Akribisch und detailversessen forscht und gräbt er in Archiven und in Erdhügeln nach Toten aus der Zeit des Großen Terrors. Er sorgt dafür, dass die Ermordeten und anonym Begrabenen wieder einen Namen und einen Gedenkort bekommen.
Juri Dmitrijew, Leiter von Memorial in Karelien, hat mit seinen Nachforschungen ein Tabu gebrochen. Denn bis heute ist die Zeit des Großen Terrors kaum aufgearbeitet.
Am 13. Dezember 2016 wurde Juri Dmitrijew verhaftet. Der ungeheure Vorwurf lautet: Kinderpornographie. Dabei werden ihm Fotografien zur Last gelegt, die er vor einigen Jahren von seiner Pflegetochter machte. 2008 hatte er das damals dreijährige Mädchen zu sich genommen. Nach den Anschuldigungen wurde das Kind aus der Familie genommen und ein Kontaktverbot verhängt. Dmitrijew bestreitet die Vorwürfe vehement und gibt an, mit den fraglichen Fotografien bloß die korrekte körperliche Entwicklung der erkrankten Tochter dokumentiert zu haben.
Die Vorwürfe und der Prozess erregten großes Aufsehen, viele Beobachter zweifeln die Beschuldigungen an, glauben an eine Kampagne, um Dmitrijew zum Schweigen zu bringen. Ende Dezember 2017 wurde eine psychiatrische Untersuchung angeordnet, Dmitrijew wurde dazu nach Moskau geflogen. Dort saß er im berüchtigten Butyrka-Gefängnis ein. Am 27. Januar wurde Juri Dmitrijew aus der Untersuchungshaft freigelassen, nach mehr als einem Jahr hinter Gittern. Im Februar ist seine nächste Anhörung vor Gericht.
Anna Jarowaja von 7×7 traf ihn zuhause in Petrosawodsk.
Sagen wir mal so: Ich habe meine Zeit nicht vergeudet. Auch meinen Kampfgeist habe ich nicht verloren. Wenn man in eine Lage gerät, die ungewiss und schwierig ist und an der man nichts ändern kann, dann muss man seine Einstellung dazu ändern. Das habe ich getan.
Womit haben Sie sich beschäftigt?
Zunächst mal weiß ich ziemlich viel über dieses Gefängnis. Ich kenne die Schicksale von vielen Menschen, die dort zwischen 1937 und 1938 waren. Ich kenne Menschen, die durch diese Flure gegangen sind, in diesen Zellen gesessen haben, auch in der, in der ich einsaß. Ich verstehe jetzt, wie es diesen Menschen damals ergangen ist, wie es war, dort eingesperrt zu sein, was in ihnen vorging, was sie gefühlt haben.
Wenn man in eine Lage gerät, an der man nichts ändern kann, muss man seine Einstellung dazu ändern. Das habe ich getan
Auch sie wurden ja aufgrund von Denunziationen und falschen Anschuldigungen ins Gefängnis geworfen. Auch sie hat man angelogen, ihren Familien entrissen, als Volksverräter beschimpft, als Spione, Konterrevolutionäre und so weiter.
Ich verstehe jetzt, woran sie gedacht haben, als sie diese Decke oder den Fußboden angestarrt haben oder während sie über diese Flure gegangen sind. Wie sie sich danach gesehnt haben, ihre Liebsten zu sehen … Wie sehr es sie verletzte, dass man sie als Verräter hinstellt.
Ich will keine Prognosen aufstellen, aber ich kann mir gut vorstellen, wenn nicht ein ganzes Buch, so wenigstens ein Kapitel über die Menschen zu schreiben, die in diesem Gefängnis waren.
Wieder zuhause – Dmitrijew mit der erwachsenen Tochter Katja und den Enkeln
Haben Sie die Unterstützung von außen vor Gericht gespürt?
Das war eine gewaltige Unterstützung. Das berührt einen tatsächlich sehr. Und es gibt dir eine gewisse Hoffnung, dass sie dich nicht zerdrücken können, selbst wenn sie noch so wollen. Deshalb bin ich allen dankbar, die gekommen sind. Tatsächlich gab es ja nicht nur eine Sitzung, sondern es waren an die 30. Du sitzt da unten [im Gericht, 7×7], wartest, dass man dich nach oben bringt, die Wärter unterhalten sich darüber, dass sie gleich wieder vor die Kameras müssen, vor das applaudierende Publikum. Und ich: „Richtig, Jungs. Putzt euch die Federn, die Stiefel, dass alles schön glänzt!”
Das Wachpersonal war jedes Mal ein anderes. Haben sie sich auf irgendetwas vorbereitet?
Die haben da ihre ganz eigenen Anweisungen. Einen kleinen Dieb kommen vielleicht mal ein paar Kumpels besuchen. Und da ist plötzlich der ganze Flur voll mit Leuten. Wer weiß, was die da wollen. Und dann klatschen die auch noch. Was soll man davon halten? Wenn da so ein Waldschrat in Handschellen abgeführt wird. (lacht)
Plötzlich der ganze Flur voll mit Leuten. Und dann klatschen die auch noch. Was soll man davon halten?
Nicht auszudenken …
Ja, nicht auszudenken. Später, als die FSIN-Leute wissen wollten, warum alle applaudieren, habe ich zu ihnen gesagt: „Jungs, diese Menschen hier – sie sind das Gewissen Russlands. Sie haben ihre Angst überwunden und sind hergekommen, um mich zu unterstützen.“ Naja, der eine oder andere fängt vielleicht an nachzudenken, aber die meisten verstehen das nicht.
Seit Beginn der Gerichtsverhandlung am 1. Juni [2017], welche Momente waren besonders hart? Welche Zeit war die schwerste?
Das Schwerste waren wahrscheinlich die Gespräche mit meinem Ermittler. Das war noch vor den Verhandlungen. Das Gericht ist dann die Institution, die sich mit dem auseinandersetzt, was er aufschreibt und was gesagt wurde.
Diese Menschen hier – sie sind das Gewissen Russlands
Der Löwenanteil des Erfolgs vor Gericht gehört der Arbeit meines Anwalts. Er hat alles sehr intelligent aufgebaut, wir waren ständig in Kontakt, er hat mich von so manchem Auftritt und harten Worten [vor Gericht, 7×7] abgehalten.
Als man Sie in die Psychiatrie brachte, dachte niemand, dass das alle so schnell ein Ende nimmt.
Ich denke, dass die öffentlichen Appelle doch eine Rolle gespielt haben. Schließlich gab es mehrere direkt an den Präsidenten. Es ging dabei nicht darum, mich freizusprechen, aber doch zumindest nach dem Gesetz zu handeln und nicht so, wie man gerade Lust hat.
Es ist jedenfalls offensichtlich, dass es ein Signal von oben gab. Denn das ging so rapide: mit dem Flugzeug dorthin und wieder zurück.
„Ich werde meine Kinder und Enkel erziehen und Bücher schreiben“
Was werden Sie als Nächstes tun? Während Ihrer Zeit in Haft sind zwei Bücher von Ihnen erschienen. Was nun? Ein neues Buch? Ein neues Thema?
Leider wurde ich verhaftet, als ich kurz davor war – zwei Wochen, vielleicht etwas mehr –, die Arbeit der letzten zehn Jahre abzuschließen – ein Buch über die Sonderumsiedler von Karelien. Mir fehlten nur noch ein paar Kapitel. Jetzt werde ich versuchen, die bisherige Arbeit zu rekonstruieren und alles abzuschließen. Ich werde meine Kinder und Enkelkinder erziehen, Bücher schreiben, also das tun, was ich vorher auch getan habe.
Bücher, also …
Ich weiß nur eins: Ich muss zusehen, dass ich dieses Buch beende, weil den Menschen noch 126.000 Namen [von Sonderumsiedlern, 7×7] zurückgegeben werden müssen, die von allen schon lange und gründlich vergessen sind. Und mit „alle“ meine ich die staatlichen Strukturen.
Diese Menschen wurden irgendwo enteignet, von irgendwo hierher gebracht. Mehr als die Hälfte wurde hier ermordet, in Waldgräbern verscharrt. Geblieben sind ihre Nachkommen, das ist etwa ein Viertel der heutigen Bevölkerung in Karelien – diesen Nachkommen will ich Informationen über ihre Großmütter, Urgroßmütter, Urgroßväter geben. Woher sie stammen, wo ihre Wurzeln sind, wo ihre Familien herkommen.
Ich will erzählen, wie diese Menschen hier hergebracht wurden, wer sie damals enteignet hat. Was man hier mit ihnen gemacht hat, wo sie umgebracht wurden, wo sie begraben sind.
Den Menschen müssen noch 126.000 Namen zurückgegeben werden, die von allen schon lange und gründlich vergessen sind
Solche Grabstätten wie Krasny Bor, Sandarmoch – wir haben hier in Karelien leider mindestens 30 davon. Und so sehr wir auch wollen, wir, das heißt meine Freunde und ich, haben einfach weder genug Ressourcen noch Zeit, diese Grabstätten zu pflegen. Also will ich die Nachfahren zusammenbringen, wenigstens anhand der Sondersiedlungen. Sie sollen sich informieren können, hinfahren, irgendetwas aufstellen auf diesen Friedhöfen.
Ihr Fall jedenfalls ist noch nicht abgeschlossen. Und keiner weiß, wie es ausgeht.
Ja, das weiß niemand. Erstmal bin ich hier.
Patronen einer Browning-Pistole in den Händen von Juri Dmitrijew. Er fand sie 2004 zwischen den Überresten von 26 Menschen
Plötzliches Aus für The Death of Stalin: Auf Geheiß des Kulturministeriums darf der britische Film nicht in die russischen Kinos – wegen „Verbreitung illegaler Informationen“. Der Beschluss fiel nur zwei Tage vor dem geplanten Filmstart in Russland am 25. Januar.
Am Vorabend der Entscheidung wurde die schwarze Komödie einem auserwählten Kreis gezeigt – darunter waren Mitglieder des Kulturministeriums, der Historischen Gesellschaft Russlands, der Staatsduma sowie einzelne Filmemacher wie der Regisseur und Schauspieler Nikita Michalkow. Einige davon wandten sich laut der Nachrichtenagentur TASS nach der Vorführung in einem Brief an Kulturminister Medinski und baten ihn darum, den Film nicht in russische Kinos zu lassen.
Am Dienstag zog das Kulturministerium die Verleiherlaubnis wieder zurück. In der Begründung hieß es, dass der Film „in Russland verbotene Informationen enthalte“. Der schottische Regisseur Armando Ianucci hat inzwischen gegenüber dem Guardian seine Hoffnung geäußert, dass die schwarze Komödie – die auf einer Graphic Novel von Fabien Nury und Thierry Robin basiert – doch noch ins russische Kino kommt.
Verhöhnt der Film die Opfer des Stalinismus? Oder sind diese Gründe nur vorgeschoben, Russland noch immer ein „stalinistisches Land“? Wäre es nicht sogar heilsam, über die historischen Traumata zu lachen? dekoder bringt Debatten-Ausschnitte aus russischen Medien.
Rossijskaja Gaseta: Verhöhnung der Opfer
Die Regierungszeitung Rossijskaja Gaseta zitiert Kulturminister Wladimir Medinski:
[bilingbox]Ohne Frage: Viele Menschen der älteren Generation, und nicht nur sie, empfinden [den Film] als beleidigende Verspottung der gesamten sowjetischen Vergangenheit, des Landes, das den Faschismus besiegt hat, der sowjetischen Armee und der einfachen Leute und sogar – und das ist das ekelhafteste – der Opfer des Stalinismus.
Es gibt bei uns keine Zensur. Wir haben keine Angst vor einer kritischen und unbefangenen Bewertung unserer Geschichte … Mehr noch – hohe Ansprüche, ja sogar Entschiedenheit in der Selbstbeurteilung haben in unserer Kultur Tradition. Doch es gibt eine moralische Grenze zwischen kritischer Geschichtsanalyse und Hohn.
Das Kulturministerium hatte den Filmverleih auch auf die außerordentliche Unangemessenheit aufmerksam gemacht, einen solchen Film unmittelbar vor dem 75. Jahrestag des historischen Siegs von Stalingrad in die Kinos zu bringen. Der Verleiher hat nicht auf uns gehört.~~~Нельзя не согласиться: многие люди старшего поколения, да и не только, воспримут его как оскорбительную насмешку над всем советским прошлым, над страной, победившей фашизм, над Советской армией и над простыми людьми – и, что самое противное, даже над жертвами сталинизма. У нас нет цензуры. Мы не боимся критических и нелицеприятных оценок нашей истории… Более того, требовательность, даже категоричность в самооценке – традиция нашей культуры. Но есть нравственная граница между критическим анализом истории и глумлением над ней. Минкультуры обращало внимание прокатчика и на крайнюю неуместность выхода подобной картины на экраны в канун 75-летия исторической победы под Сталинградом. Нас прокатчик не услышал.[/bilingbox]
erschienen am 23. Januar 2018
Republic: Über Stalin wird nicht gelacht!
Andrej Archangelski überlegt auf dem unabhängigen Portal Republic, warum über Stalin nicht gelacht werden darf:
[bilingbox]Vergleichbares hat es bei uns selbst in verschleierter Form seit den 1990ern nicht gegeben. Es gab seitdem keinen Versuch, den Stalinismus distanziert zu betrachten – vom Standpunkt normaler menschlicher Reaktionen auf Gewalt, mit den Augen eines normalen Menschen und nicht denen des Staates.
Man darf Stalin beschimpfen, aber man darf nicht über ihn lachen – das ist offenbar das größte Tabu. Die Eile des Verbotes bestätigt diese Hypothese: Als wäre Lachen über Stalin ein gefährlicher Virus, dessen Verbreitung schleunigst eingedämmt werden muss, koste es, was es wolle.
[…] denn Stalin zu verspotten heißt, die Macht als solche zu verspotten – und das ist unzulässig. ~~~[…] ничего похожего даже в иносказательной форме у нас не было с 1990-х годов. Не было с тех пор попытки посмотреть на сталинизм отстраненно – с точки зрения обычных человеческих реакций на насилие, глазами обычного человека, а не государства. Сталина можно ругать, но над ним нельзя смеяться – это, по-видимому, и есть главное табу. И стремительность запрета подтверждает эту гипотезу: словно бы смех над Сталиным – опасный вирус, чье распространение нужно немедленно купировать, не считаясь со средствами. […] потому насмешка над Сталиным означает насмешку над властью как таковой – что недопустимо.[/bilingbox]
erschienen am 24. Januar 2018
Moskowskij Komsomolez: Stalin bleibt Zankapfel
Auch das Boulevardblatt Moskowski Komsomolez kann nicht verstehen, weshalb man über Stalin nicht lachen sollte:
[bilingbox]Unsere Zuschauer sind kompliziert. Sie sind schon ohnehin bereit, über alles unbesehen ein Urteil zu fällen – und nun auch noch so eine Steilvorlage. Stalin bleibt ein Zankapfel: Ist er ein Mörder oder ein Retter? Da hat man sich bei uns noch nicht endgültig festgelegt. In den letzten Jahren gab es eine Schwemme von neuen pseudopatriotischen Werken, in denen die stalinsche Epoche in Glanz und Gloria dargestellt wird. Und die Studenten der Filmhochschulen, die sich den ganzen Schmonz angeschaut haben, setzen diese Arbeit am laufenden Band fort. Ist es denn nicht besser, die eigenen Hirngespinste durch Lachen loszuwerden?~~~Зрители у нас сложные. Не видя, уже готовы осудить все что угодно, а тут такой благодатный материал. Сталин остается яблоком раздора. Убийца он или спаситель? С этим у нас окончательно не разобрались. В последние годы валом снимаются псевдоисторические опусы, где сталинская эпоха представлена в гламуре. А студенты киновузов, насмотревшись всякой дребедени, продолжают штамповать приблизительное кино на эту тему. Не лучше ли через смех избавиться от собственных фантомов?[/bilingbox]
erschienen am 23. Januar 2018
Izvestia: Was würden denn die Briten sagen?
In der kremlnahen Izvestia dagegen findet der Leiter der Russischen militärhistorischen Gesellschaft Wladislaw Kononow gleich mehrere gute Gründe für ein Verbot des Films:
[bilingbox]Dieser Film ist abscheulich. […] Abscheulich gar nicht so sehr deshalb, weil es dort keine einzige positive Rolle gibt, sondern weil dies eine abscheuliche Parodie auf die ganze Zivilisation Russlands ist. Genau so stellen sich die Autoren die russische Geisteshaltung vor, so, glauben sie, arbeite unser Staatsapparat … Ich kann mir nur schwer einen ähnlichen russischen Film über die britische Königsfamilie vorstellen, der in den britischen Verleih kommt. Das Einfachste, was man in dieser Situation machen kann, ist, den Verleih zu verbieten.~~~Фильм этот откровенно мерзкий. […] Мерзкий даже не тем, что там нет ни одного положительного персонажа, а потому что это мерзкая пародия на всю российскую цивилизацию. Именно так авторы представляют себе российскую ментальность, так, по их мнению, работает наш управленческий аппарат… Мне сложно представить подобный российский фильм, снятый о британской королевской семье и выходящий в британский прокат. Самое легкое, что можно сделать в данной ситуации, — это запретить его к показу.[/bilingbox]
erschienen am 23. Januar 2018
Tass: Experten haben geurteilt
Ob der Debatte hat sich auch Kreml-Sprecher Dimitri Peskow geäußert, um die Entscheidung zu verteidigen. Die Nachrichtenagentur Tass gibt den Wortlaut wieder:
[bilingbox]Das ist das Vorrecht des Kulturministeriums: Dort gibt es einen Expertenrat, und ausreichend viele dieser Experten haben sich den Film angesehen und sind zu einem entsprechenden Schluss gekommen. Das Kulturministerium kann die Meinungen seiner ehrenamtlichen Experten, die sich speziell dafür versammeln, nicht ignorieren. Im Übrigen ist das ein Vorrecht dieser Behörde. ~~~Это прерогатива Министерства культуры, там есть экспертный совет, эксперты в достаточно большом количестве посмотрели этот фильм и пришли к определенным выводам. Министерство культуры не может не учитывать точку зрения своих экспертов, общественников, которые для этого и собираются. В остальном это прерогатива ведомства[/bilingbox]
erschienen am 24. Januar 2018
The Insider: Ein stalinistisches Land
Für den Filmkritiker und Chefredakteur des Filmmagazins Iskusstwo Kino, Anton Dolin, dagegen ist das Verbot ein trauriges Eingeständnis, wie er auf dem unabhängigen Portal The Insider schreibt:
[bilingbox]Großzügig ausgelegt handelt es sich um das Eingeständnis des Staates und der in diesem Land für das Verbot verantwortlichen Staatsbeamten, dass dies ein stalinistisches Land ist, und dass ein Film, der den Diktator und den Moment seines Todes ironisch zeigt, auf unseren Leinwänden unzulässig ist. Dieser Logik zufolge muss in Deutschland Charlie Chaplins Der große Diktator verboten werden. Er war auch verboten, solange Hitler am Leben war, aber nach Kriegsende wurde er gezeigt, und es wurde gelacht wie in allen anderen Ländern.
Was ist hier also los? Es ist doch nur Kino – ein Spielfilm, der nicht von sich behauptet, dokumentarisch zu sein, seine historische Genauigkeit ist nicht wichtig. Man kann ihn bewerten, wenn er rauskommt, Kritiken schreiben, zum Beispiel: „Er ist historisch ungenau“, oder darüber streiten, ob er genau ist oder nicht. Jedoch soll und kann das kein Grund für ein Verbot sein.~~~Расширительно можно это толковать как некое признание государства, тех чиновников, которые отвечают в стране за этот запрет, что у нас сталинистская страна, и фильм, который иронически показывает диктатора и момент его смерти, непозволителен на наших экранах. По этой логике в Германии должны запрещать «Великого диктатора» Чарли Чаплина. Его и запрещали, пока Гитлер был жив, но когда война закончилась, показывали и смеялись, как и весь остальной мир. Что тут такого? Это всего лишь кино — игровой фильм, не выдающий себя за документальный, его историческая точность совершенно не важна. Ее можно оценивать, когда картина выйдет, писать на него рецензии, например: «он исторически неточен» или спорить, точен он или нет. Однако, с моей точки зрения, это не должно и не может быть поводом для запрета.[/bilingbox]
erschienen am 23. Januar 2018
Vedomosti: Totaler Krieg der Befindlichkeiten
Pawel Aptekar warnt im Wirtschaftsblatt Vedomosti die Kritiker des Films vor den Geistern, die sie rufen:
[bilingbox]Der Schriftsteller Juri Poljakow, die Regisseure Nikita Michalkow und Wladimir Bortko und andere nennen den Streifen in ihrem Brief an Minister Wladimir Medinski eine „böse und absolut unangebrachte ,Komödie‘, die das Gedenken an unsere Bürger beschmutzt, die den Faschismus besiegt haben“ […] Den Autoren des Briefes an das Kulturministerium ist vielleicht nicht klar, dass sich ihre Initiative irgendwann auch gegen sie selbst wenden könnte: Innerhalb eines totalen Krieges der Befindlichkeiten finden sich sicher welche, die bereit sind, beleidigt zu sein, nachdem sie nochmals Bortkos Hundeherz oder Michalkows Zitadelle geschaut haben oder nochmals Poljakows frühe Erzählungen lesen.~~~Писатель Юрий Поляков, режиссеры Никита Михалков и Владимир Бортко и другие в письме министру Владимиру Мединскому назвали ленту «злобной и абсолютно неуместной якобы «комедией», очерняющей память о наших гражданах, победивших фашизм» […] Авторы письма в Минкульт, возможно, не поняли, что их инициатива может когда-нибудь обернуться и против них самих: в рамках тотальной войны чувств наверняка найдутся готовые оскорбиться, пересмотрев «Собачье сердце» Бортко, «Цитадель» Михалкова или прочитав ранние повести Полякова.[/bilingbox]
Wie ist das zu erklären: Das renommierte Lewada-Institut hatte im vergangenen Jahr nach der herausragendsten Persönlichkeit Russlands gefragt. 38 Prozent der Befragten nannten Stalin, damit landete der einstige Diktator auf Platz 1, vor Puschkin und Putin.
Die Politologin Ekaterina Schulmann geht auf Inliberty diesen Zahlen nach und damit der Frage: Warum ist Stalin so beliebt? Und sie stellt die Gegenfrage: Ist er das überhaupt?
Schon seit 2002 gibt es in einer Stadt in Dagestan eine Straße namens Stalin-Prospekt. Sie erhielt diesen Namen auf Initiative des Bürgermeisters – und nicht etwa, weil die Bürger gedroht hätten, andernfalls das Rathaus in Brand zu setzen.
Wenn man die Aktionen, Maßnahmen und Bekundungen anschaut, die sich als Anzeichen einer schleichenden Re-Stalinisierung oder einer Rehabilitierung Stalins deuten lassen, dann zeigt sich: Jeder dieser Fälle ist direkt oder indirekt von staatlicher Seite initiiert. Das sind keine private Initiativen. So werden die Stalin-Denkmäler, die in letzter Zeit auftauchen und deren Anzahl tatsächlich wächst, meist unter der Ägide des jeweiligen KPRF-Ortsverbands errichtet.
Jeder dieser Fälle ist direkt oder indirekt von staatlicher Seite initiiert. Das sind keine privaten Initiativen
Im Jahr 2009, in einer anderen politischen Epoche unter Präsident Medwedew, wurden bei der Restaurierung der Moskauer Metrostation Kurskaja folgende Worte der sowjetischen Hymne wiederhergestellt: „Uns erzog Stalin – zu Treue zum Volk“. Das rief Empörung hervor, wobei die Behörden argumentierten, dass das der historischen Wahrheit entspreche, dass lediglich in ursprünglicher Form wiederhergestellt werde, was hier einst gewesen sei.
Die Moskauer Metro ist seither bekanntlich zu einem mächtigen Instrument der prosowjetischen und stalinistischen Propaganda geworden: Züge mit Stalinportraits oder Aktionen wie solche im Rahmen des Geschichtsfestivals Zeiten und Epochen 2017. Dabei ist klar, dass all das nicht von unten, aus dem Volk, kommt, sondern von der Metro-Administration und dem politischen Management der Stadt Moskau und der Russischen Föderation.
2015 wurde in einem Holzhäuschen im Dorf Choroschewo ein Stalin-Museum errichtet, unter der Ägide des Kulturministeriums und mit persönlicher Billigung des Kulturministers.
In den Jahren 2014, 2015 und 2016 gab es in Moskau Kunstausstellungen mit Stalinportraits und Bildern aus der Stalinzeit, die die bolschewistischen Führer verherrlichten. Diese Kulturschätze wurden nicht etwa auf Verlangen des Kunstpublikums oder der Museumsmitarbeiter in der Tretjakow-Galerie gezeigt. Natürlich gibt es durchaus Menschen – und es ist wichtig sich darüber im Klaren zu sein – die aus eigener Initiative eine Stalinbüste auf ihrem Datschengrundstück aufstellen oder sogar bereit sind, für die Wiedererrichtung eines Stalindenkmals zu spenden.
Natürlich gibt es durchaus Menschen, die aus eigener Initiative eine Stalinbüste auf ihrem Datschengrundstück aufstellen
Worin besteht denn die Funktion der Staatspropaganda? Indem sie von einer hierarchisch höheren Position aus agiert, etabliert sie von oben eine Norm. Sie sagt dem Publikum, was richtig, was akzeptabel und was überhaupt möglich ist. Sie schafft den Kontext, der den Leuten klarmacht: dass es ungefährlich, wenn nicht gar lobenswert ist, mit einem Stalin-Plakat herumzulaufen. Dass die zahlreichen Schriften zu seiner Rehabilitierung, die in den Buchhandlungen aller russischen Städte ausliegen, nicht als extremistisch eingestuft werden. Dass all das normal ist, dass es nicht strafbar, sondern womöglich unterstützenswert ist.
Wenn es im Fernsehen und von staatlicher Seite heißt, man solle „niemanden dämonisieren und beide Seiten sehen, den Krieg haben wir ja schließlich gewonnen“, dann ist das ein Signal: Sowohl die, die tatsächlich positive Gefühle damit verbinden als auch die, die bisher keine Gefühle hatten, werden jetzt plötzlich welche haben; die, die bisher keine Meinung hatten, haben jetzt plötzlich eine, denn man hat ihnen gesagt, dass das normal und sogar gut ist.
Konformismus ist der psychologische Normalfall – das mag man betrüblich finden, dennoch ist es wahr. Es liegt in der Natur des Menschen, sich auf die Seite der Mehrheit zu schlagen und seine Meinung der landläufigen Meinung anzupassen. Deshalb tragen diejenigen, die im Namen des Staates, der allgemein Mächtigen sprechen, besondere Verantwortung. Das Fernsehen wird bei uns nicht als Informationsquelle, nicht als Nachrichtenmedium wahrgenommen, sondern als Stimme der Macht. So und nicht anders nehmen die Menschen es wahr.
Fernsehen wird bei uns nicht als Informationsquelle wahrgenommen, sondern als Stimme der Macht
2008 wurde der TV-Wettbewerb Russlands Name durchgeführt: Es ging um die hundert bedeutendsten Russen. Die Idee ging auf den BBC-Wettbewerb Hundred Greatest Britons zurück, doch sie wurde auf landestypische Weise umgesetzt. Die Fernsehzuschauer sollten die hundert bedeutendsten historischen Gestalten wählen. Von denen sollte dann am Schluss ein Sieger übrigbleiben. Damals wurde keine Mühe gescheut und hartnäckig der Eindruck erzeugt, beim Zuschauervotum habe „eigentlich“ Stalin gewonnen. Da das jedoch unerhört gewesen wäre, habe der Erste Kanalam Ergebnis herumgeschraubt und Alexander Newski zum Sieger gemacht.
Wie ist die Abstimmung damals wohl wirklich gelaufen? Wir haben seither an Erfahrung und Wissen gewonnen und können uns ungefähr vorstellen, wie eine sogenannte Willensbekundung des Volkes vonstatten geht, vor allem im Fernsehen. Doch hier ist das Modell vielleicht erstmals in dieser Deutlichkeit zu beobachten: „Sie wollen ihren Stalin, aber wir, die Machthaber, gehen vorerst noch nicht darauf ein. Wir versuchen noch, sie irgendwie zu besänftigen.“
Blicken wir der Wahrheit ins Auge: Wir haben es hier mit Staatspropaganda zu tun. Der Staat drängt uns eine bestimmte Vorstellung davon auf, was normal und akzeptabel, was gut und rühmlich, was groß und überragend ist. Diese Vorstellungen finden Anklang, weil sie im Namen der Regierung geäußert werden und sich teilweise auf tatsächlich vorhandene Bedürfnisse stützen.
Wie lassen sich diese Bedürfnisse beschreiben, die die reale Basis von Stalins Popularität darstellen?
Bestimmte Vorstellungen finden Anklang, weil sie im Namen der Regierung geäußert werden und sich teilweise auf tatsächlich vorhandene Bedürfnisse stützen
Diese Frage wurde mir erstmals bei einer Veranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin gestellt: „Wie kann es sein, dass Stalin im Volk beliebt ist?“
Wenn man direkt mit dieser Frage konfrontiert wird, beginnt man dieses ganz grundsätzliche Bedürfnis nach einer bestimmten Art von Gerechtigkeit zu verstehen: nach diesem paradoxen, anti-elitären Stalin. Den haben diejenigen im Sinn, die sagen: „Stalin hätte es euch schon gezeigt.“
Stalin als Geißel der Nomenklatura, als derjenige, der sich mit den Reichen und Mächtigen anlegt und für die einfachen, armen Leute eintritt: Dieses Bild mag ein absurder Mythos sein, es existiert aber. Vielen, die so reden, geht es um die Berufung auf ein strenges Gesetz, strikte Ordnung und Gleichheit, um eine Art ursprünglicher apostolischer Einfachheit.
Aus Gesprächen mit Taxifahrern zu zitieren, gehört sich vielleicht nicht als Wissenschaftlerin. Aber auch ich habe mir schon anhören müssen, dass Stalin nur einen Mantel und ein Paar Stiefel hatte, während die jetzigen Machthaber in Saus und Braus leben und sich alles mögliche leisten. Dieses anti-elitäre Bedürfnis spielt hier ganz offenbar eine Rolle. Aber allein die Vorstellung, dass es überhaupt möglich, normal und ungefährlich ist, sich auf ihn als Instanz zu berufen, ist durch die staatliche Propagandamaschine gegeben.
Stalin als derjenige, der für die einfachen, armen Leute eintritt: Dieses Bild mag ein absurder Mythos sein, es existiert aber
Anhand von Daten können wir überprüfen, inwieweit die jahrzehntelange Arbeit dieser Propagandamaschine erfolgreich war. Eine ganz einfache Frage des Lewada-Zentrums lautet: „Wie ist Ihre persönliche Einstellung zu Stalin?“ Wenn wir uns die Entwicklung der Antworten von 2001 bis 2015 ansehen, gibt es keine Anzeichen für radikale Veränderungen. Man kann nicht sagen, dass der Respekt, die Bewunderung und die Sympathie für Stalin stark zugenommen hätten.
Zurückgegangen sind Abneigung und Feindseligkeit. Gleichzeitig ist die Anzahl derer, die Stalin gleichgültig gegenüberstehen, stark angestiegen. Das erklärt sich durch das Fortschreiten der Zeit. Stalin ist als historische Gestalt schon sehr stark mythologisiert. Wenn es in einer Wendung, die uns zu Ohren kommt, heißt „Die Großväter haben gekämpft“, so müssen wir uns klarmachen, dass von der Generation der heute 30- bis 40-Jährigen kein einziger Großvater gekämpft hat. Ihre Großväter und Großmütter waren im Krieg Kinder. Für die jetzt tätige Bevölkerung liegt der Krieg sehr, sehr weit in der Vergangenheit. Die Gestalt Stalins ist allmählich ähnlich in den Pantheon entrückt wie andere historische Persönlichkeiten, zum Beispiel Napoleon, bei dessen Namen man eher an eine Torte als an den französischen Kaiser denkt, oder Hitler, der als lustiges Bild-Mem im sozialen Netzwerk VKontakte herumspukt.
Die Gestalt Stalins ist allmählich ähnlich entrückt wie etwa Napoleon, bei dessen Namen man eher an die Torte als an den französischen Kaiser denkt
Man mag das richtig finden oder nicht, es ist jedenfalls unvermeidlich. Die lebendige historische Erinnerung verschwindet nach und nach. Was bleibt, ist ein symbolisches Feld. Wir sehen also: Es ist schlichtweg nicht wahr, dass das ganze Volk Stalin liebt und dass das Bedürfnis, ihn zu bewundern und zu idealisieren, immer größer wird.
Wie schätzt die Jugend diese historische Ära ein, die für sie so weit zurückliegt? Bei einer Erhebung im Jahr 2015 wurden russische und amerikanische Studenten gefragt, auf welche historischen Ereignisse in der Geschichte ihres Landes man stolz sein könne und welcher man sich schämen müsse.
Die russischen Studenten nannten als wichtigsten Grund zum Stolz den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg und als wichtigsten Grund zur Scham die Repressionen unter Stalin. Dieser Zusammenhang macht deutlich, dass jeder Versuch einer völligen Ent-Stalinisierung unweigerlich auf halbem Weg scheitern muss, solange der Name Stalin mit dem Sieg assoziiert wird. Dennoch können wir feststellen, dass der moralische Kompass der jungen Leute im Großen und Ganzen gut funktioniert.
Jeder Versuch einer völligen Ent-Stalinisierung muss unweigerlich auf halbem Weg scheitern, solange der Name Stalin mit dem Sieg assoziiert wird
Schauen wir uns die Frage an, in welcher historischen Epoche das Leben in Russland am besten war.
Da sind die Ergebnisse wirklich interessant. Auffällig ist, dass nach 2014 erheblich weniger Leute in ihrer Antwort die Zeit vor der Revolution 1917 nennen. Ich weiß nicht, woran das liegt, aber der Krim-Konsens hat verblüffenderweise dazu geführt, dass die gute alte Zarenzeit – die dobeszarja, wie es jetzt heißt – an Beliebtheit verloren hat. Die Stalinära wird kaum genannt, und es ist hier auch keine Veränderung festzustellen. Stalin zu verehren ist eine Sache, aber in dieser Epoche leben möchte man lieber nicht.
Die Breshnew-Zeit wird als eher behaglich und ruhig angesehen, aber ihre Beliebtheit nimmt ab. Die Perestroika mag niemand, ebenso wenig die Jelzin-Zeit. Viele wissen nicht, was sie antworten sollen. Und da der zeitliche Abstand zwischen 1994 und 2017 ziemlich groß ist, finden die Leute, dass die Jetztzeit bei dieser kärglichen Auswahl doch eigentlich gar nicht so schlecht aussieht.
Wie verhält sich die Einstellung zu Stalin und zur Stalinära – beides darf, wie wir gesehen haben, nicht gleichgesetzt werden – zu den allgemeinen sozialpolitischen Ansichten der Menschen? Aufschluss darüber geben Daten aus der Studie Protoparteiliche Gruppierungen in der russischen Gesellschaft in den 2000er und 2010er Jahren. Der Autor der Studie ist Kirill Rogow. Es handelt sich um eine zusammenfassende Auswertung von Meinungsumfragen, die das Lewada-Zentrum seit 18 Jahren durchführt.
Besonders eng mit der Figur Stalins verbunden ist hier die Frage: „Brauchen wir jemanden, der mit harter Hand regiert?“
Auch hier ist nach 2014 eine sehr seltsame Veränderung zu beobachten, für die es noch keine wissenschaftliche Erklärung gibt. Vielleicht werden wir in fünf oder sieben Jahren sagen, dass sich das Jahr 2014 in Russland ganz anders auf die öffentliche Meinung ausgewirkt hat, als es uns im Fernsehen erzählt wurde. Nach 2014 sagten plötzlich immer mehr Leute, keinesfalls solle die ganze Macht einer einzelnen Person überlassen werden.
Auch bei der Frage danach, welche Rechte den Russen am wichtigsten sind, ist in den letzten Jahren der rätselhafte, kontraintuitive „Post-Krim“-Effekt zu beobachten. Nach 2014 schätzten die Bürger das Recht auf Information und die Freiheit des Wortes drastisch höher ein. In Bezug auf das Eigentumsrecht dagegen zeigten sie sich etwas ernüchtert.
Aus diesem Diagramm lässt sich beim besten Willen nicht schließen, dass das Volk sich Autoritarismus wünscht und von einer harten Hand träumt.
Der Gesellschaft wird ein bestimmtes Bild von sich selbst aufgezwungen
Der Gesellschaft wird also ein bestimmtes Bild von sich selbst aufgezwungen. Was ist der Grund dafür? Warum muss man den Leuten sagen, sie würden von der Wiedereinführung der Todesstrafe träumen, obwohl sie das gar nicht tun? Warum erzählt man ihnen, sie seien ein Volk, das am liebsten Stalin wieder zum Leben erwecken würde und sich über Massenrepressionen freue?
Das Regime befindet sich in einer ziemlich vertrackten Lage: Es will Macht und Ressourcen in den eigenen Händen konzentrieren und an der Macht bleiben. Dabei ist es keine vollwertige Autokratie, es verfügt über keinen entwickelten Repressionsmechanismus, über keine herrschende Ideologie, die es den Leuten aufzwingen kann. Es will sich aber auch nicht den Verfahren demokratischer Machtwechsel unterwerfen.
Also hält es sich durch ein ganzes Arsenal an ziemlich raffinierten Instrumenten an der Macht. Zum großen Teil sind dies verschiedene Simulationsmodelle und -schemata, die zur Propaganda gehören. Einerseits werden demokratische Institutionen und Prozesse simuliert, wie zum Beispiel Wahlen, ein Mehrparteiensystem oder Medienvielfalt. Und bei all ihrer äußerlichenVielfalt, sagen die Medien, ein- und dasselbe. Es finden Wahlen statt, aber sie führen nicht zu einem Machtwechsel. Es gibt Parteien, aber keine Opposition.
Es finden Wahlen statt, aber sie führen nicht zu einem Machtwechsel. Es gibt Parteien, aber keine Opposition
Andererseits müssen Sie als Machthaber die rhetorischen Instrumente der Autokratie simulieren – also, salopp gesagt, sich im öffentlichen Raum furchterregender geben als Sie sind. Dabei sollten Sie sich nicht als schrecklicher Diktator oder blutrünstiger Tyrann präsentieren, sondern, im Gegenteil, als zivilisierte und zurückhaltende Kraft, die ein rohes Volk mit autoritären Neigungen regiert, das sie immerzu bändigen und dessen Blutrünstigkeit sie dauernd beschwichtigen muss.
Also müssen Sie ambivalente Botschaften aussenden, à la „Wir sollten Stalin nicht dämonisieren, sondern die Sache besser von verschiedenen Seiten betrachten“. Sie müssen den Eindruck erwecken, dass Sie dem ständigen Druck der Gesellschaft, die Archaisierung, Verschärfung, Feuer und Blut fordert, zugleich nachgeben und widerstehen, und dass es nur Ihrem Widerstand zu verdanken ist, wenn hierzulande noch nicht alle an Laternenmasten aufgeknüpft worden sind. Dabei sind Sie selbst der mächtigste Akteur und haben diesen Wunsch überhaupt erst erzeugt.
Wozu ist es nötig, dem eigenen Volk einen so schlimmen Ruf anzuhängen? Um zu rechtfertigen, dass Sie permanent seine politischen Rechte einschränken, besonders das Wahlrecht. Wenn die Leute rohe, blutdürstige Barbaren sind, kann man ihnen natürlich nicht erlauben, bei den Wahlen ihre Regierung tatsächlich selbst zu wählen. Mal heißt es, sie würden dann einen „Hitler“ wählen, ein nationalistisches Schreckgespenst, dann wieder, sie würden einen „Stalin“ wählen – ein links-etatistisches Schreckgespenst. Beides wird als Argument benutzt, um das Selbstbestimmungsrecht der Bürger einzuschränken. Genau dafür braucht es die hohen Beliebtheitswerte Stalins.
Der Gesellschaft werden falsche Vorstellungen von sich selbst eingeimpft, damit die Regierung als einziger Europäer in Russland erscheint. Aber das entspricht längst nicht mehr der gesellschaftlichen Realität.
Der Gesellschaft werden falsche Vorstellungen von sich selbst eingeimpft, damit die Regierung als einziger Europäer in Russland erscheint
Unsere Gesellschaft ist komplex, vielschichtig und heterogen. Beim Versuch, eine öffentliche Meinung zu ermitteln, eine gemeinsame Wertebasis der Bewohner Russlands, ergibt sich etwa folgendes Bild: Die russische Gesellschaft teilt die gewöhnlich als „europäisch“ bezeichneten Werte. Sie ist individualistisch, konsumorientiert, in vieler Hinsicht atomisiert, kaum religiös und vorwiegend säkular geprägt. Ihre Toleranz gegenüber staatlicher Gewalt ist recht niedrig – wiederum anders als gemeinhin gesagt wird.
Die Werte der russischen Gesellschaft werden von Forschern in der Regel als „europäisch, aber schwach“ charakterisiert. Die Russen sind im Großen und Ganzen konformistisch und eher passiv und ihre Bereitschaft, die eigene Meinung zu äußern, ist nicht sehr ausgeprägt. Aber sie sind auch nicht aggressiv oder blutrünstig, und sie streben die Einführung eines autoritären Regimes in Russland weder an noch träumen sie davon.
Um eine solche Gesellschaft mit undemokratischen Mitteln zu regieren, muss man sie natürlich falsch darstellen. Man muss ihnen das Stalinfähnchen in die Köpfe hämmern, um dann mit dem Finger auf sie zu zeigen und zu sagen: „Schaut euch doch an, was das für welche sind.“
Ein junger Autor auf der Frankfurter Buchmesse 2011. Ein großartiges Buch über den Gulag habe er geschrieben, heißt es. Wie kann das sein, mit gerade mal 30 Jahren? Es ist Sergej Lebedew, geboren 1981 in Moskau.
Das Leben habe ihm diese Aufgabe beschert, mit zwei sehr unterschiedlichen Großvätern mütterlicherseits, sagt er. Und er hat sich ihr gestellt.
Mittlerweile liegen vier Romane des Autors Sergej Lebedew vor, zwei davon sind von Franziska Zwerg übersetzt auf Deutsch erschienen: Der Himmel über ihren Schultern (2013), Menschen im August (2015). Es sind Werke über seine jenseits der glatten Oberfläche komplizierte Familiengeschichte. Lebedew, Sohn von Geologen, die oft in den kalten Nordregionen Russland unterwegs waren, hat sie ausgegraben.
Im Interview mit Natalia Fjodorowa spricht er über die Notwendigkeit und die Grenzen des Schreibens. Gerade, wenn es um das Erinnern geht.
Sergej Lebedew, die Literaturhistorikerin Natalia Gromowa beschrieb Sie mit den Worten: „Ein junger Schriftsteller, der über den Stalinismus in unserem Blut schreibt.“ Stimmen Sie dem zu?
Sergej Lebedew: In dieser Formulierung ist das Schlüsselwort „Blut“. Denn eigentlich wollte ich nie Schriftsteller werden. Meine Eltern haben in der Sowjetunion als Geologen gearbeitet. Ab Mitte der 1990er Jahre war ich während acht Grabungssaisons auf geologischen Expeditionen dabei. Wir suchten seltene Mineralien für Museen, für Sammler. Fast alle Expeditionen führten uns an Orte ehemaliger Gulags, weit entfernt von Häusern und besiedelten Gegenden. Man kann sagen, es war das Gulag-Grenzland. Als in den 1960er Jahren die Lager geschlossen wurden, verließen die Menschen diese Orte. Was blieb, war ein Gulag-Atlantis, das über 40, 50 Jahre spurlos in der Vergangenheit verschwand.
Gibt es viele solcher Orte?
Fast ganz Sibirien besteht daraus. Der Historiker Alexander Etkind hat die Theorie, dass der Gulag ein Instrument zur inneren Kolonisation des Landes war. Und als diese Welle der Kolonisation abebbte, blieben Ruinen von diesen Lagern, blieben Steinbrüche, Bergwerke und Straßen zurück. Das waren die Halbinsel Kola, die Republik Komi mit dem polaren und subpolaren Ural, wie auch die Region Krasnojarsk, Tschukotka, Kolyma.
Es blieb ein Gulag-Atlantis, das über 40, 50 Jahre spurlos in der Vergangenheit verschwand. Fast ganz Sibirien besteht aus solchen Orten
Damals, Mitte der 1990er Jahre, hatte ich den Eindruck, wir leben in einem neuen Land. Die Geschichte hatte den richtigen Weg eingeschlagen. Das Leben war hart, schwierig, ärmlich, und doch war es ein anderes Land. Über die Straflager konnte man in Büchern lesen, bei Schalamow. Und dann stehst du auf einmal selbst inmitten dieser Lagerrealität und merkst, dass sie parallel zu unserer Zeit existiert. Diese Ruinen sind sich selbst ein Denkmal. Über die vielen Jahre, in denen ich dort gearbeit habe, entstand bei mir das seltsame Gefühl, dass auch ich Zeuge bin – Zeuge dieser entsetzlichen, verlassenen Post-Existenz des Gulags. Die niemand sieht, weil niemand an diese Orte kommt.
Und wie war das für Sie? Als Privatperson, die unerwartet dieses Atlantis für sich entdeckt?
Ich dachte nicht, dass das etwas mit meinem Leben zu tun hat. Ich wusste aus unserer Familiengeschichte, dass einige meiner Verwandten verfolgt, inhaftiert waren. Es gibt diesen bekannten Satz von Achmatowa: Es gab ein Russland, das einlochte, und ein Russland, das einsaß. Ich identifizierte mich mit jenem Russland, das einsaß. Ein beruhigendes Gefühl: Gott sei Dank, wir waren an Grausamkeit und Verbrechen nicht beteiligt, wir sind Opfer. Dadurch konnte ich die verlassenen Lager aus der Perspektive derjenigen betrachten, die dort gelitten hatten.
Auf einmal stehst du selbst inmitten dieser Lagerrealität und merkst, dass sie parallel zu unserer Zeit existiert. Diese Ruinen sind sich selbst ein Denkmal
Aber später geschah etwas, was meine Sichtweise veränderte. Nie wollte ich in der Familienvergangenheit wühlen, als hätte ich geahnt, dass dort nicht alles so eindeutig war wie in den glatten Familiengeschichten, die vielfach wie eine Legende klangen. Aber dann starb meine Großmutter mütterlicherseits. Ich sah ihre Sachen durch und fand eine dicke Mappe mit verschiedenen Dokumenten, von deren Existenz ich nichts gewusst hatte.
Meine Großmutter hatte zwei Ehemänner – meinen leiblichen Großvater und einen zweiten, den sie nach dessen Tod geheiratet hatte. Beide Großväter habe ich nie gesehen, ich wurde nach ihrem Ableben geboren. Doch mein leiblicher Großvater war das Objekt meiner kindlichen Verehrung. In der Wohnung meiner Großmutter gab es eine Pralinenschachtel, in der Orden und Medaillen aus der Sowjetzeit aufbewahrt wurden: ein Lenin-Orden, ein Orden des Roten Sterns, ein Rotbannerorden.
Ich wusste, dass mein leiblicher Großvater Offizier gewesen war, den gesamten Krieg mitgemacht hatte, vom ersten bis zum letzten Tag, und dass er die Schlacht von Stalingrad überlebt hatte. Selbstverständlich hielt ich mich als Kind der 1980er Jahre eher für seinen Enkel als für den Sohn meiner Eltern. Für mich war er ein echter sowjetischer Held, ein Mensch, der Heldentaten vollbracht hatte und dafür zu Recht ausgezeichnet worden war. Ich träumte aufrichtig davon, auch selbst einmal etwas zu vollbringen, was meines Großvaters würdig wäre. Und wenn ich allein zu Hause war, erlaubte ich mir sogar, einen dieser Orden anzuprobieren und steckte ihn mir an die Brusttasche meines Karohemds.
Nie wollte ich in der Familienvergangenheit wühlen, als hätte ich geahnt, dass dort nicht alles so eindeutig war wie in den glatten Familiengeschichten, die vielfach wie eine Legende klangen
In jener Mappe fand ich die Papiere der beiden Ehemänner meiner Großmutter, zwei Offiziersausweise. Und zu meinem größten Erstaunen stellte ich fest, dass mein leiblicher Großvater im Krieg gewesen war, bei Stalingrad gekämpft hatte, zweimal verwundet wurde, aber nie eine Auszeichnung bekommen hatte, nur die Jubiläumsmedaille Sieg über Deutschland, die alle Kriegsteilnehmer überreicht bekamen. Den zweiten Offiziersausweis schlug ich mit unguter Vorahnung auf. Und ich fand heraus, dass alle Auszeichnungen, diese Objekte meiner kindlichen Träumereien, dem zweiten, nichtleiblichen Großvater gehörten – einem Oberstleutnant der Tscheka-GPU-OGPU-NKWD, der seinen Dienst im Jahr 1918 angetreten hatte, als er gerade 15 Jahre alt war. In den Ruhestand ging er 1954, nach Stalins Tod, und zwar als stellvertretender Kommandeur des Zwangsarbeitslagers in der Oblast Gorki. Die meisten seiner Orden hatte er 1937 und 1938 bekommen. Das heißt, er gehörte zu denen, die an Verhaftungen und Erschießungen beteiligt gewesen waren.
Und Sie merkten, wie das Leben Sie auf den Arm nahm.
Ja, ich hatte gedacht, ich sei dadurch geschützt, dass es unter meinen Verwandten nur Leidtragende gab. Und nun steht man da und begreift, dass die engsten Angehörigen mit diesem Menschen zusammengelebt haben, ihn in ihre Familie aufgenommen, mit ihm an einem Tisch gesessen, mit ihm gesprochen, ihm die Hand gedrückt haben.
Aber es hat sich in meinem Leben so ergeben, dass ich an jene Orten kam, wo dieser zweite Großvater sein Unwesen getrieben hatte. Ich sah die Spuren davon. Und auf einmal wusste ich, dass es nur einen Ausweg für mich gibt – literarisch darüber zu schreiben, einen Roman über diesen Menschen. Denn seine Akte hätte man mir nicht ausgehändigt. Ich bin kein naher Verwandter.
Außerdem wurde mir klar, dass ich kein Einzelfall bin. Es gibt noch andere, die eine alte Truhe öffnen und ähnliche Familiengeheimnisse entdecken. Ich hatte es noch leichter, weil ich wusste, dass er kein Blutsverwandter von mir war. Aber gleichzeitig fühlte ich, dass diese Vergangenheit uns allen im Blut ist und man sich nicht mit einem geringen Verwandtschaftsgrad rechtfertigen kann.
Mir wurde klar, dass ich kein Einzelfall bin. Es gibt noch andere, die eine alte Truhe öffnen und ähnliche Familiengeheimnisse entdecken
Und dann begann ich zu schreiben, zu suchen. Ich stieß auf weitere Familiengeschichten. Jetzt gibt es schon drei Bücher, das vierte erscheint diesen Winter. Zusammen bilden sie eine Tetralogie – die Erforschung von Leerstellen und Stigmata in der Geschichte einer Familie. Das alles in ein einziges Buch zu stecken, war unmöglich, es gibt zu viele Narben, Verletzungen und blinde Flecken.
Ihre Bücher stützen sich auf Fakten oder mussten Sie etwas dazuerfinden?
Bei den Familiengeschichten des 20. Jahrhunderts arbeitet man wie ein Detektiv. Denn die sowjetische Geschichte hat sich selbst ständig umgeschrieben, retuschiert und zensiert. Und es gibt viele verschiedene Gesichter der Sowjetunion – das der 1920er Jahre, der 1930er Jahre, der Kriegszeit, der Nachkriegszeit – und sie alle befinden sich in einem verborgenen Widerstreit.
Bei den Familiengeschichten des 20. Jahrhunderts arbeit man wie ein Detektiv. Denn die sowjetische Geschichte hat sich selbst ständig umgeschrieben, retuschiert und zensiert
Deswegen liegt der Ausgangspunkt meiner Bücher in den Geheimnissen, über die nur im Flüsterton gesprochen wurde oder überhaupt nicht. Das letzte Buch zum Beispiel handelt von Russland und Deutschland. Wir hatten deutsche Vorfahren, aber diese Tatsache wurde während der Sowjetzeit verschwiegen. Während der Stalinzeit ein Deutscher zu sein, reichte manchmal für ein Todesurteil. Deswegen ging ein riesiger Teil unserer Familienidentität verloren. Bücher auf Deutsch wurden weggeworfen, die Verbindung zu den Verwandten im Ausland brach ab.
In der „offiziellen“ Familiengeschichte taucht mein Urgroßvater erst auf, als er die Schirmmütze der Rotarmisten trug, und als er, ein Militärarzt, 1918 seinen Dienst in der Roten Armee antrat. Ich wusste nicht einmal, dass er vor der Revolution Offizier der Zarenarmee gewesen war, von hohem Rang … All das wurde wegretuschiert.
Der Ausgangspunkt meiner Bücher liegt in den Geheimnissen, über die nur im Flüsterton gesprochen wurde oder überhaupt nicht
Zu Sowjetzeiten wusste ich nicht, dass unsere historischen Verbindungen viel umfassender sind als das, was mir sichtbar war. Dabei wird das Schicksal einer Familie genau von diesen wesentlichen Dingen bestimmt, über die niemand spricht. Deswegen stelle ich in den Büchern, in den Romanen die Größenordnungen wieder her, die historischen Zusammenhänge und mich selbst als Mensch innerhalb der Geschichte.
Wie sehen Sie heute, nach dieser Arbeit, den Gulag? Was war das genau?
Zunächst einmal besteht die üble Einzigartigkeit des Gulags auch darin, dass die Straflager weit weg von jeglicher Zivilisation und Kultur lagen. Sie befanden sich also in einer Art geografischem Verschlag. Die Lager der Nazis in Deutschland dagegen sind eingeschrieben in die Topographie, in die Geschichte, man kann sie schwerlich von dort herauslösen. Was jedoch die Lager im Norden oder in Sibirien betrifft, so liegen sie im Nirgendwo – dort gab es zuvor historisch kein Leben, dort war einfach nur Taiga, und auch jetzt gibt dort historisch kein Leben. Ihre Existenz zu einer Tatsache unseres gesellschaftlichen Lebens und Gedenkens zu machen, ist deshalb eine äußerst schwierige und keineswegs triviale Aufgabe.
Die Lager der Nazis in Deutschland sind eingeschrieben in die Topographie, in die Geschichte. Was jedoch die Lager im Norden oder in Sibirien betrifft, so liegen sie im Nirgendwo
Zweitens: Einmal stand ich auf einem Gelände eines zerstörten Lagers, und mein erster Gedanke war, dass hier ein Denkmal stehen sollte. Und der nächste Gedanken war, dass ein Denkmal unmöglich ist. Denn ein Denkmal an sich bringt kein Gedenken hervor, es verweist nur darauf. Ein Denkmal würde dort in der Luft hängen. Denn es gibt nur kleine Inseln des Gedenkens wie die Inseln des Archipel Gulag, aber sie haben sich noch nicht zu einem Ganzen gefügt. Das liegt vor allem daran, dass die enorm vielen Tode, die es dort gegeben hat, immer noch abstrakte Tode sind. Das Sterben vollzog sich nicht innerhalb unserer Kultur und Gesellschaft, was sonst das hervorbringt, was wir als Totengedenken bezeichnen.
Dort herrscht Permafrost. Die verstorbenen Häftlinge sind nicht verwest. Sie stecken gleichsam zwischen Dies- und Jenseits fest
Und ich habe gesehen, wie die, die dort umkamen, im Stich gelassen worden sind. Dort herrscht Permafrost. Und im Permafrost verwest keiner. Wie Mammuts, zum Beispiel. Die verstorbenen Häftlinge sind ebenfalls nicht verwest. Sie stecken gleichsam zwischen Dies- und Jenseits fest. Sie sind gestorben, aber nicht zu Ende gestorben.
Diese Situation scheint ausweglos. Es sind jetzt riesige Anstrengungen gefordert, um aus diesen Orten trotzdem Friedhöfe zu machen, sie in die Nekropole des ganzen Landes einzugliedern. Das ist es, was mir klar wurde und worum ich mich nicht nur als Autor kümmern möchte. Denn ich habe die Begrenztheit literarischer Mittel erkannt sowie ihre Unfähigkeit, an die Stelle von elementaren Dingen zu treten – ich meine Rituale, das Aufstellen von Kreuzen, Grabsteinen, Totengedenkfeiern. Das ist elementar und viel archaischer und wichtiger als die Literatur.
Das heißt, um diese einfachen Wahrheiten zu verstehen, ist so viel innere und äußere Arbeit nötig? Und nur dann wird jeder einzelne Mensch die Notwendigkeit für ein aktives Gedenken erkennen?
Wissen Sie, als ich meinen literarischen Weg begann, dachte ich, Literatur vermag alles. Es reicht, einen Roman zu schreiben.
Aber dann las ich für eines meiner Bücher viele Zeitungen und Zeitschriften aus den späten 1980er Jahren, ganze Jahrgänge Ogonjok. Ich sah, wie das Thema Repressionen und stalinistische Vergangenheit aufkam, wie es sich zu einer Lawine von Veröffentlichungen auswuchs. Und ich bemerkte eine seltsame Sache – alles dies war gemäß der klassischen Vorstellung der Russen über die Wahrheit verfasst. Die Wahrheit ist ja eine Figur aus dem russischen Märchen. Es gibt die Prawda und die Kriwda (die Wahrheit und den Trug). Die Wahrheit ist ein Wesen, und man muss sie nur freilassen, damit sie alles in Ordnung bringt. In diesem Sinne besteht die Rolle des Kulturschaffenden darin, dieser Wahrheit die Tür zu öffnen. Aber mir wurde auf einmal klar, dass es so nicht funktioniert. Das ist zu naiv. Es hat auch auf längere Sicht nicht funktioniert, zumal sich zu dieser Zeit niemand fand, der diese Dinge gut formuliert hätte. Oder wir haben ihn nicht gehört.
Ja, mit Juri Dmitrijew habe ich endlich einen Menschen getroffen, der intuitiv einen Weg fand, wie man mit den Grabstätten umgehen muss. Wie sie gestaltet sein müssen, damit das eine persönliche Angelegenheit für eine große Zahl von Menschen wird – und nicht zu einer Initiative von oben, wo ein Denkmal aufgestellt wird und damit ist das Thema erledigt.
Und ich denke, es ist kein Zufall, dass ausgerechnet jetzt, wo man bei uns die Zeichen einer wiederkehrenden Vergangenheit deutlich erkennen kann, auf einmal so viele Menschen von Dmitrijews Geschichte erfahren. Denn es kommt vor, dass sich ein einziger Mensch der wiederkehrenden Vergangenheit in den Weg stellt und sie nicht durchlässt. Das mag pathetisch klingen, aber so ist es.
Gibt es aus Ihrer Sicht heute in Russland überhaupt so viele Menschen und Gemeinschaften, die über dieses Thema nachdenken? Im von Ihnen erwähnten Deutschland sind, soweit ich weiß, Reflexionen zum Nazismus und offene Reue bis heute weit verbreitet, und zwar nicht nur in Schriftstellerkreisen.
Das große Verdienst der westdeutschen Intellektuellen der 1960er bis 1980er Jahre bestand darin, dass sie verhinderten, dass Diskussionen verhallen und verstummen. Und sie formulierten gewisse Dinge, die dann, wenn auch unter Schwierigkeiten, zur offiziellen Position wurden. Das ist aus Deutschland nicht mehr wegzudenken, es ist bereits Staatsräson.
Selbstverständlich sind deutsche Historiker und öffentliche Personen sehr sensibel gegenüber solchen Dingen. Bei uns hat der Staat gar nicht die Absicht, die Vergangenheit aufzuarbeiten. Mehr noch, er kümmert sich äußerst aktiv um das Gegenteil. Aber dennoch entstehen in Russland Gruppen und Initiativen, die es vor fünf, sechs Jahren noch nicht gegeben hat. Momentan sind wir in einer historischen Situation, in der sich die Dinge zuspitzen. Es ist allzu offensichtlich, dass viele Missstände der Gegenwart ihre Ursache in der mangelnden Aufarbeitung der Vergangenheit haben. Ob sich das zu etwas Größerem verdichtet, weiß ich nicht. Ich würde mir wünschen, dass eine gesellschaftliche Bewegung entsteht, die für bestimmte Prinzipien in der Erinnerungspolitik einsteht. Und wenn sie nur erreicht, dass es in Russland keine Denkmäler mehr gibt für Dsershinski oder Stalin.
Den Befehl Nr. 00447 hat NKWD-Chef Nikolaj Jeschow am 30. Juli 1937 unterzeichnet. Mit diesem Befehl Über die Operation zur Repression ehemaliger Kulaken, Krimineller und anderer antisowjetischer Elemente begann die umfassendste Massenoperation des Großen Terrors unter Stalin. Hunderttausende wurden auf seiner Grundlage verhaftet, ein Großteil davon erschossen.
80 Jahre später feiert Stalin eine Art Revival: Einer Umfrage des Lewada-Instituts zufolge halten 38 Prozent aller Russen Stalin für die herausragendste Persönlichkeit aller Zeiten – vor Staatspräsident Putin und vor dem Nationaldichter Alexander Puschkin. Nach wie vor verbinden viele Stalin mit dem Sieg über Hitlerdeutschland. Aber erklärt das allein die große Popularität?
„Die Ent-Stalinisierung“, so schreibt Meduza, „kümmert in Russland heute kaum einen: die Gesellschaft verhält sich zu Stalin entweder gleichgültig oder gar wohlwollend.“
Von führenden Wissenschaftlern und Experten wollte Meduza deshalb wissen: Hat denn überhaupt eine Ent-Stalinisierung stattgefunden in Russland? Oder warum ist die Figur Josef Stalin nach wie vor so populär?
Zu Sowjetzeiten war Stalin wie Solschenizyn: irgendwas Verbotenes
In Russland hat die Ent-Stalinisierung schon einmal stattgefunden. Ich erinnere mich an meine Kindheit, die mit der späten Ära der Stagnation zusammenfiel – damals klang das Wort „Stalin“ in etwa so wie „Solschenizyn“. Das war etwas Verbotenes, das nirgendwo und in keinster Weise zur Sprache kommen durfte.
Die politische Strategie der geschwächten Kommunistischen Parteibestand darin, Stalin komplett zu vergessen, einfach auszuradieren. Für jemanden, der Ende der 1970er bis Anfang der 1980er Jahre aufwuchs, existierte diese historische Figur gar nicht.
Verbotene Volkshelden
Stalin sah man, neben seinem gelegentlichen Auftauchen in irgendwelchen Kriegsfilmen, vor allem auf kleinen Porträt-Bildchen – hinter der Windschutzscheibe des nächstbesten Autos. Fernfahrer hängten sich bald Stalin, bald Wyssozki in ihre Fenster. Das waren damals Figuren ein und derselben Kategorie: verbotene Volkshelden. In diesem Sinne verkörperte Stalin weder Repressionen noch Massenmorde, sondern eine Ordnung, die dem einfachen Menschen in der späten Sowjetunion fehlte.
Natürlich wusste niemand von den Repressionen, das Thema kam gar nicht erst auf. Doch es dachte auch keiner an Stalin als den großen Staatsmann, das war längst aus den Geschichtsbüchern gestrichen.
Wunsch nach starker Führung
Seit kurzem ereignet sich etwas Unerfreuliches in Russland: die Re-Stalinisierung. Diese schleichende Entwicklung geht einzig und allein auf den Wunsch der Obrigkeit zurück. Es gibt keine Nachfrage nach Stalin-Denkmälern seitens des Volkes, niemand schreibt dem Präsidenten Briefe: „Bringen sie uns Stalin zurück!“ Es handelt sich hier um eine bewusste Politik der Regierung: Das Pflanzen eines zarten Stalin-Kults als gewissen Orientierungspunkt – danach strebt die derzeitige Staatsmacht, das sei gut, dem solle man nacheifern.
Sie sagen ,Stalin‘ und meinen: Wir wollen weniger Ungleichheit
Die erste Ent-Stalinisierung scheiterte, weil es unmöglich war, die Schuldfrage anständig auseinanderzudividieren. Unter Chruschtschow hat sich die sowjetische Regierung in der Nachfolge Lenins positioniert. Doch tatsächlich lässt sich das System Stalins nicht von den ersten Jahre der Sowjetherrschaft trennen.
Von Anfang an lag der Überwindung des Personenkults eine Lüge zugrunde: nämlich, dass es einen guten Bolschewismus und Kommunismus gegeben habe, aber dann sei Genosse Stalin gekommen und habe alles kaputt gemacht.
Nur einen Teil des Traumas durfte man zulassen
Das heißt, einen Teil des Traumas durfte man zulassen, einen anderen wiederum nicht. So musste die Liquidierung des Adels und der Bourgeoisie als Klasse weiterhin befürwortet werden, während die Verfolgung sowjetischer Beamter als Verbrechen und Ausschweifung gelten konnte. Die Tragödien im Zuge der Kollektivierung dagegen durften überhaupt nicht verurteilt werden, als hätte es sie nie gegeben.
Während der Perestroika begann eine neue Phase der Ent-Stalinisierung. Es konnte darüber diskutiert werden, was wirklich passierte; die Archive wurden geöffnet, es kamen Möglichkeiten auf, diese Informationen auch zu veröffentlichen. Aber diese Tendenz ging einher mit dem relativ traumatischen Zerfall der Sowjetunion und einer tiefen Wirtschaftskrise. So wurden alle Bemühungen, die Vergangenheit zu bewältigen, in Verbindung gebracht mit den unbeliebten 1990er Jahren und der liberalen Politik, die für die Wirtschaftskrise verantwortlich gemacht wurde und so weiter.
Komplex historischer Mythen
Für die Jugend heute geht es in dieser Geschichte nicht einmal um ihre Großväter, sondern um noch frühere Generationen, um Menschen, die sie nie erlebt haben. Das heißt also, dass dieses Trauma für sie kein lebendiges Gesicht hat. Ihr Verhältnis dazu ist weniger ein Verhältnis zu aktuellen, realen Ereignissen der jüngsten Vergangenheit als eher ein Verhältnis zu einem historischen Bild, zu einem bestimmten Komplex historischer Mythen.
Was hat es mit Stalin heute auf sich? Für den Großteil seiner Bewunderer steht Stalin beispielsweise für effektive Führung, obwohl schon längst belegt ist, dass er kein guter Staatenlenker war. Er steht auch für den Kampf gegen Korruption, doch die gab es auch in der UdSSR, wie Historiker ja wissen.
Stalin steht auch dafür, dass es in der UdSSR wesentlich weniger Ungleichheit gab als heute. Das ist schon etwas realistischer. Der mythische Stalin verkörpert für seine Befürworter eine Gesellschaftsform, in der die Ungleichheit (und vor allem der demonstrative Luxus der Oberschicht) wesentlich geringer war als in ihrer gegenwärtigen Lebenswirklichkeit.
Keiner will die Repressionen zurück
Ich würde darauf achten, was die Leute eigentlich sagen wollen, wenn sie mit Stalin-Porträts auf die Straße gehen. Sie meinen damit nicht: „Wir wollen Repressionen; wir wollen, dass mehr Menschen ins Gefängnis kommen; wir wollen eine Zentralplanwirtschaft; wir wollen die Repression ganzer Völker; wir wollen, dass unsere Regierung einen weiteren Weltkrieg entfesselt.“
Sie meinen damit: „Wir wollen weniger Ungleichheit; wir wollen weniger Korruption; einen sozialeren Staat als wir jetzt haben. Uns gefällt nicht, was wir haben, wir sind es leid, und um das zu artikulieren, wählen wir die Figur, die so grausam und abschreckend ist, wie möglich.“ In etwa das haben sie im Sinn, wenn sie Stalin zum besten Herrscher Russlands erklären.
Die Ent-Stalinisierung ist noch nicht abgeschlossen
Die Ent-Stalinisierung ist in Russland aus einer Reihe von Gründen nicht abgeschlossen. Üblicherweise wird als [wichtigster] Grund das Vorgehen der russischen Staatsmacht in den 1990er Jahren genannt: Die Aufarbeitung des sowjetischen Erbes war für Boris Jelzin kein substanzieller Teil seiner Agenda. Die Demonstrationen auf der Lubjanka einen Tag nach dem gescheiterten Putsch führten lediglich zur Demontage des Dsershinski-Denkmals. Niemand wagte es, die KGB-Zentrale selbst zu betreten, und weiterhin wurde das Fortbestehen dieser obersten repressiven Instanz des Landes am selben Ort wie vor 70 Jahren kaum noch in Frage gestellt. Im Grunde genommen ist der Versuch, einen offenen [gerichtlichen] Prozess gegen die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) zu führen, im Sande verlaufen.
Kein fundamentaler Elitenwechsel
Unter Jelzin hat außerdem kein fundamentaler Elitenwechsel stattgefunden. Zu einem großen Teil sind diejenigen an der Macht geblieben, die die Karriereleiter der UdSSR-Nomenklatura hinaufgestiegen waren. Am auffälligsten wurde die Elitenkontinuität erst unter Wladimir Putin, als klar wurde, dass 25 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion ehemalige Mitarbeiter des sowjetischen KGB und Mitglieder der KPdSU an der Spitze des Staates standen.
Legitimation des heutigen Regimes
Es stellt sich heraus, dass wegen des Fehlens einer eigenständigen Ideologie die sowjetische Vergangenheit eine wichtige Rolle für die Legitimation des aktuellen politischen Regimes spielt: Durch die kritische Auseinandersetzung mit Stalin und mit der sowjetischen Vergangenheit könnten die heutigen Machthaber in ernsthafte Bedrängnis geraten.
Nach 1991 war das Bedürfnis nach Ent-Stalinisierung von Seiten der Gesellschaft nicht stark genug. Wie unlängst der Fall von Denis Karagodin zeigt, der im Alleingang die Namen derjenigen identifiziert hat, die an der Hinrichtung seines Vaters beteiligt waren, können konsequente und durchdachte Bemühungen auf privater Ebene sehr wirkungsvoll sein. Leider gibt es hier immer noch wenige Initiativen solcher Art.
Gewalt als Norm
Es ist wichtig zu verstehen, dass es nicht nur die Geschichte des Stalinismus an sich ist, die uns beschäftigt. Vielmehr werden damit auch wichtige Fragen über die Gesellschaftsordnung aufgeworfen, in der wir heute leben.
Wenn wir heute über die Ent-Stalinisierung sprechen, meinen wir die Notwendigkeit der totalen Entautomatisierung der Gewalt: Wir müssen lernen, die Gewalt zu erkennen, die vielen gesellschaftlichen Institutionen inhärent ist, und aufhören, diese als etwas Normales hinzunehmen.
In diesem Sinne ist der Kampf um die Rechte der Menschen in Heimen, Gefängnissen, im Militär und an den Schulen heute eine Fortführung der Ent-Stalinisierung der russischen Gesellschaft. Es ist nicht von grundlegender Bedeutung, ob wir Stalin erwähnen oder nicht, wenn wir darüber sprechen, dass keine Regierung dazu befugt ist, die Würde des Menschen mit Füßen zu treten. Dieser Kampf wird auf jeden Fall weitergehen, ob wir dabei auf die Geschichte verweisen oder nicht.
Jede Kritik an der Vergangenheit wird als Intrige des Westens dargestellt
Die Ereignisse der sowjetischen Epoche liegen in der Vergangenheit, aber was beunruhigt uns heute? Uns beunruhigt, dass das Land im alltäglichen Leben noch immer nicht vom Gesetz regiert wird, dass die bestehenden Gesetze wie Imitate wirken.
Es gibt eine Verfassung, die Rechte und Freiheiten garantiert, und es gibt den Alltag, in dem das alles mit Füßen getreten wird.
Willkür statt Gesetze
Wir sehen, wie wir zu den Praktiken zurückkehren, die es in der UdSSR gab, als der politische Wille der Führung und nicht das Gesetz den Alltag bestimmt hat. Von diesem Standpunkt gesehen ist die Ent-Stalinisierung eine Absage an eine solche Praxis, an die Regeln und Gewohnheiten der Willkür, die sich im sowjetischen System gebildet haben.
Andererseits muss man juristisch einen klaren Strich ziehen unter die sowjetische Vergangenheit und sagen, dass die sowjetische Epoche nicht nur eine Epoche der Willkür war, sondern auch die eines totalitären und verbrecherischen Staates. Dieser Strich ist momentan noch nicht gezogen.
Es tut sich was
Wenn man Ent-Stalinisierung enger versteht als Gedenken an die Opfer der politischen Repressionen, dann tut sich da natürlich etwas. Allerdings im ständigen Widerspruch zu den Versuchen, Stalins Namen zurück auf die russische Landkarte zu bringen [durch die vorübergehende Umbenennung Wolgograds in Stalingrad – dek] oder das Thema 1945 zu forcieren und mit Stalins Persönlichkeit zu verknüpfen. Deswegen befürwortet der Staat nicht mal die vorsichtigsten Ent-Stalinisierungs-Programme.
Leider haben sich der Staat und unser Volk als unfähig erwiesen, unter rechtsstaatlichen und demokratischen Bedingungen zu leben. Man ist ständig in alte Praktiken verfallen, weil man es so gewohnt ist und anders nicht kann. Das Primat des Staates vor den persönlichen Rechten ist heute die Visitenkarte des Kreml. Auch deswegen ist das Thema Ent-Stalinisierung so unbeliebt unter Russen. Mit Hilfe von Propaganda, Radio und Fernsehen hat man vielen Bürgern eingetrichtert, dass unsere Besonderheit in eine aggressive Xenophobie münden solle. Alle Versuche, die Vergangenheit zu kritisieren, werden als Intrigen des Westens dargestellt.
Juri Dmitrijew muss ein „Wahnsinniger“ sein. Das sagen Freunde und Kollegen über ihn, und sein Werdegang legt es nahe: Akribisch und detailversessen, ohne große Institutionen und Gelder im Hintergrund, forschte und grub er in Archiven und in Erdhügeln nach Toten aus der Zeit des Großen Terror. Er sorgte dafür, dass die Ermordeten und anonym Begrabenen wieder einen Namen und einen Gedenkort bekamen. Mit seinen Nachforschungen hat Dmitrijew ein Tabu gebrochen, denn bis heute ist die Zeit des Großen Terrorskaum aufgearbeitet.
Am 13. Dezember 2016 wurde Juri Dmitrijew verhaftet. Der ungeheure Vorwurf lautet: Kinderpornographie. Dabei werden ihm Fotografien zur Last gelegt, die er vor einigen Jahren von seiner Pflegetochter machte. 2008 hatte er das damals dreijährige Mädchen zu sich genommen. Die Anschuldigungen und der Prozess erregten großes Aufsehen, viele Beobachter zweifeln die Vorwürfe an, glauben an eine Kampagne, um Dmitrijew zum Schweigen zu bringen. Eine Petition wurde gestartet, zahlreiche Prominente wie der Musiker Boris Grebenschtschikow, die Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja oder der Regisseur Andrej Swjaginzew setzten sich für Dmitrijew ein, bislang ohne Erfolg: Der Prozess geht am kommenden Dienstag weiter. Dmitrijew, der sich nun auch an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechtegewandt hat, drohen bis zu 15 Jahre Haft.
Schura Burtin hat mit Freunden und Weggefährten Dmitrijews gesprochen, ist den Spuren des Mannes in die dunkle sowjetische Vergangenheit gefolgt. Seine Reportage über den „Fall Chottabytsch“, wie Dmitrijew wegen der äußeren Ähnlichkeit mit dem in Russland populären Flaschengeist genannt wird, wurde viel gelesen und diskutiert.
Update, 27.12.2021: Die Lagerhaft von Juri Dmitrijew wurde von einem Gericht in Karelien von 13 auf 15 Jahre angehoben, wie Mediazonaberichtet.
Von Juri Dmitrijew habe ich erstmals diesen Winter gehört, nach seiner Verhaftung. Freunde erzählten mir die merkwürdige Geschichte von einem Memorial-Mitarbeiter aus Karelien, der wegen Kinderpornographie festgenommen worden war.
Ich kam nach Hause, suchte im Netz und sah Fotos von einem dürren, bärtigen Mann mit grauen Zotteln und schwerem Blick. Aus der Anklage war schwer zu ersehen, was von der Sache zu halten ist. Einerseits kann man sich von einem Memorial-Mitarbeiter so etwas Abwegiges schwer vorstellen. Andererseits – kein Rauch ohne Feuer: Die Ermittler konnten das doch nicht alles erfunden haben!
Harsche, emotionale Person mit schwierigem Charakter
Ich spreche mit verschiedenen Menschen, die Dmitrijew kennen. In Moskau sind es zwei feine, kluge Frauen: Irina [Galkowa, Leiterin des Memorial-Museums] und Olga Kersina, Leiterin des Moskauer Kinokolledsh. Beide unterstützen Dmitrijew. Aus ihren Erzählungen wird bald klar, dass er ein ziemlich ungewöhnlicher Typ sein muss, ein Original. Mir wird eine harsche, emotionale Person mit schwierigem Charakter beschrieben (fast alle benutzten das Wort „kratzbürstig“), auf der anderen Seite sehr direkt und offenherzig; ein emsiger Technik-Freak mit dem Charakter einer Schukschin-Figur.
„Naja, er ist schon, sagen wir, eigen …“ Das höre ich von fast allen, die ich nach Dmitrijew frage. „Schickt dich auch schon mal zum A****, wenn’s sein muss …“
„Dmitrijew kann man mit Worten schwer beschreiben, er flucht ohne Ende Mat und raucht Belomor. Lebt mit Katze, Tochter und Enkeltochter zusammen. Sie kleben an ihm, und er: ‚Immer hübsch der Reihe nach, ihr Hurenkinder!‘ Zum Abschied bekam ich von ihm zu hören: ‚So, und jetzt verpiss dich.‘ Aber immer mit einem Lächeln, ironisch, nicht böse …“
In seiner Jugend besuchte er eine Weile die medizinische Fachschule, wollte Arzthelfer werden, brach sie dann ab. Saß ein paar Jahre wegen einer Schlägerei ein, arbeitete als Schlosser bei einem Wäscherei- und Saunakombinat, als Hilfsarbeiter in einer Mineralien-Fabrik, betreute Heizanlagen für die Wohnungsverwaltung. Führte Touristen durch Karelien, lernte, im Wald zu überleben. Heiratete, bekam zwei Kinder, sparte auf eine Wohnung. Während der Perestroika flammte bei ihm, wie bei vielen, das Interesse an Politik auf – aus der Zone war er als Antisowjet zurückgekehrt. 1988 wurde Dmitrijew, mitgerissen vom Kampf gegen die führende Rolle der KPdSU, ehrenamtlicher Assistent eines Volksabgeordneten. Eines Tages rief ein Reporter der Zeitung Komsomolez bei ihm an: In der Garnisonsstadt Bessowez hatte man menschliche Überreste entdeckt.
„Also hab ich zum Chef gesagt: ‚Wir müssen dahin.‘ Folgendes Bild: Ein Bagger steht da, ein paar Typen von der Staatsanwaltschaft, der Ermittler, Bezirksbeamte jeder Couleur, so an die fünfzehn Leute waren dort versammelt. Alle stehen rum, wissen nicht, was sie mit diesem Fund anfangen sollen. Ich war ja mal auf der medizinischen Fachschule und weiß ein bisschen was über Anatomie, also habe ich anhand der Knochenanordnung gesehen, wo der Kopf war, den Schädel rausgeholt, die Erde abgerieben – und da sehe ich am Hinterkopf eine runde Öffnung. Erschossen.
Was also tun? ‚Wieder vergraben und gut ist’s!‘ Und ich: ‚Wie – vergraben? Und was ist mit beerdigen?‘ ‚Ist doch nicht unsere Aufgabe.‘ Und stehen so da, gucken sich an. ‚Na gut, wenn euch das alles schnurz ist, mach ich’s eben selbst …‘
Und dann bin ich ein paar Wochenenden lang rausgefahren, hab die Knochen eingesammelt, in Säcke gepackt und in Garagen gebracht. Eines Tages fand ich einen Schuh mit abgenutzter Galosche. Und hinten drin – ein Stück Zeitung, damit die Galosche nicht rutschte. Ich brachte das Beweisstück zur Staatsanwaltschaft, aber die sagten: Man kann nichts lesen. Ich hab mir also einen feinen Pinsel und Kinderseife genommen – und zwei Wochen mit dieser Zeitung zugebracht. Als der Text zum Vorschein kam, bin ich in die Bibliothek und hab die passende Zeitung gesucht. Wie sich herausstellte, war es die Krasnaja Karelija [dt. Rotes Karelien – dek], von September 1937 …“
Erste Etappe
Eines Tages, Mitte Oktober 1937, legten am Hafen der Solowezki Inseln drei Lastkähne aus Kem an. Die Lagerinsassen wurden zu einer unerwarteten Generalüberprüfung nach draußen gescheucht. Eine ellenlange Liste wurde verlesen, mehr als tausend Namen von Menschen, die in Etappen verschifft werden sollten.
Von den Menschen, die in diesen Kähnen ablegten, hat nie wieder jemand etwas gehört. Sie sind weder irgendwo angekommen noch in irgendwelchen Dokumenten oder Memoiren aufgetaucht. Es ging die Legende, die Kähne wären im Weißen Meer versenkt worden. Den Angehörigen wurden jahrzehntelang falsche Auskünfte erteilt: „Zehn Jahre ohne Recht auf Briefverkehr“, „Aufenthalt in entlegenem Lager“, „Verstorben an Lungenentzündung, Herzinfarkt …“. Erst mit der Perestroika wurde bekannt, dass man diese Menschen alle erschossen hatte.
Das geschah folgendermaßen: Man holte die Häftlinge [die man per Schiff nach Medweshja Gora transportiert hatte – dek] einzeln aus den Zellen, unter dem Vorwand einer medizinischen Untersuchung. Dann brachte man sie in das „Handfesselzimmer“, wie es die Tschekisten unter sich nannten. Nach Abgleich mit der Liste erklang ein Codewort: „Etappentauglich“. Sofort packten zwei Tschekisten den Gefangenen an den Armen, verdrehten sie auf dem Rücken, während ein dritter sie fest verschnürte. Wenn der Häftling schrie, wurde er mit einem Knüppelschlag auf den Kopf „bewegungsunfähig“ gemacht, ihm wurde mit einem Handtuch so lange die Luft genommen, bis er das Bewusstsein verlor. Die Mörder hatten Angst vor den Schreien: Die Gefangenen sollten nicht wissen, wozu man sie nach Medweshja Gora gebracht hatte. Wenn jemand versehentlich starb, schaffte man die Leiche in den Waschraum.
Wenn 50 bis 60 Menschen zusammen waren, wurden sie von einem Begleitkommando auf Lkw-Ladeflächen gezerrt, dicht an dicht auf den Boden gelegt und mit Planen zugedeckt. Eine Karawane aus mehreren Lkws und einem Pkw als Schlusslicht brach in Richtung Wald auf. Dort hatte ein Arbeitskommando bereits tiefe Gruben in den lockeren Sandboden gegraben. Feuer wurden entzündet, damit die Begleitmänner es warm und hell hatten. Die Autos fuhren dicht an die Gruben heran, einer nach dem anderen wurden die Menschen von der Ladefläche gezogen. In den Gruben warteten die Mörder. Die waren ein halbes Jahr später fast alle selbst tot. Erschossen, wie so viele der am Großen Terror Beteiligten.
Aus ihren Aussagen bei den Kreuzverhören kennen wir das Hinrichtungsmuster. „Dem Gefangenen wurde befohlen, sich mit dem Gesicht nach unten in die Grube zu legen, woraufhin er mit einem Nahschuss aus dem Revolver getötet wurde“, berichtet Matwejew, ein Hauptmann der Staatssicherheit, in seiner Aussage.
War das Erschießungskommando mit einer Gruppe fertig, kehrte ein Teil des Kommandos nach Medweshja Gora zurück, um den nächsten Schub zu holen, während ein anderer Teil dort blieb und neue Gruben schaufelte. In einer Nacht schaffte man bis zu vier solcher Durchläufe. Frauen wurden gesondert transportiert. Gegen vier Uhr morgens beendete man die Operation.
„Einmal hatte der Lkw mit den Menschen hinten drauf während der Fahrt eine Panne und blieb im Dorf Pinduschi liegen. Da fing einer der Verurteilten so an zu schreien, dass man es draußen hören konnte. Um die Geheimhaltung unserer Arbeit zu wahren, musste ich entsprechende Maßnahmen ergreifen, aber es war nicht möglich, im Auto zu schießen, und man konnte ihm den Mund auch nicht mit einem Tuch zubinden, weil die Verhafteten dicht an dicht auf dem Boden der Ladefläche lagen. Also habe ich, um den schreienden Verurteilten ruhigzustellen, ihn mit einem Eisenstab aufgespießt, wie mit einer Stichwaffe, und so sein Schreien beendet.“
Wo die Menschen nicht hingehen
Dmitrijew freundete sich mit Iwan Tschuchin an, dem Leiter des Petrosawodsker Memorial. Auch der kannte sich mit dem Thema aus: Ein Oberstleutnant der Miliz, der sich für die Geschichte des Weißmeer-Ostsee-Kanals interessierte und mit Haut und Haar in die Vergangenheit abgetaucht war. Tschuchin arbeitete an einem Buch, den Totengedenklisten Kareliens von 1937 bis 1938, den Jahren des Großen Terrors. Dmitrijew begann ihm zu helfen.
„Ich saß beim FSB, füllte all diese Karteikarten aus, mehrere tausend Stück – Datum der Festnahme und so weiter, alle Details. Und als ich mit den Karten durch war, begriff ich, dass wir riesige Lücken in den Listen hatten. Ich ging wieder zum FSB und sagte: ‚Ich brauche nicht die ganzen Akten. Gebt mir die Protokolle der Troika-Sitzungen.‘ Das war vielleicht was! Sie ließen mich keine Kopien machen, keine Fotos. Ich musste alles von Hand abschreiben – was schafft man da schon in acht Stunden? Also nahm ich ein Diktiergerät mit, sprach die Protokolle ein, die angehefteten Schriftstücke, von vorne bis hinten … Wort für Wort, Buchstabe für Buchstabe. Dann ging ich nach Hause, hörte es die halbe Nacht ab, schrieb alles auf, glich die Erschießungen mit den Listen der Repressierten ab, ging wieder hin, nahm alles auf und so weiter. Und erst so schufen wir langsam eine mehr oder weniger zuverlässige Grundlage.“
Den Archiven entnahm Dmitrijew, dass es in Karelien sehr viele Hinrichtungsstätten gegeben haben musste. Aber sie wurden streng geheimgehalten, in den Dokumenten sind nie konkrete Orte genannt. Den Erschießungsort kannte nicht einmal die Führung, nur der Kommandeur des Erschießungskommandos und das Kommando selbst. In den Akten fanden sich nur vereinzelt indirekte Hinweise.
Und so begann Dmitrijew zu suchen: Den Winter verbrachte er im Archiv, im Sommer ging er in die Wälder. Wie Erschießungsgräber aussahen, das wusste er bereits.
Er las eine Schäferhündin von der Straße auf, nannte sie Wedma, Hexe, und brachte ihr bei, Grabstätten aufzuspüren. Die beiden wurden ein unzertrennliches Paar, verschwanden monatelang zu zweit in den Wäldern. Und so kennen Dmitrijew alle: dürr, schroff, immer in Matrosenshirt und Tarnanzug, mit der immergleichen Belomor-Zigarette zwischen den Zähnen und Wedma auf der Rückbank des verbeulten Niva.
„Alles, was er wissen will, erfährt er innerhalb von zehn Minuten. Er spricht alle Omas an. Er hat uns beigebracht, welche Fragen man stellt. Man darf nicht nach den konkreten Ereignissen fragen, sondern zum Beispiel: Welche Stellen werden hier gemieden? Vor welchen Orten haben die Menschen Angst?“
Alle Grabstätten waren getarnt.
„In Sulashgora bin ich einmal fast durchgedreht … Ich weiß ja, wie der Mensch aufgebaut ist, wo welcher noch so kleine Knochen am Skelett hingehört. Aber da waren die menschlichen Knochen mit etwas anderem vermischt. Ich bin zum Tierarzt gelaufen – ein Schwein! Eine Aasgrube war das. Warum? Weil es Jäger mit Hunden gibt. Die Hunde wittern was, fangen an zu scharren, dann gräbt vielleicht auch mal der Jäger und findet plötzlich einen Toten. Also hat man am Ende immer ein totes Schwein oder irgendwas reingeworfen: Hier ist eine Aasgrube, haltet euch fern.“
Abgesackte Böden
1997 wurde Dmitrijew von den Petersburger Memorial-Mitarbeitern Wenjamin Iofe und Irina Flige gebeten, nach der Hinrichtungsstätte der ersten Gefangenen-Etappe von Solowezki zu suchen. Die Suche gestaltete sich äußerst schwierig. Die Bahnstation Medweshja Gora liegt mitten in der Taiga. Aus den Aussagen wusste man nur, dass die Lastwagen mit den Verurteilten das Dorf Pinduschi passierten, sie also irgendwo im näheren Umkreis der Straße nach Powenez erschossen worden waren. Aus der Anzahl der Fahrten pro Nacht und anderen indirekten Hinweisen schlossen die Memorial-Mitarbeiter, dass die Fahrtzeit zum Zielort etwa eine halbe Stunde betragen haben musste, circa 20 Kilometer.
Die Zeiten waren andere – die Kreisverwaltung leistete Unterstützung, wo sie konnte, die Führung der hiesigen Armeeeinheit stellte einen Trupp Soldaten bereit, um bei der Suche zu helfen.
„Ich gehe mit dem Oberleutnant langsam den Waldweg entlang und überlege: Welche Stelle hätte ich wohl gewählt? In einem der Verhörprotokolle hatte ich gelesen, wie sie instruiert wurden: Nicht weiter als zehn Kilometer vom Ort der Internierung und so, dass man die Schüsse nicht hörte, das Licht der Scheinwerfer, den Widerschein der Lagerfeuer nicht sah. Hier? Nein, zu nah an der Straße. Dort? Schon eher, aber noch etwas weiter. Ja, hier ist es genau richtig … Und plötzlich, während ich das denke, fallen mir zu beiden Seiten der Straße gerade, rechteckige Erdmulden auf, mit abgesackten Böden. Und als wir uns umsehen, wimmelt es überall nur so von diesen Erdmulden …“
So weit das Auge reichte war der Wald übersät von Gräbern. Gleich bei den ersten Grabungen entdeckte man Schädel mit Einschusslöchern darin. Bei der Menge der Grabstätten war sofort klar, dass hier nicht nur die Häftlinge der Solowezker Etappe erschossen worden waren, sondern noch sehr viele andere Menschen. Viele von ihnen waren den Memorial-Mitarbeitern bereits bekannt.
Unter den Opfern waren Leute, deren akademische Titel eine Schreibmaschinenseite sprengten und deren Liste wissenschaftlicher Arbeiten so dick war wie ein Schreibheft. Etliche Intellektuelle, Soldaten und Offiziere der Weißen Armee und natürlich Geistliche, darunter vier, die von der Kirche heilig gesprochen wurden. Insgesamt um die 9000 Menschen.
Es ist eines der größten Massengräber des Stalinistischen Terrors, zu nennen in einer Reihe mit der Lewaschowo-Brache, dem Butowo-Poligon, Kommunarka, Kuropaty und Katyn.
Der Ort hatte keinen Namen. Bei der Durchsicht alter Karten entdeckte Dmitrijew in der Nähe den Flurnamen Sandarmoch. Also wurde die Fundstelle nach diesem Waldstück benannt.
Sandarmoch
Im Norden ist es still. Die Geräusche – das Klopfen eines Zuges, das Gepolter von Steinen, die vom Kipplaster rutschen, das Dröhnen eines Motors auf der Landstraße – zerreißen diese Stille nur kurz. Nach Sandarmoch sind es drei Stunden mit dem Zug von Petrosawodsk bis zur Bahnstation Medweshja Gora und dann zwanzig Kilometer mit dem Bus, der nach Powenez fährt. Eine unmerkliche Kurve, vierhundert Meter einen Waldpfad entlang, am Ende – eine kleine Lichtung mit einem scharfkantigen Stein und einer Holzkapelle, dahinter wieder Wald, ein gewöhnlicher karelischer Wald, karelische Kiefern. Und an jedem Stamm: das Portrait eines hier ermordeten Menschen. Es duftet nach Nadelholz, unter den Füßen knirscht der Schnee, die Schatten werden blau, ein Specht klopft den Takt. Und von jedem Baum blicken mich Menschen an, Schwarzweißfotos. Ich gehe durch den Wald, zwischen den Bäumen hindurch – und sie sind überall, Tausende von Menschen. In diesem Leben wurden all diese Menschen zu Bäumen. Und jeder Baum erzählt mir, was für ein Mensch er einmal war.
Ich verliere mich, wandere lange durch den Wald. Komme wieder an der Lichtung heraus, wo der große Felsblock steht, den Dmitrijew und sein Freund Grischa Saltup hier vor zwanzig Jahren aufgestellt haben. Darauf eine Inschrift: „Menschen, tötet einander nicht!“ Dieser scheinbar banale Aufruf hallt beim Verlassen des Waldes wie deine eigene, inständige, naive Bitte.
Bis aufs Grab genau
„Er ist ja gar kein Historiker“, sagt die Leiterin des Memorial-Museums Irina Galkowa, „aber er kennt sich unheimlich gut aus, und er hat ein unglaublich feines Gespür für Details, für sachliche genauso wie archivarische. Ich kenne keinen anderen, der durch Tausende von Akten gehen und dabei die immergleichen langweiligen Daten herausschälen könnte, alles miteinander vergleichen, Kärtchen ausfüllen … Ein Grab auszugraben ist an sich ja schon ein makaberes Unternehmen. Aber dann ist da ja noch diese ganze langatmige Arbeit – vergleichen, vermessen, Details gegenüberstellen. Wofür macht man das alles? Um den Erschießungsbefehl zu finden, der zu diesem konkreten Grab gehört. Dieser Erschießungsbefehl erlaubt es, alle Ermordeten mit Namen zu nennen – die konkreten Menschen, die in diesem einen Grab liegen. Eine ungeheure Arbeit, niemand in Russland macht sie außer ihm.“
Die Entdeckung von Sandarmoch wurde zum zweiten Schlüsselmoment in Dmitrijews Leben. Für viele Jahre tauchte er in die Schicksale der dort hingerichteten Menschen ein. Innerhalb von zehn Jahren hat er den Großteil der Erschießungsbefehle zugeordnet, für etwa siebeneinhalbtausend Menschen. Es ist die einzige Hinrichtungsstätte in Russland, bei der die meisten der Opfer namentlich bekannt sind, viele bis auf die Grube genau.
Katja
Kurz vor der Entdeckung von Sandarmoch hatte Dmitrijew eine Stelle als Wachmann angenommen und eine verlassene Militärfabrik am Stadtrand bewacht. Das war genau das richtige für ihn: Es gab genug Freizeit und ein minimales Gehalt. Alle seine Suchaktionen bezahlte Dmitrijew aus eigener Tasche, er hat nie im Leben Forschungsgelder erhalten, nicht eine müde Kopeke. Er ließ sich einen Bart und lange Zotteln wachsen – seine Freunde tauften ihn Chottabytsch. Mitte der 1990er hatte seine Frau ihn verlassen, seine beiden Kinder, Jegor und Katja, damals etwa zehn und elf, blieben bei ihm.
„Er blieb allein, bis die Kinder erwachsen waren“, erzählt Irina. „Wenn er davon sprach, klang das immer, als wäre das ein Gesetz: ‚Meine Kinder sollen keine Stiefmutter haben.‘ Er hat eine etwas pathetische Einstellung dazu, was ein Vater sein muss. Eine Familie, die von ihm abhängt und der er sich bedingungslos aufopfert, ist ihm ungeheuer wichtig.“
Dmitrijews Zuhause ist eine Junggesellenwohnung im obersten Stockwerk einer Chruschtschowka in einer Vorstadtsiedlung. Jetzt, nach seiner Verhaftung, lebt hier seine Tochter Katja mit ihren Kindern. Es riecht nach Hund und kaltem Belomor-Rauch. Eine altersschwache Wohnzimmerschrankwand mit Kristallgeschirr, lauter Krimskrams über dem typisch chaotischen Schreibtisch à la sowjetischer Ingenieur …
Katja ist etwas über 30, eine eher grobe, schroffe, schnörkellose junge Frau, die beim Notdienst der Wohnungs- und Kommunalwirtschaft arbeitet. Schreit ihre Kinder an wie ein Feldwebel. Das macht mich anfangs etwas nervös, aber dann verstehe ich, dass das nur eine Angewohnheit ist, vermutlich hat sie das von ihrem Vater. Es sind gute Menschen, und sie haben ein gutes Verhältnis zueinander. Danik bringt mir einen Teller Borschtsch und Mayonnaise.
„Er hat immer nur vier Stunden geschlafen – die ganze Zeit war er mit diesen Listen zugange! Ist doch klar, dass du völlig fertig bist. Aber ewig Kaffee und Papirossy – nach dem Motto ich muss, ich muss! … Jura, sage ich, rasier dich mal. Du siehst aus wie ein Waldschrat! Lass mich, sagt er. Und ich: Dann komm ich nachts und rasier dich! Nein, sagt er, solange das Buch nicht fertig ist, werd ich mich nicht rasieren, und meine Haare bleiben auch dran … Als dieses große Gedenk-Buch rauskam, hieß es, es würde sich vielleicht verkaufen lassen. Da sagt er: Was heißt denn verkaufen? Vielleicht ist es für irgendein Großmütterchen, irgendeine Rentnerin, ihr ganzer Lebenssinn? Er kratzte hier und da was zusammen, packte seine Sachen – und zog wieder los, ließ sich seinen Bart wachsen.“
Sekirka
Sandarmoch bescherte Dmitrijew eine weitere Leidenschaft: Er beschloss, koste es, was es wolle, die beiden anderen Solowezker Etappen zu finden, die zweite und die dritte. Die Suche nach der zweiten Etappe führte Dmitrijew in die Gegend bei Lodeinoje Pole [in der Nähe von St. Petersburg – dek]. Gefunden hat er sie noch immer nicht, aber er durchkämmt weiter jeden Sommer dort die Wälder.
Die dritte Etappe hat, wie ihm klar wurde, niemals abgelegt: Die Schifffahrtssaison war vorbei, und so wurden die Häftlinge gleich dort, auf den Solowezki Inseln, erschossen. Bei seiner Suche nach der dritten Etappe stieß Dmitrijew auf die Erschießungsgruben am Sekirnaja Gora – wohl einem der schrecklichsten Orte der Menschheitsgeschichte.
Der Strafisolator auf dem Sekirnaja Gora befand sich in einer großen zweistöckigen Kirche, die niemals geheizt wurde. Bei der Ankunft wurde der Häftling komplett entkleidet, sämtlicher persönlicher Gegenstände entledigt und in einen Kittel aus Leinsäcken gesteckt.
Zu Essen gab es auf Sekirnaja Gora so gut wie nichts – 300 Gramm von irgendeinem Moder, der in den umgeschlagenen Kittelsaum gekippt wurde. Den ganzen Tag mussten die skelettgleichen, schmutzigen, halbtoten Menschen auf speziellen Sitzstangen ausharren, die so angebracht waren, dass die Füße kaum bis zum Boden reichten, und durften sich nicht rühren. Im Winter bei grausamster Kälte, im Sommer übersät von Tausenden von Mücken. Wer nicht gehorchte, wurde mit Stöcken geschlagen, gefesselt oder in die „steinernen Säcke“ gezwängt – Nischen, die seinerzeit Mönche zur Aufbewahrung von Lebensmitteln in den Fels gehauen hatten. Geschlafen wurde auf dem reifbedeckten Steinboden, zusammengedrängt zu sogenannten „Wärmegruppen“ (die Beine des einen geschlungen um den Hals des nächsten), oder in drei Reihen übereinander gestapelt, immer abwechselnd. Jede Nacht starb jemand aus der untersten Reihe, die Aufseher zogen die Leichen heraus, und die Häftlinge, völlig von Sinnen, hinderten sie daran – aus Angst, sich auf den Steinboden legen zu müssen.
Sekirnaja Gora war der Vernichtungsort des Lagers, länger als zwei Monate überlebte dort niemand. Schon im Voraus, im Herbst, wurden am Fuß des Berges Gräben für die Leichen gegraben. Genau hier fand auch der Großteil der Erschießungen von Solowezki statt. Auf dem Sekirnaja Gora gab es sechs hauptamtliche „Henker“. Den Erinnerungsberichten nach zu urteilen, wurden dort wöchentlich um die zehn Menschen hingerichtet. Aber es gab auch Massenerschießungen: 140 ehemalige Weißgardisten, die der Vorbereitung eines Aufstands bezichtigt wurden (der sogenannten Solowezker Verschwörung, ein von der OGPU fabrizierter Fall); 125 Häftlinge, die bei der Verladung von Holz für die Ausfuhr gearbeitet und Hilferufe in die Stämme geschnitzt hatten; 148 gläubige Christen, die sich weigerten, „für den Antichrist“ zu arbeiten – das sind die Fälle, die belegt sind.
Eine dieser Begräbnisstätten mit 70 Erschossenen darin hat Dmitrijew entdeckt. Es gelang ihm nicht, die Namen herauszufinden – die Archive des Solowezki-Lagers sind entweder vernichtet oder streng geheim. Also bat er einfach die Mönche, eine Messe für die Toten abzuhalten, beerdigte sie und stellte Kreuze auf.
Charon
Ich versuche immer noch zu verstehen und frage alle danach: Was hat diesen Mann dazu bewegt, völlig uneigennützig dreißig Jahre seines Lebens dem unappetitlichen und eintönigen Herumwühlen in Knochen und Karteikarten zu widmen, den Reisen ins Reich der Toten? Es ist ja eine Sache, einen Friedhof zu finden, oder zwei, drei … aber dreißig Jahre?
Ein Schreibtischgelehrter hätte niemals wirklich in das damalige Leben eintauchen, es zu seinem eigenen machen können. Da wäre immer eine unüberwindbare Grenze geblieben hinter der durchsichtigen Schicht der Zeit. Aber Dmitrijew hat ein magisches Ritual gefunden, das ihre Schicksale zu einem Teil seines eigenen macht. Er grub die Toten aus, gab ihnen Namen, beerdigte sie wieder – und trat damit in ihre Leben, all diese Menschen wurden zu seinen Angehörigen. Ihre Knochen wurden zu seinen Knochen. Er wurde zu Charon, der einen kleinen Teil ihrer Seelen wieder in die Welt der Lebenden zurückbrachte. Er stand ganz offenbar in irgendeiner Verbindung zu den Toten.
Naturgemäß wurde Dmitrijew zu einem Gläubigen, einem Mystiker. Er sagte, er würde die Stimmen der Toten hören – in den schlaflosen Nächten, wenn er in den Karteikarten blättere, und im Rascheln der Äste im Wald.
„Auf dem Friedhof in der Nähe der achten Schleuse am Belomorkanal zündete ich eine Kerze an, begann, für den Seelenfrieden der Verstorbenen zu beten, und ich hörte von allen Seiten: Denk auch an mich, und mich, und mich …“
In diesen dreißig Jahren hat Dmitrijew überwältigend viel getan – niemand in Russland hat so viel ausgegraben wie er. Er schuf Geschichte, die es vor ihm nicht gegeben hat, und er veränderte Stück für Stück die Welt um ihn herum. Nicht jeder Historiker kann das von sich behaupten.
Einer nach dem anderen entstanden in Karelien Orte, die zum Nachdenken bewegen. Scheinbar war dort alles in Ordnung – und plötzlich, nach zwanzig Jahren, finden die Bürger heraus, dass sie umgeben sind von Gräbern voller Erschießungsopfer. Und jetzt müssen sie etwas mit dieser Geschichte tun, es ist nicht mehr möglich, sich abzuwenden, zu vergessen …
Gefahr
Den Gesprächen mit seinen Freunden entnehme ich, dass Dmitrijew im vergangenen halben Jahr sichtlich nervös war, mehrfach äußerte, dass man ihn holen würde.
Chottabytsch spürte, dass man ihn beobachtet, aber er wusste nicht, was er genau verstecken sollte. Im November vergangenen Jahres veröffentlichte Memorial die aufsehenerregenden sogenannte Henkerslisten – Listen mit den Namen von NKWD-Mitarbeitern, die unmittelbar am Großen Terror beteiligt waren. Dmitrijew hatte an diesem Projekt nicht mitgewirkt, allerdings bekam er in den ersten Dezember-Tagen mehrere Anrufe von einer anonymen Person, die herauszufinden versuchte, ob er Informationen über die Massenmörder besaß.
„Er hatte schon länger davon gesprochen, dass jemand in seinem Computer herumwühlt, dass man ihn abhört“, erzählt Katja. „Ich hab zu ihm gesagt: ,Hör auf zu spinnen, James Bond!‘ Und dann rief er mich an: ‚Komm bitte morgen früh und bleib ein bisschen hier. Es muss jemand da sein morgen.‘ Ich sagte: ‚Ich kann nicht, ich muss arbeiten.‘ ‚Was ist mit Danik?‘ Ich fragte: ‚Was ist passiert?‘ Und er: ‚Schon gut …‘“
Am 10. Dezember 2016 bekam Dmitrijew Besuch von einem Polizeibeamten, der ihn bat, am nächsten Tag wegen irgendwelcher Formalitäten auf dem Revier zu erscheinen. Dmitrijew erschien und wurde vier Stunden lang zu irgendwelchen Jagdgewehren ausgequetscht. Als er nach Hause kam, wurde ihm klar, dass jemand in seiner Wohnung gewesen war und seinen Computer durchforstet hatte.
Einen Tag später wurde Dmitrijew wegen des Verdachts auf Herstellung von Kinderpornographie festgenommen. Als Beweismittel dienten Fotos der nackten Nataschka.
Nataschka
Als Jegor und Katja erwachsen waren, heiratete Dmitrijew zum zweiten Mal. Seine Frau und er nahmen ein dreijähriges Mädchen aus dem Kinderheim bei sich auf, Natascha. Alle sagen, das sei ein ungeheuer wichtiger Moment für ihn gewesen. Dmitrijew, selbst ein Heimkind (er war noch ganz klein, als seine Eltern ihn zu sich nahmen), betrachtete dies als seine Pflicht. Man wollte ihm kein Kind geben, es hieß, er sei zu alt. Aber Dmitrijew zog vor Gericht, durchbrach alle Mauern, besuchte Kurse für Pflegeeltern – und bekam Nataschka.
„Ich habe als letzte davon erfahren“, erinnert sich Katja. „Weil sie wussten, wie eifersüchtig ich bin … Ich liebe meinen Papa sehr, seine Aufmerksamkeit ist mir sehr wichtig. Als sie es mir sagten, war ich wie erstarrt, meine erste Reaktion war: ,Hoffentlich kein Mädchen?‘ Allein die Vorstellung, dass er zu jemandem anders Töchterchen sagt … Naja, und dann kam diese Natascha, komisch war die. Furchtbar dünn, unterernährt, schielte, hatte den Kopf voller Läuse. Später erst, da wurde sie der Chef. Da staunst du nur so!“
„Als seine Frau gegangen ist, war er natürlich erstmal etwas ratlos“, erzählt Katja. „Aber mit vereinten Kräften ging es irgendwie. Natürlich war ich jeden Tag da, hab geholfen, Essen gemacht. Und dann komm ich eines Tages, und siehe da – er hat sich dran gewöhnt, überall hängt Wäsche, wie bei einer Hausfrau. Wir waren ständig zusammen. Er ging auf seine Expeditionen, ich nahm Nataschka zu mir, später nahm er sie mit. Meine Kinder waren ständig dort, sie gingen auf dieselbe Schule. Er schleppte sie zu allen möglichen Kreisen, überallhin, er hat sich ihr richtig angenommen.“
„Nataschka entwickelte sich sehr langsam“, sagt Olga Kersina vom Moskauer Kinokolledsh. „Dmitrijew machte sich Sorgen, dachte, das wäre, weil sie sich schon so an seine Frau gewöhnt hatte. Er ist zu allen Ärzten gerannt, die sagten, dass sie nicht wächst, weil sie emotional schwer traumatisiert sei. Er suchte nach Fachärzten, dachte, er würde sie in Moskau finden. Er hatte einen ziemlichen Tick, was ihre Gesundheit anging.“
„Eine Verbundenheit wie im Krieg war das, Wahnsinn!“, sagt Irina Galkowa. „Dass Nataschka auch ein Mensch mit einem schlimmen, von Beginn an schwierigen Schicksal ist, an dem er nun teilhat und wofür er verantwortlich ist – das war Juri sehr bewusst.“
„Er hat sie auf dem Sekirnaja Gora taufen lassen. Das war im August, ein furchtbarer Tag, windig, grau, kalt. Aber es war ihm sehr wichtig, sie genau dort taufen zu lassen. Ich saß vorher mit ihr in der Banja [zur obligatorischen Waschung vor der Taufe – dek], wir haben das Vaterunser und das Glaubensbekenntnis gelernt, das war sehr schön. Auch sehr ernst, weil Papa gesagt hat, es muss sein. Und als sie getauft war, kam die Sonne raus – es war unglaublich. Er war sehr glücklich, und sie war auch glücklich. Da war so viel Liebe.
Das, was danach geschah, ist eine scheußliche Geschichte, denn er hat sie ja sehr lieb.“
Verhaftung
„Als es passierte, hatte ich an die 40 Grad Fieber“, erzählt Katja weiter. „Ich stand unter Schock, sie haben mich vor dem Gefängnis festfrieren lassen, ich stand vor dem Eisentor, niemand hat mich beachtet. Und Nataschka konnte ich nicht finden. Der Ermittler wollte nicht mit mir reden, ich schrie in den Hörer, war völlig hysterisch, ich verstand überhaupt nichts mehr. Dann durfte er mich anrufen, er sagte: ‚Die wollen mir irgendwas mit Pornographie anhängen, ich soll Fotos ins Internet gestellt haben …‘ Was für ein Schwachsinn, er hatte keinen blassen Schimmer wie man im Internet überhaupt irgendwas macht … Er sagte: ‚Katja, ich verstehe ja selbst nichts, aber mit so einer Anklage hat man im Lager kein ruhiges Leben … Da kriegt man vielleicht acht bis zehn …‘ Und ich: ‚Tage?‘ ‚Nein, Jahre.‘“
Zuerst verstand niemand etwas. Dann stellte sich heraus, dass es um Fotos von Natascha ging, die Dmitrijew für die Vormundschaftsorgane gemacht hat.
„Ich rufe Nataschka an – das Handy ist aus. Es ist schon dunkel, die Schule gleich zu Ende, ich weiß nicht, wo das Kind steckt! Ich renne zurück nach Hause, da ist sie nicht … Ich bin fast verrückt geworden. Dann, mitten in der Nacht, ruft sie mich an: ‚Wo ist Papa?‘ Das Jugendamt hat sie von der Schule abgeholt, um zehn Uhr morgens, als sie auch ihn abgeholt haben, und in ein Heim gebracht. Ich bin losgefahren, hab dieses Heim gefunden, die Frauen dort waren nett, zeigten Mitgefühl und ließen mich zu ihr. Sie hatte ihnen schon alles erzählt: Wie sie ihren Papa liebt, wie sie mich liebt, und Sonja und Danik, und dass sie Sambo betreibt. Sie hängte sich an mich ran: ‚Warum ist Papa nicht gekommen?‘ Ich sagte: ‚Wenn Papa nicht kann, dann komme ich und nehme dich mit, warte nur ein bisschen.‘ Und dann bekomme ich einen Anruf vom Jugendamt: Der Ermittlungsrichter hat verfügt, dass Verwandte von Juri Alexejewitsch nicht mit Natascha sprechen dürfen.“
Etwa einen Monat verbrachte Natascha im Heim, dann kam sie zu ihrer leiblichen Großmutter, in ein Dorf im Norden Kareliens.
„Als Nataschka das mit ihrem Vater im Internet gelesen hatte, rief sie mich an: ‚Katja, warum machen die das?! Das ist doch alles nicht passiert! Was wollen die von ihm?‘ Sie schreibt ihm Briefe, dass sie ihn sehr liebt, dass sie nach Hause will. Die Oma sagt zwar, dass sie sich schon eingelebt hat – doch sie kämpft wieder ihre Kämpfe ohne Regeln, in der Schule und überall. Ich rufe immer an, halte sie zum Lernen an, halte die Oma an, ihre Hausaufgaben zu kontrollieren.“
Rauch ohne Feuer
Das Unterfangen, ein nacktes Kind zu fotografieren, kam selbst mir anfangs, ehrlich gesagt, ziemlich seltsam vor. Wenn man hört, dass jemand der Herstellung von Kinderpornographie beschuldigt wird, fällt es schwer, locker zu bleiben – selbst wenn man vermutet, dass die Anklage stark überzogen ist. Wenn ich jemandem von diesem Fall erzähle, reagieren die meisten mit: „Ja, aber warum hat er sie fotografiert?“
Drei Wochen lang führte ich Gespräche mit verschiedenen Leuten, in Petrosawodsk, Petersburg, Moskau, fragte sie nach Dmitrijew, Nataschka, den Bildern. Ich glaubte nicht an die Pornoversion, aber ich versuchte trotzdem zu verstehen, welche Merkwürdigkeit ihn dazu bewogen hat, seine nackte Tochter zu fotografieren.
Irina und andere Freunde von ihm berichten, dass das Mädchen völlig unterernährt und stark entwicklungsgestört aus dem Kinderheim gekommen sei. Das Verhältnis zu den Behörden war anfangs angespannt, weil Dmitrijew sich das Kind erkämpft hatte. Bald kam es zu einem Konflikt im Kindergarten: Die Erzieherinnen behaupteten, Natascha hätte blaue Flecken – wie sich herausstellte, waren es in Wirklichkeit Farbspuren von einer Zeitung, die seine Frau unter die wärmenden Senfpflaster gelegt hatte.
Im Grunde alles Kleinigkeiten, aber Dmitrijew machte es sich daraufhin eisern zur Regel, Nataschka einmal im Monat nackt zu fotografieren – vier Aufnahmen: von vorne, von hinten, von links und von rechts. Am Anfang einmal im Monat, dann alle drei bis vier Monate, und vor ungefähr zwei Jahren hörte er ganz damit auf.
„Auf seiner Festplatte waren 144 Fotos in nach Jahren sortierten Ordnern“, sagt sein Rechtsanwalt Viktor Anufrijew. „Davon sind überhaupt nur neun Gegenstand der Klage. Wenn sein Interesse sexueller Natur wäre, wäre das Verhältnis doch wohl nicht neun aus 114, sondern umgekehrt, oder? Von diesen neun ist die Hälfte völliger Humbug, da rennen Natascha und Katjas Kinder zusammen ins Badezimmer, sitzen in der Wanne. Auf den anderen steht sie einfach nur da. Darauf wären die Genitalien zu sehen, sagen sie – das kann ich nicht beurteilen, ich bekomme die Fotos mit schwarzen Quadraten. Und einmal hat er sie fotografiert, als sie nackig geschlafen hat. Ich sage Ihnen ganz klar: Hier wird kein Tatbestand erfüllt, da gibt es nichts zu diskutieren.“
Dmitrijew ist nicht einmal auf die Idee gekommen, die Fotos seiner Tochter zu löschen, obwohl er schon ahnte, dass die Ladung aufs Polizeirevier dazu diente, ihn aus der Wohnung zu bekommen.
Die Ironie des Schicksals liegt gerade darin, dass er die Aufnahmen aus Angst davor aufbewahrte, Nataschka zu verlieren, er sah sie als Beweis für ihre Gesundheit.
„Das war so ein beruflicher Tick von ihm – alles zu dokumentieren, abzufotografieren“, sagt Olga Kersina. „Wenn sich jemand dreißig Jahre lang mit Knochen beschäftigt, hat er ein völlig anderes Verhältnis zum menschlichen Körper, einen distanzierten Blick. Er muss bestimmen, was das für Menschen sind, welchen Geschlechts, wie alt, woran sie gestorben sind … Alles muss festgehalten werden, genau fotografiert, verschriftlicht. Vielleicht hat ihm der Vorfall mit den blauen Flecken gezeigt, dass er Fotos als Beweismittel braucht. Nataschas Gesundheit steht für ihn an oberster Stelle. Diese Fotos sind eindeutig Gesundheitstagebücher. Es liegt eben einfach in seiner Natur: Er schießt gerne übers Ziel hinaus, geht bei allem bis zum Äußersten, bis auf den Grund.“
„Vor allem: Jura ist dermaßen weit entfernt von diesem Vorwurf!“, sagt sein Freund Anatoli Rasumow. „Seine Moralvorstellungen sind dem völlig entgegengesetzt! Mit Leuten, die das tun, was sie ihm vorwerfen, würde er sonstwas machen.“
„Man muss schon pervers sein, um da Pornographie zu sehen“, sagt Katja. „Wenn ein Mann 50 ist und die Frau 30 – schon das findet er verrückt: ‚Wie kann man nur?‘ Er ist 60, also muss die Frau 50 sein, und selbst das sind für ihn junge Hüpfer. Will sagen, er ist für Beziehungen auf Augenhöhe, schon mit 20 Jahren Altersunterschied kann er nichts anfangen, hat mich immer nur mit großen Augen angeschaut: ‚Aber Katja, was ist denn das …‘“
Zunächst wurde Dmitrijew nur die Herstellung von Pornographie zur Last gelegt. Aber der Paragraph umfasst auch die Veröffentlichung und Verbreitung. Genau das haben die Ermittler gleich behauptet, und danach auch der FernsehkanalRossija 24. Aber Dmitrijew hatte mit dem Internet nichts am Hut, er hat nicht einmal Bilder per E-Mail verschickt. Nachträglich etwas ins Netz stellen konnte man nicht – eine solche Fälschung wäre viel zu kompliziert. Wahrscheinlich wurde die Anklage wegen Verbreitung deshalb schnell wieder fallengelassen, aber der Porno-Paragraph selbst blieb.
Das Gutachten darüber, ob diese Aufnahmen als pornographisch zu werten sind, bestellte die Ermittlungsbehörde beim Zentrum für soziokulturelle Expertisen, einer „unabhängigen gemeinnützigen Organisation“. Dabei handelt es sich um eine bekannte Firma, die in industriellen Mengen Gutachten produziert, die vom Zentrum E und dem FSB in Auftrag gegeben werden. Zu ihren jüngsten Werken gehören: Die „Verletzung religiöser Gefühle von Gläubigen“ im Torfjanka-Park und die Aufdeckung der extremistischen Natur der Zeugen Jehovas. Vier Experten sind dort zugange: ein Kunsthistoriker, ein Mathe-Lehrer, ein Politikwissenschaftler und ein Englisch-Übersetzer. Diese Leute wurden bereits der Aneignung gefälschter akademischer Grade überführt, der direkten Unterschiebung (sie schrieben Dinge in die zu analysierenden Texte, die dort nicht standen) und natürlich der massenhaften Erstellung von Gutachten zu Themen, von denen sie keine Ahnung haben. Berühmtheit erlangte das Zentrum dadurch, dass es eine Bibel, die man den Zeugen Jehovas abgenommen hatte, als extremistische Literatur einstufte. Nach Meinung der Experten sei eine „Bibel, als Buch begriffen, nicht mehr die Bibel, zu der wird sie einzig und allein in der Kirche“.
Die Fotografien von Natascha erklärten sie zu Pornographie – und das ist das Einzige, worauf sich die Anklage stützt. Dmitrijews Rechtsanwalt stellte einen Antrag auf Begutachtung durch ein beliebiges Zentrum für Sexualpathologie – der natürlich abgelehnt wurde.
Vier Monate später präsentierte die Ermittlungsbehörde Dmitrijew zwei weitere Anklagen: wegen unzüchtiger Handlungen und illegalen Besitzes von Waffen. Die unzüchtigen Handlungen bestanden aus Sicht der Ermittler im Akt des Fotografierens eines nackten Kindes. Und die Waffen, die Dmitrijew besaß, waren völlig legal: In seiner Jugend hatte er gejagt, in den ganzen letzten Jahren trug er bei seinen Wanderungen im Wald eine Pistole mit sich – in Karelien wimmelt es vor Bären. Aber vor einigen Jahren hat er ein paar Jungs im Hof eine uralte, rostige Flinte abgenommen. Sie war völlig kaputt, zum Schießen untauglich – aber sicher ist sicher … Und ebendiese Flinte haben sie bei der Durchsuchung gefunden. Nach Aussage des Rechtsanwalts lässt sie sich unmöglich reparieren: „Und selbst wenn, womit sollte man schießen? Solche Patronen kann man seit 50 Jahren nicht mehr kaufen.“
Schatten
Ich verliere mich lange in Mutmaßungen, wem Dmitrijew wohl im Weg war, dieser wenig bekannte Memorial-Mitarbeiter aus Petrosawodsk, der weder politisch noch als Menschenrechtler aktiv war. Ist Chottabytsch etwa wirklich einem der Mächtigen im hiesigen Mikrokosmos auf den Senkel gegangen? Oder gab es eine Order aus Moskau zur Einschüchterung von regionalen Memorial-Zentren? Oder wurde alles nur für diese Sendung auf Rossija 24 eingefädelt (Nataschas Fotos landeten seltsamerweise gleich nach der Verhaftung beim Fernsehsender WGTRK)? Oder war es bloß Zufall: Hatte man routinemäßig die hiesigen Aktivisten beobachtet, auf der Festplatte gewühlt, die Fotos entdeckt und beschlossen, die Sache aufzurollen?
Aber langsam ergab sich aus den diversen Gesprächen ein Bild. Wie das Schicksal es will, trat ein Schatten hinter den zugewachsenen Gräbern von Sandarmoch hervor. Die Begräbnisstätte vereint sehr viele Nationalitäten, was im Wesentlichen jener ersten Etappe geschuldet ist. Es liegen dort Massen von Ukrainern, Polen, Finnen, Georgier, Aserbaidschaner, Tataren, Wainachen begraben, sogar Schweden und Norweger. Jedes Jahr am 5. August besuchen verschiedene Delegationen diesen Ort. So ergab es sich, dass die Gedenkfeiern in Sandarmoch von Anfang an internationale Veranstaltungen waren. Es kamen offizielle Persönlichkeiten, und auch hohe Regierungsvertreter mussten immer hin, ob sie wollten oder nicht.
So ging es bis 2016, als, so heißt es, eine Anordnung durch die Verwaltungsbehörden ging: keine Sandarmoch-Besuche mehr. Zum ersten Mal waren weder Vertreter der Russisch-Orthodoxen Kirche anwesend, noch fand die traditionelle Kreuzprozession statt (obwohl noch 2010 Patriarch Kirill höchstpersönlich die Messe abgehalten hatte). Dafür wimmelte es vor Journalisten der offiziellen karelischen Medien. „Sie bekamen spezielle, von den Behörden vorbereitete Fragen ausgeteilt und befragten die ausländischen Gäste, warum sie hergekommen waren und so weiter. Das wurde nie für irgendwelche Publikationszwecke genutzt, ist einfach irgendwo nach oben geflossen …“
Besonders häufig wird Sandarmoch von Polen und Ukrainern besucht – mit der Solowezker Etappe hatte man große Teile der ukrainischen Intelligenz und zahlreiche polnische Geistliche ermordet. 2015 hatte die Botschafterin Katarzyna Pelczinska die Gedenkfeier besucht und Dmitrijew das Goldene Verdienstkreuz überreicht, eine der höchsten Auszeichnungen Polens. Offenbar beschloss man daraufhin, dass mit Sandarmoch nun langsam Schluss ist. Zumal der Friedhof 2017 ein Jubiläum feiert – zwanzig Jahre seit seiner Entdeckung, dazu jährt sich der Große Terror zum 80. Mal. Den Behörden dämmerte, dass die Leute in Scharen kommen würden.
Gleichzeitig begann im vergangenen Sommer in Petrosawodsk eine Kampagne, die regionale Geschichte umzudichten. Erst tauchte in der Presse eine Nachricht von Juri Kilin auf, einem Professor an der Universität von Petrosawodsk. Er äußerte die Vermutung, in Sandarmoch seien nicht nur Repressionsopfer begraben, sondern auch Kriegsgefangene, die von Finnen erschossen worden seien.
„Eine Behauptung, die aus der Luft gegriffen ist“, sagt Irina Galkowa. „In Analogie dazu, dass die Finnen die Lager des Gulag für ihre eigenen Kriegsgefangenen benutzt haben. Nach dem Motto, wenn sie die Lager benutzten, dann haben sie wohl auch Erschießungen durchgeführt. Eine krude Logik. Aber die These hat gefruchtet. Und wenn es im ersten Stadium eine bloße Vermutung war, dann war es im dritten und vierten schon eine Feststellung, und im fünften – eine Negierung der Tatsache, dass es überhaupt irgendwelche Repressionen gegeben hat: ‚Ach so ist das, Memorial macht so einen Wind, dass es die eigenen Leute waren, und in Wirklichkeit waren’s die irren Deutschen!‘“
Am 4. August 2016, am Vorabend der Gedenkveranstaltung, brachte der TV-Kanal Swesda eine Sendung: Die zweite Wahrheit des Konzentrationslagers Sandarmoch – wie die Finnen Tausende unserer Soldaten ermordeten.
Dort war die Rede von geheimen FSB-Dokumenten, die dem Fernsehsender vorlägen und aus denen hervorginge, dass in Sandarmoch sowjetische Gefangene beerdigt seien.
In Wirklichkeit zeigte man den Zuschauern einen Bericht des SMERSch über ein kleineres, 250 Menschen fassendes Kriegsgefangenenlager in Medweshjegorsk, das sich auf dem ehemaligen Gelände einer Abteilung der BelBaltLager befand. Darin wird von der Erschießung zweier Gefangener berichtet. In dem Beitrag allerdings hieß es, hier seien „verschiedenen Quellen zufolge 19.000 bis 22.000 Menschen umgekommen. Und natürlich muss dort ein Denkmal für die ermordeten Kriegsgefangenen errichtet werden“.
„Auf wen hören die? Was glaubst du? Auf Dmitrijew, einen stadtbekannten Verrückten, oder auf die Onkel mit den Dienstgraden …“, fragt ein Freund von der Petrosawodsker Uni Irina Galkowa. „Und was ist damit, dass der Verrückte Dokumente zu Sandarmoch hat, zu siebeneinhalbtausend Menschen? Ich habe versucht, mit Dmitrijew darüber zu diskutieren, aber er winkte nur ab: ‚Ist doch alles Mist. Das sind angefütterte Bisons, die fressen aus der Hand, aus der sie fressen müssen. Und ich bin ein wilder Wolf, der frisst, was er will …‘“
Das war das ganze Problem. Eine Abmachung mit Dmitrijew zu treffen, war ein Ding der Unmöglichkeit. Es war klar, dass er diese Gedenkfeiern organisieren würde, solange er lebt. Wenn man die Party beenden wollte, musste man Chottabytsch wegsperren.
Wenn ein Fall konstruiert ist, kommt das normalerweise im Laufe der Verhandlung raus. Es ist natürlich ein Leichtes, einen Unschuldigen zu verurteilen. Aber wenigstens sehen die Leute dann, was da in Wirklichkeit los ist. Darauf kann Dmitrijew allerdings nicht hoffen. Die unglückseligen Fotos wird nie jemand zu Gesicht bekommen: Er wird eines Sexualverbrechens an einer Minderjährigen beschuldigt, und deshalb wird die Verhandlung hinter verschlossenen Türen geführt.
Ja, natürlich, Chottabytsch spürte, wohin es geht. Ich werde das Gefühl nicht los, dass das alles – Dmitrijew selbst, die Seelen der Toten, die FSBler, die Fernsehleute von Rossija 24 – dass sie alle irgendeiner weisen und segensreichen Macht unterstehen. Dass wir noch immer in einer Welt leben, in der es solche Menschen und Geschichten gibt. In der der Herr noch immer jedem sein wundersames Schicksal schenkt und jeder Held einen Drachen findet, gegen den er kämpfen kann. Vor dreißig Jahren ist Dmitrijew mit seinem Feldspaten ausgezogen, gegen ihn anzutreten. Er bekam zu hören, dass es keine Drachen gebe, aber er ging immer weiter, von Grab zu Grab, durch Wälder, Schleusen, über Inseln, suchte die Spuren des Monsters im Staub von Karteikästen, stur und unnachgiebig. Und bitte sehr, hier ist er, der Drache.
Als es der Roten Armee gelungen war, die deutsche Wehrmacht bei Stalingrad einzukesseln, markierte dies einen Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg. Der Schriftsteller und Korrespondent Wassili Grossman schrieb, dass die deutschen Soldaten und Offiziere in der schrecklichen Kriegssituation bei Stalingrad nicht nur die eigenen Kräfte, sondern auch die Staatspolitik, die Gesetze, die Verfassung, die Zukunft und die Vergangenheit des eigenen Volkes zunehmend in Frage stellten.
Bei den sowjetischen Truppen sei genau das Gegenteil passiert: Der erste Sieg im Großen Vaterländischen Krieg nach vielen Niederlagen hat die sowjetische Staatsführung gerechtfertigt. Die Frage aber, ob das Volk wegen oder trotz der Regierung siegte, blieb offen. Der Sieg bei Stalingrad bestimmte, so Grossman, den Ausgang des Kriegs, „aber der stumme Streit zwischen dem siegreichen Volk und dem siegreichen Staat ging weiter“.1
Und dieser Streit ist noch immer nicht zu Ende. Das einst „siegreiche Volk“ streitet nun aber nicht nur mit dem Staat, sondern auch mit sich selbst und mit den späteren Generationen, die den Krieg nur in seiner medialen Gestalt wahrnehmen und beurteilen können.
Im heutigen Russland gibt es kein homogenes „kollektives Gedächtnis“ an den Krieg, sondern mehrere mit-, neben-, und gegeneinander existierende und agierende Bilder der Kriegserinnerung. Die Verflechtung des politischen und individuellen Gedächtnisses ist das Spezifikum russischer Erinnerungskultur, zu welcher sowohl Siegesstolz als auch Trauer gehören.
Einen Konsens gibt es nicht einmal bei der Frage nach den Kriegsopferzahlen. Seit dem Kriegsende gehört die Arithmetik der Verluste zum Gegenstand der aktiven offiziellen Geschichtspolitik. Stalin wies sieben, später zehn Millionen aus – das Land durfte keine größeren Menschenverluste als die Kriegsgegner erlitten haben. „Der Preis des Sieges“ stieg auf 20 Millionen in den späten 1950ern, auf 27 Millionen in den 1980ern, bis im Februar 2017 der Duma-Abgeordnete Nikolaj Semzow mit Verweis auf geheime Daten der staatlichen Plankommission der UdSSR eine weitere Zahl verkündete: 42 Millionen.2
Allein die Zahl von 27 Millionen, die in der Geschichtswissenschaft verankert ist, zeugt von der unvergleichlichen Dimension der Leid- und Opfererfahrung in den Ländern, die von Krieg und deutscher Besatzung betroffen waren. Der Krieg hat tiefe Spuren im Gedächtnis der Generationen hinterlassen: Es gibt kaum eine Familie im heutigen Russland und auch in der Ukraine, Belarus und anderen postsowjetischen Ländern, die vom Krieg unberührt geblieben ist. Die gesellschaftliche Verankerung des Themas auf der einen Seite und die übergeordnete Bedeutung der Kriegserinnerung für den Staat auf der anderen Seite bedingten die Entstehung einer vielschichtigen und dynamischen Erinnerungskultur.
Unheroischer Krieg
Auf der Ebene der privaten, familiären, alltäglichen Erinnerung war das Bedürfnis, der Trauer Raum zu geben, von Anfang an da. So entstand seit dem Kriegsende in jeder sowjetischen Stadt und in jedem Dorf an einer prominenten Stelle ein Denkmal, um den nicht zurückgekehrten Soldaten zu gedenken. Schlichte Obelisken oder Granitstelen waren oft anonyme Stätten privater Trauerarbeit. Ab den späten 1960er Jahren wurden Ehrenmale des Unbekannten Soldaten und Anlagen mit ewigem Feuer angelegt, das Gedenken an diesen Orten wurde offizieller und staatstragender. Zugleich haben diese Orte ihre Bedeutung für die gesellschaftliche Trauerarbeit nicht verloren. Auch in der sowjetischen Zeit war der unheroische Krieg vor allem durch den künstlerischen Diskurs wahrnehmbar, durch Literatur, Film und Musik. Der Film DieKraniche ziehen von Michail Kalatosow zeigte, dass nicht alle Frauen auf ihre Geliebten warteten, und dass ein Rotarmist auch fallen kann, ohne vorher eine Heldentat zu vollbringen. Der Protagonist der Erzählungen von Bulat Okudshawa will im Krieg nur überleben.3 Wassil Bykau schilderte in seinen Erzählungen den Krieg als eine existenzielle Erfahrung, in der es keine Sieger geben kann.4Ales Adamowitsch beschrieb in seinen Novellen die Gewalt der deutschen Besatzer auf den okkupierten Gebieten5 und zusammen mit Daniil Granin im Blockadebuch6 – die unvorstellbare Opfererfahrung und das Hungersterben in Leningrad.
In den frühen 1990er Jahren dominierte das Bild des schrecklichen Krieges in öffentlichen Präsentationen: Zum Thema wurden die verheerenden Niederlagen der ersten Kriegsmonate, die doppelte Opfererfahrung sowjetischer Kriegsgefangener, die Not der Veteranen. Der 22. Juni, Tag des deutschen Überfalls 1941, ist seit 1996 ein staatlich anerkannter „Tag des Gedenkens und der Trauer“. An den Kriegsdenkmälern und auf den Ehrenfriedhöfen finden Gedenkzeremonien statt, die Staatsfahnen werden gesenkt und die Staatssender zeigen keine Unterhaltungssendungen. Nicht der Sieg, sondern der „Preis des Sieges“ schien für eine kurze Zeit im Zentrum der offiziellen Erinnerungspolitik zu stehen. Auch wenn die schreckliche Erfahrung des Krieges als Diskurs an seiner dominierenden Position inzwischen stark einbüßte, existiert diese Perspektive auf den Krieg auch heute im liberalen Diskurs.7
Staatliche Heroisierung
Der ideologische Bezug auf denGroßen Vaterländischen Krieg in der Sowjetzeit lässt sich mit dem Begriff des Massenheroismus zusammenfassen. Seit der Oktoberrevolution 1917 war der Heldenkult ein fester Bestandteil der sowjetischen Ideologie. In der zukunftsgerichteteten sozialistischen Weltanschauung hatte das Trauern um Opfer „historischer Prozesse“ – Revolutionen, Kriege, politische Säuberungen – keinen Platz. Die Helden, die zu ehren waren, mussten im Krieg ihr Leben opfern, besonders heldenhaft für das Vaterland sterben, wie etwa der Rotarmist Alexander Matrossow, der sich auf eine Schießscharte warf, oder die Partisanin Soja Kosmodemjanskaja, die auch unter der Folter ihre Mitkämpfer nicht verriet und hingerichtet wurde. Das heroische Bild vom Krieg spiegelte sich in den gigantischen Denkmal-Anlagen wider. Für den siegreichen Kampf stehen zum Beispiel die 85 Meter große Skulptur Mutter Heimat auf dem Mamaj-Hügel in Wolgograd (1967) und das 48 Meter große Monument Den heroischen Verteidigern Leningrads in St. Petersburg (1974–75).
In der postsowjetischen Zeit fand der heroisierende Diskurs vor allem in der Moskauer Denkmalanlage Park des Sieges (1995) seine monumentale Form. Im Zentrum steht hier eine 141,8 Meter hohe Stele – zur Erinnerung an die 1418 Kriegstage – an ihrer Spitze schwebt die Siegesgöttin Nike und an ihrem Fuß bekämpft der Heilige Georg den Drachen. Zahlreiche Namen der Helden der Sowjetunion sind an den Wänden im Gedenkraum des Museums eingraviert. Im heutigen offiziellen Gebot zu erinnern spielt der Aufruf, den gefallenen Helden würdig zu sein, nach wie vor eine große Rolle. In der aktuellen russischen Geschichtspolitik, die selektiv auf die stolzen Kapitel der „tausendjährigen Geschichte“ zurückgreift, ist es der militärische Ruhm. Das heroische Pathos ist die gegenwärtige Tonlage, in der die offiziellen Medien und die Regierung über den Krieg sprechen.
Emotionalisierung und Kommerzialisierung
Die heutige Entwicklung der Kriegserinnerungskultur zeichnet sich zum einen durch Emotionalisierung, zum anderen durch Kommerzialisierung der Erinnerung aus. Durch überzeichnete Emotionalisierung und Effekthascherei verliert der Krieg – wie er etwa im Film (Stalingrad, 2013) oder im historischen Reenactment (nachgestellte Szenen der Einnahme Berlins) dargestellt wird – an Faktizität und Authentizität. Die präsentierten Inhalte werden zunehmend mythen-gesättigter wiedergegeben, das Kriegsgeschehen wird immer stärker zum Mythos.
Gerade weil die Kriegserinnerung auf der privaten Ebene eine sehr wichtige Rolle spielt, wird sie zunehmend als Kontext für kommerzielle Projekte genutzt. Filmproduzenten, Museumsmacher und Event-Veranstalter knüpfen daran an – in der Gewissheit, dass das Kriegsthema Aufmerksamkeit findet und sich gut verkaufen lässt. So beispielsweise im bislang teuersten russischen Film Stalingrad(Fjodor Bondartschuk), der komplett in 3D gedreht wurde, in dem die Straßen- und Häuserkampfszenen im Herbst 1942 wie ein effektvoller Blockbuster inszeniert wurden und der einer Computerspiel-Ästhetik ähnelt.
Privates Gedenken im öffentlichen Raum
Aus dem Bedürfnis der Gesellschaft heraus, eigenständige Formen und Praktiken der Erinnerung zu entwickeln, entstand 2012 in der sibirischen Großstadt Tomsk die Aktion Das Unsterbliche Regiment.8 Bei dieser Aktion tragen Menschen über Straßen und Plätze Porträts ihrer Verwandten, die am Großen Vaterländischen Krieg teilgenommen haben.9 Diese Präsenz des privaten Gedenkens im öffentlichen Raum ist das tatsächlich Neue an den Feiern des Kriegsendes. Viele Russen teilten in den letzten Jahren Kurzberichte über die Kriegswege ihrer Großeltern in sozialen Netzwerken, viele davon – unzensierte Familiengeschichten, also Erzählungen „jenseits“ des tradierten, heroischen Narrativs. Es geht nun nicht mehr darum, ein Zeichen der Zugehörigkeit zur „Wir-Gemeinschaft“ der Erinnernden zu setzen, sondern um die Stärkung der Kommunikation von privaten, familienbezogenen Erinnerungen an den Krieg.
Diese neue Form des Gedenkens wird von der staatlichen Seite in letzter Zeit verstärkt auch als Mobilisierungressource genutzt.10 Sie existiert gleichzeitig mit den großen Inszenierungen, die auf Stabilitätssicherung und Patriotismus-Stiftung ausgerichtet sind. Während der Feierlichkeiten rund um den Tag des Sieges am 9. Mai selbst agiert die Gesellschaft manchmal mit, oft aber auch neben oder gegen die staatlichen Deutungsvorschriften. Nicht immer sind Interessen des Staates und der Gesellschaft hinsichtlich der Form des Gedenkens deckungsgleich – und der Streit zwischen dem siegreichen Volk und dem siegreichen Staat geht weiter.
Grossman, V. (1984): Leben und Schicksal, München, S. 686 ↩︎
vgl. die Erzählung Bud’ zdorov, školjar (1961) von Bulat Okudžava, in der es um Erfahrung eines jungen Soldaten geht. ↩︎
vgl. die Erzählung Sotnikov (1971) von Vassil Bykov. ↩︎
vgl. die Erzählungen Chatynskaja povest’ (1971) und Ja iz ognennoj derevni (1977) von Ales Adamowitsch ↩︎
Ales Adamowitsch arbeitete zusammen mit Daniil Granin am Blockadebuch in den späten 1970er Jahren. Das Buch, das Interviews mit Blockadeüberlebenden beinhaltet, wurde 1984 veröffentlicht. ↩︎
So im Projekt Cena pobedy (dt. Der Preis des Sieges) auf dem Radiosender Echo Moskvy und in der Zeitschrift Diletant. Siehe z. B. den Beitrag Soldatskaja pamjat’ o vojne vom 14.5.2017. ↩︎
Die Formen der sozialen Gedenkpraxis „von unten“ wurden im Projekt „Sieg—Befreiung—Besatzung: Kriegsdenkmäler und Gedenkfeiern zum 70. Jahrestag des Kriegsendes im postsozialistischen Europa“ untersucht, das von der Autorin zusammen mit Mischa Gabowitsch und Cordula Gdaniec geleitet wurde. Die Ergebnisse des Forschungsprojektes sind in einem vor kurzem erschienenen Sammelband dokumentiert: Gabowitsch, M., Gdaniec, C., Makhotina, E. (Hrsg.) (2017): Kriegsgedenken als Event: Der 9. Mai im postsozialistischen Europa, Paderborn ↩︎
Wie schon so oft in der Geschichte, erkannte die politische Führung schnell die symbolische Wirkungsmacht dieser neuen Erinnerungsform. Zugleich brachte die Popularität des individualisierten Gedenkens auch in die staatliche Erinnerung einen neuen Inhalt ein. Aufschlussreich ist die Teilnahme Putins an der Aktion Das Unsterbliche Regiment, und noch mehr – die Veröffentlichung seiner „Erinnerungen“ an die Kriegserzählungen der Eltern in der Zeitschrift Russki Pionier. Ein Effekt davon ist die „emotionale Aktualisierung“ der Geschichte. Dadurch versucht der Staat, das Gedenken anschlussfähig zu halten. ↩︎
„Zwischen dem Parteiausschluß und meiner Verhaftung vergingen acht Tage. Während dieser Tage blieb ich zu Hause und schloß mich in mein Zimmer ein. Ich nahm den Telefonhörer nicht ab. Ich wartete … Und alle meine Lieben warteten auch. Worauf warteten wir? Wir erklärten einander, daß wir auf den Urlaub meines Mannes warteten, […]. Sobald er beurlaubt ist, wollen wir nach Moskau fahren um weiter zu kämpfen. […] Aber insgeheim wußten wir ganz genau, daß alles das nicht eintreten würde, daß wir auf etwas ganz anderes warteten.“1
So erinnert sich die Journalistin und Autorin Jewgenija Ginsburg in ihren Memoiren2 an das Warten auf ihre Verhaftung. Es ist das Jahr 1937, der Höhepunkt des Großen Terrors, den das sowjetische Regime unter der Herrschaft Josef Stalins zunächst gegen die Eliten der Kommunistischen Parteientfacht, dann zunehmend gegen die gesamte Bevölkerung. Ginsburg wird im Februar 1937 aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen und als eine angebliche Trotzkistin zu zehn Jahren Haft verurteilt. Insgesamt wurden zwischen 1936 und 1938 rund 1,6 Millionen Menschen verhaftet, knapp die Hälfte davon ermordet.3
Als einer der Auslöser für den auch als große Säuberungen bezeichneten Terror gilt die Ermordung des Ersten Leningrader Parteisekretärs Sergej Kirow am 1. Dezember 1934. In diesem Zusammenhang werden zunächst vor allem Leningrader Parteifunktionäre verhaftet, aber dann „zog die Affäre immer weitere Kreise, wie die Wellen, die entstehen, wenn man einen Stein ins Wasser wirft.“4 Für Ginsburg beginnt, wie für Millionen ihrer Landsleute, eine Zeit der Verunsicherung und des bangen Wartens. Eine Zeit, für die der britische Historiker Robert Conquest in seiner 1968 erschienenen Monografie den Begriff Großer Terror einführt.5
Altgediente Bolschewiki werden inhaftiert, einstige Vorbilder als „Volksfeinde“ entlarvt. Im Jahr 1936 kommt es in Moskau zu einem ersten Schauprozess, bei dem Grigori Sinowjew und andere bolschewistische Veteranen ihren Verrat an der Partei einräumen und zum Tode verurteilt werden – die Geständnisse waren unter Folter erpresst worden.6 Sowjetische Medien berichten ausführlich von diesem und den folgenden Schauprozessen: „Die Zeitungsblätter ätzten, verwundeten und vergifteten das Herz, wie der Stachel eines Skorpions. Nach jedem Prozeß wurde die Schlinge enger gezogen.“7
Fünf, vier, drei, zwei: Auf dem Originalbild von 1926 ist Stalin mit seinen Weggefährten abgebildet, v.l.n.r.: Nikolaj Antipow, Josef Stalin, Sergej Kirow, Nikolai Schwernik und Nikolai Komarow. Nach und nach entzieht ihnen Stalin seine Gunst, Antipow und Komarow fallen 1937 bzw. 1938 dem Großen Terror zum Opfer. Das Bild wird parallel dazu beschnitten und retuschiert. Am Ende steht Stalin nur noch mit seinem Günstling Kirow da, der 1934 unter ungeklärten Umständen von einem Attentäter erschossen wurde.
Die Repressionen beschränken sich längst nicht mehr auf Moskau, sie schwappen auch in die sowjetische Provinz über. Jewgenija Ginsburg wird im Februar 1937 in Kasan wegen der angeblichen Mitgliedschaft in einer terroristischen Untergrundorganisation verhaftet. Im August 1937 wird sie zu zehn Jahren Isolationshaft8 verurteilt, die später in Lagerhaft umgewandelt werden wird. Ihre Erleichterung über das Urteil ist groß: „Plötzlich wird es um mich hell und warm. Zehn Jahre? Das bedeutet: Leben!“9
Ginsburgs Freude lässt sich nur aus dem zeitlichen Kontext heraus erklären: Bei geschätzt 680.000 Todesurteilen, die zwischen 1936 und 1938 gefällt wurden,10 erscheinen zehn Jahre Gefängnis für ein nicht begangenes Verbrechen tatsächlich als mildes Urteil.
Jeschowschtschina
Neben Mitgliedern der Kommunistischen Partei geraten auch andere Gesellschaftsgruppen ins Visier der sowjetischen Organe: Die Rote Armee wird ebenso „gesäubert“ wie die wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Eliten. Eine nochmalige Verschärfung der ohnehin angespannten Situation ergibt sich durch den von NKWD-Chef Nikolaj Jeschow am 30. Juli 1937 unterzeichneten und einen Tag später vom Politbürobestätigten Befehl № 00447 „Über die Operation zur Repression ehemaliger Kulaken, Krimineller und anderer antisowjetischer Elemente“.11 Damit kann praktisch jeder Sowjetbürger zum sogenannten „Volksfeind“ erklärt werden.
Für die einzelnen Republiken, Gebiete und Kreise der Sowjetunion legt der Befehl Kontingente fest – um den Plan zu erfüllen, kommt es massenhaft zu willkürlichen Verhaftungen und Verurteilungen.12 Dem Befehl № 00447 folgt eine Operation, die sich gegen Angehörige ethnischer Minderheiten in der Sowjetunion richtet: gegen Polen, Deutsche, Koreaner und andere.13 Organisiert und ausgeführt wird diese – wie die Repressionen zuvor und danach – durch den NKWD, gebilligt durch das Politbüro unter der Führung Stalins, der zahlreiche Listen mit Todesurteilen selbst unterzeichnet.14
Ein Ende der Massenrepressionen deutet sich ab dem Sommer 1938 an. Im November 1938 wird NKWD-Chef Jeschow durch Lawrenti Berija ersetzt.15 Der Sturz Jeschows bringt zwar ein Ende der Massenrepressionen, in einen Rechtsstaat verwandelt sich die Sowjetunion jedoch keineswegs. Bis zu Stalins Tod 1953, und in abgeschwächter Form auch darüber hinaus, werden Operationen gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen, vermeintliche „Volksfeinde“ und „anti-sowjetische Elemente“ organisiert und durchgeführt.
1937 in der Erinnerungskultur
Zur Rechenschaft gezogen wird dafür auch nach dem Ende der Sowjetunion niemand. Eine 2007 anlässlich des 70. Jahrestages des Großen Terrors veröffentlichte Meinungsumfrage besagt, dass eine Mehrheit der russischen Bevölkerung keinen Sinn in einer juristischen Verfolgung möglicher Organisatoren und Ausführenden der Repressionen sehe. Fast die Hälfte (49 Prozent) der Befragten sprach sich dafür aus, diese „in Ruhe zu lassen“, da die Repressionen bereits zu lange her seien. Lediglich 26 Prozent befürworteten ein juristisches Verfahren.16
Dass die Ergebnisse im Jahr 2017 anders ausfallen würden, kann bezweifelt werden. Auch Stalin selbst erfreut sich wieder hoher Beliebtheitswerte: 46 Prozent der vom Lewada-Zentrum im Januar 2017 befragten Russen gaben an, Stalin mit „Begeisterung“, „Verehrung“ oder „Sympathie“ zu begegnen, im März 2016 hatte dieser Wert bei 37 Prozent gelegen. Allerdings stieg auch die Zahl derjenigen an, die dem Diktator mit einem unguten Gefühl, „Angst“ oder „Hass“ begegneten: von 17 auf 21 Prozent.17
Jewgenija Ginsburgs Gefängnishaft wird 1939 in zehn Jahre Lagerhaft umgewandelt, die sie in unterschiedlichen Lagern des Gulags an der Kolyma verbringt. Erst 1953 darf sie nach Zentralrussland reisen, 1955 wird sie vollständig rehabilitiert. Sie wird weder ihren älteren Sohn, der 1944 bei der deutschen Belagerung Leningrads starb, noch ihren Mann, der kurz nach ihr verhaftet wurde, wiedersehen.
Schlögel, Karl (2008): Terror und Traum: Moskau 1937, München
Ginsburg, Jewgenija Semjonowna (1967): Marschroute eines Lebens, Reinbek bei Hamburg, S. 42 ↩︎
Die Memoiren sind im italienischen Tamisdat erschienen. Ginsburg, Jewgenija Semjonowna (1967): Marschroute eines Lebens (Teil 1), Reinbek bei Hamburg und Ginsburg, Jewgenia (1980): Gratwanderung (Teil 2), München/Zürich ↩︎
Bonwetsch, Bernd (2014): Gulag: Willkür und Massenverbrechen in der Sowjetunion 1917–1953: Einführung und Dokumente, in: Landau, Julia/Scherbakowa, Irina: Gulag Texte und Dokumente 1929–1956, S. 30–37, hier S. 36. Vor der Öffnung der sowjetischen Archive kursierten wesentlich höhere Zahlen. ↩︎
Conquest, Robert (1993): Der Große Terror: Sowjetunion 1934–1938, München. Der Begriff knüpft an den bereits zu Bürgerkriegszeiten gebrauchten Terminus des Roten Terrors an, der seinen Ursprung wiederum in der Französischen Revolution hat. ↩︎
vgl. Baberowski,Jörg (2012): Verbrannte Erde: Stalins Herrschaft der Gewalt, München, S. 247 ↩︎
Isolationshaft ist in diesem Fall nicht gleichzusetzen mit Einzelhaft. Die meiste Zeit ihrer zweijährigen Gefängnisstrafe verbrachte Ginsburg gemeinsam mit einer weiteren Gefangenen in einer Zelle, von den anderen Häftlingen waren sie weitgehend isoliert. Dennoch gelang es ihnen, etwa über Klopfzeichen, miteinander zu kommunizieren. ↩︎
Eine deutsche Übersetzung des Befehls № 00447 sowie eine umfangreiche Darstellung und Analyse der Operation findet sich in Binner, Rolf /Bonwetsch,Bernd /Junge, Marc (2009): Massenmord und Lagerhaft: Die andere Geschichte des Großen Terrors, Berlin ↩︎
siehe dazu ausführlich Baberowski: Verbrannte Erde, S. 341–354, außerdem Martin,Terry (2000): Terror gegen Nationen in der Sowjetunion, in: Osteuropa: Unterdrückung, Gewalt und Terror im Sowjetsystem, Nr. 6 (2000), S. 606–616 sowie Polian,Pavel (2003): Soviet Repression of Foreigners: The Great Terror, the Gulag, Deportations, in: Dundovich, Elena/Gori, Francesca/Guerctti, Emanuela (Hrsg.): Reflections on the Gulag: With a documentary appendix on the Italian victims of repression in the USSR, Mailand, S. 61–103 ↩︎
Stalins Verantwortung für die Massenrepressionen wird durch Studien belegt, die historisches Quellenmaterial auswerten. Besondere Beachtung hat die Monografie Verbrannte Erde: Stalins Herrschaft der Gewalt von Jörg Baberowski gefunden, auf die bereits verwiesen wurde. Zur Kritik an Baberowski siehe die Ausgabe Im Profil: Stalin, der Stalinismus und die Gewalt der Zeitschrift Osteuropa (4/2012). ↩︎
Jeschow wird im April 1939 verhaftet und im Februar 1940 erschossen. ↩︎
Vier Jahre lang hatte Denis Karagodin gesucht, Schlagzeilen gemacht, viel Unmut erregt. Nun gab er öffentlich bekannt, die Menschen identifiziert zu haben, die seinen Urgroßvater 1938 im Auftrag des Staates ermordet haben sollen. Was er sich wünscht? Dem Töten Namen und Gesichter zu geben, verbunden mit juristischen Konsequenzen, einem Strafverfahren. Etwas, das in Russland im Umgang mit Stalins Großem Terror der 1930er Jahre bisher nicht geschehen ist. Nun ging ein Einzelner los, um das öffentlichkeitswirksam zu ändern, zu versuchen, einem der mehr als eine Million Opfer von damals Täter gegenüberzustellen. Mit der Nennung von Namen – woran sich eine breite öffentliche Debatte entzündet hat.
Historiker und Journalist Sergej Medwedew fragt sich für das liberale Webmagazin Republic: Wieso erfährt der Enkel mit seinen Recherche-Ergebnissen dabei so viel Gegenwind?
„In der Gorochowaja-Straße herrscht Panik …“ Die regierungsfreundlichen Medien in Russland sind in Wallung. Ein Kommando ging durch ihre Reihen: Anzuprangern sei die Studie von Denis Karagodin über die Erschießung seines Urgroßvaters 1938 durch die Tschekisten.
„Die liberal-nationalistische Clique hat seit einigen Tagen einen neuen Helden“, giftet die Föderale Nachrichtenagentur. „Dieser Herr hat eine wahrlich antisowjetische Heldentat vollbracht: Er hat die Namen aller ermittelt, die an der Repression seines Urgroßvaters beteiligt waren.“ Zu den Anklägern gehörten außerdem die Izvestia und die Komsomolskaja Prawda, am weitesten ging jedoch Konstantin Sjomin, Moderator der Sendung Agitprop auf Rossija 24, der geradeheraus sagte, jede Rede von einem Geschichtstrauma sei ein Versuch, den Staat zu zerrütten, und dass der Zerfall der UdSSR mit dem Abriss des Dserschinski-Denkmals begonnen habe.
Was erscheint so besonders an Karagodins Veröffentlichung der Namen jener, die an der Ermordung seines Urgroßvaters beteiligt waren, wo doch allesamt längst tot und die Fälle verjährt sind? Und welche Gefahr soll für das Regime von der jüngst von Memorial publizierten Andrej-Shukow-Liste ausgehen? Hier wurden detaillierte Informationen zu über 40.000 Mitarbeitern des NKWD aus den Jahren 1935 bis 1939 zusammengetragen. Es ist eine Art Wikipedia des NKWD von vor 75 Jahren.
Das Besondere an unserer Situation ist, dass die Gewalt anonym ist, Regime-immanent, in der Gesellschaft aufgelöst wie eine Konstante des russischen Lebens
Im Grunde können diese Informationen nur von akademischem und archivarischem Interesse sein und dürften wohl kaum juristische Folgen haben. Die Eile jedoch, mit der sich die Propagandisten des Regimes daran gemacht haben, die Arbeit von Karagodin und die Shukow-Liste in Misskredit zu bringen, zeugt davon, dass diese Akte des Gedenkens einen wunden Punkt getroffen haben, jene Nadel, mit der im Tod des unsterblichen Koschtschei auch der staatliche Terror seinen Abschluss finden kann.
Das Besondere an unserer Situation ist, dass die Gewalt anonym ist, Regime-immanent, in der Gesellschaft aufgelöst wie eine Konstante des russischen Lebens, so wie das unentrinnbare kalte Klima. Anonym waren die Urteile der Troikas und die Kämpfer der Erschießungskommandos; die Namen der Ermittler und Denunzianten liegen verborgen in den Archiven des KGB.
Nach 1956 galt in der UdSSR ein unausgesprochener Pakt, durch den es zu einem Abtausch kam: Rehabilitierung der Opfer des Stalinismus gegen Entpersonifizierung der Ausführenden des Terrors. Jede Information über die Repressionen hat der KGB sorgsam zensiert. In den persönlichen Akten der Opfer wurden die Namen der Ermittler und Denunzianten geschwärzt, den Angehörigen wurden Akten mit zugeklebten oder herausgerissenen Seiten vorgelegt. Man dachte, der Akt einer Rehabilitierung reiche aus, damit jemand Satisfaktion empfindet: Er hat ja überlebt (alternativ: er wurde zwar erschossen, aber der gute Ruf ist wiederhergestellt), Gott sei Dank. In einer Situation, in der man sich ständig auf der Grenze zwischen Leben und Tod befand, galt ein Staat, der nicht erschießt, schon als großer Segen.
„Gern hätt’ ich sie alle mit Namen genannt“, schrieb Anna Achmatowa in ihrem Requiem. Allerdings wurde nur von einer Nennung der Opfer geträumt, von den Tätern war gar nicht erst die Rede. In der Ära Chruschtschow wurden die Ermittler des NKWD von den Stellen der Staatsanwaltschaft zur Rechenschaft gezogen, die auch mit den Rehabilitierungen befasst waren. Zu tatsächlichen Strafen wurden nur einige wenige verurteilt – überwiegend folgten verwaltungsrechtliche Strafen, Entlassungen, Entzug der Rente, Aberkennung von Rang oder Titel. Nach Angaben des Historikers Nikita Petrow sind bei den Prozessen, die unter Chruschtschow offen gegen Stalins leitende Tschekisten geführt wurden, über Berija hinaus nicht mehr als 100 Menschen zur Verantwortung gezogen worden. Unter Breshnew und Gorbatschow ist dieser Prozess ganz zum Erliegen gekommen. Es wurden zwar einzelne entlarvende Materialien veröffentlicht, etwa über den Ermittler Alexander Chwat, der Nikolaj Wawilow gefoltert hat; oder über Generalleutnant Wassili Blochin, Kommandantur-Chef des OGPU-NKWD-MGB, der persönlich zwischen zehn- und fünfzehntausend Menschen erschossen hat. Doch waren das nur einzelne Fälle, die ohne juristische Folgen blieben.
Täter und Opfer lebten weiter Seite an Seite, begegneten einander auf der Straße oder in der Schlange vorm Geschäft, bisweilen saßen sie sogar beisammen und tranken miteinander (bekannt wurde eine solche Begebenheit mit Juri Dombrowski). Das alles geschah in dem anonymen Raum namens Sowjetvolk. In dessen Mitte klaffte ein riesiges schwarzes Loch namens „Repressionen“ – doch dieser Abgrund wurde von allen penibel gemieden, vom offiziellen staatlichen Bereich bis in die persönlichen Familiengeschichten, wo das Thema sorgsam beschwiegen wurde.
Unterdessen bot dieser Schweigepakt die Gewähr für eine Fortführung des Terrors. Genau wie das Räderwerk der Stalinschen Repressionen anonym arbeitete, so lief auch die Verfolgung der Dissidenten unter Breshnew anonym: Hier war die Maschine der Strafpsychiatrie am Werk.
Heute haben wir es mit der anonymen Gewalt des Systems von Polizei- und Sicherheitsbehörden zu tun, in dem Folter die Regel ist und nur einzelne Fälle an die Öffentlichkeit gelangen, etwa die Folter im Polizeiabschnitt Dalny in Kasan, der Fall Magnitski, der Fall Ildar Dadin. Hunderte anderer Polizeiabschnitte, Untersuchungsgefängnisse und Strafkolonien jedoch bleiben Gebiete der totalen, entpersonifizierten Gewalt.
Täter und Opfer lebten weiter Seite an Seite, begegneten einander auf der Straße, saßen sogar beisammen und tranken miteinander
Wie auch tausende Haushalte in Russland, in denen alltäglich, allstündlich Frauen Opfer häuslicher Gewalt werden (in Russland sterben offiziell bis zu 40 Frauen täglich durch Schläge, und wie viele weitere Todesfälle die Ärzte und Polizisten unter anderen Ursachen einordnen, weiß nur Gott). Häusliche Gewalt gilt in Russland als Regelfall; sie bleibt unerwähnt und anonym, gewöhnlich wird sie nicht angesprochen, nicht der Polizei gemeldet. Und jetzt wird einem neuen Gesetzentwurf zufolge beabsichtigt, sie zu entkriminalisieren, indem sie aus dem Bereich des Strafrechts in den der Ordnungswidrigkeiten überführt wird. Bekannt werden nur Fälle, die in die Sozialen Netzwerke gelangen, wie jüngst in Orjol, als die Polizei sich weigerte, einer jungen Frau zu helfen. Die Beamten versprachen, sollte sie getötet werden, ihre Leiche zu Protokoll zu nehmen – und tatsächlich prügelte ihr Lebensgefährte sie eine halbe Stunde später tot.
Das Problem ist, dass Gewalt in Russland eine sozial anerkannte Norm ist, ein Weg, um Probleme zu lösen und Beziehungen zu klären, ein Mittel der Interaktion zwischen Regime und Bevölkerung, Mann und Frau, Eltern und Kind, Lehrer und Schüler. Genau deshalb brauchen wir eine Entautomatisierung und Entanonymisierung von Gewalt; sie muss beim Namen genannt, genau beschrieben und verurteilt werden.
Unsere Gesellschaft wird erwachsener und beginnt, über Gewalt zu reden. Allein über das Jahr 2016 kam es zu dem Flashmob Ich habe keine Angst zu reden, in dem Frauen erstmals von ihrer als standardmäßig erlebten Erfahrung sexueller Gewalt und Erniedrigung sprachen; zum Offenlegen des Skandals an der Schule Nr. 57 in Moskau, wo erstmals die Namen jener Lehrer genannt wurden, die eine Beziehung mit Schülern eingegangen waren. Zum Abschluss dieses Jahres übergibt der geheimnisvolle Sammler Andrej Shukow, der 15 Jahre lang Dossiers und persönliche Akten von Mitarbeitern des NKWD aus der zweiten Hälfte der 1930er Jahre gekauft hat, noch eine Liste zur Veröffentlichung an Memorial; und dann kommt der furchtlose Philosoph Denis Karagodin aus Tomsk, der vier Jahre lang hartnäckig in den Archiven des KGB die Namen jener Mitarbeiter gesucht hat, die seinen Urgroßvater verurteilt und erschossen haben, bringt alle Namen in Erfahrung und rekonstruiert das gesamte Verbrecherteam, das an dem Mord beteiligt war: Vom Fahrer des Schwarzen Raben und der Schreibkraft beim NKWD bis hin zu Jeshow und Stalin. Wenn Namen genannt werden, dann löst sich die Kette des Schweigens, die Gesellschaft wird von der mafiösen Omertà befreit.
Das ist wichtig, weil die Gewaltkultur in Russland auf zwei Säulen ruht: auf dem Recht des Stärkeren und dem Schweigen des Schwächeren, wobei Letzteres nicht weniger wichtig ist als das Erste. Erinnern Sie sich, wie alle die Frauen angingen, die endlich von den Vergewaltigungen und den Belästigungen sprachen: Die sind doch selbst schuld! Was provozieren die denn so! Ganz genauso spann sich der Pakt des Schweigens um die prestigeträchtige Moskauer Schule, aus der Furcht heraus, das Image der hauptstädtischen Intelligenzija könnte Schaden nehmen.
Noch wichtiger für das Verständnis, welche Komplexe und Ängste in der modernen Gesellschaft Russlands bestehen, ist das „Schweigen der Lämmer“ angesichts ihrer Henker, der Unwille, das Thema Stalins Terror aufzugreifen und durchzusprechen. Nachdem die Shukow-Liste und Karagodins Posts mit den Namen der Mörder im Netz verfügbar waren, folgten umgehend Stellungnahmen, dass man die Vergangenheit nicht schwarzmalen und nicht das Boot zum Wanken bringen dürfe.
Alexander Chinschtein, ehemaliger Duma-Abgeordneter mit Verbindungen zu den Sicherheitsorganen und stellvertretender Leiter von Rosgwardija, erinnerte im Moskowski Komsomolez mit gütigen Worten an die Streitkräfte des NKWD und überschüttet jene mit Kritik, die „unsere jüngere Vergangenheit in Schwarz und Weiß trennen wollen“. Die Journalistin Natalja Ossipowa fürchtet in einer Kolumne in der Izvestia mit dem bezeichnenden Titel Ich fürchte die Gerechtigkeit ebenfalls Enthüllungen und wiederholt dabei die Lieblingsthese russischer Propagandisten der Postmoderne: Jeder hat seine eigene Wahrheit, seine Version der Wirklichkeit, seine Liste der Schuldigen und sein Märtyrologium – und kommt zu dem Schluss, dass „ein schlechter Frieden besser ist als ein guter Bürgerkrieg. Einen Krieg für Gerechtigkeit kann man nicht ohne Barmherzigkeit und Vergebung führen“.
Es kommt die Zeit, da man dem Gesetz folgt und dem Stalinschen Terror und seinen Henkern eine klare juristische Bewertung gibt
Der Aufruf zur Vergebung und Versöhnung zwischen den Nachkommen der Henker und Opfer ist ein typisch russischer Ansatz, die Probleme nicht qua Gesetz zu lösen, sondern über ungeschriebene Normen und Regeln – es ist die Verlagerung der Verantwortung weg von juristischen Formulierungen und Folgen hinein in die nebulöse Welt der Ethik und politischen Zweckmäßigkeit. Der Terror ist in Russland wie eine klebrige Schicht über die Gesellschaft und die Geschichte geschmiert worden, und so scheint es, als wären alle und jeder daran beteiligt, alle und jeder schuldig und unschuldig. Als Heilmittel wird die süße Illusion einer allgemeinen Reue und Vergebung angeboten, eine postapokalyptische Nihilierung der Erinnerung, in der Wolf und Lamm friedlich beieinander weiden, die Nachkommen der Henker und der Opfer sich umarmen, und die russische Geschichte auf einem leeren Blatt neu beginnt.
Karagodin verlagert die Frage nicht auf die ethische, sondern auf die juristische Ebene: Wenn das Regime – seiner teuflischen, quasi-legalen Kasuistik folgend – Menschen umbringt, dann soll es das jetzt qua Gesetz verantworten. Aus der Ungegliedertheit und Subjektlosigkeit des Lebens in Russland hebt er die Namen der Exekutanten und Mittäter des Terrors hervor – und damit ist er gefährlich für ein System, das auf der Anonymität des Terrors und dem Schweigen der Opfer beruht – in der Vergangenheit wie in der Gegenwart.
Die Wächter des Systems verstehen sehr wohl, dass angefangen mit der Entlarvung toter Täter ein Prozess der Entanonymisierung auch auf lebende Beteiligte am Terror übergreifen könnte – im öffentlichen Bewusstsein taucht sofort die Magnitski-Liste auf und setzt die herrschende Elite schmerzhaft unter Druck (es ist kein Zufall, dass deren Abschaffung als eine der ersten Forderungen Putins gegenüber der neuen US-Führung genannt wurde, hervorgebracht im Oktober 2016).
Zudem ruft das Europäische Parlament zur Verabschiedung einer Dadin-Liste auf, inklusive konkreter Nennung jener, die an den mutmaßlichen Misshandlungen des Aktivisten Ildar Dadin in der Strafkolonie IK-7 im karelischen Segesha beteiligt waren. Einen ähnlichen Weg schlägt Alexej Nawalny ein, der beabsichtigt, gegen Sergej Blinow Klage einzureichen, den Richter am Amtsgericht des Leninski-Rayons im Gebiet Kirow, der den Schuldspruch im Fall Kirowles gefällt hat.
Ganz wie bei Stalins Henkern wäre eine einfache Rehabilitierung der Betroffenen nicht ausreichend. Notwendig wäre eine qualifizierte Bewertung des kriminellen Handelns jeder konkreten Person, die an den Repressionen beteiligt war, und womöglich deren Bestrafung. Doch zeichnen sich nach dieser Logik am Horizont Risiken für das Regime in Russland ab – wegen der Krim, wegen des Fluges MH-17 und wegen des Kriegs im Osten der Ukraine und wegen vieler interessanter Momente der jüngsten russischen Geschichte, die allesamt für sehr viele Bürokraten – bis hin zu höchsten Amtsträgern des Staates – mit juristischen Konsequenzen verknüpft sein könnten. Ganz wie Karagodin Josef Stalin zum Mittäter bei der Ermordung seines Urgroßvaters erklärt.
Genau so, indem man an dem Faden einer einzigen Geschichte über einen 1938 von den Tschekisten ermordeten Getreidebauern zieht, lässt sich allmählich das ganze Spinnennetz aus Anonymität und Lüge auftrennen – und gerade deshalb fürchtet das Regime einen „Karagodin-Effekt“ und lässt seine Propaganda-Hunde auf ihn los.
Für Russland gibt es keinen anderen Weg in die Zukunft als einen juristischen. Zu lange hat das Land sich einer illusorischen Hoffnung von Errettung anvertraut und nach ungeschrieben kriminellen Regeln gelebt (hinter denen meist höchst persönliche Interessen des Regimes stehen und die Sorge um das eigene Fell).
Es kommt die Zeit, da man dem Gesetz folgt und dem Stalinschen Terror und seinen Henkern eine klare juristische Bewertung gibt und in der man deren Rechtfertigung oder Leugnung unter Strafe stellt, genau wie jetzt in den meisten Ländern des Westens die Leugnung des Holocaust unter Strafe steht. Ohne echte juristische Klarheit in Bezug auf den historischen Stalinismus und den politischen Terror wird in Russland kein gesellschaftlicher Frieden möglich sein – weder im gegenwärtigen Regime, noch in nachfolgenden.
Geschichte ist zu einem der wichtigsten Streitgegenstände geworden in Russland – die Politik spielt dabei eine aktive Rolle. Morgen, zum Tag der Einheit des Volkes in Russland, wird in Moskau eine Statue zu Ehren des Fürsten Wladimir eingeweiht. Das Denkmal ist mit einer Vielzahl historischer Konnotationen aufgeladen (Verhältnis russischer Staatlichkeit und Orthodoxie zur Kiewer Rus, Verhältnis zwischen russischer und ukrainischer Geschichte). Zugleich werden durch Gedenktafeln, Büsten und Diskussionen um die Umbenennung von Straßen oder gleich ganzen Städten Bezüge in die Sowjetzeit und zum Stalinismus hergestellt.
Für das Webmagazin InLiberty hat sich Nikolay Epplée mit dem sensiblen Thema der Erinnerungskultur im gegenwärtigen Russland auseinandergesetzt. Seine zentrale These: Die Interpretation der Geschichte werde derzeit völlig von der herrschenden Politik instrumentalisiert. Mit der Angliederung der Krim und dem Krieg im Donbass sei dies aktiv vorangetrieben worden. Das habe gewaltige Impulse in die russische Gesellschaft hineingegeben – und Raum für eine lange nicht dagewesene Anknüpfung an Stalin freigesetzt. Ein Kurzessay.
Was noch vor wenigen Jahren nur einige besonders feinfühlige Autoren und Forscher konstatierten, ist heute offensichtlich: Russland ist von der Vergangenheit besessen. Der Ausdruck „Kampf der Erinnerung“ war zu Beginn der 2010er Jahre nur Soziologen ein Begriff, die sich mit dem kollektiven Gedächtnis befassten. Heute ist er allgemein bekannt. Keine Woche vergeht ohne einschlägige Nachrichten: Denkmäler für Stalin, Iwan den Schrecklichen, Wladimir den Großen werden eingeweiht (bzw. bestehende Denkmäler geschändet oder demontiert). Entsprechende Museen werden eröffnet oder Gedenktafeln für bestimmte historische Figuren angebracht. Oder es wird wieder einmal eine Initiative zur Umbenennung von Wolgograd gestartet.
Die Massenkultur überschlägt sich: TV-Moderatoren stehen in Stalinscher Feldjacke verkleidet vor der Kamera. Werber und Organisatoren kultureller Massenveranstaltungen versuchen, mit dem Thema Repressionen zu spielen. Und ein Aktionskünstler, der die Tür der Lubjanka anzündet, gilt als der wichtigste zeitgenössische Künstler Russlands. Die Historiker sehen mit ohnmächtiger Verzweiflung zu, wie ihr Forschungsgegenstand zur mächtigen Ressource für den Aufbau einer „Geschichtspolitik“ wird – was nicht heißt, dass ihr Urteil dadurch mehr Gewicht erhielte; es wird paradoxerweise erst gar nicht mehr berücksichtigt. Die Erinnerung an die Vergangenheit führt ein Eigenleben, ganz wie es die klassischen Theorien der Kultursoziologen beschreiben. Sie nährt sich von Traumata, Manien, Phobien und der alltäglichen Erbitterung und zeigt wenig Interesse an Tatsachen. Eine grundlegende Besonderheit der heutigen russischen Realität, auf die schon oft hingewiesen wurde, besteht darin, dass die Geschichte an die Stelle der Politik tritt: Im Fernsehen, in den sozialen Netzwerken, auf der Straße und in den Küchen debattiert man nicht über die Gegenwart, sondern über die Vergangenheit.
„Diskussionen dieser Art (über den Ersten und Zweiten Weltkrieg, die Kriege in Afghanistan oder Tschetschenien, die Repressionen und den Zusammenbruch der UdSSR) kommen ganz von selbst zustande, im Taxi, im Zug, im Wartezimmer beim Arzt – überall, wo sich die Gelegenheit zum Gespräch ergibt“, schreibt Maria Stepanowa in einem der wichtigsten journalistischen Texte des Jahres 2015. „Das Ganze erinnert ein wenig an einen Familienkrach. Nur, dass das ganze, riesige Land als Küche dient. Und dass dabei auch Tote mitwirken, die, wie sich zeigt, ‚lebendiger als alle Lebenden‘ sind.“
Auf jemanden, der das Geschehen aus der Distanz betrachten kann, macht es einen äußerst merkwürdigen Eindruck. Ein Land, das sich mit all seinen Nachbarn überworfen hat, befindet sich in einer langwierigen Wirtschaftskrise mit unsicherem Ausgang, die Regierung kürzt die Ausgaben auf das Allernotwendigste, außer die für den Krieg – und die Gesellschaft debattiert mit paranoidem Eifer über die Vergangenheit. Die Umbenennung der Metrostation Woikowskaja in Moskau oder das Anbringen bzw. Entfernen einer Gedenktafel für Carl Gustaf Mannerheim in St. Petersburg beschäftigt die Einwohner der beiden Hauptstädte mindestens genauso, wenn nicht sogar mehr als die Erhöhung der Lebensmittelpreise und die anhaltenden Kampfhandlungen auf dem Territorium des benachbarten Bruderstaates.
Es lohnt sich, den Gründen für dieses Phänomen nachzugehen. Die Vergangenheit hält uns in Bann, weil sie nicht abgeschlossen ist – weil es nicht möglich war, die Toten gebührend zu begraben und zu betrauern, ihr Erbe anzutreten, Erkenntnisse aus der Geschichte zu ziehen und nach Vollendung eines Zyklus den nächsten zu beginnen. Um sich diesem Problemkomplex anzunähern, sollte man sie genau beobachten, diese Entzündung unseres Erinnerungsapparates.
Reaktivierung des Stalinkomplexes
Die Denkmäler für Stalin und seinesgleichen sind nicht auf einmal aus dem Boden geschossen. Sie sind seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion immer wieder aufgetaucht – mal hier, mal dort. Aber während man in den 2000er und den frühen 2010er Jahren versuchte, sie in den Gedenkräumen von Schulen, in Vorgärten oder auf geschlossenen Betriebsgeländen vor den Blicken Außenstehender zu verbergen, sind sie seit Anfang 2014 auf öffentliche Plätze vorgedrungen. Im Februar 2015 wurde in Jalta in Anwesenheit des Vorsitzenden der Staatsduma, Sergej Naryschkin, das Monument Die großen Drei eingeweiht – das erste offizielle Denkmal seit der von Chruschtschow eingeleiteten Ent-Stalinisierung, das auch Stalin gewidmet ist.
Die russische Staatsmacht, die die Ereignisse auf dem Kiewer Maidan als ernsthafte Gefahr für sich selbst empfand, begann, nach einer möglichst universellen Sprache zu suchen, welche die innerlich zutiefst gespaltene (oder vielmehr absichtlich und systematisch aufgespaltene) Nation zusammenführen konnte. Der universalistische Tonfall, der bei der Eröffnungs- und Abschlussfeier der Olympischen Spiele in Sotschi angeschlagen wurde, erwies sich als schlecht geeignet für die Mobilmachung. Es bedurfte einer patriotischen und isolationistischen Sprache, die an die Erfahrung des Sieges über äußere und innere Feinde appellierte.
In Russland ist die einzige derartige Sprache traditionell die der Beschwörung des Sieges im Zweiten Weltkrieg. Ein Problem ist dabei, dass sich die Vertreter aus der offiziellen Sphäre diese Sprache zu sehr aneignen und die innere Bereitschaft, ihr zu folgen, auf persönlicher Ebene an Kraft verliert. Zudem eignet sie sich zwar zur Abarbeitung einer „positiven Agenda“, etwa wenn es um das Zusammenstehen gegen einen äußeren Feind geht. Aber für eine negative Mobilisierung, bei der an Gefahr und nicht an Größe gemahnt werden muss, ist sie kaum brauchbar.
Die gleichzeitige Berufung auf Stalin und die Repressionen öffnet dem aufgestauten Negativen hingegen die Tür. Sie bietet einen kritischen, ja sogar einen Protest-Diskurs an und fügt sich in eine Auseinandersetzung mit inneren Feinden ein. Die staatliche Propaganda benutzte diese Sprache nicht gerade heraus; sie begann einfach nur, von äußerer und innerer Bedrohung, von Strafkommandos und Aufständischen, Bandera-Anhängern und Verrätern der Nation zu sprechen. Die Macht gab ihrer Stimme einen metallischen Beiklang, sie drohte und demonstrierte Stärke. Das genügte, um den Komplex zu aktivieren, der im Bewusstsein der russischen Bürger schlummerte.
„Die abrupte Änderung der nationalen Politik hat bei vielen Leuten zu einer Veränderung der historischen Wahrnehmung geführt. Das Geschehen ließ sich für sie am folgerichtigsten in der Sprache der Sowjetunion unter Stalin beschreiben“, sagt der Historiker Ivan Kurilla. „In dieser Ära hat die Sowjetunion ihr Territorium erweitert, und das wurde damals als positiver Prozess gesehen. Nach Stalin hatte es das nicht mehr gegeben. Die Expansion des Landes, die Annexion der Krim, erwies sich also für einen Großteil der Mitbürger als Anstoß, zu einem Weltbild zurückzukehren, das wir aus der Sowjetunion aus der Mitte des 20. Jahrhunderts kennen.“
Die Staatsmacht hat dieses Bild nicht absichtlich evoziert. Es entwickelte jedoch eine Eigendynamik, und bereits im Frühjahr 2014 bekannten sich mehr Russen als zuvor zu einer sympathisierenden Haltung Stalin gegenüber. Wie in der alten Geschichte vom Zauberlehrling waren die entfesselten Kräfte unkontrollierbar für diejenigen, die sie aus Nützlichkeitserwägungen heraus freigesetzt hatten. Und ihre Wucht und Bedeutung ging weit über den ursprünglichen Anlass hinaus. Aus dem Abgrund stieg ein Problem empor, das weit größer war als Krim und Maidan. Die Staatsmacht war beim Tasten nach einer einenden Sprache auf einen allumfassenden Schmerz gestoßen. Sie hatte auf sensible Stellen im Körper abgezielt, aber den traumatischen Punkt getroffen.
Sowjetische Ideologie-Versatzstücke
Gerade das Trauma ist das wichtigste einigungsstiftende Moment dieses wieder zum Leben erweckten Gebildes. Was auf den ersten Blick aussieht wie die Wiedergeburt eines Kolosses, wie die Rückkehr des Staatsmodells der UdSSR unter Stalin, erweist sich bei näherer Betrachtung als eine Reihe heterogener Elemente, denen die innere Einheit fehlt.
Besonders deutlich wird dies in der Außenpolitik – zum Beispiel in der Wiederbelebung von Ideen und Reaktionsweisen, die mit dem Kalten Krieg zusammenhängen. Anders als die UdSSR kann das heutige Russland – das den wirtschaftlichen Wettbewerb und den Rüstungswettlauf verloren hat und der Welt kein alternatives politisches System, keine alternativen Werte und Ideale mehr zu unterbreiten hat – den eigenen Bürgern nur die Sehnsucht nach einer solchen Alternative und solchen Werten bieten und dem Rest der Welt nur ein Imitat der sowjetischen Bedrohung. Da der Staat den Status als Weltmacht nicht auf natürliche Weise wiedererlangen kann, nutzt er eine Art Analogiezauber. Er legt Kostüme der Vergangenheit an, um in eine Zeit zurückzukehren, in der das Gras grüner war – und er selbst stärker und erbarmungsloser. Interessanterweise spielt die Bevölkerung dabei gerne mit. Die Erinnerung an das Leben im Kalten Krieg ist ja noch recht frisch und leicht wiederzubeleben. Und dass wir anstelle einer Ideologie und eines starken Staates etwas äußerst Amorphes haben, entgleitet der Aufmerksamkeit der meisten Leute, scheint gleichsam irrelevant zu sein.
Das Gleiche geschieht in der Innenpolitik. Die staatlichen Repressionsorgane sind desintegriert und schwach. Ihnen fehlen die ideologische Motive und der Glaube an die Gerechtigkeit der eigenen Sache, sie sind allein von Gier und Angst angetrieben. Der Staat spielt die starke Hand nur – und seine Bürger spielen bereitwillig das Leben unter der starken Hand. Innerhalb dieser Logik erklärt sich, weshalb der abrupte Anstieg der Verfahren wegen „Extremismus“ und „Staatsverrat“ sowie die Kampagnen gegen „ausländische Agenten“ und die Fünfte Kolonne funktionieren und von der Mehrheit akzeptiert werden (fast die Hälfte derer, die über das ziemlich schnell eingestellte Verfahren gegen die mehrfache Mutter und „Staatsverräterin“ Swetlana Dawydowa informiert waren, gaben den Daten des Meinungsforschungsunternehmens WZIOM zufolge an, dass sie eine Gefängnisstrafe verdient habe). Selbst rein technische Maßnahmen wie die Einführung gebührenpflichtiger Parkplätze, der Abriss von Verkaufsbuden oder Straßenbaumaßnahmen im Zentrum von Moskau werden nach dem Muster stalinscher Mobilisierungskampagnen durchgeführt.
Für die mangelnde Zukunftsfähigkeit und die Gebrechlichkeit der Konstrukte, mit denen wir es heute zu tun haben, spricht auch ihr hoffnungslos eklektischer Charakter. Sowjetische Ideologie-Versatzstücke verbinden sich mit monarchistischen, Orthodoxie mit Faschismus, Kommunismus mit Kapitalismus und Erscheinungen der Moderne mit offenkundigem Postmodernismus. Der „weltanschaulichen Rahmen“ beherbergt ein Konstrukt aus äußerst heterogenen Erscheinungen, die je nach Situation aus Ängsten und Traumata zusammenmontiert wurden.
Aber wenn das so entstandene Bündel künstlich, unvollständig und nicht lebensfähig ist, wenn es keine Ressourcen für eine echte Renaissance des stalinistischen Modells gibt – woher kommt dann die offensichtliche und augenfällige Energie, mit der dieses Gebilde Lebenszeichen von sich gibt?
Erstens liegt der schmerzhaft aufbrechenden Erinnerung an die Sowjetunion, wie schon gesagt, ein Trauma zugrunde, das die Zeit nicht heilen kann, wenn es nicht verarbeitet wird. Zweitens erinnert das Phänomen mit seiner Intensität und seinem verkrampften Bemühen stark an eine Agonie. Agonie im medizinischen Sinn bedeutet ja immer eine Aktivierung der Lebenskräfte – Atmung, Herzrhythmus und Durchblutung des Sterbenden funktionieren plötzlich wieder. Verantwortlich dafür sind jedoch nicht das Gehirn und der obere Bereich des Nervensystems, sondern Hirnstamm und Rückenmark. Es handelt sich um eine von Krämpfen begleitete Verbrennung der letzten Ressourcen im Vorgriff auf das unvermeidliche Ende. Das, was heute zu beobachten ist, erinnert bei aller scheinbaren Lebendigkeit und Frische genau daran.
Der schlafende Koloss erwacht nicht, sondern liegt im Todeskampf. Das heißt jedoch keineswegs, dass das Geschehen harmlos ist. Diese Agonie von historischem Maßstab kann Jahre andauern, und der Drache kann in den letzten Zuckungen viele mit ins Verderben reißen – sowohl die tapferen Ritter als auch die Anhänger, die sich an ihn geklammert haben, sei es aus Angst, aus Dummheit oder weil sie den Todeskampf mit der Rückkehr zum Thron verwechselten.
Er hat schon jetzt einige tausend Menschen mit sich gerissen, die – freiwillig oder auf Befehl – in den ukrainischen Krieg zogen und dort getötet haben und gefallen sind. Und einige Dutzend (anderen Angaben zufolge Hunderte) in Syrien. Dazu kommen die Opfer der Verurteilungen wegen Extremismus und anderer parapolitischer Anklagen, die infolge der Aktivierung des repressiven Systems stark zugenommen haben.
Unheimlicher und Schmerzlicher Diskurs
So paradox es klingt: Man kann in dieser krampfhaften Aktivierung des „Stalinkomplexes“ auch ein wichtiges Zeichen der Hoffnung sehen. Denn die Verarbeitung der traumatischen Vergangenheit, die durch zahlreiche politische, soziale und psychologische Faktoren erschwert wird, könnte sich dadurch endlich das ganze Land packen und Russland faktisch zu einem ernsthaften Umdenken zu nötigen. Die Erinnerung an den Großen Terror ist bis heute entweder weitgehend privat, in den Tiefen verborgen, aus denen heraus sie unsichtbar die Gegenwart und die Beziehung zu ihr gefärbt hat (siehe das Buch Krivoe gore – dt. Der entstellte Kummer von Alexander Etkind), oder sie wurde „extern“ bearbeitet. Jetzt kann sie mit voller Kraft erwachen. Die gemeinsame Verarbeitung des gemeinsamen Schmerzes ist eine unumgängliche Voraussetzung für die Heilung.
Staatliche Anstrengungen allein reichen in solchen Fällen nicht aus – davon zeugt die äußerst oberflächliche offizielle Ent-Stalinisierung in den 1950er und 1960er Jahren, die als solche schon ein schmerzhaftes Ressentiment provoziert hat, und später dann die Umwertung der Werte in den 1990er Jahren. Auch die Bemühungen lediglich eines aktiven Teils der Zivilgesellschaft sind nicht ausreichend. Die Bedeutung der Tätigkeit von Organisationen wie Memorial ist nicht hoch genug einzuschätzen. Die Mitglieder von Memorial sagen jedoch selbst, dass sie ihre Aufgabe darin sehen, der Öffentlichkeit die Materialien und Fakten für die Aufarbeitung an die Hand zu geben. Sie können diese Aufarbeitung nicht anstelle der Gesellschaft und ohne Mitwirkung des Staates durchführen.
In den beiden letzten Jahren ist zu beobachten, dass in der ganzen Gesellschaft ein Diskurs über die Repressionen und das Erbe des Stalinismus beginnt. Dieser Diskurs ist oft unheimlich und schmerzlich, er entgleitet zuweilen in unnötige und emotionale Verallgemeinerungen – aber wenn ein Geschwür aufbricht, ist das unvermeidlich. Oleg Chlewnjuks Buch über Stalin gehört zu den verlegerischen Höhepunkten des Jahres 2015, und einiges deutet darauf hin, dass es im Kreml aufmerksam gelesen wird. Posts in sozialen Netzwerken, die dem Gedenken an die Repressionen gewidmet sind, werden zu Zehntausenden geteilt (nur zwei Beispiele: Andrej Mowtschans Antwort auf einen Kommentator und Sergej Parchomenkos Erzählung über Kolpaschewski Jar); Bürgerinitiativen wie Woswraschtschenie imjon (Rückgabe der Namen) und Posledni adres (Die letzte Adresse) vermehren sich exponentiell. Ein wichtiges Detail: In diesem Jahr wird die Aktion Woswraschtschenie imjon am Solowezki-Stein in Moskau erstmals nicht aus Fördertöpfen, sondern durch Spenden von Bürgern finanziert. Früher war so etwas nicht möglich – jetzt ist es auf einmal ganz selbstverständlich geworden.
Man kann sogar noch etwas weiter gehen. Russland braucht nicht einfach nur einen Diskurs über die Erinnerung. Ein solcher Diskurs ist vielmehr der einzige Weg, um eine weit schwierigere Aufgabe anzugehen: den Versuch, im ganzen Land eine gemeinsame Sprache zu finden.
Neben vielen anderen Dingen hat die Krim-Krise deutlich gezeigt, dass in der russischen Gesellschaft ein kalter Bürgerkrieg herrscht, der in einer Krisensituation ein heißer werden kann. Der Schmerz, der deutlich mit der Stalinära in Zusammenhang steht, ist wohl die einzige wirklich gemeinsame Erfahrung, die nicht nur die Russen vereint oder vereinen könnte, sondern alle Menschen im postsowjetischen Raum.
Eine solche Vereinigung wäre von gänzlich anderer Art als das, was die Urheber der Post-Krim-Mobilisierung wachrufen wollten. Aber gerade sie könnte ein Gespräch darüber in Gang setzen, wie wichtig und notwendig eine Koexistenz in diesem Raum ist – ein Gespräch über gemeinsame Ziele und über Gemeinsamkeiten, für die es sich lohnt, Kompromisse einzugehen.