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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Zurück in die UdSSR

    Zurück in die UdSSR

    Eine feindliche Haltung gegenüber Andersdenkenden und Fremden, absolute Loyalität zum Staat und die Bereitschaft, sich von diesem bevormunden zu lassen. Das sind Merkmale des postsowjetischen Menschen, wie sie der renommierte Soziologe Juri Lewada herausgearbeitet hat. Hinter dieser Haltung stünden oft Angst und eine Sehnsucht nach alter Größe, meint Boris Grosowski. Und zeigt auf, wie beides bis heute instrumentalisiert wird.

    Schlechte Nachmache? „Lenin“ und „Stalin“ 2006 in Moskau – Foto © Unorthodoxy
    Schlechte Nachmache? „Lenin“ und „Stalin“ 2006 in Moskau – Foto © Unorthodoxy

    Es bedarf keines sonderlich scharfen Blicks, um in der Realität, die die Bürger Russlands in den letzten Jahren umgibt, Züge der Sowjetunion zu erkennen. Man könnte denken, es handle sich um eine Spezial-Rekonstruktion der spätsowjetischen 1970er und 1980er Jahre, eigens für jene bestimmt, die diese Zeit nicht selbst erlebt haben. Ein nicht allzu gekonntes Remake von Lebensbedingungen aus einer Zeit, als Ideologie schon keine große Rolle mehr spielte, als eine alternde und überkommene Elite sich an die Macht klammerte und das Land in den Sumpf ihrer Ängste und ihres Dogmatismus, ihres allgegenwärtigen „So geht das nicht!“ zog.

    Alle haben Angst, die Elite genauso wie die breite Masse

    Die heutigen Gebieter des Lebens fürchten ebenfalls die unentrinnbare Zukunft, versuchen sie zu diskreditieren und möglichst weit hinauszuschieben. Je stärker diese Ängste, desto wahrscheinlicher landen die wenigen Nichteinverstandenen, die sich trauen, ihren Protest in den öffentlichen Raum zu tragen, hinter Gittern.

    Für die breite Masse der Unentschlossenen steht ebenfalls Angst bereit, jedoch eine Angst etwas anderer Art: Tausend sitzen ein und Millionen haben Angst, ein Wort zu sagen.

    Und für jene, die das Ganze richtig verstanden haben, gibt’s Zuckerbrot: Staatsaufträge, einen Posten am „Futtertrog“, Möglichkeiten, etwas zu klauen, etwas zuzuteilen, jemand anderen ins Gefängnis wandern zu lassen.

    Iwan der Schreckliche, Stalin, Breshnew

    Warum aber eine Rekonstruktion gerade der sowjetischen Zeit? Warum reproduzieren wir überhaupt Momente unserer Geschichte, die eindeutig nicht zu den besten gehören? Warum geht das sich selbst überlassene System, das freie Hand hat, zügig dazu über, in unrühmlichen Kapiteln der Geschichte zu blättern, bei Iwan dem Schrecklichen, Stalin, Breshnew? Warum nur dieser Eindruck, dass Letztere nicht ins Schattenreich entschwunden, sondern unter uns sind? Und dass sie hervorpreschen werden, wie gewohnt das Steuer in der Hand, sollte die Gesellschaft nicht auf der Hut davor sein?

    Schließlich inszeniert Deutschland auch keine Remakes nach Motiven von Hitler und Bismarck. Und in Good Old England geht auch nicht der Geist des Schurken Heinrich VIII. um. Die französische Führung faselt nicht von den Eroberungen Napoleons und Berlusconi nicht von den Heldentaten Neros. Bei uns aber ist jeder ein kleiner Zar. Sobald sich die Möglichkeit ergibt, besteht die Gefahr, dass er sich dreimal um die eigene Achse dreht und in einen blutigen Tyrannen verwandelt. Als hätte er sein Leben lang davon geträumt, am Livländischen Krieg oder an der Eroberung der osmanischen Festung Otschakow teilzunehmen. Was bitteschön ist das für eine „Liebe zur Geschichte“? Warum gängeln die europäischen Halunken von einst die heute Lebenden nicht mehr, aber unsere legen es immer wieder darauf an?

    Falls man nicht an die Unveränderlichkeit der Kultur glaubt, an Pfadabhängigkeit und Sentenzen wie „Menschen/Länder ändern sich nicht“ – ich bin überzeugt, dass sie sich ändern! –, dann ist all der Teufelsspuk, dieser Reigen der Despoten und die Hartnäckigkeit schlechter Angewohnheiten einzig und allein verführerisches Blendwerk, Erscheinungen, dem Nebel entstiegen, wie Petersburger Trugbilder aus der Zarenzeit. Nur, dass in der modernen Zeit mit selbstfahrenden Autos und neuentwickelten Genomen kein Platz ist für Hexenverbrennung und Leibeigenschaft.

    Doch entspringen diese Bilder, diese Trugbilder, nicht irgendeinem Baskerville‘schen Nebel, sondern menschlichem Willen. Eine Tradition lässt sich nicht reproduzieren, wird nicht auf natürliche Art „vererbt“, sagte Merab Marmardaschwili 1990 in seinem Vortrag Wien im anbrechenden 20. Jahrhundert: „Wenn Sie meinen, dass man eine Tradition auf natürliche Weise fortführen kann, als ob sie einfach das Leben selbst sei, dann irren Sie sich. Man könnte ja denken, dass Tradition wie Atem ist: Ich atme, also lebe ich; ich beachte etwas, also setzt es sich fort, und die Tradition lebt weiter. Dabei führt einem doch die menschliche Erfahrung drastisch vor Augen, dass dem nicht so ist, dass das Gewebe, das über dem Bodenlosen gewoben wird, ein anderes ist.“

    Niemanden interessiert, wie exakt die Rekonstruktion ist

    Das Wesen traditioneller Kultur, die auf heiligen Texten beruht, besteht in ihrer Weitergabe, ihrer Vermittlung, in der Reproduktion von Gedanken und Gewohnheiten, einer Lebensweise und eines Wertesystems. Untersuchungen darüber, auf welche Weise Traditionen weitergegeben werden, zeigen, dass das nicht automatisch geschieht. Hierzu braucht es ein langes Zusammenleben von Lehrer und Schüler, unermessliche Anstrengung und Übung, damit die geistige Persönlichkeit des Lehrers im Schüler ihren Wiederklang findet, und damit eine Tradition entsteht, die einem Begründer folgt.

    Was lässt sich dann überhaupt über eine Situation sagen, in der die Tradition unterbrochen wurde, in der man zur „reinen Quelle“ nur gelangen kann, indem man die anscheinend kriminellen, wilden 1990er Jahre überspringt. Den Schüler trennt hier vom Lehrer ein derartiger Abgrund, dass kolossale Verzerrungen unausweichlich sind. Die Adepten des sozialistischen Paradieses verlieren dadurch viele Aspekte jener Tradition, die sie nun teilweise reproduzieren, vollkommen aus dem Blick. Sogar eine ihrer zentralen Komponenten wird ignoriert: Das Thema Gleichheit und soziale Gerechtigkeit. Wenn Traditionen auf der „Materialbasis“ einer viele Millionen zählenden Gesellschaft reproduziert werden, interessiert niemanden, wie exakt diese Rekonstruktion ist. Die Aufgabe, vor der die „Erfinder dieser Tradition“ stehen, ist ja auch eine ganz andere.

    Traditionen werden nicht nur weitergegeben, sondern auch erfunden

    Traditionen werden nicht nur weitergegeben, sondern auch erfunden, wie der Historiker Eric Hobsbawm zeigt: Selbst das Zeremoniell, mit dem sich die britische Monarchie in ihren öffentlichen Auftritten umgibt, hat sich erst im 19. und 20. Jahrhundert endgültig herausgebildet. […]

    Erfundene Traditionen sind nach Hobsbawm rituelle und symbolische Praktiken, die durch offene oder unausgesprochene Vorschriften geregelt werden. Sie werden eingeführt, um im Bewusstsein Glauben, Wertesysteme und Verhaltensnormen zu verankern. Die Sozialisation werde universell, wenn jedem Bürger (Angehörigen einer Nation, Untertanen) die gleichen Werte eingeimpft werden. Oft sind diese nicht klar umrissen, nicht besonders verbindlich, oder einfach schwammig: „Patriotismus“, „Treue“, „Pflicht“, „Beachtung der Spielregeln“.

    Zur Legitimierung werden Traditionen oft mit einer passenden Phase der Geschichte begründet, doch sei die oft fiktiv, schreibt Hobsbawm: „Diese Traditionen sind eine Reaktion auf eine neue Situation in Form eines Verweises auf eine alte Situation.“

    Putins UdSSR: eine konstruierte Tradition

    Bei ihrer Kritik an sowjetischen Anwandlungen, die gegenwärtig zu beobachten sind, weisen Analytiker wie Peter Pomerantsev zurecht auf die riesigen Unterschiede hin, die zwischen dem Regime damals und heute bestehen. Allerdings erhebt Putins UdSSR auch gar nicht den Anspruch auf Authentizität. Hier handelt es sich um eine rundweg erfundene, konstruierte Tradition. Wozu die Regierung in den 2000er und 2010er Jahren eine solche Tradition brauchte, haben meines Erachtens die Arbeiten von Juri Lewada, Boris Dubin, Lew Gudkow, Alexej Lewinson und Natalja Sorkaja ausführlich aufgezeigt.

    In den 1990er Jahren hat der (post-)sowjetische Mensch keineswegs abtreten wollen. Die Gesellschaft Russlands spaltete sich gewissermaßen in zwei Teile: Die einen wurden zu selbsternannten Unternehmern. Sie rotierten, versuchten zu überleben und wechselten Berufe und Städte, während die anderen warteten, bis man ihnen half.

    Zu Beginn der 2000er Jahre wurde der Regierung bewusst, dass der erste Teil lästig ist: Das waren die, die „ständig irgendwas wollten“. Der andere Teil hingegen war sehr bequem für das Regime. Er verlangt nicht viel und ist bereit, eine ewiggültige Carte Blanche zu erteilen. Ohne lang zu überlegen, entwickelte die Regierung eine absolut rationale und bislang erfolgreiche Strategie: Der postsowjetische Teil der Bevölkerung – treue Helfer und Stützen des Regimes – sollte mit allen Mitteln umsorgt, verwöhnt, behütet und gefüttert werden, während allzu Selbständige ein wenig zur Raison zu bringen waren.

    Der postsowjetische Mensch

    Der postsowjetische Mensch verfügt über einige für das autoritäre Regime überaus nützliche (man könnte sogar sagen: nährende) Eigenschaften. Da wäre zum einen die einmalige psychische und moralische Anpassungsfähigkeit an totalitäre Regime, die Bereitschaft, mit ihnen zu einer Symbiose zu verschmelzen, wie Gudkow, Dubin und Sorkaja in einer ihrer Arbeiten hervorheben.

    Außerdem sind da die von Lewada identifizierten Merkmale des postsowjetischen Menschen zu nennen: Selbstisolierung (als feindliche Haltung gegenüber Andersdenkenden, als Misstrauen gegenüber dem „Komplizierten“, „Fremden“ und „Anderen“), Bereitschaft zu staatlicher Bevormundung, ein imperiales Syndrom und die Bereitschaft, sich im sozialen System aufzulösen.

    Drittens ist dieser Persönlichkeitstyp grundsätzlich entindividualisiert, ihm widerstrebt alles Elitäre und Eigene; er ist „transparent“ (und somit kontrollierbar), primitiv in seinen Ansprüchen und primitiven Steuerungsinstrumenten Folge leistend.

    Und viertens werden in der Vorstellungswelt eines solchen Menschen die wichtigsten öffentlichen Güter – von Gesundheit und Bildung bis hin zu Wissenschaft und Kunst – vom Staat bereitgestellt. Der Staat wird dabei als autark, von der Gesellschaft unabhängig gedacht. Der postsowjetische Mensch orientiert sich an den gewohnten staatlichen Formen der Gratifikation und der sozialen Kontrolle. Der Staat seinerseits übernimmt mit Freuden eine erzieherische, fürsorgliche und paternalistische Rolle – je größer die Nachfrage nach diesen Funktionen, desto mehr Ressourcen gibt es für die Bürokraten umzuverteilen.

    Selbstbeschränkung und Loyalität

    Schließlich ist der Sowjetmensch Teil einer militarisierten, geschlossenen, repressiven Gesellschaft. Seine Integration im Staat gründet auf Selbstbeschränkung und Loyalität und einem Zusammenstehen gegenüber äußeren und inneren Feinden, konstatieren Dubin, Gudkow und Sorkaja. Alles, was der Staat verlangt, versteht der Sowjetmensch bereitwillig als Schuldigkeit, als seine patriotische Pflicht. Im Gegenzug hat der Staat für die Befriedigung seiner Bedürfnisse zu sorgen. Somit könnte eine anhaltende soziale und wirtschaftliche Depression zu einer Erosion der Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft führen, falls das fehlende Brot nicht durch eine Unzahl an Spielen kompensiert wird.

    Schmerzvolle Sehnsucht nach der ehemaligen Größe

    Zur Jahrhundertwende hatte das Regime auf geniale Weise die schmerzvolle Sehnsucht der letzten sowjetischen und ersten postsowjetischen Generationen erhascht und aufgegriffen: nach der ehemaligen Größe, und auch die Bereitschaft zur Idealisierung der jüngeren Vergangenheit, den moralischen Relativismus und andere leicht auszunutzende Wesensmerkmale.

    In den darauf folgenden 15 Jahren haben wir gesehen, wie viel durch zielgerichtete Wirtschaftspolitik und Propaganda erreicht werden kann. Ziel der Wirtschaftspolitik war es, die großen, mittleren und kleinen Unternehmen vom Staat abhängig zu machen und private Geldquellen aus der Einkommensgrundlage der städtischen Mittelschicht zu verdrängen. Die Propaganda diskreditierte erfolgreich die Versuche der 1990er Jahre, in Russland Demokratie und Marktwirtschaft aufzubauen, sowie analoge Versuche in den 2000er und 2010er Jahren von Russlands Nachbarn. Europa wurde als degenerierte, amöbenhafte Gesellschaft dargestellt und die USA als gefährlicher Feind, der sich allerdings ein wenig vor Russland fürchtet.

    Durch den Fernseher zusammengehalten

    Diese Propaganda war deshalb so erfolgreich, weil die Leute schon vor der massiven Bearbeitung ihres Bewusstseins über das Fernsehen miteinander verbunden waren, wie Boris Dubin in seinem Artikel Massenkommunikation und kollektive Identität zeigt: Verbunden durch die „symbolische Teilhabe an einer symbolisch präsentierten und aus dem Abseits wahrgenommenen gemeinsamen Welt – ohne Feedback von ihr und ohne praktisches Handeln zur Schaffung und Aufrechterhaltung dieser gemeinsamen Welt“.

    In der zweiten Hälfte der 2000er Jahre sahen sich die Bürger Russlands als „ein Fernseh-Sozium, wurden durch den Fernseher als Sozium zusammengehalten“; sie waren eine „Zuschauer-Gesellschaft“. Eine solche Gesellschaft ist leicht zu lenken.

    Das sowjetische Remake gerät öfters zur Parodie

    Natürlich zeugt das entstandene sowjetische Remake von schlechtem Geschmack und gerät des Öfteren zur Parodie. Prüft man per Gedankenspiel seine Authentizität, ist das Ergebnis vernichtend: Stellen wir uns nur einmal vor, was der von Putin schleichend rehabilitierte Stalin mit Putin angestellt hätte. Auch anderen sowjetischen Führern hätte das Remake wohl kaum gefallen. Zu einer erfundenen Tradition braucht es aber auch nicht viel. Es reicht vollkommen, dass das Regime fast wie im Reagenzglas einen selbstlosen Adepten herangezogen hat, einen Menschen, der nichts anderes braucht. Das ist natürlich eine Vereinfachung. Herangezogen hat ihn das Regime nicht. Es hat vielmehr durch Anreize und Restriktionen alle Voraussetzungen geschaffen, damit im öffentlichen Raum der postsowjetische Mensch herrscht und die anderen sich wie Abweichler fühlen. Solange es von diesen Abweichlern nur wenige gibt, wird die Übertragung konstruierter Tradition erfolgreich weitergehen.

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  • Die Fragen der Enkel

    Die Fragen der Enkel

    „Es gab einen Mord.“ Der FSB-Beamte im sibirischen Tomsk muss sehr erschrocken sein. Der junge Mann vor ihm ließ nicht locker: „Es gab einen Mord und ich möchte wissen, wer die Verantwortlichen sind.“

    Der Mord, zu dem Denis Karagodin seit jenem Tag forscht, liegt viele Jahrzehnte zurück: Es geht um seinen Urgroßvater Stepan Karagodin. Der Kosake war Bauer, hatte neun Kinder und wurde in den Jahren des Großen Terrors unter Stalin vom NKWD verhaftet und als „japanischer Spion“ erschossen.

    Stepan Karagodins Schicksal ist kein Einzelfall, genauso wie das seiner Familie: Mehr als eine Million Menschen fielen in den Jahren 1937/38 dem Großen Terror zum Opfer. Mehrere Jahre wusste keiner in der Familie Karagodin, wo der Vater war, ob er überhaupt noch lebte. Irgendwann Mitte der 1950er Jahre erfuhr die Familie dann, dass Stepan Karagodin „rehabilitiert“ sei. Da war er schon fast 20 Jahre tot.

    Denis Karagodin gibt sich nicht zufrieden mit der „Entschuldigung“ aus den 1950er Jahren. „Jede Generation meiner Familie hat versucht, sein Schicksal zu rekonstruieren“, sagt er kürzlich im Interview mit Radio Svoboda. Karagodin möchte die Schuldigen zur Verantwortung ziehen. Sammelt seit Jahren Dokumente, die den Mord an seinem Urgroßvater belegen, rekonstruiert den Ablauf der Ereignisse und die Namen der Beteiligten. Alles hat er auf seinem Blog dokumentiert. Denis Karagodin sieht den FSB als Nachfolgeorganisation des NKWD in der Verantwortung, und er lässt nicht locker.

    Iwan Kurilla beschreibt auf slon.ru, was Karagodins Nachforschungen für die russische Gesellschaft bedeuten könnten.

    Jahrelang wusste keiner in der Familie, wo Stepan Karagodin war –  Foto © Denis Karagodin

    Dieser Tage ging die Geschichte von Denis Karagodin durch die Medien: Ein Absolvent der Tomsker Universität, der zu den Todesumständen seines Urgroßvaters Stepan forscht, Anfang 1938, in der Zeit des Großen Terrors. Nach der Verurteilung im „Prozess gegen die Spionage- und Sabotagegruppe von Harbinern und Deportierten aus dem Fernen Osten“ sowie als „Gruppenführer des japanischen Militärnachrichtendienstes“ wurde Stepan Karagodin Anfang 1938 vom NKWD erschossen.

    Denis ging zum FSB und verlangte, Nachforschungen zum Tod seines Urgroßvaters anzustellen und die Schuldigen an diesem Verbrechen festzustellen. In Russland erscheint ein solcher Schritt naheliegend – und gleichzeitig unmöglich.    

    Das Gebot „sich ja rauszuhalten“     

    Millionen von Menschen haben in den Jahren des Staatsterrors in der UdSSR ihre Verwandten verloren, bekamen während des Tauwetters der Ära Chruschtschow lückenhafte Informationen zu deren Rehabilitierung  und dann in Gorbatschows Perestroika ein etwas genaueres Bild – diesen Verlust erlebten sie als persönliches Leid. Der Staat hatte ihnen die Angehörigen entrissen und diese posthum (oder im Glücksfall auch noch zu Lebzeiten, nach Jahrzehnten im Gulag) von Schuld freigesprochen – und dafür konnte und musste man ihm „danke“ sagen.     

    Die Generation, die die Stalinzeit erlebt hat, hatte den Staat fürchten gelernt und ihren Kindern das Gebot mitgegeben, „sich ja rauszuhalten“. Eine besondere, fast abergläubische Angst empfanden die Bürger vor den Organen der Staatssicherheit.

    Wahrscheinlich war die politische Ruhe der relativ wenig repressiven Breshnew-Zeit teilweise der Fügsamkeit der Bevölkerung zu verdanken. Die wusste aus der Erfahrung ihrer Eltern, dass der Staat anfangen kann zu töten. Kein Wunder, dass allein der Gedanke, Ansprüche gegen den Staat geltend zu machen, erst dem in der Zeit nach Breshnew geborenen Urenkel eines Hingerichteten in den Sinn kam.

    Verbrechen als Verbrechen benennen

    Denis Karagodin warf die Frage auf nach der Verantwortung des Staates und der konkreten Terror-Vollstrecker. Und zwar nicht die Frage nach der politischen Verantwortung, über die man schon seit dem XX. KPdSU-Parteitag gesprochen hatte, sondern die ganz banale Frage nach der strafrechtlichen Verantwortung.

    So ist es doch: Die Ermordung eines unschuldigen Menschen, egal durch wen, verlangt nach Ermittlungen und nach Bestrafung der Täter. Falls die Täter einen Befehl ausgeführt haben, dann muss sich die Strafe auf die ganze Befehlskette erstrecken. Ist seither zu viel Zeit vergangen und aus diesem Befehlsgefüge niemand mehr am Leben, dann müssen in strafrechtlichen Ermittlungen die Namen festgestellt und Verbrechen als Verbrechen benannt werden.

    Die Vergangenheit aufarbeiten

    In Russland hat es weder eine Kommission zur nationalen Versöhnung noch ein Tribunal für die Henker gegeben. Wie Alexander Etkind in seinem kürzlich erschienenen Buch Kriwoje gore (Verzerrtes Leid) aufzeigt, hat die russische Gesellschaft daher die Folgen des Gulag bis dato nicht verarbeitet. Sie schwingen noch mit in Kultur und Wissenschaft, in der Beziehung der Menschen untereinander und der Menschen zum Staat.

    Oft heißt es, eine völlige Verurteilung des Stalinismus sei in Russland nicht möglich, denn im Unterschied zu Deutschland, wo die Entnazifizierung von den Besatzungsmächten vorgenommen wurde, habe die UdSSR keine militärische Niederlage erlitten und sei daher gezwungen, ihre Vergangenheit selbst aufzuarbeiten. Die politische Kräftebalance erlaube es angeblich nicht, die Frage nach den Verbrechen des Staates unter Führung der Bolschewiken zu stellen.

    Verfechter der stalinistischen Sowjetunion reduzieren den Streit oft auf die Opferzahlen: Sind die nicht übertrieben? Waren es wirklich Millionen und nicht eher nur Hunderttausende Getötete? Als würde die Verlagerung der Diskussion in den Bereich der Statistik es obsolet machen, über das tragische und kriminelle Erbe des Staates zu sprechen.  

    Konkretes Schicksal statt trockene Statistik

    Denis Karagodin hat nun sein Modell der Vergangenheitsbewältigung vorgeschlagen: persönliche Ermittlung und eine persönliche Klage wegen Tötung seines Urgroßvaters. Das ist ein konkretes Schicksal, keine trockene Statistik. Die Archive des FSB bergen Geheimnisse von Spitzeln und Henkern – ob sie wohl auf die Forderung eines Bürgers hin geöffnet werden?

    Es ist zu erwarten, dass die Geschichte Karagodins Vorbildwirkung hat. Auch Angehörige anderer in den Jahren des Terrors Verurteilter könnten vor Gericht ziehen. Dass der Staat darauf mit Einverständnis reagiert, ist nicht gesagt. Womit aber will er begründen, solche Ermittlungen zu verweigern?

    In der Sowjetzeit war Angst das Hauptargument. Heute wird sich die Judikative, um solche Ermittlungen zu umgehen, irgendeine juristisch fachkundige Antwort überlegen müssen, die ihrerseits Anstoß für eine Diskussion innerhalb der Gesellschaft sein kann. Jener Diskussion, die es bei uns weder in den 50er- noch in den 80er-Jahren gab.  

    „Große Geschichte“ und familiäres Gedächtnis

    In den 80er-Jahren fand die Ent-Stalinisierung in den Medien und bei Aktivisten statt. Vielen kam das vor wie eine Art Propaganda: Journalisten schrieben über Repressionen, Memorial sammelte Dokumente von Verfolgten, doch im Grunde blieben die Bürger „Konsumenten“ dieser Informationen und hatten sie irgendwann satt (beteuern jedenfalls jene, die sich gegen eine neuerliche Diskussion zur sowjetischen Vergangenheit aussprechen).
    Jetzt aber geht es um die Rekonstruktion von Familiengeschichte, und in diesem Zusammenhang kann die Ent-Stalinisierung zu einer persönliche Angelegenheit von Hunderttausenden Staatsbürgern werden.     

    Erinnerungsforscher bemerkten vor einiger Zeit, dass das Interesse der Russen an ihren familiären Wurzen rasant ansteigt. Genealogische Forschungen, Familienchroniken, das Durchforsten von Dokumentenarchiven, Geburtsurkunden und Gräbern der Vorfahren verbreiteten sich überall in Russland, in ganz unterschiedlichen sozialen Schichten. Den Platz des „Geschichtslehrbuchs“ nimmt immer öfter die Familiengeschichte ein – als Teil der Landesgeschichte. Und wenn es in diesen Familiengeschichten noch offene, aufgeschlagene Seiten gibt, dann versucht die Enkelgeneration, diese endlich zu schließen.   

    Vielschichtiger als ein Geschichtslehrbuch

    Auf der Website von Memorial finden sich immer mehr Informationen zu Verfolgten, die Sparte wird oft angeklickt. Die Initiative Posledni Adres (dt. Letzte Adresse) montiert auf die Bitte Angehöriger hin Schilder an Häuser, wo Opfer des Staatsterrors abgeholt wurden. Diese wirkungsvolle Bewegung zur Aufarbeitung der Familiengeschichte ist etwas ganz anderes als der Kampf der Intelligenzija in den Medien um das richtige Verständnis der Geschichte des vergangenen Jahrhunderts. Das neue Gedenken ist komplexer und vielschichtiger als ein Geschichtslehrbuch.  

    Es gibt eine deutliche Parallele zwischen dem Fall Karagodin und der Aktion Bessmertny polk (dt. Unsterbliches Regiment). In beiden Fällen wenden sich Nachkommen ihrer Familiengeschichte zu; sie schreiben ihre Großväter in die Geschichte des Landes ein und betrachten die Geschichte des Landes mit den Augen ihrer Großväter. Im Fall des Unsterblichen Regiments entschloss sich der Staat, die Initiative der Bürger zu unterstützen. Wird er bereit sein, auch andere Initiativen zu unterstützen? Können Bürger den Staat dazu bringen, sich zu verändern?

    Man würde gern dran glauben, dass es auf diese Fragen eine positive Antwort gibt.

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  • Gulag

    Gulag

    Der Begriff Gulag steht im weitesten Sinne für das sowjetische Lagersystem und damit für den Terror und den Repressionsapparat, den die kommunistische Partei der Sowjetunion zum Erhalt ihrer Macht aufbaute. Der westlichen Öffentlichkeit ist der Gulag seit den 1970er Jahren durch Solschenizyns Buch breiter bekannt geworden: Der Archipel Gulag war die grausame Seite des erklärten ruhmreichen Aufbaus der lichten Zukunft im Kommunismus. Gulag ist die Abkürzung für Glawnoe Uprawlenie isprawitelno-trudowych Lagerei (dt. Hauptverwaltung der Erziehungs- und Arbeitslager). Das Lagersystem unterstand dem sowjetischen Sicherheitsdienst OGPU, seit 1934 NKWD. Es existierte von 1922 bis 1956.

    Die Bolschewiki verfolgten schon unmittelbar nach der Oktoberrevolution 1917 und dem folgenden Bürgerkrieg sogenannte Klassenfeinde und Gegner des Regimes. Auf den Solowezki-Inseln im Weißen Meer entstand der erste Lagerkomplex, dessen Insassen Zwangsarbeit leisten mussten. Während der forcierten Industrialisierung der UdSSR im Rahmen des ersten Fünfjahrplans 1928–1932 wurde das Lagersystem ausgebaut. Die Zahl der Häftlinge stieg in dieser Zeit von 30.000 auf 300.000. Die Lagerhaft zielte offiziell auf wirtschaftlichen Nutzen sowie die Umerziehung der Inhaftierten durch Arbeit. Bekannte Schriftsteller und Künstler wie Maxim Gorki oder El Lissitzky setzten die ersten Großbaustellen mit Zwangsarbeitern propagandistisch in Szene. Zur Erschließung von Rohstoffen sowie zum Aufbau von Industrie und Infrastruktur entstanden Lagerkomplexe in klimatisch unwirtlichen Gegenden Sibiriens und des Fernen Ostens. Neben den Insassen der Lager mussten in diesen Regionen sogenannte Sondersiedler schwere Arbeit leisten. Viele von ihnen waren als Kulaken bezeichnete Bauern, die im Zuge der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft in den Jahren 1930/31 deportiert worden waren.

    Nach dem bis heute ungeklärten Mord am Leningrader Parteichef Kirow im Jahr 1934 kam eine Repressionswelle in Gang, die in den sogenannten Großen Terror der Jahre 1936 bis 1938 einmündete. Etwa 1,7 Millionen Menschen wurden vom NKWD als Volksfeinde verhaftet, 700.000 von ihnen erschossen. Besonders betrafen die Verhaftungen die Spitze von Partei und Armee, aber ebenso die wissenschaftliche, künstlerische und technische Elite. Da vorgegebene Quoten erfüllt werden mussten, es also pro Gebietseinheit eine vorgegebene Mindestzahl von Verhaftungen geben sollte, konnte es jeden Bürger treffen. Verschwörungen und Beweise wurden erdacht, Schauprozesse inszeniert, Geständnisse unter Folter erpresst. Die Vernichtungsmaschine erfasste selbst den Apparat des NKWD. Nachdem der Geheimdienstchef Jagoda 1936 und sein Nachfolger Jeschow 1938 erschossen worden waren, übernahm Berija bis 1953 die Leitung der Hauptverwaltung der Lager.

    In den Jahren nach Beginn des Zweiten Weltkriegs setzten sich Vernichtungs- und Repressionsmaßnahmen gegen die Bevölkerung fort. Sie betrafen nun auch Polen, Ukrainer, Belarussen und Balten, die durch den Hitler-Stalin-Pakt unter sowjetische Herrschaft gekommen waren. Nach Ende des Krieges wurden ehemalige sowjetische Armeeangehörige, die in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten waren, und der Kollaboration verdächtigte Zivilpersonen in den Lagern interniert.

    Als Stalin 1953 starb, saßen circa 2,5 Millionen Menschen in sowjetischen Lagern. Insgesamt waren bis zu 20 Millionen Menschen durch den Gulag gegangen. Nach Schätzungen sollen etwa 2,7 Millionen Menschen im Lager ums Leben gekommen sein. Mehr als eine Million kam 1953 durch eine Amnestie frei. Der Großteil der politischen Häftlinge erlangte nach Chruschtschows Geheimrede 1956 die Freiheit zurück. Die Lagerhauptverwaltung wurde aufgelöst. Die wenigen verbliebenen Lager dienten auch weiterhin als Haftanstalten für politische Häftlinge, deren Zahl mit 8000 bis 20.000 zwischen 1957 und 1989 aber deutlich niedriger blieb als in den Jahrzehnten zuvor.

    Das Thema Gulag konnte seit der Öffnung der sowjetischen Archive in den 1990er Jahren gut erforscht werden. Über die Fakten besteht unter HistorikerInnen weitgehend Einigkeit. Strittig ist in der russischen Fachwelt und Öffentlichkeit jedoch die Frage, welchen Stellenwert dem Thema in der Vaterländischen Geschichte eingeräumt werden soll. Während die einen im staatlichen Terror den Kern des sowjetischen Herrschaftssystems sehen, versuchen die anderen, ihn als möglicherweise unumgängliche Begleiterscheinung des forcierten Aufbaus der Sowjetunion zur modernen Großmacht zu legitimieren.


    Weiterführende Literatur:
    Afanas’ev, Jurij u. a. (Hrsg.) (2004): Istorija Stalinskogo Gulaga, 2. Bd., Moskau
    Applebaum, Anne (2003): Der Gulag, Berlin
    Ivanova, Galina M. (2001): Der Gulag im totalitären System der Sowjetunion, Berlin
    Khlevniuk, Oleg (2004): The History of the Gulag. From Collectivization to the Great Terror, New Haven, London
    Landau, Julia/Scherbakowa, Irina (Hrsg.) (2014): GULAG: Texte und Dokumente 1929–1956, Göttingen
    Memo.ru: SSSR. Istorija repressij: 1917-1991 (wichtigste Sammlung von Materialien online)
    Gulagmap.ru: Karte des Lagersystems

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  • Tauwetter

    Tauwetter

    Befreiung vom Despoten, zarte Protestkultur und Poeten als Volkshelden: Die Zeit des Tauwetters in den Jahren nach Stalins Tod brachte eine Neudefinition des sowjetischen Lebens. Kultur und Politik erlebten eine euphorische Phase der Liberalisierung. Doch schon mit der Entmachtung Nikita Chruschtschows setzte eine politische Restaurationsphase ein, die bis zur Perestroika andauern sollte. Heutzutage wird das Tauwetter oft nostalgisch verklärt, unter Historikern ist seine Deutung weiterhin umstritten.

    Der Begriff des Tauwetters  (russ. ottepel) wird oft mit der Regierungszeit Nikita Chruschtschows (1953–64) gleichgesetzt. Doch entstand das griffige Bild zunächst aus einem literarischen Schlüsselwerk: Ilja Erenburgs Roman Tauwetter von 1954 schilderte die individuellen Zweifel der jüngeren sowjetischen Generation an den herrschenden Normen und verstand den Protest gegen die alte politische Ordnung als Prozess der Erwärmung, als ein symbolisches Aufschmelzen des stalinistischen Systems. Der Romantitel wurde bald zum Namensgeber einer ganzen Epoche.

    Zentrales Moment der Tauwetter-Ära war die Ent-Stalinisierung der sowjetischen Gesellschaft. Deren Anfang lässt sich mit der sogenannten Geheimrede Chruschtschows auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 assoziieren, in der dieser den Personenkult um Stalin anpragerte und – bis zu einem gewissen Maße – mit dem stalinistischen Terror abrechnete. Dieser Kurs wurde einige Jahre später mit der Entfernung des Leichnams Stalins aus dem Mausoleum sowie der Verbannung seines Namens aus der Öffentlichkeit fortgeführt. Entscheidend waren in diesem Prozess ebenso die Freilassung von Millionen politischer Häftlinge aus den Lagern und erste Ansätze ihrer Rehabilitation.

    Insgesamt veränderte sich im Tauwetter unverkennbar die Beziehung der Bevölkerung zum Regime, sodass nun eine Revitalisierung des öffentlichen Lebens und der Kultur einsetzte. Deutliche Lockerungen im Umgang mit Rede- und Publikationsfreiheit erweiterten nicht nur die künstlerischen Möglichkeiten und führten zu einem neuen, aufrichtigen Ton in der Literatur, sondern erlaubten auch die literarische Enttabuisierung des Gulag und des stalinistischen Terrorregimes. Neben den Texten von Alexander Solschenizyn, dessen Lager-Erzählung „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ 1962 zum ersten Mal erscheinen konnte, waren es besonders Lyriker wie Jewgeni Jewtuschenko oder Bella Achmadulina, in deren Gedichten soziales Engagement artikuliert und transportiert wurde. Öffentliche Literaturlesungen wie etwa beim 1958 errichteten Majakowski-Denkmal zogen oftmals Tausende von zumeist jungen Besuchern an und schufen ein Forum für die aufkommende Gegenöffentlichkeit.

    Die Entstehung einer unangepassten, urban geprägten Jugendkultur zu dieser Zeit hatte zudem mit der zarten Tendenz einer „Verwestlichung“ der sowjetischen Kultur der 50er und 60er Jahre zu tun. Sie äußerte sich in einem neuartigen Interesse für Mode, Jazz oder westlich geprägte Identitätsentwürfe – wie der aufkommenden Hooligan-Kultur oder den sogenannten Stiljagi. War die Sowjetunion unter Stalin streng von der westlichen Hemisphäre isoliert, so  ergaben sich nun neue Kontaktmöglichkeiten mit dem Ausland: So gelangten, etwa durch heimkehrende Soldaten oder über das Baltikum, westliche Konsumgüter in die Sowjetunion. Aber vor allem waren es Ausstellungen und Festivals, die in Moskau organisiert wurden und dem kulturellen Austausch dienten. Dazu gehörten z. B. die Weltjugendspiele 1957, zu denen weit über 30.000 Menschen aus aller Welt strömten, oder die amerikanische Nationalausstellung 1959.

    Allerdings wäre es irreführend, die Tauwetterzeit historisch einseitig als Phase einheitlicher und umfassender Liberalisierung zu romantisieren. Restriktive und liberale Tendenzen wechselten sich – auch aufgrund von Chruschtschows oft sprunghaften Entscheidungen – ständig miteinander ab, sodass es sich vielmehr um eine Reformationsphase des sozialistischen Experiments handelte. Zudem kannten und nutzten den Begriff Tauwetter nur die besser gebildeten, urbanen Schichten. Die Verhaftung des Dichters Joseph Brodsky und der Prozess gegen die Autoren Daniel und Sinjawski bildeten ab Mitte der 60er Jahre den Auftakt für eine Phase der Restauration unter Breshnew, die später als Epoche der Stagnation bis in die 80er Jahre dauerte.

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    Marietta Tschudakowa

    Auflösung der Sowjetunion

  • Wolgograd (Stalingrad)

    Wolgograd (Stalingrad)

    Die südrussische Stadt Wolgograd ist als Stalingrad durch das Inferno im Zweiten Weltkrieg in die Weltgeschichte eingegangen, hatte jedoch im Zarenreich einen anderen Namen tatarischen Ursprungs. Heute wird versucht, wieder stärker an die sowjetische Vergangenheit der Stadt anzuknüpfen, vor allem dadurch, dass die Stadt zu bestimmten Feiertagen wieder Stalingrad heißen darf.

    Der Name Stalingrad ist zu einem Synonym für den Zweiten Weltkrieg geworden. Allerdings wird man auf heutigen Landkarten vergeblich nach der „Stadt Stalins“ (grad ist ein altrussisches Wort für Stadt) suchen, da sie 1961 in Wolgograd umbenannt wurde. Stalingrad war aber nicht der ursprüngliche Name der Industriestadt an der unteren Wolga: In der ersten urkundlichen Erwähnung wurde die Siedlung 1589 als Zarizyn bezeichnet. Der Name Zarizyn hatte nichts mit den Zaren zu tun, sondern leitete sich aus dem tatarischen Namen eines Nebenflusses der Wolga ab.

    Im Zuge landesweiter topographischer Umbenennungen bekam die Stadt zu Ehren Stalins, der hier im Bürgerkrieg als Armeekomissar gedient hatte, 1925 den Namen Stalingrad. In die Weltgeschichte ist die Stadt vor allem durch die Vernichtung der deutschen 6. Armee im Zweiten Weltkrieg eingegangen, was nach gängigen Deutungen als ein historischer Wendepunkt gilt. Während der Schlacht 1943 wurde die Stadt fast vollständig zerstört.1

    Nach dem Tod Stalins begann mit dem Tauwetter eine neue Periode in der sowjetischen Geschichte. Die stalinistischen Verbrechen wurden von Chruschtschow angesprochen, die Lager wurden geöffnet und kritische Meinungen zum Erbe des Stalinismus konnten geäußert werden.2 Im Zuge der Ent-Stalinisierung wurde auch Stalingrad umbenannt. Allerdings entschied man sich nicht für den historischen Namen, sondern für eine Neuschöpfung, die die Bedeutung der Lage an der Wolga unterstreichen sollte. Seit 1961 heißt die Stadt deshalb Wolgograd.

    In jüngster Zeit wird im Zuge eines zunehmenden Patriotisierungskurses versucht, auf die sowjetische Vergangenheit der Heldenstadt Bezug zu nehmen. So wurde die Stadt zum 70. Jubiläum des Tags des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg auf Beschluss der städtischen Duma für einen Tag in Stalingrad umbenannt. Diese Aktion soll nun zu den kriegsbezogenen Feiertagen wiederholt werden. Eine Petition, die Stadt wieder nach Stalin zu benennen, wurde von mehr als 50.000 Personen unterzeichnet, jedoch wird diese Idee von den lokalen Behörden und Präsident Putin derzeit nicht unterstützt.3

    Die Statue Mutter-Heimat vor der Kulisse Wolgograds. Foto – Mamaev kurgan (ОКН) © volganet.ru unter CC BY 3.0

    1. vgl. von Scheliha, Wolfram (2003): „Stalingrad“ in der sowjetischen Erinnerung, in: Jahn, Peter (Hrsg.): Stalingrad Erinnern: Stalingrad im deutschen und im russischen Gedächtnis [Ausstellung 15. November 2003 – 29. Februar 2004], Berlin, S. 24–32; zu der Schlacht um Stalingrad siehe Ueberschär, Gerd R. (1993): Stalingrad – eine Schlacht im Zweiten Weltkrieg, in: Wette, Wolfram (Hrsg.): Stalingrad: Mythos und Wirklichkeit einer Schlacht, Frankfurt am Main, S. 18–41 ↩︎
    2. vgl. zum Beispiel Kozlov, Denis (2006): Naming the Social Evil: The Readers of Novyi mir and Vladimir Dudintscev’s Not By Bread Alone: 1956–1959 and beyond, in: Jones, Polly (Hrsg.): The Dilemmas of De-Stalinization: Negotiating cultural and social change in the Khrushchev Era, London, S. 80–98 ↩︎
    3. The Guardian: Stalingrad name may return to city in wave of second world war patriotism ↩︎

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  • Stalins Follower

    Stalins Follower

    Angeblich „immer mehr Russen befürworten die stalinistischen Repressionen“, so lautete die erstaunliche Botschaft im Kommentarverlauf zur jüngsten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum. Allerdings war das, offen gestanden, gar nicht direkt gefragt worden. Es würde ja wohl auch kaum einem Menschen klaren Verstandes und mit nur einem Fünkchen Gewissen in den Sinn kommen, sich mit jemand wie Pol Pot auf freundschaftlichen Fuß zu stellen, in Anbetracht der Zahl seiner Opfer. Dennoch ist und bleibt es eine Tatsache, dass immer mehr Russen dem geschichtsträchtigen Generalsekretär gegenüber positiv eingestellt sind.

    Sie sind bereit, ihm Denkmäler zu errichten, nach ihm benannte Museen zu gründen und seine strategischen Leistungen im Krieg zu preisen. Bisher sind diese seine Neu-Anhänger oder „Follower“ (das Wort fiel mir ein, nachdem ich den blutrünstigen Thriller The Following gesehen hatte, den ich nicht empfehle, der aber daran erinnert) Gott sei Dank noch nicht die Mehrheit. Sondern die Minderheit. Sie treten jedoch als eine gut organisierte und äußerst aktive, um nicht zu sagen erboste Gruppe auf. Was zumindest an der enormen Anzahl von Kommentaren zu sehen ist, die sie unter jedem Themen-Artikel hinterlassen.

    Mal schlagen sie dem Autor vor, er soll sich seine „Bürne anne Wand einhaun“, weil er sich gegen jegliche Diktatur ausspricht. Mal soll er sich in ohnmächtigem Zorn lieber gleich aufhängen, denn, so heißt es da, „bald benennen wir Wolgograd wieder in Stalingrad um“. Und dem mythischen Drachen namens Stalin raten sie, endlich aufzuräumen mit all den Betrügern und Bürokraten. Mit der Fünften Kolonne. Mit der Ukraine. Und auch gleich noch mit der jüdischen Mafia, das ist ja bei uns schon Tradition. Das darf nicht fehlen.

    Aber machen wir uns nichts vor: Gewiss hätte keiner der Follower seine eigenen Töchter und Söhne den treuen Mitstreitern Stalins – Jagoda, Jeshow und Berija – zum Fraß vorgeworfen. Ebenso unvorstellbar wäre für sie, dass die oben erwähnten Genossen, wenn sie sich, wie von den Followern unmissverständlichen erwünscht, materialisierten, nachts bei ihnen in der Wohnung auftauchen und klären würden, was da so läuft, wie es in den unvergesslichen 1930ern geschah. Nicht den realen Stalin beten sie an – den kleingewachsenen, nicht akzentfrei russischsprechenden Georgier mit der verkümmerten Hand –, sondern den anderen, den aus dem Kino, den klugen, im weißen Dienstrock, der wortgewandt jeden beliebigen Intelligenzling am Telefon zu Tode erschrecken konnte: „Auf der Sssscchhtelle wird Genosse Stalin mit Ihnen sprechen.“ Ich gebe zu, auch ich liebe dieses Motiv, von dem sich unsere Generation garantiert niemals befreien können wird.

    Nehmen wir zum Beispiel den berühmten antisowjetischen englischsprachigen Film Der rote Monarch (Red Monarch, 1983). Ach, was war das für ein toller Stalin, ein rechter Schelm in einer echten Schelmenposse. Wie er da ärgerlich die Porträtbüste Lenins anschaut, der ihm selbst nach dem Tod noch die Liebe des Volkes wegfrisst.

    Sieht ihm das ähnlich? Klar. Ist das lustig? Klar.

    Oder der Stalin in Wassili Aksjonows Roman Moskwa-kwa-kwa, seinem besten, wie ich finde. Folgende Szene: Winter, Schneegestöber, der protzige Schriftsteller Smeltschakow, der in dem berühmten Hochhaus an der Kotelnitscheskaja-Uferstraße in Moskau wohnt, trinkt armenischen Kognak der Marke Ararat und stößt übers Telefon mit Genossen Stalin persönlich an. „Ararat ist Scheiße“, sagt ihm sein nächtlicher Trinkgenosse Stalin. „In einer halben Stunde bekommst du eine Kiste Gremi. Trink meinetwegen solange noch deinen scheiß Ararat, dann machst du weiter mit Gremi.“ Und dann plaudern sie über den „Bluthund Tito“.

    Auch hier naive Malerei: der Traum der sowjetischen Elite vom intimen Verhältnis zur Macht. Und Aksjonow kann man nun wahrlich nicht als Stalinisten bezeichnen, sein Vater und seine Mutter wurden 1937 verhaftet, er verbrachte seine Kindheit im Heim. Nach 18 Jahren Lagerhaft (!) schreibt seine Mutter, Jewgenija Ginsburg, ihre Memoiren Krutoj marschrut (deutsch: Marschroute eines Lebens und Gratwanderung). Doch Stalin hatte sich ins Hirn eingebrannt, einerseits als Alptraum, andererseits als Märchenfigur. Und falls es einen gegeben hätte, so hätte er sehr gut einen wunderbaren Prototyp für Voland abgeben.

    Ja, diese Sichtweise gibt es. Ich unterstütze sie selbstverständlich nicht, denn ich empfinde diese Deutung als sehr platt. Aber wenn man sich Stalin als das personifizierte Schicksal der russischen Geschichte vorstellt, das das Gute nicht kennt, aber manchmal gerechten Einfluss ausübt (mit der Erschießung der großen Mehrheit von Dämonen der Revolution, der Mitläufer und Speichellecker), dann passt das Bild von Voland!

    Mit anderen Worten, Stalin ist mit uns. Er ist unser ein und alles. Und soll auch gefälligst mit uns verschwinden. Aber ihn in die Zukunft mitzuziehen, zu unseren Kindern, in Form von Denkmälern und einer Zurschaustellung irrationaler Liebe zur Gewalt – was könnte sinnloser und schlimmer sein? Was wollen sie denn damit sagen? Dass sie ihm furchtbar dankbar sind? Wofür? Wer durch die Hölle gegangen ist, der ist nicht dankbar. Die Opfer des Holodomor sind nicht dankbar. Nicht dankbar sind auch die „Millionen Opfer der Willkür des totalitären Staates“ – das ist nicht meine Formulierung, sondern ein Zitat aus dem Gesetz Nr. 1761 der Russischen Föderation vom 18. Oktober 1991. Die verbannten Kulaken (heute würden wir sie Landwirte nennen) sind nicht dankbar. Auch nicht die Bauern, die ihr gesamtes Leben in äußerster Armut und ohne Pässe verbrachten. Und wer nicht durch die Hölle gegangen ist, der wird wohl kaum was verstehen. Für ihn ist es ein historischer Holzschnitt.

    Oder gefällt ihnen die Gegenwart so sehr, dass sie bereit sind, sich vor den längst verwesenen Führern zu verbeugen, die sie hierher gebracht haben? Das kann ich nicht glauben. Denn sonst würden sie dem Autor nicht vorschlagen, sich seine „Bürne anne Wand einzuhaun“. Nicht gegen die Ukraine kämpfen, einen der wichtigsten Teile der UdSSR. Und würden nicht das Beil gegen die Oligarchen schwingen. Unsere Gegenwart ist auch für Stalins Follower kein Zuckerschlecken.

    Wesentlich ist etwas anderes. Worin genau sind sie sich einig, wenn sie über Stalin diskutieren? Darin, dass es Ideen gibt, für die es sich lohnt, Millionen umzubringen, damit andere Millionen überleben und sich freuen? Oder darin, dass es eine „Gerechtigkeit“ eines Herrschers gibt, die höher steht als die Wahrheit, höher als die Humanität, höher als Gesetze und höher als jedes Gericht? Dass das Bespitzeln von Mitmenschen bis hin zur Denunziation und zum Abtransport in die Folterkammer normale Praxis ist und eine normale Moral?

    Ich weiß es nicht. Da setzt sich dieser durchgeknallte Enkel Jewgeni Dschugaschwili hin und schreibt Klagen. Auf formaler Grundlage: Schau mal, in Nürnberg wurde die Erschießung von Zehntausenden polnischer Offiziere in Katyn nicht [als sowjetisches Verbrechen] verurteilt. Folglich sind alle, die dies als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit betrachten und als persönliches Verbrechen Stalins, ohne dessen Sanktionen so etwas nicht möglich gewesen wäre, selbst Verbrecher laut Artikel 354.1 (Rehabilitierung des Nazifaschismus), Strafgesetzbuch der Russischen Föderation. Und haben so zwei, drei Jährchen verdient …

    Er schwärzte den Historiker Feldman an. Dann den Historiker Zharkow. Er tippt und tippt. Die Verbrecher sind seiner Meinung nach nicht diejenigen, die Zehntausende ohne Gerichtsverhandlung und ohne Untersuchung erschossen. Auch nicht unsere Zeitgenossen, die dies für richtig halten, für gerechtfertigt oder als nie dagewesen, nie passiert abtun usw. Sondern die Historiker, die Publizisten, die gelegentlich daran erinnern … Erstaunlich!

    Obwohl, eigentlich sollten wir Dschugaschwili dem Jüngeren dankbar sein. Dafür, dass er, selbst ein Follower, ja geradezu die Quintessenz der Followerschaft, den anderen Followern eine klare Perspektive für ihren Neostalinismus aufgezeigt hat. Und sie auch uns anderen gezeigt hat. Ohne eine deutliche juristische und moralische Bewertung („Jetzt entscheidet euch doch endlich, habt euch nicht so, dann seid ihr mich auch wieder los!“) unserer politischen Vergangenheit haben wir keine Chance, in die Zukunft zu gehen.

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