„Lieber Michail Sergejewitsch, es ist hier nicht bloß eine Anlage explodiert, sondern der gesamte Komplex an Verantwortungslosigkeit, Disziplinlosigkeit und Bürokratismus.“1 Mit diesen deutlichen Worten wandte sich der belarusische Schriftsteller Ales Adamowitsch am 1. Juni 1986 an den sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow. Adamowitsch zählte zu einer kleinen Gruppe von Wissenschaftlern und Intellektuellen, die schon früh auf die dramatischen Ausmaße der Katastrophe, ihre politische Bedeutung und auf das mangelhafte Krisenmanagement hingewiesen hatten. Mit Ausnahme der in unmittelbarer Reaktornähe gelegenen Stadt Prypjat, deren 86.000 Bewohner am Tag nach der Explosion evakuiert worden waren, hatten etwa überall die geplanten 1. Mai-Feierlichkeiten stattgefunden. Erst danach war eine Sperrzone von 30 Kilometern um den Reaktor errichtet und waren von Mai bis Juni weitere 30.000 Menschen zum zeitweiligen Verlassen ihres Wohnorts aufgefordert worden. Insgesamt versprach die sowjetische Führung eine rasche Rückkehr zur Normalität und gab vor, alles unter Kontrolle zu haben. Forderungen nach weiteren Umsiedlungen und gründlichen Lebensmittelkontrollen, um langfristige gesundheitliche Folgen für einen großen Teil der Bevölkerung zu vermeiden, wurden ignoriert. Stattdessen berichteten die staatlichen Medien optimistisch über den Verlauf der Dekontaminierungsarbeiten und verkündeten, der sowjetische Mensch sei stärker als das Atom. Kritische Meinungen über die Risiken der radioaktiven Strahlung wurden nicht veröffentlicht, Informationen über die reale Kontaminierung unterlagen der Geheimhaltung. Damit war die staatliche Reaktion auf die Reaktorexplosion im AKW Tschernobyl das Gegenteil der neu proklamierten Glasnost-Politik. Auf den technischen Supergau folgte ein politischer Totalausfall.
Von der regionalen „Havarie“ zur gesamtnationalen Katastrophe
Tatsächlich waren 70 Prozent des radioaktiven Fallouts auf dem Territorium der heutigen Republik Belarus niedergegangen. Doch erst ab Beginn des Jahres 1988 erhielt das offizielle Bild von Tschernobyl als einer regional begrenzten „Havarie“ immer mehr Risse und das soziale Gleichgewicht geriet ins Wanken. Hierzu trugen vor allem die steigenden Erkrankungsraten sowie eine als „Tschernobyl-AIDS“ bezeichnete Immunschwäche bei, vorrangig bei Kindern in den südöstlichen Regionen der Oblast Gomel. Die bis dahin abstrakten Strahlenrisiken für die Menschen wurden plötzlich sichtbar und Kinder wurden in Anbetracht fehlender Strahlenmessgeräte quasi zu biologischen Strahlenmessern für die Erwachsenen. Das Vertrauen in die staatliche Informationspolitik schwand.
Zudem löste Gorbatschows Perestroika eine Destabilisierung der Wirtschaft aus, in deren Folge es dem Staat nicht mehr möglich war, den Betroffenen zusätzliche soziale Leistungen, wie neue Wohnungen oder besser medizinische Leistungen, zu bieten. Damit zerbrach der für das sowjetische System zentrale Gesellschaftsvertrag.
Die politische Vertrauenskrise verstärkte sich in den folgenden Jahren noch, nachdem im Vorfeld der ersten weitgehend freien Wahlen zum Volksdeputiertenkongress im März 1989 die Geheimhaltung der Tschernobyl-Akten aufgehoben wurde. Dabei wurden im Februar 1989 auch erstmals Karten zur radioaktiven Belastungssituation veröffentlicht.
Weitere Messungen belegten, dass de facto ein Viertel der Belarusischen SSR durch Tschernobyl kontaminiert war. Dadurch nahm Tschernobyl allmählich den Charakter einer gesamtnationalen Tragödie an und wurde zu einem zentralen Wahlkampfthema bei den Wahlen zum Obersten Sowjet der Belarusischen SSR im März 1990, in den erstmals auch unabhängige politische Kräfte einzogen. Ihre Forderungen brachten die Menschen nun nicht mehr nur durch Eingaben an die staatlichen Behörden zum Ausdruck, sondern auch durch Wähleraufträge und zivilgesellschaftlichen Protest. In den Bezirkszentren der am stärksten kontaminierten Regionen kam es zu zahlreichen Kundgebungen und Streiks.
In Minsk, der Hauptstadt der Belarusischen SSR, wurde die Tschernobyl-Problematik vor allem von der neuen Nationalbewegung aufgegriffen. Im September 1989 rief die Belarusische Volksfront (BNF) erstmals zum Tschernobyl-Marsch auf, der seit 1990 jeweils am Jahrestag der Reaktorexplosion zu den zentralen Protestaktionen der belarusischen Opposition gehört. Die Volksfront vertrat die These, dass die staatliche Tschernobyl-Politik ein Verbrechen oder gar ein Genozid an der belarusischen Nation sei, und forderte eine strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen in Form eines „zweiten Nürnbergs“. Die Lösung der Tschernobyl-Problematik sahen die BNF-Aktivisten im Rahmen eines neuen, von Moskau unabhängigen, demokratischen Belarus.
Um den Ängsten und den Protesten der Bevölkerung in den kontaminierten Regionen zu begegnen, unterstützte allmählich auch die belarusische Parteiführung die Verabschiedung einer umfassenden Tschernobyl-Gesetzgebung. Mit dem vom Obersten Sowjet genehmigten Republikanischen Tschernobyl-Programm erhielten insgesamt etwa 400.000 Menschen das Recht auf eine staatlich finanzierte Umsiedlung. Und in der vom Obersten Sowjet im Sommer 1990 verabschiedeten Souveränitätserklärung hieß es: „Ihre Freiheit und Souveränität verwendet die Belarusische SSR vorrangig zur Rettung des Volkes der Belarusischen SSR vor den Folgen der Katastrophe von Tschernobyl.“2
Zuspitzung der wirtschaftlichen Situation nach der Unabhängigkeit
Tschernobyl war auch eine wirtschaftliche Katastrophe. Einerseits verstärkte sie vor allem in den kontaminierten Regionen die mit der Auflösung der Sowjetunion verbundenen sozio-ökonomischen Krisensymptome. Andererseits stellten die Maßnahmen zur Eindämmung der Katastrophenfolgen eine immense Belastung für den Haushalt der neu entstandenen Republik Belarus dar, was sich auf den gesamten belarusischen Transformationsprozess auswirkte. So war etwa die hohe Zahl der Umsiedlungsberechtigten noch in der Annahme festgelegt worden, dass die Umsiedlungen überwiegend durch den Unionshaushalt finanziert würden. Diese und weitere geplanten Maßnahmen mussten nun aus eigenen Mitteln umgesetzt werden, die jedoch jährlich weniger wurden. Der Wegfall der Ressourcen aus Moskau konnte auch nicht durch die enorme internationale Solidarität aufgefangen werde, welche Belarus durch unzählige Tschernobyl-Initiativen aus vielen europäischen Ländern, Japan und den USA erfuhr.3 Berechnungen der belarusischen Akademie der Wissenschaften aus den 1990er Jahren ergaben, dass sich der für Belarus entstandene Gesamtschaden für die Jahre 1986 bis 2015 auf 235 Milliarden US-Dollar beläuft.4 Dieser Betrag umfasst sowohl die unmittelbaren Schäden durch die erzwungene Aufgabe von Industrieanlagen und landwirtschaftlicher Nutzfläche als auch die Kosten für die gesetzlich festgelegten Sozialleistungen.
Waren für das Jahr 1992 noch 19,9 Prozent des Gesamthaushalts für Maßnahmen zur Bewältigung der Katastrophenfolgen vorgesehen, so wurden die entsprechenden Ausgaben in den folgenden Jahren auf etwa fünf Prozent zurückgefahren. Ab 2005 sanken sie sogar auf 1,5 bis 2 Prozent. Parallel war seit 1993 auch ein deutlicher Rückgang der Umsiedlerzahlen zu beobachten: So wurden beispielsweise 1995 lediglich 1342 Personen umgesiedelt, drei Jahre zuvor waren es noch 20.000 gewesen. Insgesamt verließen im Rahmen der staatlichen Umsiedlungsmaßnahmen bis 1998 knapp 135.000 Menschen ihre Heimat, 479 Orte wurden vollständig aufgegeben.5 In der Folgezeit wurde die staatliche Umsiedlungspolitik faktisch eingestellt.6
Neben der Kosten kamen noch weitere Probleme hinzu: So bereitete die Integration der Umsiedler an den neuen Wohnorten häufig Schwierigkeiten, es fehlte an Arbeitsplätzen und sozialer Infrastruktur. Ab Mitte der 1990er Jahre setzte daher eine Rückwanderung von Umsiedlern in die belasteten Gebiete ein. Insbesondere galt dies für ältere Dorfbewohner, welche in städtische Siedlungen umgesiedelt worden waren. Darüber hinaus bildeten die leer stehenden Häuser in den belasteten Gebieten auch einen Zufluchtsort für Bürgerkriegsflüchtlinge aus den kaukasischen oder zentralasiatischen Staaten. In den kontaminierten Regionen entstand dadurch eine schwierige demographische Situation, die sich durch einen erhöhten Anteil an alten Menschen und sozialen Risikogruppen, eine hohe Arbeitslosigkeit und einen Mangel an Fachkräften auszeichnete. Zahlreiche sozialpsychologische Probleme, etwa der Anstieg von Alkoholismus und der Scheidungsraten, waren die Folge.
Lukaschenkos „Sieg“ über Tschernobyl
Die Rückwanderung gerade älterer Menschen in die depressiven Tschernobyl-Regionen hatte direkte politische Konsequenzen. Im Unterschied zu großen Teilen der jüngeren und urbaneren Bevölkerung verstanden sich viele von ihnen weiterhin als Sowjetmenschen. Dieses autoritäre Potential bot dem 1994 gewählten Präsidenten Alexander Lukaschenko ein ideales Forum, um seinen volksnahen, an sowjetischen Praktiken orientierten Politikstil zu inszenieren. Ab 1996 machte er die Tschernobyl-Problematik zunehmend zu seiner persönlichen Angelegenheit und leitete eine Politik der „Wiedergeburt der verstrahlten Erde“ ein. Seine regelmäßigen Besuche in den kontaminierten Regionen und sein Versprechen, die Umsiedlungspolitik zu beenden, den Investitionsstopp aufzuheben und eine Wiederbelebung der brachliegenden Tschernobyl-Regionen zu ermöglichen, gaben Lukaschenko dabei Gelegenheit, sich von seinen politischen Vorgängern abzugrenzen und diese zu Schuldigen zu erklären.
Lukaschenko stellte die Überwindung der Tschernobyl-Folgen in die Tradition des Kampfs der Belarusinnen und Belarusen im Zweiten Weltkrieg – ein Vergleich, der bereits 1986 häufig benutzt wurde, als vor allem Soldaten für die Dekontaminierungsarbeiten am zerstörten Reaktor und in der Sperrzone eingesetzt wurden. 2016 konstatierte er bei seinem Besuch anlässlich des 30. Jahrestag der Tschernobyl-Katastrophe: „Angesichts der gesamtnationalen Katastrophe hat das belarusische Volk, wie bereits mehrmals in seiner Geschichte, wahrhaftes Heldentum bewiesen. Es hat nicht die Arme hängen lassen, sondern die innere Kraft zur Vereinigung gefunden und daher standgehalten.“7
Tatsächlich wurden während seiner Amtszeit vielfältige Anstrengungen zur Wiederbelebung der Wirtschaft sowie zur Entwicklung der medizinischen und sozialen Infrastruktur in den verstrahlten Regionen unternommen. Dabei wurden mit Verweis auf den natürlichen Verfallsprozess der zentralen radioaktiven Isotope viele bisher mit der Strahlung begründete Einschränkungen, etwa das Verbot für landwirtschaftliche Aktivitäten, aufgehoben. Auch wenn Lukaschenko bestrebt war, die Anfang der 1990er Jahre beschlossenen umfangreichen Sozialleistungen für die Bevölkerung in den betroffenen Gebieten zu reduzieren, blieben zentrale Leistungen wie die kostenlose Schulverpflegung oder jährliche Erholungsmaßnahmen für Kinder weiterhin bestehen. Dies trug dazu bei, dass bei sämtlichen Präsidentschaftswahlen seit 2001 die Zustimmungsrate für Lukaschenko in den am stärksten von Tschernobyl betroffenen Bezirken am höchsten lag. In den aktuell als kontaminiert geltenden Gebieten leben immerhin etwa zwölf Prozent der belarusischen Gesamtbevölkerung.8
Das Menetekel im Hintergrund
Parallel zu dem von Lukaschenko vertretenen Paradigmenwechsel in der belarusischen Tschernobyl-Politik wandelte sich auch die offizielle Haltung zur Atomenergiefrage: Im November 2020 wurde das erste belarusische AKW eröffnet, um angesichts der Erhöhung der Gaspreise die Abhängigkeit von russländischen Gas- und Öllieferungen zu mindern. Den Erlass für den AKW-Bau hatte Lukaschenko bereits im November 2007 unterzeichnet. Die Botschaft, alle Tschernobyl-Probleme seien dank der umfassenden Aktivitäten der belarusischen Führung erfolgreich bewältigt, stellte eine entscheidende Voraussetzung für die Umsetzung dieses Projekts dar. Ein wichtiger Bestandteil dieser Botschaft ist die Aussage, der Gesundheitszustand der Menschen in den Tschernobyl-Regionen unterscheide sich nicht vom landesweiten Durchschnitt. Medizinische Daten, welche eine Überprüfung dieser Aussage erlauben würden, liegen jedoch nicht vor.9
Hinter der Oberfläche offizieller Verlautbarungen bleiben die Erfahrungen von Tschernobyl jedoch weiterhin präsent. Besonders deutlich zeigte sich dies 2020 mit Beginn der Covid-19-Pandemie, welche die politische Führung zunächst verharmloste. Wie 1986 wurde 2020 erneut versucht, durch eine selektive Informationspolitik den Eindruck von Normalität zu erwecken, um wirtschaftliche Interessen zu wahren und panische Reaktionen in der Bevölkerung zu verhindern. Dies hatte jedoch in einer Gesellschaft, die durch die Erfahrung einer mehrjährigen Verschleierungspolitik der sowjetischen Behörden nach der Reaktorexplosion im AKW Tschernobyl bis heute traumatisiert ist, den gegenteiligen Effekt. Eine enorme Politisierung unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen im Vorfeld der Präsidentschaftswahl vom August 2020 war die Reaktion darauf. Tschernobyl und seine Folgen sind in Belarus daher nach wie vor aktuell.
Anmerkung der Redaktion:
Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.
Zum Weiterlesen:
Arndt, Melanie (2016, Hrsg.): Politik und Gesellschaft nach Tschernobyl: (Ost-)Europäische Perspektiven, Berlin
Dalhouski, Aliaksandr (2015): Tschernobyl in Belarus: Ökologische Krise und sozialer Kompromiss (1986-1996), Wiesbaden
Sahm, Astrid (1999): Transformation im Schatten von Tschernobyl: Umwelt- und Energiepolitik im gesellschaftlichen Wandel von Belarus und der Ukraine, Münster
Sahm, Astrid (2010): Die Folgen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl für Belarus: Dimensionen, politische Reaktionen und offene Fragen, in: Mez, Lutz/Gerhold, Lars/de Haan, Gerhard (Hrsg.): Atomkraft als Risiko: Analysen und Konsequenzen nach Tschernobyl, Frankfurt a.M. u. a., S. 153-165
Adamovič, Ales’ (1992): Čarnobyl’ i ŭlada, in: ders.: Apakalipsis pa hrafiku, Minsk, S. 3. Eine deutsche Übersetzung des Briefes findet sich unter dem Titel „Nicht nur ein AKW: Ein Brief an Michail S. Gorbačev“ in Osteuropa 4/2006, S. 19-24 ↩︎
zit. nach Sahm, Astrid (1999):Transformation im Schatten von Tschernobyl: Umwelt- und Energiepolitik im gesellschaftlichen Wandel von Belarus und Ukraine, Münster, S. 156 ↩︎
Enttäuscht wurden vor allem die Hoffnungen auf Finanzierung durch internationale Organisationen, wie die Vereinten Nationen oder die EU. Zentrale Stützen waren daher zivilgesellschaftliche Initiativen. So gab die belarusische Regierung 1993 an, bisher 82% der gesamten ausländischen Hilfeleistungen von NGOs erhalten zu haben. Dabei kam der größte Anteil dieser Hilfe in den 1990er Jahren aus Deutschland: Bis Mitte der 1990er Jahre hatten sich hier über 1.000 Initiativen gebildet, die Kinder zur Erholung einluden, Hilfstransporte organisierten oder andere Maßnahmen in den betroffenen Ländern gemeinsam mit ihren Partnern vor Ort durchführten. Vgl. dazu auch Melanie Arndt (2020): Tschernobylkinder: Die Transnationale Geschichte einer nuklearen Katastrophe, Göttingen ↩︎
Die Zahlen wurden 1996 zum 10. Jahrestag von Tschernobyl erstmals veröffentlicht und werden bis heute von offizieller Seite genannt. Der entsprechende Nationale Bericht ist noch online verfügbar. Vgl. ebenfalls Sahm, Transformation im Schatten von Tschernobyl, S. 235 ↩︎
Angaben nach Sahm, Astrid (2010): Die Folgen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl für Belarus: Dimensionen, politische Reaktionen und offene Fragen, in: Mez, Lutz/Gerhold, Lars/de Haan, Gerhard (Hrsg.): Atomkraft als Risiko: Analysen und Konsequenzen nach Tschernobyl, Frankfurt a.M. u. a., S. 153-165 ↩︎
Insgesamt sind die medizinischen Folgen der Tschernobyl-bedingten Strahlung in den betroffenen Regionen nur schwer einschätzbar, da zahlreiche weitere Faktoren die Gesundheit der Menschen beeinflussen und die Strahlung über die Nahrungsmittelkette auch Menschen in anderen Regionen erreicht. Auch in der internationalen Forschungsgemeinschaft gibt es hierzu unterschiedliche Positionen. Direkt der Strahlenbelastung zuordbar sind lediglich die akute Strahlenkrankheit, die bei in der Nacht der Reaktorexplosion vor Ort eingesetzten Personen auftrat, sowie Schilddrüsenkrebs, der durch die Jod-131-Strahlung in den ersten Tagen nach der Katastrophe ausgelöst wurde. Schilddrüsenkrebs bei Kindern und Jugendlichen war in Belarus vor Tschernobyl praktisch unbekannt. In den ersten 15 Jahren nach der Katastrophe wurden jedoch über 1000 Fälle diagnostiziert. Siehe zur Problematik: The Other Report on Chernobyl↩︎
Chernobyl ist eine neue Fernsehserie, auf der Internet Movie Database ist sie die bislang am besten bewertete Serie ever. Es ist eine US-amerikanisch-britische und keine russische Produktion. In Russland sei eine solch kritische und ernste Auseinandersetzung mit der Reaktorkatastrophe derzeit einfach nicht möglich, meint Andrej Archangelski auf Republic. Ein Hohelied auf das therapeutische und das versöhnende Potential des Serien-Genres plus eine Abrechnung mit dem aktuellen russischen Fernsehen.
Die Serie Chernobyl – eine Produktion von HBO und dem britischen Sky TV – steht im Ranking der Internet Movie Database (IMDb) auf Platz 1. In Russland wird sie, wie nicht anders zu erwarten, von regierungstreuen Medien kritisiert. Das ist eine Art sowjetischer Instinkt – man muss, und sei es im Nachhinein, die Sache grundlegend bewerten. Worin genau die ideologische Sabotage der Serie besteht, ist zwar schwer zu sagen, aber der parteihörige Spürsinn (auch so ein Wort aus dem sowjetischen Lexikon) souffliert fehlerfrei: Irgendwas Aufrührerisches verbirgt sich in Chernobyl, unsichtbar, aber nicht ungefährlich. Man geht dabei allerdings nicht wirklich in die Tiefe und bezeichnet den Film als „einwandfreie Propaganda“ und Teil einer Verschwörung gegen die Atomenergiebehörde Rosatom. Diesmal, so bizarr das auch sein mag, irrt der Spürsinn der Medien nicht – für die russische Ideologie, die sich weitgehend auf Fernsehen und Filme stützt, ist dieser Film tatsächlich gefährlich.
Für die russische Ideologie ist dieser Film gefährlich
Mit regierungsfreundlichen Filmen und ebensolchem Fernsehen ist es in den letzten zehn Jahren gelungen, das Land in einen hermetischen Kokon zu wickeln und das Bewusstsein des Großteils seiner Bewohner zu verändern. Mit Serien und Filmen über die Vergangenheit wurde auf dem Bildschirm das Idyll einer himmlischen Sowjetunion geschaffen – in der es keine Probleme mit Lebensmitteln, Kleidung und Freiheit gab. Und in der der geheimnisvolle Tod von Skiwanderern am Djatlow-Pass ein Riesenereignis darstellte.
Das Idyll der himmlischen Sowjetunion
Eine solche Sowjetunion hat es in Wirklichkeit nie gegeben, und die Fernsehzuschauer wissen das genau, aber trotzdem gucken sie es. Psychologisch ist das leicht zu erklären. All diese Serien sagen dem ehemaligen Sowjetmenschen quasi: Mit der Vergangenheit ist alles in Ordnung, es gibt keinen Grund sich aufzuregen, man hat sich auch nichts vorzuwerfen. So ist es mit Hilfe des Fernsehens gelungen, das kollektive Gedächtnis mehrerer Generationen zu beeinflussen.
Die Formel „es gab Repressionen, aber es gab auch Gutes“ ist nicht aus der Luft gegriffen, sie ist das Ergebnis genau dieser Serienpropaganda. Anstatt das sowjetische Trauma zu behandeln, macht man Unterhaltung daraus. Dieser Sieg über die Vernunft schien eine Universalwaffe zu sein. Doch auf einmal zeigt sich, dass ein anderer Blick auf unsere Geschichte diesen Kokon binnen Augenblicken kaputtmachen kann.
Spricht man über das Sowjetische, ist es vorrangig ein Gespräch über die Lüge
Die Serie Chernobyl beginnt mit den Worten „Was ist der Preis der Lüge?“. Wenn man über das Sowjetische spricht, ist es vorrangig ein Gespräch über die Lüge, die vom Mechanismus zu einem Wert wurde, der über allem steht. „Die ganze Welt weiß es“, sagt der sowjetische Politiker Boris Schtscherbina entsetzt, als Meldungen über den Super-GAU im Atomkraftwerk Tschernobyl in der westlichen Presse auftauchen. Das erscheint noch schlimmer als die Bedrohung durch radioaktive Strahlung, als der drohende Tod von hunderttausenden Menschen. Die Welt weiß die Wahrheit – das ist das Allerschlimmste. Die Strahlung durchdringt alles, aber noch mächtiger ist die staatliche Lüge: Sie hat alles um sich herum verseucht. Für die Lüge sind Menschen bereit, sich selbst zu opfern. Und natürlich auch andere.
Der russische Film macht jede Tragödie zur Banalität
Es kommt einem nur so vor, dass in unserem Fernsehen „lauter Sowjetunion“ läuft. Wenn man Chernobyl sieht, wird einem klar, dass es unsere historischen Serien in zehn bis fünfzehn Jahren fertiggebracht haben, fast nichts auszusagen. Lässt man sich auf Chernobyl ein, dann sieht man, dass der russische Film sich nur die leichten, ungefährlichen Themen auswählt; dass er fähig ist, jede Tragödie zur Banalität werden zu lassen, zum Kostümdrama, großzügig aufgepeppt mit Liebesgeschichten. Abgesehen davon erzählt unsere Fernsehmaschine niemals von der Wirklichkeit. Sie packt lieber selbstgemachten Irrsinn auf die Wirklichkeit obendrauf und vermeidet dabei jede Thematisierung tatsächlicher Schlüsselereignisse der Sowjetzeit, zu denen auch der Unfall in Tschernobyl zählt.
Gorbatschow im Kino darzustellen ist in Russland ein Tabu
Der globale Markt, hier vertreten durch den Fernsehsender HBO, hat dieses Defizit rechtzeitig bemerkt; aber wie viele solche Themen gibt es noch, die für das russische Fernsehen tabu sind? Die Revolution von 1917, das Jahr 1937, die Jahre 1941 und 1942, Stalins Tod, die Perestroika, die 1990er …
Das Erfolgsgeheimnis der Serie ist nicht, dass ihre Macher mehr Geld haben, sondern dass es keine Zensur gibt. Die Autoren müssen sich nicht überlegen, was man sagen kann und was nicht, um es dem obersten Chef rechtzumachen. Die Autoren von Chernobyl schrecken nicht davor zurück, Gorbatschow darzustellen – bei uns war er jahrzehntelang (!) kein einziges Mal im Kino zu sehen, es ist ein Tabu.
Die Macher trauen sich, mit den Zuschauern wie mit Erwachsenen zu sprechen – über den Tod. Sie betrachten die Sowjetzeit nicht als Museum oder staatliche Schatzkammer, sondern als universelle Geschichte der Opposition von Individuum und Staat, als Geschichte menschlichen Widerstands gegen äußere Verhältnisse – und stoßen plötzlich auf abgründigen, existenziellen Stoff. In diesem Sinne kann die sowjetische Geschichte als eine Art Game of Thrones verstanden werden, das ist gar nicht so unpassend.
Die Macher trauen sich, mit den Zuschauern über den Tod zu sprechen
Außerdem wurzelt das Interesse der Welt an der Sowjetunion nicht in Nostalgie, sondern in dem Versuch zu verstehen, was denn heute nicht stimmt mit uns, woher dieser kollektive Todestrieb kommt. Chernobyl erzählt natürlich vor allem eine Geschichte über uns, wie wir heute sind, auf welcher Stufe der Reflexion und Moral unsere Gesellschaft heute steht.
Das erste und stärkste Gefühl, das Chernobyl auslöst, ist Mitleid mit den Opfern der Tragödie. Die Szene im Krankenhaus, in der sich die Frau eines Feuerwehrmanns von diesem verabschiedet, ist unendlich schwer. Gleichzeitig wird einem klar, dass in unseren Serien nie etwas Vergleichbares zu erleben war. Ein Meer von Blut, Tod, Mord, aber sie erzeugen kein Mitgefühl. Der Tod ist in russischen Serien nur ein Handlungsmotor – unser Kino weicht jeder ernsthaften Beschäftigung mit dem Menschsein ängstlich aus, wagt keine geistige Herausforderung, keinen Diskurs über wichtige Angelegenheiten.
Der Tod ist in russischen Serien nur ein Handlungsmotor
So hat unser Fernsehen mit seinem unerträglichen Pathos den Menschen das abtrainiert, was man seelische Arbeit nennt. Hat ihnen im Grunde normale menschliche Gefühle abtrainiert. Hat jede Tragödie zur Unterhaltung gemacht, bei deren Konsum man dasselbe perverse Vergnügen empfindet wie bei Propagandashows. Tragödien sind für uns nur dazu da, um uns nach der Arbeit auf der Fernsehcouch berieseln zu lassen. Das Genre der Serien leistet heute enorme therapeutische Arbeit, dient als Bildungsprogramm für die Menschen, führt ihnen die Komplexität des Lebens vor Augen. Unsere Serien gewöhnen den Menschen das Fühlen ab. Bringen ihnen bei, mit halber Kraft, mit halbem Hirn, wie Kleinkinder zu leben.
Dabei schafft es diese Serie, vom Heldentum des Sowjetmenschen zu erzählen. In russischen Filmen ist der Mensch allzeit bereit für große Taten und vollbringt sie, ohne mit der Wimper zu zucken, im Namen des Staates. Glaubwürdig ist das natürlich keineswegs.
In Chernobyl vollbringt der Mensch seine Großtaten trotz des Systems, als würde er dessen Unmenschlichkeit kompensieren. Doch genau an diesem Punkt wächst er über sich selbst hinaus, setzt sich über die Ideologie hinweg. Der Sowjetmensch wird einfach zum Menschen. Die Serie versucht, universelle Motive im Verhalten der sowjetischen Menschen aufzuspüren und uns davon zu überzeugen, dass auch in einem totalitären System alles von der Persönlichkeit abhängt. Entgegen ihrem Selbsterhaltungstrieb hören zwei sowjetische Physiker auf ihr Gewissen und erzählen die Wahrheit über Tschernobyl – um das Land und die Welt vor neuerlichen Katastrophen zu bewahren.
Im sowjetischen Heroismus hat der Mensch keine Wahl
Die Besonderheit des sowjetischen Heroismus besteht darin, dass der Mensch in der Regel keine Wahl hat. Soldaten, Feuerwehrleute, Ärzte gehen hier dem fast sicheren Tod entgegen; das vermindert ihre Leistung nicht, sondern verleiht ihr zusätzlich eine tragische Dimension. Genau wegen dieser verdoppelten Tragik erreichen die Autoren der Serie einen Effekt, den auch das russische Kino erreichen will, aber nicht kann: eine Versöhnung mit der Vergangenheit. Nicht durch Gleichmacherei, Vertuschung, Banalisierung oder Karnevalisierung, sondern durch eine Tragödisierung des sowjetischen Alltags, in dem jeder ein potenzielles Opfer ist und allein schon dadurch Mitgefühl verdient.
Viele sind jetzt damit beschäftigt, die Patzer in der Serie aufzuzählen – aber man kann nur staunen, wie psychologisch präzise hier viele Details sind. Wie das alte Parteimitglied im Namen der sowjetischen Ideale empfiehlt, „alles zu verheimlichen“ – ein absolut Pelewinsches Bild, aus Omon hinterm Mond. „Die guten Messgeräte sind im Safe“ ist ein Satz, den nur Sowjetmenschen verstehen (alles, was funktioniert, wird für alle Fälle sicher verwahrt und versteckt). Die routinierte Geste, mit der die kleine Aufmerksamkeit in Form eines Zehnrubelscheins in der Kitteltasche der Krankenschwester verschwindet. Die Geheimsprache, in der sich die Mitarbeiterinnen der Physikinstitute in Moskau und Minsk austauschen. Und die sie perfekt beherrschen, wie jeder Sowjetbürger, weil sie wissen, dass die Telefone abgehört werden können.
Und natürlich die Symbolik. Alles, was jahrzehntelang vorbereitet und angehäuft wurde, um den Westen, Amerika zu besiegen, ihm Paroli zu bieten, es einzuholen und zu überholen; Heerscharen von Autos und Panzern, sogar Mondautos, müssen im Endeffekt herhalten, den eigenen Brand zu löschen. Chernobyl erzählt davon, wie die Sowjetunion konstruiert war – und warum sie zerfallen ist.
Die Antwort auf die wichtigste Frage zur Serie (warum wurde sie nicht bei uns gedreht?) ist leider sehr einfach: Angesichts des aktuell verfügbaren Maßes an Wahrheit und künstlerischer Freiheit ist das Erscheinen eines derart kritischen und ernsthaften Werks in Russland einfach nicht möglich. Daher bleibt uns nichts anderes übrig, als in einen fremden Spiegel zu schauen.
Die Serie „Chernobyl“ läuft derzeit auch auf Deutsch auf Sky HD
1982: Ein Atomkraftwerk soll gebaut werden. Für die spätere Belegschaft entsteht die Siedlung Kamskije Poljany. 1986 geschieht die Katastrophe in Tschernobyl, der AKW-Bau wird gestoppt. Es beginnt ein reales Warten auf Godot in Kamsjije Poljany, wo Jelena Dogadina aufgewachsen ist. Heute berichtet sie auf Takie Dela.
„Edik war acht, als sein Papa beschloss, mit der ganzen Familie in eine kleine Siedlung zu ziehen, die für Arbeiter und ihre Familien hastig errichtet wurde. Ein Atomkraftwerk sollte die ganze Region mit Strom versorgen. Das war 1983, drei Jahre vor der Explosion des vierten Blocks im AKW von Tschernobyl. Die Welt hatte ihre mörderische Rettungsmission noch nicht begonnen, bei der alle sowjetischen Baustellen stillgelegt wurden. Deswegen hatten sich Ingenieure, Bauarbeiter, Mechaniker und Chemiker aus dem ganzen Land freudig auf den Weg dorthin gemacht, wo sie zwanzig Jahre später in Armut sterben würden.“
Das ist der Anfang einer Geschichte, die ich in der Schule geschrieben habe. Die Namen aller Orte und Personen sind frei erfunden, jegliche Überschneidungen mit der Realität rein zufällig – würde ich gern sagen. Kann ich aber nicht.
Die wahre Geschichte über die Geisterstadt ist sogar noch interessanter, als ich zu Schulzeiten dachte. Zum Beispiel, weil für ihre Errichtung ein Dorf dem Erdboden gleichgemacht wurde, das noch aus Zeiten Iwan des Schrecklichen stammte, oder wenn man sich die Versuche ansieht, wie die Stadt vor der Arbeitslosigkeit gerettet werden sollte – durch den Bau von 30 Casinos, jedoch ohne jegliche Infrastruktur für Touristen.
Ljudmila Pospelowa ist 1982 mit Mann und Kindern nach Kamskije Poljany gezogen, aber nicht nur wegen der Allunionsbaustelle. Sie kehrte heim. Ihre Familie hatte schon im 19. Jahrhundert in dieser Gegend gelebt.
Am 11. Mai 1982 war bekanntgegeben worden, dass dort, wo sich heute die Siedlung befindet, ein Atomkraftwerk gebaut werden soll. Die ersten Arbeiter waren schon im Februar gekommen und hatten eine kleine Containersiedlung errichtet.
Ljudmila erzählt, die ersten Bauarbeiter seien besonders sorgfältig ausgesucht worden: Man stellte keine Vorbestraften ein, und es war verboten, in privaten Häusern gemeldet zu sein, um den Strom der Zugezogenen zu kontrollieren. Sogar der Verkauf von Alkohol wurde eingestellt. „Weder hier, noch im Umland konnte man welchen kaufen. Wenn jemand betrunken war, konnten es nur Geologen auf Exkursion sein“, erzählt Ljudmila.
Wegen der vielen Leute wurden die Lebensmittel knapp
Wegen des großen Zustroms an Arbeitern wurden bald die Lebensmittel knapp, sogar das Brot wurde knapp. Gärten wurden geplündert und verwüstet, egal wie sehr Ljudmila sich bemühte, ihren in Schuss zu halten. Es mussten dringend Geschäfte her, also wurden im Erdgeschoss der Wohnhäuser Läden eröffnet und eine Kantine gebaut. Jeden Tag wurden 20 bis 30 Personen eingestellt.
1983 kam auch Viktor in die Siedlung, mein Großvater. Er bekam einen Job als Monteur beim Atomkraftwerk, schätzte die Zukunftsperspektiven ab und holte ein Jahr später die Familie nach: seine Frau Vera und die Söhne Edik und Serjoscha.
Damals hat man insgesamt sehr schnell gebaut, und so wurde im Wasserkraftwerk Shiguli schon 1986 die Hebung des Wasserstandes vorbereitet, um aus Wolgodonsk auf Lastkähnen die Brennelemente für den Reaktor zu holen. Doch am 26. April explodierte in Tschernobyl Block 4 des Atomkraftwerks.
Kamskije Poljany nahm zwanzig Familien aus Tschernobyl auf
Kamskije Poljany nahm zwanzig Familien aus Tschernobyl auf. Und Dutzende von hier fuhren zu Abräumarbeiten dorthin. Deren Kinder nennt man die Kinder der ersten und zweiten Tschernobyl-Generation. Meine Klassenkameraden gehörten zur zweiten Generation. Ich hatte eine Schulfreundin, die ständig über Kopfschmerzen klagte: erhöhter Hirndruck. Ihre Mutter hatte bei der Liquidation als Köchin gearbeitet.
1986 hatten alle außer den Liquidatoren nur eines: Angst. In Tatarstan fanden Demos für den Baustopp des Atomkraftwerks statt, angeführt wurden sie von Ökologen, die warnten, der Vorfall aus Tschernobyl könne sich wiederholen, zudem werde der Reaktor in Kamskije Poljany auf einer tektonischen Bruchstelle gebaut und es könne jederzeit ein Riss durch die Erdplatte gehen. Das stimmte nicht, deswegen beruhigten sich die Einwohner von Kamskije Poljany recht bald. Die Planer des AKWs fuhren von Ort zu Ort und erklärten den Leuten, dieser Reaktor sei ganz anders, er habe ein ganz anderes Kühlsystem und die Erdplatte werde ständig kontrolliert. „Bei uns wurde vor Baubeginn jeder Winkel und jeder Millimeter vermessen, Landvermesser hatten alles ausgeglichen. Die monolithische Platte, auf der der Reaktor stehen sollte, wurde stündlich kontrolliert, sicherheitshalber hat man sogar versucht, sie in die Luft zu sprengen“, berichtet Ljudmila Pospelowa.
Aber es war zu spät. Den Protesten hatten sich andere „Grüne“ angeschlossen, mit der Schriftstellerin Fausija Bairamowa an der Spitze: Sie forderten die Unabhängigkeit Tatarstans von Russland, ein Verbot von Mischehen und die Ermordung von Kindern aus Mischehen. Und das jagte den Menschen weit mehr Angst ein als irgendeine Atomkraft.
Verbot von Mischehen macht mehr Angst als Atomkraft
Die Worte der Islamisten erschreckten sogar jene, die wie Ljudmila gegen eine Schließung des Kraftwerks waren. „Sogar ich als nicht besonders schreckhafter Mensch, bekam Angst, dass wir hier ein zweites Tschetschenien bekommen.“
Zunächst wurden die aktiven Baumaßnahmen eingestellt, die Menschen verloren ihre Jobs. Aber damals glaubten die Einwohner von Kamskije Poljany noch, der Bau werde fortgesetzt. „Wir kriegten mit, dass Tatenergo sich nur um den Unfall und die Liquidation kümmerte. Uns beachtete man gar nicht, der Reaktor wurde einfach nicht geliefert. Aber wir hatten Hoffnung: Einfach abwarten, bis sich die Lage beruhigt, dann wird es schon weitergehen. Und plötzlich – schwupp – wird Gorbatschow abgesetzt und Jelzin interessiert das alles nicht die Bohne: ‚Nehmt euch so viel Souveränität. wie ihr wollt.‘“, erinnert sich Ljudmila.
Im April 1990 wurde der Bau des Atomkraftwerks in Kamskije Poljany per Beschluss des Obersten Sowjets der Tatarischen ASSR endgültig eingestellt. Bis heute lautet die offizielle Version, Grund dafür seien die Proteste der Umweltschützer gewesen.
Ich bin fünf Jahre nach dem Baustopp zur Welt gekommen. „Uns war die Aufgabe gegeben, das AKW in Datschen zu zerlegen“, lautet eine Zeile der inoffiziellen Hymne von Kamskije Poljany, verfasst von einer einheimischen Rockband. Dort finden sich auch die Worte: „Selbst Kran-Giganten haben wir zerlegt.“ Auch das ist wahr. Gemeint sind die Kräne K-10 000, sie kommen beim Bau von Atomkraftwerken zum Einsatz, weltweit gibt es gerade mal 15 Stück. Zwei davon waren in Kamskije Poljany. Am Bau war nur einer beteiligt, später wurde er zum AKW Kalinin gebracht, aber vorher hatten wir noch Gelegenheit ihn zu nutzen: Wir kletterten hinauf, um uns das Kraftwerk von oben anzusehen. Während der zweite Kran einfach am Kai verrostet ist, der war gar nicht erst bis zur Baustelle gekommen.
Badespaß an den ausgehobenen Wasserspeichern des Kraftwerks
In meiner Kindheit war das AKW keine verbotene, brachliegende oder gefährliche Baustelle – es war ein Freizeitpark. Die Kama ist ein kalter und schmutziger Fluss, deswegen fuhren wir zum Baden an die ausgehobenen und schon befüllten Wasserspeicher des Kraftwerks. Und auf dem Reaktor selbst veranstalteten wir Picknicks mit der ganzen Familie.
Aber nicht nur das Kraftwerk brach zusammen. Ich war etwa sechs, als meine Mutter und ich ans andere Ende der Siedlung gingen, um die Katze vom Vorgesetzten meines Vaters zu füttern. Damals gab es vor jedem Haus mindestens einen Sandkasten. An jenem Tag lag in einem davon ein Mädchen.
Ich rannte vor, fiel vor dem Mädchen auf die Knie und blickte ihr in die Augen. Es war Sweta aus meiner Kindergartengruppe, sie hatte ein riesiges rosa Plüschmammut zuhause. Das hatte sie bei einem Musikwettbewerb gewonnen – alle waren zu Tränen gerührt gewesen, als sie gesungen hatte: „Das kann’s auf der Welt doch nicht geben, dass Kinder allein, ohne eine Mutter leben“. Neben ihr lag im Sandkasten ein Klettergerüst. Das hatte jemand einfach dort abgestellt, ohne es zu befestigen oder ein Schild aufzustellen, dass man darauf noch nicht spielen dürfe. Sweta fiel mit ihm um und war tot. Ich kann mich nicht erinnern, dass dafür jemand zur Verantwortung gezogen worden wäre.
Kinder starben, weil sie beim Rodeln in offene Schächte fielen
Kinder starben, weil sie beim Rodeln in offene Schächte fielen, sie erstickten in Schneehaufen, weil ein Räumfahrzeug sie übersehen und verschüttet hatte, und außerdem tranken Kinder. Man kann ihnen schwer einen Vorwurf machen. Ende der 1990er und Anfang der 2000er war es in Kamskije Poljany nicht einfach, sich sinnvoll zu beschäftigen.
Laut Plan sollten die Wohnhäuser, die Schulen, das Krankenhaus und andere Gebäude zu Ende gebaut werden, wenn der erste Reaktor in Betrieb genommen würde. Ohne das stand die Siedlung still. Während des Baus war es noch direkt von Moskau finanziert worden, aber danach fiel es in die Zuständigkeit von Kasan. Und Kasan ergriff sogar gewisse Maßnahmen: Den Einwohnern von Kamskije Poljany wurden Jobs in Almetjewsk, Nischnekamsk und Kasan versprochen. Aber die Menschen bekamen keine Wohnungen mehr in Kamskije Poljany, und ein Gebäude nach dem anderen wurde leergeräumt.
Während meiner Schulzeit hat meine Mutter neun Mal den Job gewechselt. Sie tat mehr als das Mögliche: Dass die schwersten Hungerjahre der Siedlung in den 2000er Jahren waren, habe ich erst vor wenigen Monaten erfahren.
Eine Zeit lang konnte ich sagen: „Meine Mutter arbeitet in Manhattan.“ Das war 2006. Zu dieser Zeit hatten sich alle daran gewöhnt, einmal im Jahr Versprechen vom Fertigbau des Kraftwerks zu hören, aber nun kam etwas Anderes: In Kamskije Poljany entsteht ein Zentrum für Glücksspiele! 2007 waren in der Siedlung schon neun Casinos in Betrieb, vier weitere sollten in Kürze dazukommen.
Laut offiziellen Zahlen hat das tatarische Las Vegas 400 Arbeitsplätze geschaffen. Aber prozentual blieb die Arbeitslosigkeit auf demselben Niveau, nur, dass die Bevölkerung etwas geschrumpft ist.
Glücksspielparadies ohne Hotel
Die Sache ist die, dass das Glücksspielparadies schlecht beworben wurde, die Straßen nicht ausgebessert, kein einziges Hotel gebaut und auch sonst keinerlei Infrastruktur geschaffen wurde. Also kamen auch keine Touristen. So spielten die Einheimischen – versetzten ihre Wohnungen, Autos und Datschen. Und begannen dann auch, sich wegen der Schulden gegenseitig umzubringen. Eine Woche nachdem meine Mutter gekündigt hatte, wurde in ihrem Casino eine alte Garderobenfrau getötet. Ein Mann, der eine große Geldsumme verspielt hatte, lauerte den Casinomitarbeitern bei den Garagen auf, weil er glaubte, sie würden Geld bei sich tragen.
2009 trat das Gesetz zur „staatlichen Regulierung der Tätigkeiten in der Organisation und Durchführung von Glücksspiel“ in Kraft, Spielhallen waren nur noch an vier Orten in Russland erlaubt. Kamskije Poljany gehörte nicht dazu. Also gesellten sich auch noch verlassene Casinos zum Stadtbild. Und mit der Fassadenbeleuchtung der Casinos schmückten meine Freunde ihre Zimmer.
2008 hatte Kasan wieder ein ambitioniertes Vorhaben: ein Kur- und Tourismusgebiet in Kamskije Poljany zu errichten. Gesamtfläche: 103.015 Hektar. Mit verschiedenen Bereichen für Wochenendausflüge (ob Business-, Wassersport-, Erlebnis-, Extrem-, Kinder- oder Familienurlaub); auf Folklore und Kultur ausgerichteten Tourismus; Wellness, Jagd und Ökotourismus; ganzjährige Arten des Abenteuertourismus. Es wurde nichts draus.
Fabrik für Stretchfolie und Fischzucht-Freizeit-Cluster
Laut Medienberichten ist „Kamskije Poljany 2009 in die Liste der Monostädte Russlands aufgenommen worden und hat 1,7 Milliarden für den Bau eines Industriegebiets erhalten“. Das Industriegebiet – das ist eine Fabrik, die Stretchfolie produziert. Es heißt, sie versorge ein Viertel der Einwohner mit Arbeitsplätzen. Auf der offiziellen Website der Fabrik liest man, sie beschäftige 450 Mitarbeiter. In der Siedlung sind 15.000 Einwohner gemeldet. 2011 wurden Kamskije Poljany 250 Millionen Rubel zum Bau eines Fischzucht-Freizeit-Clusters gewährt. Seit 2017 läuft ein Verfahren wegen der Entwendung dieser Summe und weiteren 45 Millionen Rubel, die als Prämie an eine nicht existente Fabrik ausgezahlt wurden.
2013 hat die Regierung der Russischen Föderation eine Liste von Atomkraftwerken erstellt, die bis 2030 erweitert oder fertig gebaut werden sollen. Das AKW Tatarien war auf Platz sechs.
Ljudmila Pospelowa kämpft derzeit darum, dass sich die Verwaltung endlich um den alten Friedhof kümmert, und bereitet Schüler auf die Abschlussprüfungen in Russisch und Literatur vor. Wie mich damals. Am Ende unseres Gesprächs sagt sie noch, man habe versprochen, das Kraftwerk bis 2030 fertig zu bauen – diesmal angeblich wirklich.
Zum 30. Jahrestag der Tschernobyl-Katastrophe wurden auch in Russland Umstände und Folgen des Unfalls heftig diskutiert. Das Thema ist gerade in diesem Jahr zu einem regelrechten Politikum geworden: In der Debatte geht es nicht nur um die humanitären, ökologischen und technischen Aspekte, sondern auch um das Bild, das man sich in Russland heute von der ehemaligen Sowjetrepublik Ukraine macht.
Einige Medien nehmen den Jahrestag zum Anlass, um der Ukraine alte wie neue Fehler zur Last zu legen, andere sehen bei der weiteren Bewältigung der Folgen auch den russischen Staat in der Pflicht.
Auch zur Einschätzung der Opferzahlen und zu den Langzeitfolgen des Unglücks gehen die Meinungen weit auseinander.
Einige der wichtigsten Stimmen haben wir hier mit Originalzitaten zusammengestellt.
KOMMERSANT: OPFERZAHLEN SIND ÜBERTRIEBEN
Im weitgehend unabhängigen Kommersant erklärt Leonid Bolschow, Leiter eines Instituts für nukleare Sicherheit der russischen Akademie der Wissenschaften: Alles nicht so schlimm.
[bilingbox]In der wissenschaftlichen Literatur sind weltweit – und übrigens auch in der Sowjetunion – als direkte medizinische Folgen im ersten Jahr nach dem Unfall nur 134 bestätigte Fälle schwerer Strahlenkrankheit festgehalten. In den ersten 100 Tagen starben 28 Menschen. Alle anderen wurden geheilt und lebten und starben später entsprechend den landesweit durchschnittlichen medizinischen Kennziffern. Die Sterberate der Liquidatoren, zu denen auch ich gehöre, unterscheidet sich in nichts von Personen, die mit Tschernobyl nichts zu tun haben. Die Tausende und Millionen und Milliarden Opfer, über die einige Hitzköpfe sprachen, gibt es nicht.~~~Мировая наука, как, впрочем, и советская наука в первый же год после аварии, посчитала, что среди прямых медицинских последействий только 134 подтвержденных случая острой лучевой болезни. В первые 100 дней умерли 28 человек. Всех остальных вылечили, и дальше они жили и умирали в соответствии со средними по стране медицинскими показателями. А смертность среди ликвидаторов, к которым отношусь и я, ничем не отличается от смертности среди людей, не имевших никакого отношения к Чернобылю. Ни тысяч, ни миллионов, ни миллиардов жертв, о которых некоторые горячие головы говорили, нет.[/bilingbox]
KOMSOMOLSKAJA PRAWDA: ALLES MYTHEN
Ähnlich äußert sich die Boulevard-Zeitung Komsomolskaja Prawda: Opferzahlen würden aufgebläht – und heute blühe das Leben in der verlassenen Stadt Prypjat, vier Kilometer vom Reaktor von Tschernobyl entfernt.
[bilingbox]Mit den Jahren wurde Folgendes klar: Die sowjetische Staatsführung hat unter dem Druck der Öffentlichkeit eine extrem hohe Opferzahl des Unfalls eingestanden. Den vorteilhaften Status des „Tschernobylers“ wollte dann später niemand wieder abgeben. […] Die fast vollständige Abwesenheit von Menschen hat den Wald um den Ort Prypjat in eine Oase für Tiere verwandelt. Die Zone um Tschernobyl gleicht einem Naturschutzgebiet, wo sich die Natur ganz urwüchsig zeigt: Schließlich stört der Mensch sie nicht. Hier ziehen Elche, Hirsche, Wölfe, Füchse und Bisons frei umher. Biologen untersuchen sie von Zeit zu Zeit – und finden weder Zweiköpfige noch Dreischwänzige. Also, auch alles Mythen.~~~С годами появилось понимание: руководство советской страны под давлением общественного мнения приняло решение об избыточном признании количества пострадавших от аварии людей. А потом уже не было желающих отказываться от выгодного статуса «чернобылец». […] Почти полное отсутствие людей превратило леса вокруг Припяти в животный оазис. Зона вокруг Чернобыля больше напоминает природный заповедник, где природа существует в первозданном виде: ведь ей не мешает человек. Здесь свободно бродят лоси, олени, волки, лисицы, зубры. Биологи их периодически изучают: ни одного двухголового или трехвостого. Выходит, опять выдумки.[/bilingbox]
TAKIE DELA: BUDDELN IN RADIOAKTIVEN BEETEN
Das spendenfinanzierte Magazin für Sozialreportagen Takie Dela dagegen behandelt die Folgen des Unfalls sehr kritisch. In der Reportage geht es vor allem um die Gebiete, die heute in Russland liegen.
[bilingbox][…] Die Beamten, die damals in Moskau über die Radioaktivität im Gebiet Tula berichteten, gingen später im demokratischen Russland in die Politik und sagten: „Wir haben die Errichtung einer Tschernobyl-Zone durchgesetzt.“ Obwohl – oh weh – außer ein paar kleinen Geldzuwendungen für die Bewohner nichts dabei herumkam. Aber nicht einmal das war einfach. Die Einwohner von Uslowa hatten weniger als ein Jahr das Recht, umzusiedeln. Es konnte einfach niemand zulassen, dass eine ganze Stadt umzieht. Deshalb blieben die Alten hier leben, und die Kinder buddelten in radioaktiven Beeten. […]
Außerdem haben die Politiker vor, die Anzahl der Orte auf der Tschernobyl-Zonen-Liste auf die Hälfte kürzen. Nach ihrer Auffassung wird das Gebiet dadurch attraktiver für Investoren und die Landwirtschaft.~~~[…] чиновники, заявлявшие в Москве о радиоактивным положении в Тульской области, в демократической России пошли в депутаты и говорили: «Мы пробили чернобыльскую зону!». Хотя кроме небольших денежных подачек для жителей, увы, ничего добиться не удалось. Но и это было непросто. У жителей Узловой меньше года был статус с правом на отселение. Просто никто не мог позволить, чтобы целый город переехал. Поэтому здесь так и доживали старики, а дети росли, копаясь в радиоактивных клумбах. […]
Кроме того, власти России собираются в два раза сократить список населенных пунктов, входящих в чернобыльскую зону. По мнению чиновников, это должно сделать территорию более привлекательной для инвестиций и ведения сельского хозяйства.[/bilingbox]
ERSTER KANAL: DIE FEHLER DER ANDEREN
Der Erste Kanal, der mehrheitlich in Staatsbesitz ist, sieht die Versäumnisse dagegen vor allem auf ukrainischer Seite. Im Artikel auf der Webseite des Senders heißt es, nicht nur die Ingenieure sondern auch die politische Führung der damaligen ukrainischen Sowjetrepublik seien für die Katastrophe verantwortlich gewesen. Heute setzten sich die Verfehlungen fort: Der Sarkophag zur Abdeckung des Reaktors sei immer noch nicht fertiggestellt, die von internationalen Geldgebern bereitgestellten Mittel versickerten in Korruptionsnetzwerken. Außerdem, so berichtet der hier zitierte Abschnitt, zeige Kiew auch im heutigen technischen Betrieb Verantwortungslosigkeit – indem es mit den USA statt mit Russland kooperiere, ohne die Folgen abzuschätzen.
[bilingbox]Indem sie alle Kontakte mit Russland abbrach – darunter auch in puncto Kernenergie – hat sich die Ukraine nach Ansicht von Experten selbst in eine gefährliche Falle manövriert. Die Regierung hat beschlossen, die ukrainischen Atomkraftwerke auf amerikanischen Kraftstoff umzurüsten. Die Gesetze der USA verbieten die Einfuhr von Atommüll. Daher bleibt der Ukraine nichts anderes übrig, als bei sich selbst Endlager zu bauen. Auf dem Baugelände wurden bereits feierlich [Informations-]Schilder aufgestellt – ungeachtet dessen, dass der amerikanische Kraftstoff noch nicht einmal die obligatorische Freigabe erhalten hat; er wird bisher nur experimentell eingesetzt. Außerdem sind ähnliche Experimente in Europa bereits gescheitert.~~~Разорвав все связи с Россией, в том числе по линии ядерной энергетики, Украина, по мнению экспертов, сама загнала себя в опасную ловушку. Правительство приняло решение перевести украинские АЭС на американское топливо. Законы США запрещают ввозить отходы в эту страну. Поэтому Украине ничего не остается, кроме как строить хранилище у себя. На месте строительства уже торжественно установили таблички, несмотря на то, что американское топливо еще даже не прошло обязательную сертификацию, его пока используют экспериментально. Причем в Европе подобные эксперименты закончились неудачно.[/bilingbox]
IZVESTIA: VOM WESTEN INSTRUMENTALISIERT
In der regierungsnahen Izvestia ist von einer wissenschaftlichen Konferenz am renommierten Kurtschatow-Institut zu lesen. Die Experten dort beklagten, so die Zeitung, dass westliche Medien den Unfall ausgeschlachtet und damit den Zerfall der Sowjetunion befördert hätten.
[bilingbox]Die Teilnehmer der wissenschaftlichen Konferenz bemerkten mehrfach, dass der Unfall in Tschernobyl einer der Gründe war, die zum Zerfall der UdSSR führten. Denn die Partner aus anderen Ländern hätten über die Tragödie ausschließlich ihrem Interesse entsprechend berichtet. Man kann die jüngste Tragödie im japanischen Fukushima in eine Reihe mit Tschernobyl stellen, die weltweite Berichterstattung zu ihr war allerdings viel zurückhaltender.~~~Участники научной конференции также неоднократно отмечали, что авария в Чернобыле стала одной из причин, способствовавших распаду СССР, поскольку зарубежные партнеры освещали эту трагедию исходя исключительно из своих интересов. Вместе с тем недавнюю трагедию на японской «Фукусиме» можно поставить в один ряд с Чернобылем, однако активность ее освещения в мировых СМИ была в разы меньше.[/bilingbox]
VEDOMOSTI: DIE INFORMATIONS-KATASTROPHE
Auch die regierungsunabhängigenVedomosti behandeln die Rolle der Medien – allerdings der sowjetischen.
[bilingbox]Die Ereignisse von Tschernobyl lösten eine Informations-Katastrophe in der sowjetischen Politik aus. Um ihre Folgen zu mindern, wurde daraufhin die Zensur gelockert, was der Presse erlaubte, offen über Probleme zu sprechen, die zuvor hinter einem dichten Vorhang militärischer, staatlicher und behördlicher Geheimnisse verborgen waren.~~~События в Чернобыле вызвали информационную катастрофу в советской политике, ликвидация последствий которой привела к смягчению цензуры и позволила прессе открыто говорить о проблемах, находившихся прежде под плотной завесой военной, государственной и ведомственной тайны.[/bilingbox]
BIRD IN FLIGHT: GEHEIMNIS GELÜFTET
Dass die Medien auf Anweisung des KBG zentrale Informationen zu dem Unglück zurückhielten, davon zeugen die kürzlich in der Ukraine freigegebenen Geheimdokumente, die Bird in Flightveröffentlicht hat, das in der Ukraine auf Russisch erscheint. Der KGB befahl demnach ausdrücklich die Geheimhaltung wichtiger Informationen zu Hintergründen und unmittelbaren Auswirkungen der Katastrophe:
[bilingbox]1. Informationen, die die tatsächlichen Gründe des Unfalls im Reaktor 4 des Kernkraftwerks von Tschernobyl offenlegen.
3. Informationen über die Menge und Zusammensetzung des Gemischs, das während des Unfalls austrat.
11. Informationen über die radioaktive Verschmutzung der Umwelt und von Lebens- und Futtermitteln, die die höchstens zulässigen Konzentrationen überschreiten.
16. Informationen über Ergebnisse neuer Methoden und Mittel zur Behandlung von Strahlenschäden.~~~1. Сведения, раскрывающие истинные причины аварии на блоке Nr. 4 ЧАЭС.
3. Сведения о величинах и составе смеси, выброшенной во время аварии.
11. Сведения о радиоактивном загрязнении природных сред, пищевых продуктов и кормов, превышающим предельно допустимые концентрации.
16. Сведения о резултатах лечения новыми методами или средствами лучевой болезни.[/bilingbox]
Unmittelbar nach dem GAU von Tschernobyl marschierten am 1. Mai 1986 – wie jedes Jahr – Tausende von Menschen fähnchenschwenkend durch Kyjiw. Als wäre nichts gewesen. Für Andrej Archangelski ist dieses Bild symptomatisch für den Umgang mit der Katastrophe, von der häufig als Heldengeschichte erzählt wird. Die verheerenden Folgen dagegen werden im offiziellen Diskurs oft ausgeblendet, heruntergespielt oder die Schuld wird anderen zugeschrieben – wie auch unsere Presseschau zum Thema zeigt.
Archangelski diagnostiziert der russischen Gesellschaft auf slon.ru eine Unfähigkeit zu trauern – und warnt vor einem „mentalen Tschernobyl“, dem moralischen Kollaps.
Vom sowjetischen Staatsbürger im Poststalinismus wurde – sofern er nicht Parteifunktionär war oder auf verantwortungsvollem Posten saß – nur eines verlangt: An bestimmten Tagen in Massen Loyalität zu demonstrieren, nämlich am 1. Mai und am 7. November.
Der 1. Mai 1986 war einer dieser Tage. Kyjiw war eine unter tausend Städten, in denen der Feiertag von den Massen begangen wurde; hätte es dort keinen Aufmarsch gegeben – niemand hätte etwas bemerkt. Details und Folgen der jüngsten Katastrophe (am 26. April) [in Tschernobyl – dek] waren der lokalen Parteiführung wahrscheinlich noch nicht bekannt. Zweifellos wusste sie aber, dass in 100 km Entfernung etwas Furchtbares passiert war. Die Frage, ob angesichts dessen die Festivitäten überhaupt stattfinden sollten, wurde auf höchster sowjetischer Ebene verhandelt. Und man beschloss trotz allem zu feiern – um „dem Westen keinen Vorwand zu liefern“ und „keine Panik zu verbreiten“.
Der Anfang vom Ende
Die Millionenstadt wurde tödlicher Gefahr ausgesetzt – um den Schein zu wahren und für die Berichterstattung.
Heute heißt es oft, die UdSSR sei „zugrunde gerichtet“ worden – von innen durch „Liberale“ und natürlich von äußeren Feinden, dem Westen. Tatsächlich aber wurde das Land unter anderem von jenem Maiaufmarsch in Kyjiw „zugrunde gerichtet“.
In der UdSSR gab es zwischen Volk und Staatsmacht lange Zeit eine stillschweigende Abmachung: „Wir tun so, als würden wir der Staatsmacht vertrauen, und sie tut so, als würde sie uns vertrauen.“
Nach dem 1. Mai 1986 hörten binnen einer Stunde Millionen Staatsbürger auf, der Staatsmacht zu vertrauen, sie hörten auf, dieses Land mitsamt seiner Regierung als „das ihre“ zu betrachten. Wahrscheinlich war dieser Maiaufmarsch – und nicht Tschernobyl selbst – der Grund dafür, dass der bisherige Gesellschaftsvertrag zerbrach.
Ein „mentales Tschernobyl“
In jenen Jahren tauchte der Begriff „mentales Tschernobyl“ auf, der leider rasch zum Klischee wurde. Tschernobyl wurde zum Symbol einer nicht nur technischen, sondern vor allem auch moralischen Katastrophe. Die totale Lüge, Scheinheiligkeit und das Fehlen natürlicher menschlicher Instinkte, das alles war schon längst zur Norm geworden. Nun verglich man sie mit der Strahlung, deren Wirkung ebenso unbemerkt, aber lebensgefährlich war. Die zivilisatorische Katastrophe ereignete sich am 26. April, die moralische jedoch schon wesentlich früher; und am 1. Mai 1986 wurde das vielen endgültig klar.
„In Moskau hat man feierlich die Teilnehmer des ‘Fünften Internationalen heroisch-patriotischen Kreativ-Festivals für Kinder und Jugendliche Star von Tschernobyl 2016‘ geehrt. Es ist den Heldentaten der Liquidatoren gewidmet“, erfahren wir heute auf der Website des Katastrophenschutzministeriums.
„Heroisch-patriotisch“, „Heldentaten“, „Star“. Einem 15-Jährigen, der das liest oder sogar daran teilnimmt, fällt nicht im Traum ein, dass der Anlass für dieses Festival ein tragisches Unglück ist. Das wird alles sorgfältig in die unpersönliche, altgewohnte Form der „Heldentat“ verpackt; man könnte fast schon meinen, alle Katastrophen geschähen eigens dafür, dass jemand „Heldentaten“ vollbringen kann.
Sportturniere zum Gedenken an die Helden
Und wenn uns Tschernobyl überhaupt eine Lektion erteilt, dann allenfalls die der „Tapferkeit“. Der Verfasser des Beitrags mit dem Titel „Junge Stars von Tschernobyl“ beendet seinen Veranstaltungsbericht mit der Feststellung: „Wichtig ist, dass die Kinder – unsere Zukunft – mehr von der schwierigen, aber interessanten Arbeit der Experten des Katastrophenschutzministeriums erfahren.“ Das ist also das Wichtigste.
In der Ukraine selbst geht es übrigens nicht weniger absurd zu – da wird etwa ein Turnier mit Schwerathleten veranstaltet zum Gedenken an die Helden von Tschernobyl.
Die Umdeutung der Tragödie zur Heldentat, zur „sportlichen Massenveranstaltung“ ist typisch für den derzeitigen russischen Bewusstseinszustand. Dort, wo es angebracht wäre, „einfach niederzuknien“, wie Wertinski sang, wird man dazu aufgefordert, auf Sprungtüchern herumzuhüpfen oder Feuerleitern rauf- und runterzuklettern. Man kann vom Katastrophenschutzministerium kein „tiefschürfendes Begreifen der Tragödie“ erwarten; dafür wird es sicher andere Veranstaltungen geben – doch die Tendenz wird kaum eine andere sein.
Seit 2012 wird in Russland am 26. April der „Tag der Mitwirkenden an der Liquidation der Folgen nuklearer Unfälle und Katastrophen und des Gedenkens an die Opfer“ gefeiert, und dennoch vermeidet die derzeitige Regierung das Wort „Opfer“, wo sie nur kann.
Sie verdrängt den Schmerz und die Tragödie aus dem Bewusstsein und setzt den Akzent auf das Heldentum (obwohl man die Liquidatoren in erster Linie zu den Opfern zählen sollte – von Ausmaß und Konsequenzen des Unfalls hatten sie 1986 wohl kaum eine Vorstellung.)
Trauer ins Event-Format gepresst
Trauer kann überhaupt nur schwer in ein Eventformat pressen. Am besten ist es, wenn Menschen von sich aus, ohne sich miteinander abzusprechen oder jemanden zu fragen, Kerzen anzünden oder Blumen bringen. Trauer verlangt jedoch das, was man eine „gut trainierte Seele“ und entwickelte ethische Instinkte nennt. Bei uns richtet sich Trauer nach der offiziellen Haltung, die die Regierung einnimmt: Millionen Menschen in Russland haben gelernt, nur mehr gemeinsam mit der Staatsspitze zu trauern, und verlernt eigenständig zu fühlen.
Vor fünf oder zehn Jahren lief an diesen Tagen normalerweise im Staatsfernsehen die Reportage „Das Leben in Prypjat heute“. Jetzt dagegen gibt es im russischen Fernsehen keine Reportage aus Kyjiw mehr, ohne dass die „Kyjiwer Machthaber“ abgeurteilt werden. Die heutige Ukraine – welch Ironie des Schicksals – ist in der Vorstellungswelt des offiziellen Moskau eine Art „politisches Tschernobyl“.
Darauf, dass wir wenigstens an diesem Unglückstag (des Unglücks, in dem Russland und die Ukraine zum letzten Mal wirklich vereint waren) ein Wort des Mitgefühls für das Nachbarland zu hören bekämen, brauchen wir nicht zu hoffen. Ein Untertitel wie „Von der Ukraine geht nach wie vor Gefahr aus“ – das ist alles, was wir über die heutige Haltung der Staatsspitze zur Katastrophe von Tschernobyl wissen müssen.
Schuld sind immer die anderen
Am 15. April hat die Staatsduma eine Erklärung abgegeben „Zum 30. Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl und zur Gewährleistung nuklearer Sicherheit im heutigen Europa“. Laut Tatjana Moskalkowa, der damaligen stellvertretenden Vorsitzenden des Komitees der Staatsduma für Angelegenheiten der GUS, „ist diese Erklärung einem einzigen Ziel verbunden:, der internationalen Gemeinschaft die Gefahr bewusst zu machen, die vom verantwortungslosen Umgang der ukrainischen Regierung mit Atomenergie ausgeht“.
„Wegen der verantwortungslosen Haltung Kyjiws hat die nukleare Sicherheit in dem an uns angrenzenden Land in den vergangenen Jahren gravierend abgenommen,“ sagt auch Leonid Sluzki, der Vorsitzende des Komitees der Staatsduma für GUS-Angelegenheiten.
Das Wort „verantwortungslos“ klingt milder als „Strafbrigaden“ oder „Junta“ – doch einziges Ziel ist es, einmal mehr die „Verantwortungslosigkeit der Ukraine“ zu betonen.
Unfähigkeit zu Trauern
Angaben des russischen Vereins Tschernobyl zufolge starben nach dem Unglück rund 9.000 russische Liquidatoren, mehr als 55.000 trugen bleibende Schäden davon – das ist unser Leid, unser Unglück, nicht nur das der Ukraine oder von Belarus. Und genau so muss man davon sprechen. Jede Tragödie hat vor allem eine menschliche Dimension. Das ist der Kontext, in dem sie zu betrachten ist.
Das Leugnen der „tragischen Dimension“ von Tschernobyl in Russland 2016 zeugt vom Verlust elementarer menschlicher Instinkte: Mitgefühl, Mitleid, Trauer.
Vor 30 Jahren wurde eine technische Katastrophe zum Spiegel des moralischen Kollaps im Land. 30 Jahre später zeugt die Reaktion auf die Tragödie von Tschernobyl von einem ebenso katastrophalen Zustand der Gesellschaft heute – von genau demselben „mentalen Tschernobyl“.