowjetischen Nachkriegszeit als multiethnische Mannschaft galt und auch in den Jahrzehnten danach eine sehr diverse Anhängerschaft an sich zog. Spartak verfügte auch in den frühen 2000er Jahren über den breitesten Support. Jedoch zeigte sich auch hier in den Jahren 2007 bis 2012 immer wieder, dass rechtsradikale Einstellungen unter den Anhängern Spartaks weit verbreitet waren. 
      Dieses Problem wird dem russischen Fußball erhalten bleiben, solange es nicht gelingt, Fankultur (Teamsupport, Auswärtsfahrt) und Gewalt konzeptionell voneinander zu trennen, etwa durch die Förderung zivilgesellschaftlicher Strukturen in der Fußballkultur.

    6. 6. In Moskau gibt es gleich vier wichtige Fußball-Klubs. Ist die Sportart auch außerhalb der Hauptstädte beliebt?

      Der russisch-sowjetische Fußball entstand als urbaner Zuschauersport in Moskau und Leningrad in den 1920er Jahren. Er entwickelte sich in der späten Sowjetunion weiter – von wichtigen Ausnahmen wie Schachtjor Donezk oder Zenit Leningrad abgesehen – zum Spiel der Republikhauptstädte gegeneinander: Moskau, Kiew, Tbilissi, Jerewan, Minsk … Dabei war der „große“ Fußball aber dank Fernsehübertragungen seit den 1960er Jahren auch außerhalb dieser Städte bekannt und beliebt. 
      Nach dem Ende der Sowjetunion durchlief der nun russische Fußball ein langes Jahrzehnt der Dominanz von Spartak Moskau
      Viele Städte insbesondere aus dem europäischen Teil Russlands haben heute eine Mannschaft in der Premjer-Liga. Doch nach einigen Erfolgen neuer regionaler Herausforderer wie Rubin Kasan (Meister 2008 und 2009), ist die russische Meisterschaft nun wieder fest in der Hand der Moskauer Vereine und Zenit Sankt-Petersburgs, die auch außerhalb dieser Städte über viele Anhänger verfügen.

    7. 7. Ein weiterer Fanspruch lautet: „Liebe deine Mannschaft mehr als Siege“. Was ist für Russen wichtiger, Sieg oder Teilnahme?

      Den Russen als solchen gibt es ja nicht. Das Besondere am Fußball ist, dass er Gemeinschaft erzeugt, während gleichzeitig jeder Einzelne sich seinen eigenen Reim darauf machen kann, was diese Gemeinschaft ausmacht und was sie bedeutet. 
      Wenn man aber generalisieren wollte: Die Teilnahme an sich bedeutet wenig. Entscheidend sind aber nicht nur Siege, sondern auch das Leiden, das viele russische Fußballfans ein Leben lang erdulden, wenn sie ihrer Mannschaft treu bleiben. Das Leiden findet sich bereits im russischen Wort für Fan – „Bolelschtschik“ – man leidet, fiebert für seine Mannschaft. 
      Gleichzeitig formierte sich eine Gemeinschaft in der Sowjetunion und auch in Russland häufig und sehr stark in Momenten des Sieges oder über Erinnerungen an vergangene Siege – mit dem Sieg im Großen Vaterländischen Krieg als prominentestes Beispiel. Sportliche Siege fügen sich hier ein. Geschichten über den russischen Fußball handeln nie einfach nur von Teilnahme. Es geht um den Sieg, aber es geht auch um das Leid.




    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Text: Manfred Zeller
    Stand: 13.07.2018

    Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa.

    Mit dem Fokusthema Russland in Europa widmet sich die Körber-Stiftung der Wiederbelebung eines offenen, kritischen und konstruktiven Dialogs zwischen Russland und seinen europäischen Nachbarn.

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  • Juristische Sonderwege

    Juristische Sonderwege

    Nach dreieinhalb Jahren Haft kam Oleg Nawalny am 29. Juni 2018 auf freien Fuß. Zu diesem Strafmaß wurde er 2014 verurteilt, genauso wie sein Bruder. Die Strafe des prominenten Oppositionspolitikers Alexej Nawalny wurde allerdings auf Bewährung ausgesetzt. Die Anklage lautete auf Betrug des französischen Kosmetikkonzerns Yves Rocher, mit dem eine Firma der beiden Brüder Geschäfte gemacht hatte.

    Schon während des Prozesses betonte Alexej Nawalny, dass die Anschuldigungen haltlos seien und sein Bruder nur in Sippenhaft genommen worden sei. Auch Vertreter von Yves Rocher bestritten während des Prozesses die Vorwürfe und äußerten mehrfach, die Geschäfte seien zur Zufriedenheit beider Seiten abgewickelt worden. Unabhängige Beobachter attestierten dem Verfahren einen politisch-motivierten Hintergrund. Schließlich befand der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Oktober 2017 das Urteil des russischen Gerichts als „willkürlich und deutlich rechtswidrig“.

    Diese vernichtende Einschätzung quittierte das Präsidium des Obersten Gerichtshofes Russlands Ende April 2018 mit Schulterzucken: Das Urteil sei rechtsgültig, die Nawalny-Brüder bleiben vorbestraft. Damit zahlt der russische Staat ihnen auch die vom EGMR zugesprochene Entschädigung von insgesamt 97.000 US-Dollar nicht.

    Warum diese Entscheidung einer Bankrotterklärung des russischen Rechtssystems gleiche und was man tun müsse, um aus Russland einen Rechtsstaat zu machen – das erklärt Alexander Wereschtschagin auf Republic


    In Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

    Nach dreieinhalb Jahren wird Oleg Nawalny Ende Juni 2018 aus der Haft entlassen / Foto © navalny.com
    Nach dreieinhalb Jahren wird Oleg Nawalny Ende Juni 2018 aus der Haft entlassen / Foto © navalny.com

    Die Entscheidung des Obersten Gerichts im Fall Yves Rocher (so heißt der Fall der Nawalny-Brüder) kann zugleich als Urteil über das russische Rechtssystem angesehen werden.

    Das Präsidium des Obersten Gerichts ist die höchste gerichtliche Instanz der Russischen Föderation, gegen deren Entscheidung man nirgendwo im Land Berufung einlegen kann. Es hatte sich mit dem Fall befassen müssen, weil der Europäische Gerichtshof in Straßburg (EGMR) darin eine Reihe von Verstößen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention erkannt hat. Nach russischem Recht ist das Urteil des Europäischen Gerichtshofs ein „neuer Sachverhalt“ und somit ein Grund für eine Revision des Falls.

    Urteilsaufhebung oder Urteilsabänderung – das sind die beiden Möglichkeiten, die das Gesetz dem Präsidium lässt. Die Möglichkeit, es unverändert beizubehalten, gibt es nicht.

    Aber wie es bei uns so schön heißt: „Willst du was und darfst es nicht, musst du’s nur wirklich wollen.“ In diesem Fall wollte man es wirklich. Und so verkündete das Präsidium einen abenteuerlichen Beschluss, der vom Gesetz nicht vorgesehen ist: Das Urteil im Fall Yves Rocher wird nicht geändert.

    Eine Frage der Technik

    Gerechterweise muss man sagen, dass es das zwar sehr selten, aber nicht zum ersten Mal gibt. Das Präsidium hat lange darauf hingearbeitet. Schon vor zehn Jahren tauchten in seiner Verordnung interessante Formulierungen auf. Denen zufolge hat das Präsidium eine Zusatzbedingung für die Revision eines Falls aufgestellt: Es ist nicht genug, dass der Europäische Gerichtshof Verstöße attestiert. Die Urteile, in denen er sie vorfindet, müssen auch rechtswidrig, unzulässig oder unbegründet sein.

    Was folgt, ist eine Frage der Technik: Man braucht nur noch zu beweisen, dass ein Urteil, das nach Ansicht des EGMR gegen die Konvention verstößt, doch rechtmäßig, zulässig und begründet ist. Aber weil es keine gerichtliche Instanz gibt, die über dem Präsidium steht und vor der man sich streiten könnte, muss das Präsidium letztlich nur sich selbst überzeugen.

    Und genau das hat es getan – in einem beispiellos langen Urteil (etwa zehn Mal so lang wie üblich), das zunächst einmal in allen Einzelheiten darlegt, was für Gauner die Nawalny-Brüder sind. Dann haspelt das Präsidium im Schnelldurchlauf runter, dass „der Europäische Gerichtshof das Strafverfahren […] für ‚fundamental‘ ungerecht hält“, dann verkündet das Präsidium ohne Umschweife: „Ich bin aber anderer Meinung als der Europäische Gerichtshof!“, und bekräftigt seine Position mit einem erneuten Wortschwall über die kriminellen Machenschaften der beiden Brüder und die Gerechtigkeit ihres Gerichtsverfahrens. Und alles nur, um zum erwünschten Schluss zu kommen: Das Verfahren wird wieder aufgenommen, aber die Gerichtsurteile bleiben unverändert.

    Ich bin aber anderer Meinung als der Europäische Gerichtshof!

    Es ist das erste Mal, dass das Präsidium dem EGMR in der Sache widersprochen hat, wobei es nicht um Aspekte der Prozessführung, sondern um die Bewertung der materiellen Norm selbst geht: Der EGMR wirft den russischen Gerichten vor, das Strafgesetz zu breit und willkürlich ausgelegt zu haben, wodurch eine gewöhnliche unternehmerische Aktivität kriminalisiert wurde; das Präsidium kann nichts dergleichen erkennen und beharrt stur auf seinem Standpunkt, womit es der Position des Europäischen Gerichtshofs jede juristische Bedeutung abspricht.

    Genetische Gründe

    Kommt diese Entscheidung, trotz ihrer Präzedenzlosigkeit, wirklich überraschend? Wohl eher nicht. Eine echte, grundlegende Reform hat es in den letzten 30 Jahren nicht gegeben; allenfalls oberflächliche Reförmchen – Reparaturen und Rekonstruktionen, die das Wesen des Systems nicht berührten. Von der Justiz als einem eigenständigen Zweig der Staatsgewalt kann keine Rede sein, eigenständig ist sie nur in nebensächlichen Fragen (wie jedes andere Verwaltungsorgan auch), in prinzipiellen Fragen jedoch werden ausschließlich Urteile gesprochen, die der Obersten Gewalt genehm sind – in Russland ist die verkörpert durch den Präsidenten. Und der sieht in Nawalny, wie wir alle wissen, seinen Feind (wozu er natürlich allen Grund hat).

    Auf diese Weise bleibt unserem Gerichtssystem das Sowjetische in den Genen. Und ein sowjetisches Gericht ist den Feinden des Regimes gegenüber erbarmungslos, sie dürfen kein Wohlwollen, ja nicht einmal bloße Objektivität von ihm erwarten. Als 1952 das Kriegskollegium des Obersten Gerichts sich mit dem Fall des sogenannten Jüdischen Antifaschistischen Komitees befasste, war es das Politbüro, das die Richter anwies, alle Angeklagten bis auf einen zum Tode zu verurteilen.

    Neues Gericht statt Reform

    Was sich heute von damals unterscheidet, ist allein die Schwere der Urteile und die Zahl der Personen, die das Regime als seine Feinde ansieht. Ihre Chancen auf ein faires Verfahren sind nach wie vor gleich Null. Und das ist nur natürlich, denn an der Macht sind Sowjetmenschen, deren Gewohnheiten, Stereotypen und Vorstellungen von Rechtsprechung aus einer Epoche stammen, in der Recht nichts anderes war als der Wille der herrschenden Klasse, und das Gericht – sein Werkzeug.

    Das Wesen der sowjetischen Justiz ist simpel: Ein „böser Mensch“ muss verurteilt werden, egal wie. Formalitäten, und erst recht die Meinung eines „bourgeoisen“ Gerichts in Straßburg, dürfen dem „Triumph der Wahrheit“ in seinem spezifisch sowjetischen Sinn dabei nicht im Weg stehen: „Der Feind gehört ins Gefängnis“, oder wenigstens schuldig gesprochen.

    Die einen kann man nicht zur Rechenschaft ziehen, weil sie an der Macht sind, die anderen sind machtlos gegen alle falschen Vorwürfe

    Es gibt einen bestimmten Kreis von Personen, bei denen Rechtsprechung unmöglich ist: Die einen kann man nicht zur Rechenschaft ziehen, weil sie an der Macht sind, die anderen sind machtlos gegen die Vorwürfe, die man gegen sie erhebt, weil sie entweder Feinde der Ersteren sind oder als ein machtfeindliches Element gelten.

    Letztendlich läuft es auf die Frage hinaus, ob unsere Richter-Kaste ihre „sowjetischen Gene“ überwinden kann, die sie dazu bringen, sich in jedem politisch gefärbten Fall automatisch auf die Seite der Macht zu stellen. So lange dieser Umbruch noch nicht vollzogen ist (und der Fall Yves Rocher ist eine weitere verpasste Chance), kann von einem Rechtssystem im wahren Sinne des Wortes nicht die Rede sein. Deshalb sollten wir endlich nicht mehr über Reformen diskutieren, sondern darüber, ein neues Rechtssystem zu schaffen. 

    Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

    Mit dem Fokusthema Russland in Europa widmet sich die Körber-Stiftung der Wiederbelebung eines offenen, kritischen und konstruktiven Dialogs zwischen Russland und seinen europäischen Nachbarn.

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  • Russland und Europa

    Russland und Europa

    Wie sonst nur Großbritannien hadert Russland mit seinem schwierigen Verhältnis zu Europa. Die britische splendid isolation findet ihr Gegenstück in der geographischen Teilung Russlands in ein europäisches und ein asiatisches Territorium. Kulturell und politisch gibt es mehr Fragen als Antworten. Der russische Begriff Jewropa ist keineswegs eindeutig und kann verschiedene, ja gegensätzliche Konnotationen aufweisen. Das Präfix jewro- – etwa in den Wörtern jewroremont (Euro-Renovierung) oder jewroobuw (Euro-Schuhe) – impliziert spätestens seit den 1990er Jahren hohe, „nicht-sowjetische“ Qualität. Wenn man in Russland „wie in Europa“ leben will, dann ist das positiv gemeint, und „europäische Luft“ gilt als Synonym für Freiheit. Gleichzeitig gibt es in Russland eine lange Denktradition, die Europa fehlende Spiritualität, Krämergeist und politische Schwäche vorwirft. Verbreitet ist auch die Vorstellung, Russland habe Europa vor dem Mongolensturm beschützt und die europäischen Usurpatoren Napoleon und Hitler besiegt.


    In Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

    Die Frage „Gehört Russland zu Europa?“ erhitzt bis heute die Gemüter der Intellektuellen. Neben das faktische Problem tritt das normative. Ebenso intensiv wird die Frage „Soll Russland zu Europa gehören?“ diskutiert.

    Fenster nach Europa

    Russlands Verhältnis zu Europa wurde von Peter dem Großen (1672–1725) zuoberst auf die politische Tagesordnung gesetzt. Seine Reformen revolutionierten das alte Ständesystem, indem die Rangtabellen für den Staats- und den Militärdienst eingeführt wurden. Damit wurden die sozialen Hierarchien nicht mehr durch Familientraditionen, sondern durch bürokratische Beförderungssysteme definiert. Gleichzeitig hielt die westeuropäische Kultur Einzug in Russland – am augenfälligsten waren die Neuerungen in der Mode und in der Architektur.

    Die 1703 gegründete neue Hauptstadt St. Petersburg, die äußerlich den westeuropäischen Hauptstädten sehr ähnlich ist, wird nach Puschkins Formulierung oft als „Fenster nach Europa“ bezeichnet. Dieser bekannte Ausdruck ist aber selbst zum Gegenstand von Sprachwitzen geworden:: „Peter der Große hat doch ein Fenster eingeschlagen, aber keine Tür: Gucken darfst du, aber nicht hinausgehen“.1

    Wohlgemerkt betrafen Peters Reformen vor allem den Adel. Im ausgehenden 18. Jahrhundert hatte ein aristokratischer Russe mehr mit seinem französischen Standesgenossen gemein als mit einem russischen Bauern. Um die adlige Gesellschaft Anfang des 19. Jahrhundert realitätsgetreu darzustellen, baute etwa Leo Tolstoi mehrere Dialoge auf Französisch in seinen Roman Krieg und Frieden ein.

    Abklatsch westlicher Vorbilder

    Die Verdienste der petrinischen Reformen und „Zwangseuropäisierung“ wurden später zum Gegenstand einer tiefen Reflexion. Napoleons Moskaufeldzug 1812 führte in Russland zur Ausarbeitung einer eigenständigen Nationalkultur.
    Die Forcierung der russischen Kulturautonomie stieß bald auf vehemente Kritik. Im 19. Jahrhundert beschäftigte sich die im Entstehen begriffene russische Philosophie vornehmlich mit dem Thema Russland und Europa. Den Ton gab Pjotr Tschaadajew vor.  Sein Erster Philosophischer Brief erschien im Jahr 1836 und war nach Alexander Herzens berühmter Formulierung ein „Schuss in dunkler Nacht“. Auf Französisch kritisiert Tschaadajew die russische Kultur, die nichts Eigenständiges hervorgebracht habe und nur einen Abklatsch westlicher Vorbilder darstelle. Tschaadajew wurde wegen seiner radikalen Russlandkritik von den zaristischen Behörden für verrückt erklärt. Diese Kontroverse steht am Anfang der Debatte zwischen den sogenannten Slawophilen und Westlern, die das gesamte 19. Jahrhundert beschäftigte. Die Spätfolgen wirken noch in den heutigen Diskussionen um Russlands kulturelle Identität nach.

    Die Slawophilen und die Westler sind jedoch nur auf den ersten Blick eingeschworene Gegner. Wie komplex die ideologischen Positionen sind, zeigt etwa die Tatsache, dass eine berühmte slawophile Literaturzeitschrift den Titel Der Europäer trug, während ein einflussreiches westliches Organ Vaterländische Aufzeichnungen hieß. Ihre Argumentationsstrukturen sind ähnlich.2 Beide Bewegungen weisen deutlich mehr Ähnlichkeiten miteinander auf, als mit der Theorie der offiziellen Volkstümlichkeit, die mit dem Namen des Bildungsministers unter Nikolaus I. Sergej Uwarow verbunden ist: So verstehen sich beide Seiten als russische Patrioten und treffen sich in der Diagnose, dass Russland reformbedürftig sei. Uneinig sind sie sich nur in der Therapie: Die Slawophilen rufen zur Rückkehr zu den eigenen Wurzeln auf, während die Westler den Anschluss an das fortgeschrittene Europa fordern. Für die Slawophilen wird dabei gerade die kulturelle Rückständigkeit zum Vorteil: Das „alte“ Europa habe bereits den verderblichen Weg des Rationalismus, Individualismus und Kapitalismus eingeschlagen, während das ungeformte Russland noch bereit sei, sich seiner höheren Berufung zu stellen. 

    Russland als neuer Kulturtyp

    Am detailliertesten hat Nikolaj Danilewski (1822–1885) diese Theorie ausgearbeitet, auch wenn er nicht stellvertretend für alle Unterbewegungen der Slawophilen stehen kann. In seiner umfangreichen Untersuchung Russland und Europa (1869) identifiziert er zehn Kulturtypen, die vom alten Ägypten bis zur „germanisch-romanischen Kultur“ der Neuzeit reichen. Russland kommt in dieser Typologie nicht vor: Es stellt für Danilewski die letzte Synthese dar, die alle religiösen, politischen und ökonomischen Entwicklungen der Weltgeschichte zusammenführen und abschließen wird. 

    Aus dieser Perspektive erscheint Russland in einer Doppelrolle: Es erlebt erstens eine eigene Heilsgeschichte jenseits westlicher Ideale. Dadurch wird es zweitens zum erlösenden Vorbild für das fehlgeleitete Europa. Der russische Messianismus gehört zu den romantischen Denkfiguren, die sich im 19. Jahrhundert auch bei Tjutschew oder Dostojewski nachweisen lassen.3 Noch im 20. Jahrhundert bekannten sich Autoren wie Nikolai Berdjajew oder Alexander Solschenizyn zu dieser Idee. 

    Der Topos einer vorteilhaften Rückständigkeit Russlands war auch für marxistisch inspirierte Philosophen und Politiker sehr attraktiv. Lenin und Trotzki gingen am Ende des Ersten Weltkriegs davon aus, dass in den industrialisierten Ländern Europas Schlag auf Schlag Revolutionen folgen würden. Die alten Nationalstaaten würden untergehen und neuen sozialistischen Gesellschaften Platz machen. Pikanterweise erfuhr der traditionelle russische Messianismus hier eine marxistische Umdeutung: Die Revolution im unterentwickelten Russland sollte den Befreiungskampf der Proletarier aller Länder einleiten.4 So schien kurz nach dem Oktoberumsturz 1917 das Problem „Russland und Europa“ gelöst zu sein.

    Gemeinsames europäisches Haus

    Mit neuer Intensität wurde über Zugehörigkeit Russlands zu Europa zu Beginn der 1990er Jahre debattiert, als zwei Europabilder gegeneinander ausgespielt wurden. Europa war aus der ersten Perspektive ein Vorbild für Rechtsstaatlichkeit, Marktwirtschaft und Demokratie, das von Russland nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems in „drei Fünfjahresplänen“ erreicht werden sollte. Die zweite Perspektive lehnte das westlich geprägte Europa als fremd ab und hob die eurasische Qualität Russlands hervor: Damit wäre Russland ein eigener europäischer Zivilisationstypus, der gerade nicht in das westliche Muster überführt würde.5

    Diese Diskussionen gingen zurück auf Wortmeldungen der letzten Generalsekretäre der Sowjetunion. Berühmt geworden ist Michail Gorbatschows Wendung „unser gemeinsames europäisches Haus“, die er 1984 in einer Rede vor dem britischen Parlament6 und später am epochalen Gipfeltreffen mit Ronald Reagan 1986 in Reykjavik7 prägte.8 Gorbatschow machte aus dieser diplomatischen Floskel auch ein politisches Programm, dem noch in den 1990er Jahren gefolgt wurde. 

    Auch zu Beginn der Präsidentschaft Putins hatte der Ausdruck „unser gemeinsames Haus Europa“ noch seine Gültigkeit. Präsident Putin setzte ihn 2001 in seiner berühmten, auf Deutsch gehaltenen Rede vor dem Bundestag ein.9 Dieser versöhnliche Kurs wurde allerdings 2007 aufgegeben, als Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz eine schärfere Gangart Russlands ankündigte. 

    Gayropa

    In der Ära Putin kann man im staatsnahen öffentlichen Diskurs eine wachsende Abgrenzung von Europa beobachten. Russische Nationalisten verwenden oft den Begriff Gayropa. Damit soll signalisiert werden, dass Europa seine traditionellen Werte aufgegeben habe und sich von Minderheiten bestimmen lasse. Eine ähnlich polemische Wortbildung ist der Begriff „Liberasten“. Die liberale Grundhaltung der westlichen Gesellschaften hat sich aus dieser Sicht selbst ad absurdum geführt: Wer sogar „Päderasten“ toleriert, gibt seine europäischen Identität auf.

    Auch akademische Philosophen beschäftigen sich etwa mit der Frage, warum eine europäische „Ideologie“ wie der Liberalismus für Russland schädlich sei. So weist der Petersburger Politikwissenschaftler Wladimir Gutоrow (geb. 1950) in einer langen Einleitung zu einem Band mit dem Titel Liberalismus. Pro et contra (2016) darauf hin, dass liberale Politiker etwa in der Provisorischen Regierung 1917 und unter Jelzin in den 1990er Jahren „die russische Staatlichkeit an die Grenze zur Katastrophe“ gebracht hätten.10 

    Der langjährige Chefideologe des Kreml, Wladislaw Surkow, kündigte in seinem Artikel für das regierungsnahe Journal Russia in Global Affairs den Anfang einer andauernden Einsamkeit Russlands an und suchte nach einem „dritten Weg“, einem „dritten Zivilisationstypus“, einem „dritten Rom“.
    Die Ablehnung der europäischen Kultur taucht auch in offiziellen Dokumenten wie den Grundlagen der Kulturpolitik der Russischen Föderation (2015) auf. Die „Erhaltung eines einheitlichen Kulturraums“ wird als oberstes Ziel genannt. 

    Wie wirksam dieser Diskurs ist, ist unklar. Eine Umfrage des Lewada-Zentrums zeigt jedenfalls, dass die Zustimmung zur Aussage „Russland ist ein europäisches Land“ 29 Prozent beträgt. Im Jahr 2008 erreichten die entsprechenden Werte noch 56 Prozent.11
    Es scheint, dass das Fenster, das Peter der Große geöffnet hatte, langsam wieder zugeht. 

     

    Aktualisiert am 21.12.2021


    Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa.

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  • 100 Jahre geopolitische Einsamkeit

    100 Jahre geopolitische Einsamkeit

    Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass Wladislaw Surkows Name gleich an erster Stelle der US-Sanktionen stand, gleich einen Tag nach dem sogenannten Referendum über die Angliederung der Krim. Genauso wenig war es Zufall, dass Surkow rund zweieinhalb Jahre später an Putins Seite mit Merkel und Steinmeier im Kanzleramt saß, obwohl er eigentlich auch nicht in die EU einreisen darf.

    Kaum eine Abhandlung über ihn kommt aus ohne „Strippenzieher“, „Graue Eminenz“ oder „Chefideologe“. Das Konzept der Souveränen Demokratie hat er ersonnen, genauso wie das Programm zur russischen politischen Kultur.

    Im April 2018 nahm er sich im Magazin Russia in Global Affairs einer Mammutaufgabe an: der jahrhundertealten Identitätsfrage, ob Russland denn zu Europa gehöre. Viele Denker haben sich an dieser Frage den Kopf zerbrochen. Die Zeichen der Zeit scheinen für Surkow allerdings eine neue Antwort zu fordern. Denn Russland, so der Autor, stehen „hundert (zweihundert? dreihundert?) Jahre geopolitischer Einsamkeit bevor“.


    In Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

    Der beruflichen Tätigkeiten gibt es viele. Einigen kann man nur in einem Zustand nachgehen, der vom normalen leicht abweicht. Nehmen wir etwa den Proletarier der Informationsindustrie, den gewöhnlichen Nachrichtenlieferanten: In der Regel ist das ein Mensch mit zerzaustem Hirn, jemand, der sich sozusagen im Fieberwahn befindet. Kein Wunder, denn im Nachrichtengeschäft ist Eile geboten: Es gilt, Neuigkeiten vor allen anderen zu erfahren, vor allen anderen zu verbreiten und vor allen anderen zu interpretieren.

    Die Erregung der Informierenden überträgt sich auch auf die Informierten. Menschen im Erregungszustand verwechseln ihre Erregung oft mit einem Denkprozess und ersetzen das Eine durch das Andere. Deshalb kommen langfristig nutzbare Dinge wie Überzeugungen oder Prinzipien außer Gebrauch und werden durch Einweg-Meinungen ersetzt. Deshalb erweisen sich jegliche Prognosen als hinfällig, was übrigens niemandem besonders peinlich ist – das ist eben der Preis für schnelle und aktuelle Nachrichten.

    Kaum jemand vernimmt das spöttische Schweigen des Schicksals, übertönt vom ständigen Hintergrundlärm der Medien. Kaum jemand interessiert sich dafür, dass es auch noch die langsamen, gewichtigen Nachrichten gibt, die nicht von der Oberfläche des Lebens, sondern aus der Tiefe stammen – von dort, wo sich geopolitische Strukturen und historische Epochen bewegen und aufeinandertreffen. Erst mit Verspätung wird uns ihr Sinn zugänglich. Doch ist es nie zu spät, ihn zu erkennen.

    Das Jahr 2014 ist durch Großtaten von hoher und höchster Bedeutung im Gedächtnis geblieben. Alle kennen sie, und es ist alles dazu gesagt worden. Doch das bedeutsamste der damaligen Ereignisse erschließt sich uns erst jetzt – die langsame, tiefgreifende Nachricht erreicht erst gerade jetzt unsere Ohren. Das besagte Ereignis bildet den Abschluss der epischen Reise Russlands in Richtung Westen, den Schlusspunkt der zahlreichen und fruchtlosen Versuche, ein Teil der westlichen Zivilisation zu werden und in die „gute Familie“ der europäischen Völker einzuheiraten.

    Das Jahr 14 unseres Jahrhunderts ist der Beginn einer neuen Ära von unbestimmter Dauer – die Epoche 14 +, in der uns hundert (zweihundert? dreihundert?) Jahre geopolitischer Einsamkeit bevorstehen.

    Das Jahr 2014 ist der Beginn einer neuen Ära von unbestimmter Dauer – die Epoche 14 +, in der uns hundert (zweihundert? dreihundert?) Jahre geopolitischer Einsamkeit bevorstehen

    Die Verwestlichung ist vom falschen Dimitri leichtsinnig begonnen und von Peter dem Großen entschlossen fortgesetzt worden – über 400 Jahre wurde alles auf jegliche Art probiert.

    Was hat Russland nicht alles getan, um mal Holland zu werden, dann Frankreich, mal Amerika, dann wieder Portugal. Von allen erdenklichen Seiten hat Russland versucht, sich in den Westen hineinzudrängen. Alle Ideen, die von dorther kamen und alle Erschütterungen, die sich dort ereigneten, hat unsere Elite mit großer, teils vielleicht zu großer Begeisterung aufgenommen.

    Die Autokraten heirateten eifrig deutsche Frauen, und der kaiserliche Adel und die Bürokratie wurden emsig mit „umherziehenden Fremdlingen“ aufgefüllt. Doch während die Europäer in Russland rasch und gründlich russisch wurden, wollten die Russen sich einfach nicht europäisieren.

    Die russische Armee kämpfte siegreich und aufopferungsvoll in allen großen Kriegen des Kontinents, der, wie die Erfahrung gezeigt hat, wohl mehr als alle anderen zu Massengewalt und Blutrünstigkeit neigt. Die großen Siege und die großen Opfer haben Russland viele westliche Gebiete eingebracht, aber keine Freunde.

    Die großen Siege und die großen Opfer haben Russland viele westliche Gebiete eingebracht, aber keine Freunde

    Um der europäischen Werte willen (die zu jener Zeit religiös und monarchisch waren) wurde St. Petersburg zum Initiator und Garanten der Heiligen Allianz der drei Monarchien Russland, Österreich und Preußen. Und es hat seine Bündnispflichten gewissenhaft erfüllt, als es galt, die Habsburger vor der ungarischen Revolution zu retten. Als sich dann jedoch Russland selbst in einer schwierigen Lage befand, verweigerte Österreich seinem Retter nicht nur die Hilfe, sondern wandte sich sogar gegen ihn.

    Später wurden die europäischen Werte in ihr Gegenteil verkehrt. In Paris und in Berlin kam nun Marx in Mode. Gewisse Leute aus Simbirsk und Janowka wollten, dass es bei ihnen so ist wie in Paris. Sie fürchteten so sehr, hinter dem vom Sozialismus besessenen Westen zurückzubleiben. Sie fürchteten so sehr, die angeblich von den europäischen und amerikanischen Arbeitern angeführte Weltrevolution werde ihr Provinznest auslassen. Also gaben sie ihr Bestes.

    Nachdem sich die Stürme des Klassenkampfs gelegt hatten, stellte die unter unglaublichen Mühen errichtete UdSSR fest, dass die Weltrevolution ausgeblieben war: Der Westen war keineswegs eine Welt der Arbeiter und Bauern, sondern, ganz im Gegenteil, kapitalistisch geworden. Und die immer stärker zutage tretenden Symptome des autistischen Sozialismus mussten sorgfältig hinter dem Eisernen Vorhang verborgen werden.

    Ende des vergangenen Jahrhunderts hatte das Land sein Abgesondertsein satt und fing wieder an, beim Westen vorstellig zu werden. Wobei einige dabei offenbar den Eindruck hatten, dass die Größe eine Rolle spielt: Wir passen nicht in Europa rein, weil wir zu groß und erschreckend raumgreifend sind. Also mussten Territorium, Bevölkerung, Wirtschaft, Armee und Ambitionen auf die Maßstäbe eines mitteleuropäischen Landes zurechtgestutzt werden. Dann würden sie uns bestimmt als ihresgleichen aufnehmen.

    Wir stutzten alles zurecht. Begannen, genauso fanatisch an Hayek zu glauben wie früher an Marx. Wir halbierten das demografische, industrielle und militärische Potenzial. Wir trennten uns von den Unionsrepubliken und begannen uns von den autonomen Republiken zu trennen … Doch auch ein derart verkleinertes und herabgesetztes Russland eignete sich nicht für die Hinwendung zum Westen.

    Endlich beschlossen wir, mit dem Verkleinern und Sich-Herabsetzen aufzuhören und darüber hinaus Rechte anzumelden. Die Geschehnisse im Jahr 2014 wurden unausweichlich.

    Endlich hörten wir mit dem Verkleinern und Sich-Herabsetzen auf und meldeten Rechte an. Die Geschehnisse 2014 wurden unausweichlich

    Das russische und das europäische Kulturmodell haben bei aller äußeren Ähnlichkeit unterschiedliche Software und inkompatible Schnittstellen. Sie fügen sich nicht in ein gemeinsames System. Heute, wo dieser uralte Verdacht zur offenkundigen Tatsache geworden ist, werden Vorschläge laut, wir sollten uns in die andere Richtung aufmachen, nach Asien, nach Osten.

    Besser nicht. Und zwar deshalb nicht, weil Russland da schon einmal war.

    Das Moskauer Protoimperium entstand in einem komplexen militärisch-politischen Coworking mit der asiatischen Horde, das manche als Joch, andere lieber als Union bezeichnen. So oder so, freiwillig oder unfreiwillig: Der östliche Entwicklungsschwerpunkt ist ausgewählt und erprobt worden.

    Sogar nach dem Stehen an der Ugra blieb das russische Zarenreich im Grunde ein Teil von Asien. Es annektierte bereitwillig Gebiete im Osten. Es beanspruchte die Nachfolge von Byzanz, dem asiatischen Rom. Es stand unter starkem Einfluss hochstehender Familien, die der Goldenen Horde entstammten.

    Russland ist vier Jahrhunderte lang Richtung Osten und weitere vier Jahrhunderte lang Richtung Westen gegangen. Weder da noch dort hat es Wurzeln geschlagen

    Höhepunkt des Moskauer Asiatentums war die Ernennung von Simeon Bekbulatowitsch, dem Khan von Kassimow, zum Souverän von ganz Russland. Historiker, die Iwan den Schrecklichen einfach für eine Art Oberiuten mit Monomachkappe halten, schreiben diese Posse lediglich seinem naturgemäßen Hang zu Scherzen zu. Die Realität war ernster. Nach Iwans Tod bildete sich am Hof eine gewichtige Partei, die versuchte, Simeon Bekbulatowitsch nun tatsächlich auf den Zarenthron zu befördern. Boris Godunow musste den Bojaren bei ihrer Vereidigung das Versprechen abnehmen, dass sie „den Zaren Simeon Bekbulatowitsch und seine Kinder nicht als Herrscher wollten“. Der Staat stand also kurz davor, in die Herrschaft einer Dynastie getaufter Dschingisiden überzugehen und das östliche Entwicklungsparadigma zu zementieren.

    Doch weder Bekbulatowitsch noch die Godunows, die [laut Legende – dek] von einem Mirza, einem Fürsten der Goldenen Horde abstammten, hatten eine Zukunft. Die polnisch-kosakische Invasion begann, und mit ihr kamen neue Zaren aus dem Westen nach Moskau. Die Herrschaft des falschen Dimitri, der den Bojaren lange vor Peter dem Großen durch sein europäisches Gebaren das Leben schwermachte, und die Regentschaft des polnischen Königssohns Władysław sind trotz ihrer Kurzlebigkeit von hoher symbolischer Bedeutung. Die Zeit der Wirren erweist sich in ihrem Licht als eine Krise, die weniger dynastischen als zivilisatorischen Charakter hat.

    Die Rus wandte sich von Asien ab und begann sich in Richtung Europa zu bewegen.

    Russland ist also vier Jahrhunderte lang Richtung Osten und weitere vier Jahrhunderte lang Richtung Westen gegangen. Weder da noch dort hat es Wurzeln geschlagen. Beide Wege sind abgeschritten. Jetzt werden Rufe nach der Ideologie eines dritten Weges, eines dritten Zivilisationstyps, einer dritten Welt, eines dritten Rom, erklingen müssen.

    Und doch sind wir wohl kaum eine dritte Zivilisation. Eher eine doppelgerichtete und zweigleisige. Die sowohl den Osten als auch den Westen in sich enthält. Wir sind europäisch und gleichzeitig asiatisch und daher weder ganz asiatisch noch ganz europäisch.

    Wir sind europäisch und gleichzeitig asiatisch und daher weder ganz asiatisch noch ganz europäisch

    Unsere kulturelle und geopolitische Zugehörigkeit erinnert an die unstete Identität eines Menschen, der aus einer Mischehe hervorgegangen ist. Er ist überall ein Verwandter, aber nirgends Familie. Daheim unter Fremden, fremd unter den Seinen. Er versteht alle und wird von niemandem verstanden. Ein Halbblut, ein Mestize, ein seltsames Wesen.

    Russland ist ein west-östliches Halbblutland. Mit seinem doppelköpfigen Staatswesen, seiner hybriden Mentalität, seinem interkontinentalen Territorium und seiner bipolaren Geschichte ist es, wie es sich für ein Halbblut gehört, charismatisch, begabt, schön und einsam.

    Charismatisch, begabt, schön und einsam

    Die denkwürdigen Worte, die Alexander III. nie gesagt hat – „Russland hat nur zwei Verbündete, seine Armee und seine Flotte“ – sind die wohl eingängigste Metapher für seine geopolitische Einsamkeit. Und es ist längst an der Zeit, sie als Schicksal anzuerkennen. Die Liste der Verbündeten kann natürlich nach Belieben erweitert werden: Arbeiter und Lehrer, Öl und Gas, die kreative Schicht und patriotisch gesinnte Bots, General Frost und der Erzengel Michael … An der Aussage selbst ändert sich dadurch nichts: Wir sind uns selbst die engsten Verbündeten.

    Wie wird diese Einsamkeit aussehen, die uns bevorsteht? Werden wir als armer Schlucker eine kümmerliche Randexistenz fristen? Oder erwartet uns die glückliche Einsamkeit des Leaders, der Alpha-Nation, die allen davonzieht und der „die andern Völker und Reiche ausweichen und ihren Lauf nicht hemmen“? Es hängt von uns ab.

    Einsamkeit bedeutet nicht völlige Isolation. Unbegrenzte Offenheit ist ebenso wenig möglich. Beides würde bedeuten, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen. Die Zukunft aber kann die Fehler der Vergangenheit nicht brauchen, sie hält ihre eigenen Fehler bereit.

    Russland wird zweifellos Handel treiben, Investitionen anziehen, Wissen austauschen, kämpfen (auch Krieg ist eine Form der Kommunikation), sich an gemeinsamen Projekten beteiligen, in Organisationen vertreten sein, konkurrieren und kooperieren und Angst, Hass, Neugier, Sympathie und Bewunderung hervorrufen. Nur eben ohne trügerische Ziele und Selbstverleugnung.

    Es wird schwer werden, und immer wieder wird uns ein Klassiker der russischen Poesie in den Sinn kommen: „Ringsum nur Dornen, Dornen, Dornen … Sch***e, wann kommen die Sterne?!

    Es wird interessant. Und die Sterne werden kommen.

     

     

    Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

    Mit dem Fokusthema Russland in Europa widmet sich die Körber-Stiftung der Wiederbelebung eines offenen, kritischen und konstruktiven Dialogs zwischen Russland und seinen europäischen Nachbarn.

    Weitere Themen

    Die Untergangs-Union

    Chinesisch für Anfänger

    Russland als globaler Dissident

    Staat im Staat 2.0

    Werte-Debatten

    Russland und Europa

  • „Sumbur – ein heilsames Durcheinander“

    „Sumbur – ein heilsames Durcheinander“

    Das Studio Sumbur ist ein besonderes Theater: Seine Schauspieler sind an einer psychiatrischen Einrichtung in Petersburg in Therapie und bespielen Festivalbühnen. Der Fotograf Oleg Ponomarev hat die Schauspieler porträtiert und die Studio-Leiterin Irina Kulina interviewt.


    In Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

    Ich mag alles, was wir machen, weil wir es mit der Seele tun. Die Menschen hier sind herzensgut, zuverlässig, tolle Leute, mit denen es Spaß macht zu kommunizieren. Hier hat sich mein Potenzial vollständig entfaltet, beim Theaterspielen, Tanzen, Singen und allem, was ich gerne tue. - IWAN WASSILJEW
    Ich mag alles, was wir machen, weil wir es mit der Seele tun. Die Menschen hier sind herzensgut, zuverlässig, tolle Leute, mit denen es Spaß macht zu kommunizieren. Hier hat sich mein Potenzial vollständig entfaltet, beim Theaterspielen, Tanzen, Singen und allem, was ich gerne tue. – IWAN WASSILJEW
    Eine Zeitlang habe ich nicht am Theaterleben teilgenommen. Es war schwierig, als wäre nichts Wichtiges mehr da. - BOGDAN MAKAROW
    Eine Zeitlang habe ich nicht am Theaterleben teilgenommen. Es war schwierig, als wäre nichts Wichtiges mehr da. – BOGDAN MAKAROW
    Wir realisieren hier unsere Hoffnungen und Möglichkeiten. Möchtest du jemand oder etwas sein – sei es! - ALEXANDER ANDREJEW
    Wir realisieren hier unsere Hoffnungen und Möglichkeiten. Möchtest du jemand oder etwas sein – sei es! – ALEXANDER ANDREJEW
    Ich schaue Filme, lese Bücher und höre internationale Rockmusik wie ‚Dream Theater‘ oder ‚Nightwish‘. Aber das Wichtigste für mich ist das Spiel im Theaterstudio ‚Sumbur‘. - ANDREJ ROMIN
    Ich schaue Filme, lese Bücher und höre internationale Rockmusik wie ‚Dream Theater‘ oder ‚Nightwish‘. Aber das Wichtigste für mich ist das Spiel im Theaterstudio ‚Sumbur‘. – ANDREJ ROMIN
    Das Theater hat mir persönlich geholfen, mich zu entwickeln und etwas Neues im Leben zu entdecken, die Leere zu füllen. Ich will für immer hier im Theater sein. - SWETLANA ALEXEJEWA
    Das Theater hat mir persönlich geholfen, mich zu entwickeln und etwas Neues im Leben zu entdecken, die Leere zu füllen. Ich will für immer hier im Theater sein. – SWETLANA ALEXEJEWA
    Ich saß und wartete auf die Aufnahmekommission für die Einrichtung, in der ‚Sumbur‘ probt. Die Schlange war lang, dazusitzen war langweilig und dauerte. Plötzlich ertönte ein Bajan. Ich freute mich und schaute, wer da spielt. Das war Dima Rasguljajew. Als er aufhörte bat ich ihn, mir das Instrument zu geben. Ich spielte. Nach 15 Minuten kam dann Irina Walentinowna zu mir, die Leiterin von ‚Sumbur‘, und fragte mich ‚Bist du Bühnenkünstler?‘ Und ich ‚Ja, mehr oder weniger.‘  So bin ich zu ‚Sumbur‘ gestoßen. – PJOTR MASLENNIKOW
    Es war so schön, hier auf eine künstlerisch begabte und wohlmeinende Truppe zu stoßen. - ANNA SUJKOWA
    Es war so schön, hier auf eine künstlerisch begabte und wohlmeinende Truppe zu stoßen. – ANNA SUJKOWA

    Für mich ist das Studio ‚Sumbur‘ zum zweiten Zuhause geworden. In jeder Rolle versuche ich besser und besser zu werden. - NATALJA KOLOSUNINA
    Für mich ist das Studio ‚Sumbur‘ zum zweiten Zuhause geworden. In jeder Rolle versuche ich besser und besser zu werden. – NATALJA KOLOSUNINA
    Mir bereiten die Proben große Freude, die Kommunikation mit den anderen und auch mit den Ärzten während der Aufführungen. - MARINA ANTONOWA
    Mir bereiten die Proben große Freude, die Kommunikation mit den anderen und auch mit den Ärzten während der Aufführungen. – MARINA ANTONOWA



    Die ganze Welt ist Theater – und die Menschen darin Schauspieler. Theater ist Luft und ohne Luft – kein Leben. Mir gefällt das Theater sehr, es gibt mir etwas Persönliches. Ich bin dadurch viel selbstsicherer geworden, habe gelernt mich auszudrücken, mein Gedächtnis ist besser geworden und ich habe neue Freunde gefunden.  Das Theater ist ein Meer. Mal trägt dich eine Welle nach oben, mal zieht sie einen runter. Und das Theater ist Wärme, die man Menschen einfach so schenken kann. - MARINA ANISCHEWSKAJA
    Die ganze Welt ist Theater – und die Menschen darin Schauspieler. Theater ist Luft und ohne Luft – kein Leben. Mir gefällt das Theater sehr, es gibt mir etwas Persönliches. Ich bin dadurch viel selbstsicherer geworden, habe gelernt mich auszudrücken, mein Gedächtnis ist besser geworden und ich habe neue Freunde gefunden. Das Theater ist ein Meer. Mal trägt dich eine Welle nach oben, mal zieht sie einen runter. Und das Theater ist Wärme, die man Menschen einfach so schenken kann. – MARINA ANISCHEWSKAJA

    Oleg Ponomarev: Woher kam die Idee für das Studio, womit hat alles angefangen?

    Irina Kulina: Unsere allererste Veranstaltung war ein Ball. Wir haben ein paar Kostüme genäht, Paare gebildet und drauflos getanzt. Das war 2007. So kam der Stein ins Rollen.

    Wir traten in unserem eigenen Zentrum für Psychoneurologie auf, dann gaben wir Gastspiele in anderen Gesundheitseinrichtungen und traten in einer Bibliothek auf – das war ein wichtiger Moment, weil wir damit die Gesundheitseinrichtungen verlassen haben. Es folgten Festivals. Die Bühnen, die wir bespielten, wurden langsam größer.

    Ein Konzept hatten wir nicht wirklich. Vielmehr entwickelte sich das Studio aus der Ergotherapie heraus, wo wir genäht und gestrickt haben und etwas Größeres wollten.

    Wir proben sogar in den Therapie-Werkstätten, haben dort unsere Schränke mit den Kostümen und Requisiten.

    Welche Rolle nimmt das Theater im Leben der Patienten ein?

    Manche empfinden es als ihre Arbeit, sagen: „Ich arbeite im Studio Sumbur. Ich bin Schauspieler.“ Wir proben eigentlich ständig. Sobald sich irgendwo zwischendurch ein bisschen Zeit ergibt, schnappen wir uns ein Instrument und singen, und während wir singen, kommen die anderen dazu.

    Es ist aber trotz allem ein therapeutischer Prozess – man darf ihn gesondert betrachten, es ist einer von vielen Ansätzen, die als Ganzes zu einem Ergebnis führen.

    Im Studio herrscht eine besondere Atmosphäre, hier sind wir alle gleich, es gibt keine Distanz, keinen Arzt im weißen Kittel und auf der anderen Seite den Patienten, es gibt vielmehr die künstlerische Leiterin und die Truppe. Hier bekommen sie etwas, das fast jedes Mitglied der Gesellschaft braucht: das Gefühl, gebraucht zu werden, etwas gut zu können.

    Im Studio sind wir alle gleich, es gibt keinen Arzt im weißen Kittel und auf der anderen Seite den Patienten

    Wie sie sich dadurch verändern, kann man allein bei unseren Gastspielen beobachten. Wenn wir zum Beispiel in eine psychiatrische Klinik fahren. Die ersten Male dort waren schwierig, denn natürlich haben einige unserer Schauspieler schon ihre Erfahrungen damit gemacht, und das waren nicht die schönsten. Aber wenn wir jetzt hinfahren, sagen sie: „Wir kommen von der anderen Seite, nicht als Patienten.“ Man kennt und respektiert sie dort. Ihre Stellung hat sich verändert.

    Einer unserer Patienten sagte einmal: „Wir sind Aussätzige in dieser Gesellschaft. Die Menschen wollen nichts mit uns zu tun haben. Aber im Studio lernen wir uns kennen, verlieben uns, heiraten, haben Kontakt zu anderen. Hier haben wir eine Aufgabe. Hier werden wir gebraucht. Hier ist alles anders.“

    Dieser Satz: „Wir sind Aussätzige“ – ist das ein Gefühl, das die Gesellschaft ihnen vermittelt?

    Natürlich. Sie haben Angst. Angst, auf die Straße zu gehen. Und die Art, wie die Gesellschaft auf sie reagiert, verstärkt die Ängste, die sie ohnehin haben. Sie bewegen sich fast ausschließlich unter ihresgleichen.

    Der Psychiatrie haftet immer noch das Image einer Strafmedizin an, das man nur sehr schwer los wird, und entsprechend nimmt man diese Patienten auch wahr. Viele denken, diese Menschen seien zu nichts fähig, obwohl das eine Lüge ist – und diese Wahrnehmung wirkt sich negativ auf ihren Zustand, und auch auf die Ergebnisse unserer Arbeit aus. Dabei sind sie Menschen wie du und ich. Der eine leidet eben an Bluthochdruck, der andere an Schizophrenie – das ist der einzige Unterschied, beides muss behandelt werden.

    Der eine leidet eben an Bluthochdruck, der andere an Schizophrenie – das ist der einzige Unterschied, beides muss behandelt werden

    Damit die Therapie und die Resozialisierung funktionieren können, braucht es auch eine kritische Selbstwahrnehmung. Wenn diese Menschen nun etwas haben, wofür es sich lohnt, an sich zu arbeiten, wenn sie unter Leuten sind, Zuschauer haben und spüren, dass sie etwas wert sind, oder vielleicht auch nur, dass wir alle gleich sind, und der Arzt, der sie behandelt, neben ihnen steht und alle zusammen singen, dann erst wird ihnen bewusst, dass sie niemand bei dem geringsten – oder auch ohne – Anlass wegsperren will. Sie bekommen dieses Vertrauen, das so wichtig ist und das ich sehr hoch schätze, es entsteht ein Verantwortungsgefühl gegenüber dem Publikum und damit auch diese kritische Haltung sich selbst gegenüber.

    Heißt das, die moderne Medizin hat gelernt, mentale Erkrankungen in den Griff zu bekommen?

    Natürlich gibt es gegen die verschiedenen Krankheiten diverse Medikamente, die sich in ihrer Stärke und Wirkungsart unterscheiden. Andererseits gibt es keine Pille, die das Thema ein für allemal abhaken würde. Und keine Kriterien, nach denen man beurteilen kann, ob jemand einmal unser Patient wird. Das verstehen aber die meisten Menschen in unserer Gesellschaft nicht, sie denken, diese Menschen wären irgendwie anders, sehr weit weg von einem selbst, obwohl uns von unseren Patienten nur der Zufall trennt.

    Die Arbeit des Studios besteht ja nicht nur aus den Auftritten und Theaterstücken – das ist nur die Spitze des Eisbergs. Um auf die Bühne zu gehen, reicht es nicht, seine Rolle oder ein Lied einzuüben, einen Tanz zu lernen.

    Viele Krankheitsbilder sind geprägt von einer fortschreitenden Lethargie, die sich in der Vernachlässigung von selbst einfachsten, alltäglichsten Handlungen äußert: seine Sachen bügeln, sich die Haare kämmen. Aber sobald wir mit unserer Arbeit beginnen, sind sie alle wie gestriegelt. Das Theater motiviert sie dazu, ganz normale Dinge zu tun, die dann später zur Routine werden und automatisch passieren, so wie es sein soll.

    Wenn die Leute im Zuschauerraum sitzen, machen sie sich ja keine Gedanken darüber, dass die Schauspieler nicht nur das Stück auf die Beine gestellt, sondern sich zurechtgemacht, sich rasiert und ihre Sachen gebügelt haben, und dass sie sich diese Mühe gemacht haben, um sich dem Zuschauer zu präsentieren.

    Alles fängt bei diesen kleinen Dingen an, und die Arbeit an diesen Details ist ebenfalls Teil der Studioarbeit.

    Kostüme, Requisiten, Musikinstrumente – das alles kostet Geld. Ihr Studio gibt es nun schon seit zehn Jahren – wie ist die Finanzierung geregelt?

    Es gibt keine. Wir haben mit den Ärzten zusammengelegt und gekauft, was gebraucht wurde. Die Kostüme sind selbstgenäht, die Requisiten gebastelt. Wir brauchen Sponsoren, aber es gibt keine. Offensichtlich interessiert das niemanden.

    Wie geht es weiter? Wie wollen Sie wachsen, welche Pläne gibt es für das Studio?

    Zunächst einmal wird das Material komplexer, wir entwickeln uns wie jedes andere Theater. Wir planen neue Stücke, die aufwendiger sein werden und interessanter, sowohl für uns als auch für die Zuschauer.

    Wir wollen ein Kinderprogramm aufbauen und vor Kindern spielen, in Heimen und Krankenhäusern. Die Kinder sollen nicht nur zuschauen, sondern auch mitmachen können. Wir haben so etwas Ähnliches schon einmal auf unserer Bühne aufgeführt. Es war toll. Unsere Schauspieler, die Ärzte, deren Kinder – alle sind zusammen aufgetreten. Kurz: ein heilloses Durcheinander – Sumbur eben.

    erschienen am 08.06.2018
    Bilder und Interview: Oleg Ponomarev
    Übersetzerin: Jennie Seitz

    Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa.

    Mit dem Fokusthema Russland in Europa widmet sich die Körber-Stiftung der Wiederbelebung eines offenen, kritischen und konstruktiven Dialogs zwischen Russland und seinen europäischen Nachbarn.

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    Das besondere Theater

  • Behinderung und Inklusion

    Behinderung und Inklusion

    In einem Interview für das russische oppositionelle Magazin The New Times erzählte die landesweit bekannte Politikerin Irina Chakamada von einer Begegnung in einem Moskauer Café: Sie saß am Tisch, und um sie herum saßen „Hipster-Intellektuelle“, aus dem Umfeld, in dem Brodsky und Solschenizyn gelesen werden. Plötzlich sagt ein „junger und sehr fortschrittlicher“ Mann: „War neulich in Holland, kam in ein Café rein, und einer der Kellner war da mit Down-Syndrom! Mist, ich möchte diese Missgebildeten nicht sehen.“ Chakamada ist selbst Mutter eines Kindes mit Trisomie 21 und hat geschwiegen. Jahrelang habe sie sich nicht getraut, über die Behinderung ihres Kindes öffentlich zu reden, erzählt sie im Interview.

    Auch wenn in Russland circa 14 Millionen Menschen leben, die durch irgendeine Eigenschaft ihres Körpers oder Geistes beeinträchtigt sind, begegnet man ihnen nur sehr selten in der Öffentlichkeit. Sie sind nicht Teil von Kultur und Medien, sie sind weitgehend ausgeschlossen von Bildung und Arbeitsmarkt. Es wird auch vermieden, über sie zu reden.

    Will man sich dem Phänomen Behinderung in Russland nähern, muss man also auf die Gesellschaft als ganze in ihrer historischen Entwicklung schauen.


    In Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

    Gesellschaft ohne Defekte

    Lag die soziale Fürsorge für körperlich und geistig beeinträchtigte Menschen früher vor allem bei der Familie oder in Einrichtungen der Orthodoxen Kirche, entdeckte im 19. Jahrhundert der zaristische Staat – genauso wie viele Regime Westeuropas zur selben Zeit – seine Verantwortung für diesen Teil der Bevölkerung. Der damit einhergehende Ausbau eines weitreichenden Anstaltsystems verfestigte auch ein allgemeines Verständnis von Behinderung als zu heilender Krankheit.

    Seit Anfang des 20. Jahrhunderts waren es aber überwiegend die Kriegsversehrten, die insbesondere nach den beiden Weltkriegen ins Zentrum sozialstaatlicher Bemühungen rückten. Allerdings änderte sich der Umgang mit Behinderung in der Nachkriegszeit: Vor dem Hintergrund der Industrialisierung und Modernisierung, die zu sozialistischer Staatsideologie wurden, musste jeder am Aufbau einer Gesellschaft ohne „Probleme und Defekte“ teilnehmen. Wer nicht dazu beitrug, sollte auch keine Wohlfahrt empfangen.

    Die vom Psychologen Lew Wygotzki (1886–1934) in den späten 1920er Jahren entwickelte Lehre der „Defektologie“, die Behinderung als soziale Falschverortung aufgrund physischer und psychischer Schädigungen verstand, wurde zur dominanten pädagogischen und sozialpolitischen Doktrin. Demnach sollten Menschen mit Behinderung aufgrund ihrer Arbeitsunfähigkeit in Anstalten separiert werden. Das führte zu einer Marginalisierung und Stigmatisierung dieser Menschen und ihrer Familien. Bis in die 1970er Jahre hinein, als sich die russische Allgemeinbezeichnung invalid (ursprünglich nur für Kriegsversehrte benutzt) etablierte, verortete man behinderte Menschen auch nur in der Kategorie der Arbeitsunfähigkeit.

    Bei der Ausübung staatlicher Wohlfahrtsaufgaben für Menschen mit Behinderung waren damals, und sind heute noch immer, große, landesweite Verbände maßgeblich, die soziale Dienstleistungen erbringen und geschützte Arbeitsbereiche unterhalten. Als nichtstaatliche Organisationen (NGO) registriert, existieren sie in allen Regionen und Städten, haben es aber aufgrund ihrer finanziellen und institutionellen Abhängigkeit vom Staat schwer, an dessen Wohlfahrts- und Sozialpolitik Kritik zu üben.

    Graswurzelinitiativen

    Mit dem Ende der Sowjetunion brach staatliche soziale Sicherung, die vor allem über den Arbeitsplatz organisiert wurde, für weite Teile der Bevölkerung weg. Das entstandene äußerst prekäre Vakuum versuchten nichtstaatliche Graswurzelinitiativen, vor allem Selbsthilfegruppen, zu füllen, um elementare Bedürfnisse behinderter Menschen zu sichern. Akteure internationaler Entwicklungszusammenarbeit sorgten in den 1990er Jahren für Know-How und für dringend benötigte materielle sowie finanzielle Ressourcen. Diese NGO-Akteure aus Westeuropa und den USA erweiterten nachhaltig den Möglichkeitshorizont ihrer russischen Partner durch Erfahrungsreisen ins Ausland und eine Vielzahl von Seminaren und Publikationen.

    Dieser internationale Austausch ermöglichte auch eine Fokusverschiebung unter russischen Menschen mit Behinderung und ihren Unterstützern hin zur Notwendigkeit gleichberechtigter gesellschaftlicher Teilhabe und der Realisierung von bürgerlichen, wirtschaftlichen und politischen Rechten.

    Das wurde Mitte der 1990er Jahre auch von der Politik aufgegriffen, in gesetzlichen Regelungen festgeschrieben und in staatlichen Förderprogrammen verbreitet. Russland hat sogar die UN-Behindertenrechtskonvention unterschrieben und formal ratifiziert. Allerdings stellt die tatsächliche Umsetzung ein großes und langwieriges Problem dar. Es fehlt nicht nur an formalen Realisierungsmechanismen und Anti-Diskriminierungsregeln auf lokaler Ebene, da föderale Gesetze oft lokalen normativen Akten widersprechen. Es fehlt oft auch an Verständnis und Einsicht von unkontrollierten Beamten, die vorhandenen Regelungen tatsächlich anzuwenden. Daher hat sich an der schwachen und marginalisierten sozial-ökonomischen Position von Menschen mit Behinderungen in Russland nur wenig geändert.

    In- versus Exklusion

    Praktisch in allen Lebens- und Gesellschaftsbereichen sind Menschen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen mit hohen Barrieren gegen ihre Teilhabe konfrontiert. Wenn Behinderung während der Schwangerschaft festgestellt wird, raten Ärzte Schwangeren oft zu Abtreibungen oder nach der Geburt zur Abgabe des Kindes in staatliche Heime. Die Heime werden in der Gesellschaft immer noch als einzig adäquate Lösung für das „Problem“ Behinderung angesehen. Obwohl ein langsamer Abbau der Heime läuft, sind Fälle von Vernächlässigung, Gewalt und Freiheitsberaubung in den immer noch weitläufig existierenden Einrichtungen verbreitet.1

    Besserung geht oft von nichtstaatlichen Initiativgruppen und Organisationen aus, die Tagesbetreuung für bedürftige Kinder oder ambulante Hilfen für Menschen mit Behinderungen aufbauen. Doch all diese Bemühungen sind nicht systematisch, sondern beschränkt auf lokale Initiativen. Die Lebensqualität von Menschen mit Behinderung hängt davon ab, wo sie in Russland leben und ob es dort Engagierte gibt, die sich für ihre Belange einsetzen.

    Marginalisierte gesellschaftliche Stellung

    Wenn sich Eltern dafür entscheiden, ihr Kind in der Familie zu behalten, sehen sie sich oft größten Schwierigkeiten ausgesetzt. Integrative Kindergärten oder Schulen sind auch in großen Städten wie Moskau und St. Petersburg eine Ausnahme. Auch der Arbeitsmarkt hält so gut wie keine Mechanismen zur Integration bereit, abgesehen von Strafzahlungen in moderater Höhe für die Nichteinhaltung von ohnehin geringen Behindertenquoten. Körperlich oder geistig beeinträchtigte Menschen können in der Regel nur in geschützten, aber auch sehr begrenzten Werkstätten in den großen Behindertenverbänden arbeiten. Es gibt zwar staatsunabhängige Programme zur speziellen Arbeitsplatzschulung in Zusammenarbeit mit großen, meist internationalen Firmen. Diese existieren jedoch wiederum nur in den großen Metropolen.

    Zudem ist generell der öffentliche Raum nicht barrierefrei. Ganz im Gegenteil: Fahrstühle, Rampen, Blindenschrift, Tonsignale etc. fehlen in öffentlichen Verkehrsmitteln und Behörden. Erst als in der Vergangenheit Betroffene erfolgreich gerichtlich, wieder mit Hilfe von NGOs, gegen verwehrten Einstieg oder das Fehlen von Rollstuhleignung geklagt haben, sind nun die meisten Fluglinien und die Russische Eisenbahn auf besonderen Bedarf eingestellt.

    Negative Einstellungen

    Die marginalisierte gesellschaftliche Stellung von Menschen mit Behinderung geht einher mit den deutlich negativen Einstellungen vieler Russen ihnen gegenüber. In der Sowjetunion wurde die soziale Distanz zementiert durch die ideologisch bedingten Label des Defekts und der Leistungsunfähigkeit. Auch heute sind negative Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderung immer noch weit verbreitet und behindern buchstäblich die gesellschaftliche Integration. Obwohl viele Russen dieser im Allgemeinen positiv gegenüber stehen, zeigen sich in konkreten sozialen Situationen Distanz und Abwehr.

    Diese Situation zu ändern ist eines der wichtigsten Anliegen von Behindertenaktivisten im heutigen Russland. Dabei ist es im Vergleich zu ihren Partnern in anderen europäischen Ländern meist kontraproduktiv, sich auf den globalen Menschenrechtsdiskurs zu beziehen, da dieser institutionell als auch kulturell nur sehr schwach in der russischen Gesellschaft verankert ist. Auch Demonstrationen und Proteste im öffentlichen Raum scheinen kein guter Weg, gesellschaftlichen Wandel anzustoßen. Daher konzentrieren sich die Aktivitäten von NGOs besonders auf den kulturellen Bereich, zum Beispiel mit Filmfestivals und Fotografie, und auf den Wandel von zwischenmenschlichen Beziehungen, zum Beispiel mit Freundschaftsprogrammen und journalistischen Arbeiten, um in aufklärerischer Manier den Umgang mit beeinträchtigten Menschen zu normalisieren.2

    Doch Fortschritte in der sozialen Integration der behinderten Menschen hängen stark von den jeweiligen allgemeinen gesellschaftlichen Umständen ab. Die aufklärerischen und inklusiven Aktivitäten russischer Behindertenaktivisten sind momentan äußerst eingeschränkt. Kritik an staatlicher Sozialpolitik und ihrer Integrationsleistung ist mit hohem Risiko für den Aktivitätsspielraum der Engagierten verbunden. Das hängt vor allem mit der restriktiven Beziehung des russischen Staates gegenüber Menschenrechtsorganisationen und gegenüber internationaler Kooperation im zivilgesellschaftlichen Bereich zusammen. Auch die NGOs, die keiner politischen Tätigkeit nachgehen, gehen das Risiko ein, aufgrund ausländischer Finanzierung und staatskritischen Aktivitäten zu sogenannten ausländischen Agenten erklärt zu werden.

    Der staatliche Fokus auf die Förderung von nichtstaatlichen sozialen Dienstleistungen drückt Menschen mit Behinderung wieder in eine Situation, in der ihre physischen und geistigen Abweichungen im Vordergrund stehen, und nicht die Ausweitung ihrer Teilhabe am „normalen“ gesellschaftlichen Leben. Stichworte wie Selbstermächtigung und Selbstbestimmung sind daher nicht im gesellschaftlichen Diskurs über Behinderung zu finden. Einer tatsächlichen sozialen Integration steht eben auch das nicht-demokratische gesellschaftliche Regime in Russland entgegen, das kulturelle, politische, und soziale Ausgrenzungsmechanismen reproduziert.


    1. So gibt es immer wieder Fälle, in denen behinderte Menschen an Betten gefesselt, geschlagen, eingesperrt oder sozial komplett ignoriert werden. ↩︎
    2. Vorbildlich scheint in diesem Zusammenhang das Medien-Projekt Takie dela, das einerseits die Leser auf soziale Probleme aufmerksam macht, andererseits Geld für die Förderung der gemeinnützigen Einrichtungen sammelt. Wie aber das Medium selbst, so gehört auch die Bereitschaft, sich finanziell und tatkräftig einzusetzen, zu einer gesellschaftlichen Nische. ↩︎

    Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

     

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    Das besondere Theater

  • Demokratija

    Demokratija

    Russlands Präsident Wladimir Putin argumentiert regelmäßig, dass Russland sein eigenes politisches System entwickeln müsse, das zur Kultur und den Traditionen des Landes passt. Er selbst bezeichnet dieses politische System als spezielle Form der Demokratie und in Meinungsumfragen unterstützt ein großer Teil der russischen Bevölkerung diese Sicht. Die Frage des russischen Demokratieverständnisses ist aber deutlich komplexer.


    In Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

    Es ist natürlich keinesfalls so, dass nur Russland ein besonderes Demokratieverständnis besitzt und sich damit von der Weltgemeinschaft oder „dem Westen“ absetzt.

    Die Bedeutung von Demokratie ist immer abhängig von Zeit und Ort. Die „Demokratien“ bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, etwa in den USA oder in England, schlossen die Mehrheit der Bevölkerung aus – Frauen, Sklaven, Nicht-Steuerzahler. Im Ergebnis besaß oft weniger als ein Viertel der Bevölkerung das Wahlrecht. Die modernen Demokratien im Westen sind auch nicht homogen und befinden sich im ständigen Wandel. Sie sind sehr unterschiedlich organisiert und aktuell wird zunehmend gefragt, ob Parteien noch die zeitgemäße Organisationsform für Demokratien sind und ob das Internet nicht neue Formen direkter Demokratie ermöglichen kann.

    Was ist Demokratie?

    Trotz dieser Vielfalt der Formen von Demokratie darf aber nicht vergessen werden, dass die Grundidee von Demokratie immer mehr ist, als nur von der Bevölkerung die Herrschenden wählen zu lassen. Demokratie meint zuerst, dass alle in ihren Menschen- und Bürgerrechten geschützt sind. Diese Grundrechte werden in demokratischen Verfassungen festgeschrieben und dürfen auch von gewählten Politikern nicht geändert werden. An diese Grenzen stoßen sehr viele Populisten, die Demokratie mit einer Diktatur der Mehrheit verwechseln.

    Zweitens verlangt die Vorstellung von der Bevölkerung als Machtquelle, dass alle eine informierte Entscheidung treffen können, wenn sie an Wahlen teilnehmen. Deshalb kommen freiem Zugang zu Informationen, freier Meinungsäußerung und freien Massenmedien in Demokratien eine so große Bedeutung zu.

    Drittens basiert die Demokratie aber auch auf der Idee der fortwährenden Kontrolle der Herrschenden. Auch hier können freie Massenmedien eine Rolle spielen. Die zentrale Antwort ist aber die Gewaltenteilung im Rahmen eines Rechtsstaates. Politiker müssen Macht teilen, müssen sich an geltendes Recht halten und werden dabei von Gerichten kontrolliert. Auch hier gilt, dass Demokratie keine Diktatur der gewählten Volksvertreter ist.

    Demokratieverständnis in Russland

    Das Demokratieverständnis vieler Menschen bezieht sich aber nicht nur, oder nicht einmal zentral, auf das theoretische Konzept von Demokratie, sondern auf die eigene Erfahrung mit Demokratie. So ist etwa argumentiert worden, dass nach dem Zweiten Weltkrieg die Zustimmung der westdeutschen Bevölkerung zur Demokratie stark mit der positiven Erfahrung des „Wirtschaftswunders“ zusammenhängt. Demokratie und Wohlstand wurden als zwei Seiten einer Medaille gesehen.

    Umgekehrt belasten Wirtschaftskrisen und das Gefühl internationaler Demütigung neu geschaffene Demokratien. Dies gilt für die Weimarer Republik in Deutschland ähnlich wie für das Russland der 1990er Jahre nach dem Ende der Sowjetunion. So wünscht sich in Meinungsumfragen ein großer Teil der russischen Bevölkerung weniger demokratische Prinzipien, als vielmehr „Ordnung“ und „eine starke Hand“. Im international vergleichenden World Value Survey sprechen sich in der ersten Hälfte des Jahrzehnts (2010-2014) nur 21 Prozent der russischen Bevölkerung explizit dagegen aus. In Deutschland und Polen sind es über 70 Prozent.1 Diese Einschätzung wird von der politischen Führung mit der Entwicklung von Konzepten wie „souveräner Demokratie“ aufgegriffen.

    Im längerfristigen Durchschnitt ist etwa ein Viertel der russischen Bevölkerung nicht der Meinung, dass Russland eine Demokratie im Sinne der in Westeuropa und den USA entwickelten Konzepte benötigt. Dabei wird von einigen nicht mehr zwischen der Idee von Demokratie und ihrer konkreten – wenig erfolgreichen – Umsetzung im eigenen Land unterschieden. In Meinungsumfragen2 wird Demokratie so von zehn Prozent der Befragten in Russland gleichgesetzt mit Begriffen wie „inhaltsleeres Gerede“ oder „Chaos“.

    Spezielle Art von Demokratie

    Vielmehr noch wird durch die eigenen Schwierigkeiten die Wahrnehmung populär, dass sich in anderen Ländern entwickelte Konzepte nicht einfach übertragen lassen. Knapp die Hälfte der Bevölkerung erklärt so in Meinungsumfragen regelmäßig, dass Russland eine eigene, spezielle Art von Demokratie brauche.

    Was für eine Demokratie das sein könnte, ist aber im Abbild der Meinungsumfragen weniger klar. Keine Eigenschaft von Demokratie ist mehrheitsfähig. Direkt nach bürgerlichen Freiheiten folgen „Ordnung“ und „Wohlstand“ – alle aber nur mit Zustimmung von einem Drittel bis einem Viertel der Befragten.

    Die Politikwissenschaftlerin Ellen Carnaghan argumentiert in diesem Zusammenhang: „In Gesellschaften, die sich entweder auf dem Weg hin zur Demokratie oder von ihr weg bewegen, ist oft unklar, was ,Demokratie‘ tatsächlich bedeutet. Institutionen und Praktiken, die das Label ,Demokratie‘ tragen, handeln oft nicht so, wie es demokratischen Normen entsprechen würde. Bürger in stabilen politischen Systemen hingegen werden schon in der Schule mit den Grundzügen ihrer politischen Institutionen vertraut gemacht. […]  In Gesellschaften, die einen politischen Wandel durchmachen, haben Bürger diesen Vorteil nicht.“3

    Zufriedenheit mit dem politischen System

    Entscheidend für eine Einschätzung der russischen Haltung zu Demokratie ist aber, dass diese nicht im Mittelpunkt politischer Debatten oder Wertungen steht. Zentral ist – nicht nur in Russland, sondern nach Einschätzung prominenter Meinungsforscher grundsätzlich – die Zufriedenheit mit dem Funktionieren des jeweiligen politischen Systems.

    Während die 1990er Jahre in Russland in dieser Hinsicht katastrophal schlecht abschneiden, ist im folgenden Jahrzehnt von der großen Mehrheit der russischen Bevölkerung eine deutliche Verbesserung wahrgenommen worden. Die Zustimmung zur Arbeit von Wladimir Putin ist seit seinem Amtsantritt im Jahr 2000 in Umfragen nie unter 60 Prozent gefallen.4

    Diese relative Zufriedenheit mit der Leistung von Politik – oder genauer der Leistung des führenden Politikers – führt dann bei einem Teil der Bevölkerung dazu, dass das politische System selbst relativ positiv gesehen wird. „Demokratisch“ bedeutet dann „im Interesse oder auf das Wohlergehen der Bevölkerung gerichtet“. So lässt sich erklären, dass im Januar 2012 angesichts von Massenprotesten gegen Wahlfälschungen bei den vorangegangenen Parlamentswahlen nur ein gutes Drittel der russischen Bevölkerung die Wahlen als „unfair“ einschätzt.


    1. zit. nach: Russland-Analysen Nr. 330, S. 18. ↩︎
    2. Meinungsumfragen sind natürlich kein exaktes Abbild der Sicht aller 144 Millionen Menschen, die in Russland leben, aber sie geben einen Eindruck davon, welche Einstellungen mehrheitsfähig sind. Während es bei Wahlprognosen oft um Unterschiede von wenigen Prozentpunkten geht, soll hier nur grob gezeigt werden, welche Positionen sehr häufig oder eher selten vertreten werden. Wenn im Text ein Beispiel genannt wird, bei dem 20 Prozent der Befragten in Russland, aber 70 Prozent in Deutschland eine Position vertreten, so geht es nicht darum, ob es in Wirklichkeit 5 Prozent oder sogar 10 Prozent mehr oder weniger sind. Der deutliche Unterschied bleibt auch dann bestehen. Um nicht eine Präzision vorzugeben, die nicht zu leisten ist, werden deshalb im Text in der Regel keine konkreten Prozentzahlen, sondern Größenordnungen, wie z. B. „große Mehrheit”, „ein Viertel” etc. genannt. ↩︎
    3. zit. nach: Carnaghan, Ellen (2012): Öffentliche Unterstützung für Demokratie und Autokratie in Russland, in: Russland-Analysen Nr. 243, S. 7-10, Bremen, hier: S. 8; in dieser Ausgabe finden sich auch die oben zitierten Umfragen. ↩︎
    4. levada.ru: Ijun’skie rejtingi odobrenija i doverija. ↩︎

    Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

    Mit dem Fokusthema Russland in Europa widmet sich die Körber-Stiftung der Wiederbelebung eines offenen, kritischen und konstruktiven Dialogs zwischen Russland und seinen europäischen Nachbarn.

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