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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Perm-36

    Perm-36

    Als der Permer Geschichtsstudent Andrej Kalich und seine Freunde auf einer Paddeltour im Sommer 1988 die zum großen Teil noch erhaltenen Gebäude eines ehemaligen Arbeitslagers entdeckten, ahnten sie kaum, welche Bedeutung jenem Ort zukam. Doch Andrejs Vater, der Permer Journalist und Mitbegründer der örtlichen Memorial-Gruppe Alexander Kalich, konnte der Erzählung seines Sohnes entnehmen, dass es sich um das „Besserungs-Arbeitslager für politische Gefangene VS-389/36“ handeln musste, im Gefangenen-Jargon schlicht als Perm-361 bezeichnet.

    Vornehmlich als Graswurzelinitiative entstand dort in den 1990er Jahren eine Gedenkstätte mit einem Museum. Sie entwickelte sich – nicht zuletzt dank dem lokalen Bürgerfestival – in den 2000er Jahren zu einem bedeutenden Zentrum der russischen Zivilgesellschaft. Die aktuellen Entwicklungen im und um das Museum gelten der russischen Opposition als Musterbeispiel für die Neuausrichtung der russischen Geschichtspolitik und für den Umgang des Staates mit unabhängigen zivilgesellschaftlichen Organisationen.

    „Perm-36“, in der Sowjetzeit ein Arbeitslager für politische Häftlinge, ist heute Gedenkstätte und Museum / Foto © Max Sher
    „Perm-36“, in der Sowjetzeit ein Arbeitslager für politische Häftlinge, ist heute Gedenkstätte und Museum / Foto © Max Sher

    Gemeinsam mit örtlichen Historikern suchte der Permer Memorial-Mitarbeiter Alexander Kalich im Jahr 1988 das ehemalige Arbeitslager im Dorf Kutschino auf, auf das sein Sohn zufällig bei einer Paddeltour gestoßen war. Schnell erkannten sie dessen welthistorischen Wert: Etwa 150 Kilometer von Perm entfernt, steht dort die einzige nahezu vollständig erhaltene Anlage mit den typischen Holzbaracken eines Straflagers aus der Stalinzeit.

    Lager von welthistorischem Wert

    1946 als eines der zahlreichen stalinschen Arbeitslager errichtet, sollte es der Holzbeschaffung für die Industrie und für den Wiederaufbau des Landes nach dem Krieg dienen. Wegen seiner günstigen Lage am Flussufer blieb das Lager jedoch auch nach Stalins Tod noch in Betrieb und trägt so auch bauliche Spuren späterer Sowjetepochen. Ende der 1950er Jahre erhielt es verstärkte Sicherungsanlagen für die Unterbringung krimineller Mitarbeiter der Sicherheitsorgane. Von 1972 bis 1987 diente die Anlage unter strenger Geheimhaltung als Speziallager für politische Gefangene. Eine etwas abgelegene Scheune wurde zu einer zweiten Abteilung umgebaut, in der überzeugte Gegner der Sowjetmacht im „Sonderregime für besonders gefährliche Wiederholungstäter“ ihre mehrjährigen Strafen verbüßten. Dissidenten saßen in einer Zelle mit Nazikollaborateuren. Der ukrainische Dichter Wassyl Stus, der 1985 für den Nobelpreis vorgeschlagen worden war, kam hier im selben Jahr unter bis heute ungeklärten Umständen ums Leben.

    Wegen des außerordentlichen historischen Werts des Geländes setzte sich in den 1990er Jahren insbesondere Viktor Schmyrow, Dekan an der Permer Pädagogischen Hochschule, gemeinsam mit einigen ehemaligen Insassen aus dem Dissidentenkreis und örtlichen Aktivisten aus dem Umfeld von Memorial, für dessen Erhalt als Gedenkstätte ein.
    Am 5. September 1995 war es dann soweit: Die Baracke des „Sonderregimes“ konnte erstmals für den Besucherverkehr geöffnet werden. Viktor Schmyrow und seine Frau, die Permer Historikerin Tatjana Kursina, übernahmen die Leitung der Gedenkstätte. Sie kündigten ihre Stellen an der Pädagogischen Hochschule und widmeten sich ganz der Weiterentwicklung des Museums und Gedenkzentrums für die Geschichte der politischen Repressionen Perm-36 – so der Name der Trägerorganisation. Dank ihrem Engagement erhielt das erste und bis heute einzige Museum in Russland, das sich am Ort eines ehemaligen Arbeitslagers stalinistischen Typs befindet, bald regelmäßige Zuwendungen aus dem Permer Regionalhaushalt. 
    2001 konnten schließlich auch die in den 1940er Jahren errichteten Gebäude für den regulären Besucherverkehr geöffnet werden. Auf der Grundlage der Forschung zu den sowjetischen Repressionen in den Archiven der Region konzipierte das Museum Ausstellungen, die nicht nur in Russland, sondern auch in den USA, Großbritannien und Italien gezeigt wurden.2 Für Schüler, Studierende, Lehrer und Museumsfachleute wurden Bildungsprogramme entwickelt. Dabei bemühten sich die Verantwortlichen stets, sowohl die Epoche der Säuberungen und des Gulags als auch die der Repressionen gegen das spätere Dissidententum in den Blick zu nehmen.

    Hauptstadt der russischen Zivilgesellschaft

    In den 2000er Jahren entwickelte sich das Museum schließlich zu einem Anziehungspunkt für all jene, die sich in Russland zu einer liberalen Bürgergesellschaft zählten. Besonders deutlich wurde das beim Bürgerfestival Pilorama: ein Festival mit Konzerten, Kunstausstellungen, Theateraufführungen und zahlreichen Diskussionsforen, das jährlich tausende Teilnehmer für ein Juliwochenende nach Kutschino lockte. Auf dem Festival diskutierten Vertreter der liberalen Parteien mit ehemaligen politischen Gefangenen über die brennenden Fragen der Zeit. Musiker wie Andrej Makarewitsch gaben Konzerte, 2010 inszenierte ein internationales Künstlerteam auf dem Lagergelände die Oper Fidelio von Beethoven. 

    Das Pilorama, aber auch die vielfältigen Permer Bürgerinitiativen, verschafften der Stadt den Ruf als „Hauptstadt der russischen Zivilgesellschaft“. Dies passte perfekt in das Entwicklungskonzept, das der damalige Gouverneur Oleg Tschirkunow für die Region hegte. Er lud wichtige Vertreter der russischen liberalen Kulturelite nach Perm ein – wie den Galeristen Marat Gelman, den Dirigenten Teodor Currentzis und den Regisseur Boris Milgram, die mit avantgardistischen Ausstellungen, Ballett- und Theateraufführungen eine „kulturelle Revolution“ entfachten. So brachte er Perm kurzzeitig auf die Liste der interessantesten kulturellen Zentren Europas.

    Politische Kehrtwende

    Die Wende zeichnete sich aber schon im Jahr 2012 ab. Kurz vor der Rückkehr Putins ins Präsidentenamt reichte Tschirkunow ein Gesuch auf seine vorzeitige Abberufung ein. Der neu eingesetzte Gouverneur Viktor Bassargin, der zuvor den Posten des föderalen Ministers für regionale Entwicklung bekleidete, entledigte sich zügig der „Mannschaft“ seines Vorgängers und berief den Schauspieler Igor Gladnew als regionalen Kulturminister. Dieser wiederum entließ umgehend Marat Gelman als Leiter des örtlichen Museums für moderne Kunst und strich die Fördergelder für dessen avantgardistische Projekte. 

    Diese politische Kehrtwende konnte auch an dem Museum und seinem Festival nicht spurlos vorübergehen. Einen ersten Hinweis erhielten seine Betreiber bereits im selben Jahr, als in einer regionalen Zeitschrift ein Interview mit einem ehemaligen Wärter des Straflagers Perm-36 abgedruckt wurde: „Im Gulag kamen tausende Leute um […] Das waren die 1930–50er Jahre. Was hat Perm-36 damit zu tun – mit seinen sauberen, satten Häftlingen, die sich auf Werkbänkchen mit der Herstellung von Anschlussklemmen für Bügeleisen beschäftigten?“3 Dieser Vorwurf der Geschichtsfälschung gegenüber den Betreibern des Museums war der Auftakt einer breiten Kampagne gegen das Museum, an der sich sowohl andere ehemalige Mitarbeiter des Lagerwesens als auch die Kommunistische Partei der Russischen Föderation und die neostalinistische Organisation Sut Wremeni (in Europa unter dem Namen Essence of Time bekannt) beteiligten. 

    Im folgenden Jahr warfen einzelne Vertreter dieser Gruppen den Museumsbetreibern wiederholt vor, dass sie weder die Haftbedingungen der ehemaligen Insassen noch die Zusammensetzung des Lagers korrekt darstellen würden. Insgesamt schade das Museum der jungen Generation in der Ausbildung einer patriotischen Gesinnung. Die Teilfinanzierung der NGO über US-amerikanische Stiftungsgelder galt als Beleg dafür, dass es sich bei dem Museum um eine feindliche, aus dem Ausland gesteuerte Struktur handele. Auf dieser „NATO-Basis“4 werde das Ziel verfolgt, Russland von innen heraus zu zerstören.

    Perm-36 als ausländischer Agent

    Die Attacken boten der neuen Regionalregierung zunächst den Anlass, dem Pilorama im Sommer 2013 die Fördergelder zu streichen, sodass es nicht mehr stattfinden konnte. Der Museumsleitung wurde „zu ihrer Absicherung“ die Verstaatlichung angeboten.
    Doch die vorgeblich zum Schutz der inzwischen weltweit bekannten Institution initiierte Verstaatlichung stellte sich bald als eigentliche Gefährdung heraus: Durch das Abschalten von Strom, Gas und Wasser wurden die Betreiber gezwungen, das Museum kurz nach der Verstaatlichung im Frühjahr 2014 für den Besucherverkehr zu schließen. Dies war zudem ein willkommener Anlass für den örtlichen Kulturminister, Tatjana Kursina als Direktorin zu entlassen. Im Anschluss wurden Bibliothek, Archiv und Bestände des vorherigen Trägers konfisziert und die Ausstellung an das heroische Geschichtsnarrativ angepasst: Der Raum mit den Biographien ehemaliger dissidentischer Insassen wurde geschlossen, hingegen der Beitrag der Gulag-Häftlinge zum Sieg im Großen Vaterländischen Krieg auf Schautafeln dokumentiert.
    Während die ehemaligen Wächter des Arbeitslagers in den Beirat drängten, distanzierten sich die ehemaligen Insassen von der Institution. Der frühere Trägerverein wurde als ausländischer Agent gelistet und mit Gerichtsverfahren überzogen. Zermürbt gaben dessen Akteure im März 2015 auf.

    An diesem Vorgang vermochten weder die mit zahlreichen Unterschriften versehene Petition an den Gouverneur und den russischen Präsidenten noch Proteste seitens russischer Prominenter, nationaler und internationaler Organisationen etwas zu ändern – genauso wenig wie die Interventionen des russischen Präsidialen Menschenrechtsrats. Die lang andauernde Skandalisierung in der russischen und internationalen Presse sowie diplomatische Bemühungen scheinen aber zumindest eines erzielt zu haben: 2016 berief man Julia Kantor, die ehemalige Beraterin des Direktors der St. Petersburger Eremitage, zur Kuratorin. Zumindest die ehemaligen dissidentischen Insassen des „Sonderregimes“ erfahren durch Kantors Einflussnahme wieder eine Würdigung am Ort ihrer langjährigen Haftstrafen. Bibliothek, Archiv und Museumsbestände der Museumsgründer gelten jedoch bis heute als „verschollen“.


    1. Im Permer Gebiet existierten in den 1970er und 1980er Jahren unter den Jargon-Bezeichnungen „Perm-35“ und „Perm-37“ noch zwei andere Speziallager für politische Gefangene. Alle drei Lager wurden unter der Bezeichnung „Permer Dreieck“ zusammengefasst. ↩︎
    2. So wurde zum Beispiel die Ausstellung „GULag: The Story of one Camp“, über die bekanntesten dissidentischen Insassen des Lagers, 2003 in mehreren Städten der USA, Großbritanniens und Italiens gezeigt. Die Ausstellung „Russia, the Hard Way out of the Gulag“ über Russlands Auseinandersetzung mit seiner Gulag-Vergangenheit wurde 2005 in mehreren amerikanischen Städten gezeigt, vgl. Abzalova, Ekaterina, The Memorial Center for the History of Political Repression “Perm-36“, S. 8 ↩︎
    3. vgl. Perm.aif.ru: Byvšij nadziratel‘ „Permi-36“ uličil „Piloramu“ v fal’sifikacii istorii ↩︎
    4. vgl. Kprf.perm.ru: Prodolžaetsja serija piketov „Net baze NATO v Perm’-36“ ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Sandarmoch

    Sandarmoch

    Zwischen dem 27. Oktober und dem 4. November 1937 wurden in einem verborgenen Waldgebiet in Karelien 1111 Menschen aus dem Solowezki-Gefängnis erschossen. Die Erschießung unterlag strengster Geheimhaltung. Bis zur Perestroika kursierten Gerüchte, der Lastkahn mit den Gefangenen sei im Weißen Meer versenkt worden. Für die Angehörigen verschwanden sie spurlos. Nicht einmal über die Tatsache ihres Todes herrschte Gewissheit. Auch wenn die Wahrheit über die Todesursachen seit Ende der 1980er Jahre kleckerweise an die Öffentlichkeit gelangte, blieb der Erschießungsort bis in die späten 1990er Jahre unbekannt.

    Erst 1997 wurde auf einer Expedition, bei der der Lokalhistoriker Juri Dmitrijew eine entscheidende Rolle spielte, in einem karelischen Nadelwald eine Vielzahl von Massengräbern gefunden. In diesen waren außer den Solowezki-Gefangenen auch mehrere tausend weitere Hingerichtete verscharrt.1 Der namenlose Ort im Wald bekam damals auch einen Namen: Sandarmoch.

    Die Hinterbliebenen der Opfer personalisieren Baumstämme, Pfähle und Erdstücke als persönliche Grabstätten / Foto © Anna Ivantsova
    Die Hinterbliebenen der Opfer personalisieren Baumstämme, Pfähle und Erdstücke als persönliche Grabstätten / Foto © Anna Ivantsova

    Die Erschießungsorte und Friedhöfe des NKWD unterlagen der strikten Geheimhaltung. Bis heute sind noch nicht alle Spezobjekty (dt. „Spezialobjekte“) – wie es in der NKWD-Sprache heißt – entdeckt. Erst die Öffnung der KGB-Archive ermöglichte es zivilgesellschaftlichen Akteuren, und vor allem der Menschenrechtsorganisation Memorial, einige zu finden: Butowo und Kommunarka bei Moskau sowie Lewaschowo bei Sankt Petersburg. Die Suche nach Sandarmoch aber dauerte länger und war viel aufwändiger.

    Tatort Sandarmoch

    Sie begann mit der Recherche nach einem zunächst unbekannten Ort, an dem die Häftlinge aus dem Solowezki-Gefängnis begraben worden waren. Laut KGB-Dokumenten sind sie 1937 auf Anweisung der Leningrader Troika irgendwo in den karelischen Wäldern hingerichtet worden.
    Hinweise zum Tatort hat in den NKWD-Akten ein Täter hinterlassen, der später selbst zum Opfer wurde: Michail Matwejew, Leningrader Hauptmann der regionalen NKWD-Abteilung, führte die Erschießungen mit seinen Assistenten durch. Eineinhalb Jahre später wurde er festgenommen und wegen Amtsmissbrauchs zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Ihm wurden sadistische Prügel vorgeworfen, die den Hinrichtungen vorausgegangen waren.2
    In einem Verhörprotokoll hatte er den Transport der Häftlinge in das Lagergefängnis am Weißmeer-Ostsee-Kanal in Medweshjegorsk vermerkt. Näher als „16 Kilometer von Medweshjegorsk“ dürfe der Exekutionsort nicht liegen, sonst könne jemand die Schüsse hören oder das Licht des Feuers sehen, so Matwejew. 

    60 Jahre später, in den 1990er Jahren, führte der Memorial-Mitarbeiter Juri Dmitrijew, dem die Entdeckung einiger Friedhöfe und Hinrichtungsorte zu verdanken ist, eine Expedition in einen der Kiefernwälder zwischen Medweshjegorsk und Powenez. Am 1. Juli 1997 stieß er mit seinen Mitstreitern von Memorial Sankt Petersburg auf 150 Erdmulden mit menschlichen Überresten.3 Alle Opfer in den vier mal vier Meter großen Mulden hatten identische Einschusslöcher im Nackenbereich des Schädels. Außer den Häftlingen aus Solowki sind in Sandarmoch insgesamt mehr als 7000 Menschen erschossen und verscharrt worden.

    Opfer von Sandarmoch

    Unter den 1111 Solowezki-Gefangenen befand sich die geistliche, kulturelle, wissenschaftliche und diplomatische Elite der Sowjetunion. Ihre Namen sind bekannt: Viele von ihnen waren adeliger Herkunft – unter ihnen der renommierte Anwalt Alexander Bobrischew-Puschkin, der herausragende Linguist Nikolaj Durnowo, der Historiker Matwej Jaworski, der Theaterregisseur Les Kurbas, die Erzbischöfe von Samara, Tambow, Kursk und Woronesh. Seit 1933/34 wurde ihnen wegen sogenannter „terroristischer Tätigkeit“, „Spionage“ oder im Zusammenhang mit der „Kirow-Affäre“ der Prozess gemacht. Nach dem Transport in die sogenannte Untersuchungshaft des BelBaltLags nahe Medweshjegorsk wurden sie mit LKW an die Vernichtungsstätte Sandarmoch gebracht.

    Noch nicht alle Opfer des Großen Terrors in Karelien können benannt werden.4 Die Mehrheit von ihnen steht in direkter Verbindung mit dem BelBaltLag – dem ersten Zwangsarbeiterlager der Sowjetunion mit Zentrum in Medweshjegorsk: Beim Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals versuchte sich die sowjetische Geheimpolizei als Wirtschaftsunternehmen, indem sie zur Durchführung dieses gewaltigen Infrastrukturprojektes Häftlinge zur Zwangsarbeit heranzog. Der 227 Kilometer lange Kanal ließ sich dadurch innerhalb kürzester Zeit und ohne Belastung für den Staatshaushalt errichten. Hier, in einem exemplarischen Bauprojekt der Industrialisierung, das zwischen 1931 und 1933 entstand, sollten „Klassenfeinde“ zu „neuen Menschen“ „umgeschmiedet“ werden. 

    Der Weißmeer-Ostsee-Kanal war ein gewaltiges Infrastruktuprojekt – errichtet von Zwangsarbeitern / Foto © Anna Ivantsova
    Der Weißmeer-Ostsee-Kanal war ein gewaltiges Infrastruktuprojekt – errichtet von Zwangsarbeitern / Foto © Anna Ivantsova

    Nach der Fertigstellung des Weißmeer-Ostsee-Kanals blieben viele aus der Haft entlassenen Kanalbauarbeiter als freiwillige Arbeitskräfte weiter hier wohnen und wurden von der OGPU-NKWD im BelBaltKombinat beschäftigt. Dieses 1934 entstandene Industrieunternehmen hatte das Ziel, sowohl „großtechnologische Kraftstationen zu entwickeln, als auch sozialistische Städte aufzubauen“5. Die fehlenden Arbeitsressourcen wollte man mit der Zwangsumsiedlung von Bauern aus der ganzen Sowjetunion ausgleichen. So waren es – außer ehemaligen Kanalbauarbeitern – enteignete und umgesiedelte Bauern und „rote Finnen“, die das Gebiet des BelBaltLags am Vorabend des Großen Terrors besiedelten. Letztere, der Spionage angeklagt, und die als Kulaken verfemten Bauern sollten „auf unbarmherzige Art und Weise zerschlagen werden“.6
    Obwohl die meisten Erschießungen in Sandarmoch zwischen August 1937 und November 1938 stattfanden, war es bereits seit 1934 eine Hinrichtungsstätte der OGPU-NKWD: Hier fanden Exekutionen von Häftlingen des BelBaltLags statt.7

    Geschichte der Erschießung

    Die Säuberung von „antisowjetischen Elementen“ begann mit dem geheimen operativen Befehl Nr. 00447 vom 30. Juli 1937, der das „Fließband des Todes“ in Gang setzte und als Auftakt des Großen Terrors gilt. In diesem Befehl wurde die Zahl der Menschen für jede Region festgelegt, die den Repressionen „unterlagen“: insgesamt eine viertelmillion Menschen, darunter 1000 Menschen in Karelien. Die Zahl der tatsächlich Repressierten ist deutlich höher: Allein in Karelien verurteilte die Troika des NKWD 4000 Angehörige „verdächtiger“ Nationalität und 7000 „Konterrevolutionäre“ zum Tode.
    Für die Angehörigen verschwanden die festgenommenen Menschen spurlos. Der Satz „zehn Jahre Freiheitsentzug ohne Recht auf Briefwechsel“ war eine Vorahnung des Schrecklichen und eine Hoffnung zugleich. Über das Leben und den Tod sollte Schweigen herrschen. Erst in den späten 1950er Jahren, im Tauwetter und mit der Rehabilitierungskampagne unter Nikita Chruschtschow, wurde auf Anfrage der Angehörigen der Tod bestätigt. Die Wahrheit über die Todesursache, Datum und Ort der Beisetzung durfte erst dreißig Jahre später veröffentlicht werden.

    Friedhof Sandarmoch

    Die Gewissheit um den Tod der Angehörigen entwickelte sich zur Forderung nach einem Ort der privaten Trauerarbeit. Zivilgesellschaftliche Initiativen machten den Wunsch tausender Familien öffentlich: Die Topografie des Terrors sollte zur Topografie der Friedhöfe werden. Die Entdeckung von Sandarmoch sorgte für Aufruhr in der Region. Viele hofften, damit endlich einen Ort zu finden, um eine Grabstätte einzurichten. Insgesamt wurden auf einer Fläche von etwa siebeneinhalb Hektar 236 Massengräber entdeckt.8 Juri Dmitrijew wünschte sich damals, dass dem Friedhof Sandarmoch im heutigen Russland die gleiche symbolische Bedeutung zukommen sollte wie der Gedenkstätte Buchenwald in Deutschland.9
    Weniger als ein halbes Jahr haben die Aktivisten für die Ausgestaltung der Gedenkstätte gebraucht. Ihre Arbeit wurde aus dem Haushalt der Republik Karelien finanziert. Die heutige Gedenkstätte Sandarmoch besteht immer noch aus den Elementen, die im Oktober 1997 entstanden: 236 Holzpfähle, die die Gräber markieren, eine Kapelle und der Solowezki-Gedenkstein – in Erinnerung an die Hingerichteten aus Solowki10. Ein Jahr später entstand das Mahnmal Erschießung mit Engel. Dieses ist für den Kontext der gegenwärtigen Erinnerungskultur in Russland aufschlussreich: Ein Engel, der mit gebundenen Händen in ein Grab fällt, ist ein Symbol des passiven, unschuldigen Opfers par exellence. Die Inschrift auf dem Stein lautet: „Menschen, tötet einander nicht“. Nach den Tätern wird nicht gefragt: Das Böse wird verallgemeinert. Mit wenigen Ausnahmen bleiben die Strukturen und Mechanismen des stalinschen Terrors in der Erinnerungskultur generell abstrakt, anonym und verschleiert.

    Ort der lebendigen Erinnerung

    Für einen westlichen Betrachter ist Sandarmoch kein Ort der negativen Identitätsstiftung durch „Pflicht zum Gedenken“. Sandarmoch ist vor allem ein Friedhof, auf den Angehörige der Hingerichteten kommen, um zu trauern. Dabei wissen die meisten nicht einmal genau, ob ihre Verwandten tatsächlich hier verscharrt wurden.11 Das „imaginierte Grab“ ist mindestens genauso wichtig wie das genaue Wissen. Die „Kinder von 1937“, wie die Kinder von verschwundenen oder verurteilten Menschen genannt werden, personalisieren Baumstämme, Pfähle und Erdstücke als persönliche Grabstätten. An den hölzernen Kreuzen oder an den Bäumen werden Fotografien, Plastikblumen, Schilder mit Namen und Lebensdaten befestigt. Zuweilen hat man den Eindruck, man sei auf einem Friedhof, auf dem noch Beisetzungen stattfinden. Sandarmoch ist ein Ort der lebendigen Erinnerung und Trauer.
    Unter den vielen anderen Gedenkstätten zeichnet sich Sandarmoch durch die hohe Internationalität der Opfer heraus. Am symbolischen Feld des Gedenkens befinden sich Denkmale für Finnen, Polen, Litauer, Esten, Ukrainer, Tataren und andere. Hier findet auch die jährliche Gedenkzeremonie statt, der Internationale Tag des Gedenkens: Am 5. August wird Sandarmoch zum Ort einer transnationalen Erinnerung an die Opfer des Stalinismus.

    Seit mehr als 20 Jahren ist das Bestehen der Gedenkstätte vom good will der örtlichen Verwaltung abhängig. Außer dem Mahnmal Erschießung mit Engel unterliegen weder andere Gestaltungselemente noch die Gedenkstätte selbst dem staatlichen Denkmalschutz. Für die Regierung Kareliens ist Sandarmoch – bislang – von großer Bedeutung: Die breite internationale Präsenz beim jährlichen Tag des Gedenkens am 5. August und die anhaltende mediale Aufmerksamkeit für diesen Ort erfordern von Seiten der lokalen Verwaltung administrative und finanzielle Investitionen. Doch weder der russische Präsident noch andere hochrangige Politiker Russlands oder anderer Länder haben Sandarmoch jemals offiziell besucht.

    Die „zweite Wahrheit“ von Sandarmoch

    Die zweite Wahrheit des Konzentrationslagers Sandarmoch: Die Finnen haben Tausende unserer Soldaten zu Tode gequält. Mit diesem Titel wurde im August 2016 eine Sendung des TV Swesda ausgestrahlt. Seitdem ist die These im Raum, es handele sich nicht oder nicht nur um stalinsche Repressionen, sondern um Taten der finnischen Besatzungsmacht während des Zweiten Weltkrieges. Zum ersten Mal wurde dies vom Petrosawodsker Historiker Juri Kilin als Annahme formuliert, sie wird seitdem immer wieder aufgegriffen. 

    Die Annahme beruht auf folgender Logik: Während der Okkupation des sowjetischen Karelien durch Finnland waren insgesamt circa 64.000 Rotarmisten in finnischer Gefangenschaft. Mehr als 20.000 Menschen sind dabei am Elend der Haft gestorben oder wurden exekutiert. Die Finnen haben nachweislich die Lagerinfrastruktur des Gulag genutzt. Über die Massengräber ist wenig bekannt. Vielleicht haben sie auch Sandarmoch – den Erschießungsort vom NKWD – benutzt? 
    Die Hypothese von Juri Kilin lässt sich weder bestätigen noch widerlegen. Medialen Platz hat sie aber bereits gefunden: „Nach ungefähren Angaben ruhen in Sandarmoch circa 22.000 Soldaten der Roten Armee“, so die Sendung auf TV Swesda.

    Die Relativierung dieses „schwarzen Herzens des Gulag“ ging der Verhaftung des Entdeckers von Sandarmoch voraus: Juri Dmitrijew wurde die Herstellung und Verbreitung von Kinderpornografie vorgeworfen. Dem Freispruch vom April 2018 folgte bald eine neue aber nicht weniger fragwürdige Ermittlung, diesmal wegen angeblichen Missbrauchs seiner Ziehtochter. Ob das zeitliche Zusammenfallen der Berichterstattung über „die zweite Wahrheit von Sandarmoch“ und die Verhaftung seines Entdeckers zusammenhängen, ist unklar. Beide tragen aber dazu bei, die Täterschaft zu verschleiern und den Stalinschen Terror zu relativieren. 


    1. Die Zahlen der Opfer ist in der Forschung umstritten: Während Dmitriev von circa 9000 Exekutierten spricht, nennt Ivan Čuchin die Zahl 6067, vgl.: Čuchin, Ivan/Dmitriev, Jurij (2002): Pominal’nye spiski Karelii: 1937-1938: Uničtožennaja Karelija: Čast’2: Bol’šoj Terror, Petrozavodsk. Die Inschrift auf dem Gedenkstein in Sandarmoch weist auf 7000 Exekutierte hin. ↩︎
    2. vgl.: Novaya Gazeta: Palači Sandarmocha ↩︎
    3. zum Verlauf der Suchaktion siehe: polit.ru: Bol’šoj terror v Sandormoche, später wurden weitere Gräber gefunden, sodass sich die Gesamtzahl auf 236 beläuft. ↩︎
    4. 6067 Namen hat Jurij Dmitriev identifiziert: Dmitriev, Jurij (1999): Mesto rasstrela Sandarmoch, Petrozavodsk ↩︎
    5. Baron, Nick (2002): Production and Terror: The operation of the Karelian Gulag, 1933 – 1939, in: Cahiers du monde russe, 43/1, S. 139-181 und S. 141 ↩︎
    6. sh. Čuchin, Ivan (1999): Karelija-37: Ideologija i praktika terrore, Petrozavodsk, S. 17 ↩︎
    7. sh. Eintrag „Sandormoch” im Verzeichnis des virtuellen Gulag-Museums ↩︎
    8. Ob’ekty istoriko-kul’turnogo nasledija Karelii: Zahoronenie zhertv massovych repressij (1937-1938) ↩︎
    9. Interview mit der Verfasserin, April 2008 ↩︎
    10. Der Solovecki Stein – ein rauer, unbehauener Stein vom Solovecki-Archipel – ist die klassische Denkmalform für Opfer des Stalinismus in Russland ↩︎
    11. In Karelien wurden ca. 15 Orte von Massenexekutionen entdeckt, davon sind lediglich Sandarmoch und Krasny Bor als Gedenkstätten ausgestaltet ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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    Sandarmoch ist ein ursprünglich namenloses Waldgebiet in Karelien. In der Zeit des Großen Terrors wurde es neben Kommunarka bei Moskau und Lewaschowo bei Leningrad zu einem der größten geheimen Erschießungsplätze des NKWD. Stalins Schergen erschossen hier 1937/38 mehr als 7000 Menschen und verscharrten sie in Massengräbern. 60 Jahre später wurden sie von Memorial-Mitarbeitern unter Leitung des Lokalhistorikers Juri Dmitrijew entdeckt und zur Gedenkstätte Sandarmorch gemacht.

    Seit 1998 findet am 5. August in Sandarmoch der Tag des Gedenkens der Opfer des Stalinismus statt. In diesem Jahr wird er zugleich ein Tag der Solidarität mit Juri Dmitrijew sein. Dem Memorial-Mitarbeiter wurde erst die Herstellung von Kinderpornografie vorgeworfen. Nach seinem Freispruch im April 2018 läuft nun eine neue Ermittlung: Ihm wird der sexuelle Missbrauch seiner Ziehtochter zur Last gelegt.

    Das Leben der Angehörigen von Opfern des Großen Terrors war geprägt von dem oft unbegreiflichen Verschwinden ihrer Nächsten. Nun kommen Nachfahren derer zu Wort, die in dem Wald Sandarmoch getötet wurden und erst seit 1998 Namen bekommen. Zugehört hat ihnen Anastasija Platonowa für Takie Dela.

    Medweshjegorsk / Foto © Anna Ivantsova
    Medweshjegorsk / Foto © Anna Ivantsova

    Taissija Fjodorowna Makarowa, Medweshjegorsk

    Wir waren morgens schon in die Schule gegangen, unser Vater machte sich gerade für die Arbeit fertig. Er war Verwalter eines Warenlagers, das sich gegenüber von unserem Haus befand. So sahen wir ihn nie wieder. Als wir nach Hause kamen, war er nicht da, sie haben ihn direkt von der Arbeit weggeholt. Am selben Abend durchsuchten sie das Haus. Unsere Mutter hatte eine Schatulle, in der sie die Briefe unserer älteren Schwestern aufbewahrte, die in Petrosawodsk lebten. Die Ermittler haben diese Schatulle förmlich umgekrempelt, sonst hatten wir auch nichts, nur unsere Betten.

    Die Menschen gingen zur Arbeit und weinten laut

    Das war 1937, ich war zehn Jahre alt. Ich weiß noch, dass sie alle geholt haben. Wir lebten mitten in der Stadt, direkt vor dem Haus war eine Bushaltestelle. Wenn man morgens aus dem Haus ging, gab es da nur Heulen und Tränen. Die Menschen gingen zur Arbeit und weinten laut. Bei allen ist jemand geholt worden.

    Auch abends nichts als Tränen. Papas Schwester war zu uns gekommen und meine großen Schwestern aus Petrosawodsk. Wir waren sechs Geschwister. Als unser Vater plötzlich verschwunden war, wurde es bitter. Es war hart.

    Wir haben ihn gesucht, meine Mutter fuhr nach Medweshja Gora, meine Schwestern schrieben Briefe, aber man sagte uns nichts. Nur einmal haben sie ein Päckchen entgegengenommen, mit Schuhen: Der Schnee war mittlerweile schon geschmolzen, aber als man ihn geholt hatte, hatte er noch Filzstiefel an. Ansonsten hörten wir nichts von ihm.

    Taissija Fjodorowna auf dem Gelände des Hotels „Medweshonok“ (dt. „Bärchen“) in Medweshjegorsk / Foto © Anna Ivantsova
    Taissija Fjodorowna auf dem Gelände des Hotels „Medweshonok“ (dt. „Bärchen“) in Medweshjegorsk / Foto © Anna Ivantsova

    Wir lebten in Powenez, und manchmal wurden am Haus Gefangene vorbeigeführt, zum Kanal [in Powenez befinden sich die ersten Schleusen des Belomorkanals – Anm. Takie Dela], und dann setzten wir uns auf die Bank vor unserem Haus und beobachteten sie: Vielleicht würden wir ja unseren Vater sehen. Es waren viele, sie liefen und liefen und liefen.

    Aber wir sahen ihn nie, unsere Mutter starb, ohne zu wissen, wo er liegt. Wir hörten und wussten also nichts von ihm.

    Wir sahen ihn nie, unsere Mutter starb, ohne zu wissen, wo er begraben liegt

    Erst als die Ausgrabungen bei uns in Sandarmoch losgingen, erfuhren wir, dass er dort ist. Wir sahen im Gedenkbuch nach und fanden seinen Namen. Alle haben geweint, alle. Meine Schwester Raja und ich sind dorthin gefahren, nach Sandarmoch – und es war, als würde die eine Stelle uns besonders anziehen. Dort stellten wir einen Gedenkstein auf.

    Als ich erfuhr, dass mein Vater dort ist, war das bitter. Sie haben ihn nicht leben lassen! Wenn er noch gelebt hätte, wäre ja auch unser Leben ganz anders verlaufen, wir hätten eine Ausbildung machen können …

    Aber wenigstens wissen wir jetzt, wo er ist, können ihn besuchen. Ich glaube, sie haben damals nach „Parasiten“ gesucht, aber mitgenommen haben sie unschuldige Menschen. Diese Menschen hatten nichts verbrochen, sie hätten noch lange leben können …

    Medweshjegorsk / Foto © Anna Ivantsova
    Medweshjegorsk / Foto © Anna Ivantsova

    Ljudmila Jakowlewna Stepanowa, Medweshjegorsk

    Sie kamen nachts, klopften an die Tür. Er hat sofort gewusst, was los war: Wir lebten im Dorf, da führte nicht einmal eine richtige Straße hin, wer sollte da sonst mitten in der Nacht kommen? Schon als sie ihn das erste Mal verhaftet und wieder freigelassen hatten, hatte er zu meiner Mutter gesagt: „Dascha, wenn nachts jemand kommt, dann wollen sie zu mir.“

    Und so war es auch. Meine Mutter hat erzählt, dass sie alle Männer aus unserem Dorf geholt haben, alle bis auf den Stallknecht Jascha, den einzigen echten Nichtsnutz. Mama lebte dann mit uns Fünfen, alles Mädchen: Jahrgang 1928, 32, 34, ich von 37 und Walja von 39. Wir zwei Kleinen waren von einem anderen Vater.

    Sie haben alle Männer aus dem Dorf geholt, nur den einzigen Nichtsnutz nicht

    Als der Krieg begann, war ich vier und meine kleine Schwester zwei. Wir wurden nach Saoneshje evakuiert. Nach dem Krieg kehrten wir nach Hause zurück. Ohne Mann hatte es meine Mutter sehr schwer. Sie wurde zur Holzverarbeitung geschickt, meine Schwester und ich waren den ganzen Winter über alleine, da war sie elf und ich acht. Zur Schule bin ich in Soldatenstiefeln gegangen, die ich bei uns im Haus gefunden hatte. Einmal hat meine Mutter darum gebeten, dass man ihr etwas Stoff gibt, damit sie Sachen für uns nähen kann. Da hörte sie: „Halt den Mund. Weißt du, wo dein Mann ist? Da kommst du sonst auch hin.“

    Wir wussten gar nichts von ihm. Nach der vierten Klasse bin ich arbeiten gegangen – meine Mutter hat mich als Kindermädchen nach Medweshja Gora geschickt. Zur Schule bin ich nicht mehr gegangen. Später habe ich am Belomorkanal gearbeitet. Schon damals hat man gesagt, er sei auf Knochen errichtet.

    Schon damals hat man gesagt, der Kanal sei auf Knochen errichtet

    In den 1950er Jahren kam ein Schreiben, dass unser Fjodor in Norilsk an Bauchtyphus gestorben wäre. Dem Schreiben waren 100 Rubel beigelegt. Mama hat dieses Geld auf uns vier Schwestern aufgeteilt, jede bekam 25. Ich habe mir Wollstoff gekauft, für ein Kleid.

    Später stellte sich heraus, dass er nie in Norilsk gewesen war. In den 1990ern bekamen alle, deren Eltern erschossen wurden, sogenannte Gedenkbücher. Da haben wir ihn dann gefunden. Und nicht nur ihn, sondern alle aus dem Dorf. Da war sein Bruder und der Mann seiner Tante, Gorbatschow. Ich war erschüttert: Sie hatten uns gesagt, er wäre irgendwo in Norilsk gestorben, und plötzlich liegt er hier, ganz in der Nähe! 40 Kilometer hatte man ihn weggebracht und erschossen.

    Ljudmila Jakowlewna / Foto © Anna Ivantsova
    Ljudmila Jakowlewna / Foto © Anna Ivantsova

    Meiner Meinung nach liegt die Verantwortung bei der obersten Führung unseres Landes. Vollkommen unschuldige Menschen sind umgekommen. Er war Flößer – was soll er angestellt haben? Er hat Holzstämme zusammengebunden. Das war das reinste Verbrechen: Alle Männer haben sie vor dem Krieg weggeholt.

    Tamara Semjonowa Schikowa, Sosnowka

    Meine Großeltern mütterlicherseits, Alexandra Dmitrijewna und Iwan Fjodorowitsch, lebten damals im Rajon Kalinin. 1937 wurde mein Großvater geholt. Wir haben nie wieder von ihm gehört. Nur von einem ehemaligen Nachbarn, dass er ihn 1941 in einem Strafbataillon gesehen habe, das in südlicher Richtung abgeführt wurde. Dort ist er auch gestorben.

    Meine Großmutter hatte fünf Kinder, ihr war klar, dass sie alleine nicht überleben würde. Deshalb beschloss sie, nach Leningrad zu fahren und die Kinder dort am Bahnhof zu lassen, damit man sie in ein Kinderheim bringt.

    Am Ufer des Onegasees in Sosnowka / Foto © Anna Ivantsova
    Am Ufer des Onegasees in Sosnowka / Foto © Anna Ivantsova

    Großmutter hat nie wieder geheiratet, sie hat immer gesagt, so einen wie ihren Wanetschka würde sie nicht noch einmal finden. Aber darüber zu sprechen hatten wir Angst, das ganze Leben lang hatten wir Angst davor und wenn ich sie bat: „Oma, lass uns doch versuchen, ihn zu finden“, sagte sie: „Lass ruhen. Ich fürchte mich vor diesen Zeiten.“

    Ich habe in den Listen nach ihm gesucht, aber nichts gefunden.

    Ich habe deinen Wanja denunziert

    Was damals geschehen ist, kann ich noch immer nicht begreifen. Noch vor dem Krieg war ein Nachbar zu meiner Großmutter gekommen. Er warf sich vor ihr nieder und sagte: „Alexandra Dimitrijewna, verzeih mir. Ich war es, ich habe deinen Wanja denunziert.“ Er hatte ihn aus purem Neid angezeigt, mein Großvater war ein tüchtiger Mann, fleißig und geschickt. Dafür musste er büßen. Wie soll man sich das erklären? Der Nachbar hat alles zugegeben, hat um Verzeihung gebeten. Aber sie hat zu ihm gesagt: „Gott wird dir vergeben, ich kann das nicht.“

    Tamara Semjonowa / Foto © Anna Ivantsova
    Tamara Semjonowa / Foto © Anna Ivantsova

    Sandarmoch war schon immer ein unguter Ort. Selbst als dort noch nichts entdeckt war und wir nichts davon wussten. Einmal sind mein Mann und ich mit dem Fahrrad in die Pilze gefahren. Wir fuhren weit, bis in dieses Waldstück. Als wir anfingen Pilze zu suchen, wurde mir plötzlich ganz anders. Da habe ich zu meinem Mann gesagt: „Edik, lass uns schnell hier weg, mir ist hier ganz unheimlich.“

    Alexandra Alexejewna Bassalajewa, Pinduschi

    Beide meiner Großväter waren Repressierte. Papas Vater war Pionier bei der Leibgarde, hatte in der Schützenbrigade beim Semjonowski-Leibgarderegiment gedient. Er wurde mit zwei Georgskreuzen ausgezeichnet – 1. und 4. Grades.

    In der Kolchose war er Brigadier, irgendwer hat ihn angezeigt: Man machte ihn für den Tod eines Pferdes verantwortlich, dafür kam er für zehn Jahre ins Lager nach Komi. Er hat überlebt, aber er kam als gebrochener kranker Mann zurück.

    Mamas Vater war ein Kulak: Zwei Desjatinen [circa zwei Hektar – dek] Land, Waldbestand. Sie kamen nachts. Der Vorsitzende der Kolchose hatte ihn angezeigt, und er wurde erschossen, er liegt bei Leningrad. Meine Mutter hat mir von meinem Großvater erzählt. Was für ein guter Mann im Haus er war, sehr ordentlich, ein kluges Köpfchen. Aber immer, wenn sie das erzählte, fügte sie hinzu: „Sascha, sag das nur ja niemandem.“ Außerdem sagte sie: „Der Geschichte sind die Augen verbunden, aber wenn die Zeit gekommen ist, wird sich alles offenbaren. Die Leute werden erfahren, was 1937/38 vor sich ging.“

    Alexandra Alexejewna auf der Bank im Hof ihres Hauses in Pinduschi / Foto © Anna Ivantsova
    Alexandra Alexejewna auf der Bank im Hof ihres Hauses in Pinduschi / Foto © Anna Ivantsova

    Ich verstehe nicht, wofür man völlig unschuldige Menschen erschossen hat

    Als ich 1997 von Sandarmoch erfuhr, war ich erschüttert. Ich fahre seitdem jedes Jahr am 5. August dorthin. Lege Blumen an einem der Gräber nieder und denke an meine Großväter. Ich verstehe nicht, wofür man völlig unschuldige Menschen erschossen hat. Ich habe an den FSB geschrieben, sie haben mir beide Akten geschickt, von dem einen und dem anderen Großvater. Das ist ein einziger Witz! Stalin hat damals verkündet, der Klassenkampf werde verschärft, also haben sie angefangen, kräftige Männer mit einem gut laufenden Hof zu verhaften.

    Die Großeltern Alexandra Alexejewnas / Foto © Anna Ivantsova
    Die Großeltern Alexandra Alexejewnas / Foto © Anna Ivantsova

    Jelena Jerschowa, Brjuchowo:

    Irgendwie hat es meine beiden Eltern nach Brjuchowo verschlagen.

    Meine Urgroßmutter väterlicherseits erzählte, dass sie nachts gekommen sind und meinen Urgroßvater mit einem Schwarzen Raben weggebracht haben. Sie und ihre beiden Söhne wurden nach Karelien deportiert.

    Meine beiden Urgroßeltern waren Finnen. Pjotr Fjodorowitsch und Anna Dawydowna Rantanen, sie hatten im Leningrader Rajon Toksowo gelebt.

    Auch mein Opa mütterlicherseits war Repressionen ausgesetzt: Im Krieg war er gefangengenommen worden, aus dem Lager befreiten ihn die Amerikaner. Zurück in der UdSSR wurde er sofort verhaftet und ebenfalls nach Karelien deportiert.

    Jelena Jerschowa / Foto © Anna Ivantsova
    Jelena Jerschowa / Foto © Anna Ivantsova

    An meine Uroma erinnere ich mich noch deutlich. Sie sprach sehr gut Finnisch und hat sich immer von der Masse abgehoben: Sie beherrschte mehrere Sprachen, nähte außergewöhnliche Kleider, sah einfach ganz anders aus …

    Ich denke, meine Familiengeschichte ist nur ein Millionstel von dem, was im Land los war

    1956 bekam sie mit der Post eine falsche Todesurkunde. Darin hieß es, mein Urgroßvater sei 1942 in der Oblast Kirowo an einem Lungenabszess gestorben. In Wirklichkeit ist er fast direkt nach seiner Verhaftung erschossen worden. Das haben wir erst erfahren, als die Archive geöffnet wurden.

    Die „Kirche zur Geburt der heiligen Mutter Gottes“ / Foto © Anna Ivantsova
    Die „Kirche zur Geburt der heiligen Mutter Gottes“ / Foto © Anna Ivantsova

    Ich denke, meine Familiengeschichte ist nur ein Millionstel von dem, was im Land los war. Die Menschen sind durch die Hölle gegangen. Über Sandarmoch wissen wir zumindest Bescheid, aber wie viele solcher Massengräber gibt es wohl noch entlang des Kanals, die niemals jemand finden wird?

    Die Menschen sind durch die Hölle gegangen

    Bei uns in Brjuchowo stand immer eine eingefallene Holzkirche. Schon in den 1930er Jahren wurde sie geschlossen, bis 1942 fanden Gottesdienste darin statt, es gab einen Altar. Dann stand sie lange Zeit leer, war dem Verfall ausgesetzt, und uns blutete das Herz. Jetzt wird sie wieder aufgebaut. Diese Kirche und Sandarmoch – das ist ein und dieselbe Epoche. Wir bauen auf, was zerstört wurde, wir beschäftigen uns mit unserer Geschichte – damit unsere Kinder eine Zukunft haben.


    Text: Anastasija Platonowa
    Fotos: Anna Ivantsova
    Übersetzung: Jennie Seitz
    erschienen am: 03.08.2018

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • „Krieg bedeutet vor allem Opfer“

    „Krieg bedeutet vor allem Opfer“

    Am 22. Juni 1941 überfiel NS-Deutschland die Sowjetunion. Der Historiker Alexander Etkind spricht im Interview über die Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg, den sowjetischen Sieg und über die Doppelrolle Stalins. Und er sagt, warum er es heute so wichtig findet, sich daran zu erinnern, dass der Kalte Krieg nie gänzlich eskaliert ist.

    Alexander Gorbatschow: Sie haben eingehend die Erinnerung an die Stalinschen Repressionen erforscht und auch, wie der Schmerz und die Trauer um die Opfer des Gulag in der heutigen Kultur weiterleben. Die Erinnerung an den Krieg überschneidet sich gewissermaßen mit dieser anderen Erinnerung – zumindest chronologisch und im Schicksal tausender Menschen, die sowohl im Lager als auch im Krieg waren.

    Foto © Andrej Romanenko/Wikipedia unter CC BY-SA 3.0
    Foto © Andrej Romanenko/Wikipedia unter CC BY-SA 3.0

    Alexander Etkind: Dieses Phänomen ist komplizierter, als es scheint. Es ist klar, dass sich die beiden Geschichten überschnitten haben: Mitunter haben Menschen im Gulag gesessen, dann an den Fronten des Zweiten Weltkriegs gekämpft, und sind schließlich wieder ins Lager gewandert. Oder die Überschneidung fand sich innerhalb der Familie: väterlicherseits saßen sie, mütterlicherseits waren sie an der Front – und allen soll gedacht werden.

    In der Kultur und im historischen Gedächtnis stehen diese Themen jedoch getrennt, wie zwei Kontinente, die sich zudem weiter voneinander entfernen. Und das, denke ich, ist ein Problem.

    Wie ist es dazu gekommen?

    Die Gründe hierfür sind wie immer politischer Art. Die Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg ist das Einzige, worauf die offizielle Historiographie zur Sowjetära weiterhin stolz ist. Dabei gibt es im Grunde nichts, worauf man stolz sein sollte. Nun, ja, der Krieg war siegreich, obwohl das nur so kam, weil der Krieg ein Weltkrieg war, und nicht nur ein Vaterländischer. Das heißt, alle Opfer, auch die sinnlosen, waren gerechtfertigt, denn am Ende stand der Sieg.

    Der Große Vaterländische Krieg ist das Einzige, worauf die offizielle Historiographie zur Sowjetära weiterhin stolz ist. Dabei gibt es nichts, worauf man stolz sein sollte

    Der Gulag, das waren nur sinnlose Opfer und keinerlei Siege, es gibt kein Mittel, hierfür eine Rechtfertigung oder Sühne zu finden. Und deshalb sind diese beiden Erinnerungsräume voneinander getrennt.

    Was meinen Sie, erfolgt das aufgrund einer zielgerichteten Tätigkeit des Staates, der diese beiden Räume gleichsam getrennt hält, oder kommen da dezentere, natürlichere gesellschaftliche Mechanismen zum Tragen?

    Ich glaube allgemein nicht an schöpferische Fähigkeiten des Staates. Der Staat ist in der Regel geistlos, dumm und verschwenderisch. Natürlich gibt es dort auch Leute, die man heute als creatives bezeichnen würde, die staatliche Förderungen erhalten und versuchen, die kreativen Kräfte der Bevölkerung irgendwie zu steuern, doch diese Gelder laufen in der Regel ins Leere oder richten Schaden an.

    Und wenn ich mir überlege, was wir jetzt beobachten können … Zum Beispiel die Ausstellung Russland – meine Geschichte. Die Ergebnisse sind mehr als jämmerlich. Deswegen glaube ich nicht an den Begriff „Geschichtspolitik“.

    Es kommt nicht auf den Staat an, sondern auf das Bemühen von Einzelpersonen mit unterschiedlichen Berufen und Bestrebungen – Historiker, Schriftsteller, Filmregisseure, Museumsmitarbeiter oder einfach Enthusiasten. Diese Menschen schaffen im Dialog miteinander, durch gemeinsame Anstrengungen, einen Sinnzusammenhang, den wir rückwirkend „historisches Gedächtnis“ nennen.

    Wir sagen, dass voneinander losgelöst zwei Typen der Erinnerung existieren. Und doch gibt es eine Figur, durch die diese beiden Typen miteinander verbunden sind, nämlich die Figur Stalins. Und es scheint mir, dass immer dann die Funken fliegen, wenn diese beiden Rollen Stalins gleichsam aufeinanderprallen: die des Oberkommandierenden und die des Organisators der Massenmorde.

    Chruschtschow hat seinerzeit den Begriff „Personenkult“ eingeführt. Zum damaligen Zeitpunkt passte der, aber es ist längst an der Zeit, ihn zu überdenken. Es geht hier nämlich um einen Staatskult.

    Es gibt Leute und ganze politische Gruppierungen, für die es wichtig ist, den Glauben an die machtvolle und lebensstiftende Rolle des Staates zu befördern. Dieser Staat manifestiert sich in der Führerfigur.

    Stalin ist die ideale Verkörperung dieses Kultes, weil er so viel Macht hatte, entschlossen und grausam war und militärische Siege errang. Und – so merkwürdig das erscheinen mag – weil er ein Fremdstämmiger war.

    In der russischen Tradition fügt sich dieser Umstand in den Kult vom Staat als einer fremden, mystischen Kraft, die von irgendwoher aus anderen Ländern kommt, für Ordnung sorgt und Siege bringt.

    Das heißt, Stalin ist nicht an sich wichtig, sondern als Schnittpunkt dieser Parameter?

    Genau, als Verkörperung der Ideale russischer Staatsgläubiger. Als oberster Führer, dem alles Gute zugeschrieben wird, der aber in keinster Weise für das Schlechte verantwortlich ist. Eine solche Figur wird natürlich auch jetzt im Massenbewusstsein konstruiert, auch wenn diese Figur kein Stalin ist.

    Der Krieg ist vor 73 Jahren zu Ende gegangen. Gleichwohl bleibt er weiterhin das zentrale Ereignis in der neueren Geschichte Russlands – sowohl für den Staat als auch, so wie es aussieht, für die Gesellschaft. Zumindest ist der Tag des Sieges von allen historischen Feiertagen eindeutig derjenige, der die Massen berührt, der am stärksten sakralisiert ist, und verbindet.

    Wissen Sie, der Feiertag in Russland, der die Menschen am stärksten verbindet, das ist Neujahr. Und warum Neujahr? Weil das kein religiöser Feiertag ist, sondern, grob gesagt, ein astronomischer, oder noch einfacher: ein recht sinnfreier. Da wird kein Geburtstag begangen, kein Todestag; das ist ein Ritual, zu dem sich die Menschen leicht vereinigen lassen.

    Auch der Tag des Sieges ist so ein Ereignis. Es ist bezeichnend, dass es ausgerechnet der Tag des Sieges ist, nicht der Tag des Kriegsbeginns, nicht der Gedenktag für die Kriegsopfer.

    Das heißt: So, wie die Rituale des Tages des Sieges gestaltet sind, ist das Trauma zwar da, doch betont wird hauptsächlich das Triumphierende. Wie korreliert das damit, dass der Krieg für die meisten seiner Teilnehmer vor allem Schmerz bedeutete?

    Krieg, das bedeutet vor allem Opfer. Um des Sieges willen werden Opfer gebracht. Ein Mensch, der im Krieg kämpft und an die Ziele des Krieges glaubt, geht davon aus, dass die Opfer einen Sinn hatten, dass sie gerechtfertigt und richtig waren. Und er feiert dann dieses Gerechtfertigtsein.

    Rückkehr sowjetischer Soldaten aus dem Krieg im Jahr 1945 / Foto © skaramanga_1972/livejournal
    Rückkehr sowjetischer Soldaten aus dem Krieg im Jahr 1945 / Foto © skaramanga_1972/livejournal

    Hätte sich in Russland auch ein anderer verbindender Feiertag ergeben können? Oder war es unausweichlich, dass gerade der Sieg zum bestimmenden, sakralen Ereignis der neueren Geschichte wird?

    Ich denke, es gibt Dinge, auf die das postsowjetische Russland stolz sein kann. So kann man zum Beispiel auf die Ereignisse von 1991 stolz sein, auf den unblutigen Zerfall eines Riesenreiches. In Russland ist oft die Ansicht zu hören, dass der Zerfall des Imperiums eine Tragödie war, ein Verbrechen, eine Katastrophe. Gut: Wenn es eine Katastrophe war, dann führt einen Gedenktag zu Ehren des verlorenen Sowjetstaates ein und gedenkt seiner feierlich. Aber das passiert nicht.

    Die Menschen empfinden keine Trauer um die verlorene Sowjetunion. Sie trauern um Verwandte und Vorfahren, die zu Sowjetzeiten ums Leben kamen, das waren viele Millionen

    Es werden Reden gehalten, Ausstellungen organisiert, doch daraus entwickelt sich kein Ritual. Und ich denke, das hat einen Grund: Die Menschen empfinden keine Trauer um die verlorene Sowjetunion. Sie trauern um Verwandte und Vorfahren, die zu Sowjetzeiten ums Leben kamen, das waren viele Millionen. Die Menschen empfinden Schuld und Befremden – darüber, wie das alles geschehen, wie es dazu kommen konnte. Warum und wozu?

    Es gibt die Geschichte zweier totalitärer Staaten, die, verwickelt in ein diplomatisches Spiel, einen Krieg begannen. Ihre irrsinnigen Staatsführer schmiedeten politische Bündnisse und kündigten sie wieder auf, wechselten innerhalb weniger Jahre mehrmals Allianzen. All das endete in einer globalen Katastrophe; letztendlich errang eine der Seiten den Sieg.

    Aber auch das Bündnis, das um des Sieges willen entstanden war, zerfiel sofort wieder, und es begann ein weiterer Krieg, Gott sei Dank ein kalter. Dessen relativ unblutiger Charakter ist wohl auch etwas, worauf man heute stolz sein kann: Trotz bergeweise rostiger Waffen ist es nicht zur Explosion gekommen, wurde nicht aus Versehen ein Krieg ausgelöst. Das erforderte riesige Anstrengungen, mitunter auch Heldentaten Einzelner.

    Stolz sollte man nicht darauf sein, dass etwas in die Luft gegangen ist und Tod gebracht hat, sondern umgekehrt auf das, was man geschafft hat zu verhindern.

    Meinen Sie, dass es Mechanismen gibt, die es ermöglichen, etwas kollektiv zu erfahren und zu erleben, was gar nicht gewesen ist?

    Gute Frage. Natürlich ist das schwer: Wie ließe sich dazu eine Ausstellung machen oder eine Parade abhalten? Die Leistungen der namenlosen Offiziere oder Beamten, die die Katastrophe abwendeten, bleiben vergessen. Wir kennen in der Regel nicht einmal ihre Namen. Oder wir erfahren nur aus purem Zufall von jemandem, der sich entschied, eine Rakete mit Atombomben nicht loszuschicken, obwohl er etwas dabei riskierte.

    Stolz sollte man nicht darauf sein, dass etwas in die Luft gegangen ist und Tod gebracht hat, sondern umgekehrt auf das, was man geschafft hat zu verhindern

    Man sagt, so sei die Erinnerung strukturiert. Aber wessen Erinnerung ist es, die so strukturiert ist? Ich denke, es ist die Erinnerung des Staates, die so funktioniert, dass sie den Menschen ihren eigenen, staatlichen Hierarchien folgend einen Platz zuweist, ihnen Ränge und Posten verleiht, Museen einrichtet und Ehrentafeln schafft. Und durch dieses Verhalten des Staates bleiben die wirklichen Helden oft ohne Gedenken.

    Der Staat hat kürzlich die Aktion Das Unsterbliche Regiment im Grunde genommen vereinnahmt …

    Ja, die Initiative wurde vom Staat vereinnahmt und wird nun für dessen Zwecke instrumentalisiert. Das muss jedoch nicht immer schlecht sein.

    Man muss von Fall zu Fall den eigenen Verstand einschalten, man kann keine generelle Strategie verkünden. Ich kann nichts Schlimmes daran erkennen, dass die Aktion Das unsterbliche Regiment eingesetzt wurde, um ein staatliches Ritual zu etablieren. Ja, mehr noch: Ich würde mich freuen, wenn beispielsweise die Aktion Die unsterbliche Baracke ebenfalls vom Staat aufgegriffen und Teil eines bewussten, durchdachten staatlichen Rituals würde.

    „Die Aktion ,Das unsterbliche Regiment‘ wurde eingesetzt, um ein staatliches Ritual zu etablieren“ / Foto © Nikolaj Semzow/Wikipedia unter CC BY-SA 4.0
    „Die Aktion ,Das unsterbliche Regiment‘ wurde eingesetzt, um ein staatliches Ritual zu etablieren“ / Foto © Nikolaj Semzow/Wikipedia unter CC BY-SA 4.0

    Was denken Sie, hat die konsequente Sakralisierung des Großen Vaterländischen Krieges in irgendeiner Art Einfluss auf die Haltung zu heutigen Kriegen? Nutzt der Staat den Sieg von damals zur Legitimierung heutiger Konflikte?

    Die Kriege heute haben natürlich einen anderen Charakter. Der Gesellschaft ist das aber nicht ganz so bewusst. Und wenn man aus irgendeinem unglücklichen Zufall dann doch den Fernseher einschaltet, stellt man fest, dass sehr viel von dem, was dort zu hören ist, entweder ein direkter Kriegsaufruf ist (was ja übrigens eine Straftat darstellt), oder – das ist eher die dezente Form – die Furcht vor einem Krieg abschwächen, die Empfindsamkeit für dieses Thema senken soll.

    In der Psychologie gibt es den Begriff der „Desensibilisierung“, der meiner Ansicht nach hier zutreffend ist: Er beschreibt eine zielgerichtete Verringerung von Empfindsamkeit. Und so etwas wird zweifellos auch erreicht, indem man einem siegreichen Krieg huldigt, der vor sehr vielen Jahren stattfand.

    Wie stellt sich das aus Ihrer Sicht dar: Wohin kann die derzeitige verstärkte Kontrolle des Kriegsgedenkens führen? Bis hin zu Strafverfahren wegen „Entstellung der Geschichte“ oder wegen Hakenkreuzen in Videos aus den Archiven? Welche Ergebnisse wird es geben?

    Ich denke, gar keine. Diese Versuche werden nicht weit führen. Wenn man von der Zukunft spricht, muss man sich bemühen, sich auf minimale, aber relevante Voraussagen zu beschränken, und die allgemeinen tektonischen Verschiebungen in den Blick zu nehmen. Die können nämlich – im Unterschied zu einzelnen Ereignissen – vorausgesagt werden.

    Eine solche Verschiebung stellt meines Erachtens jene Desensibilisierung dar, von der die Rede war; die verringerte Sensibilität gegenüber Gewalt, Krieg, Verhaftungen, Folter, Leiden und dem Tod als solchen. Das ist eine tektonische Verschiebung, die von Krieg kündet, ihn vorbereitet. Natürlich bedeutet das nicht, dass der Krieg tatsächlich eintreten wird. Es ist aber eine schwerwiegende Verschiebung. Und es ist eine Bewegung, die nur schwer zu stoppen ist.

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Bürokratisches Verbrechen

    Bürokratisches Verbrechen

    In Russland werden offenbar systematisch Archivmaterialien über die Opfer stalinistischer Verbrechen zerstört. Bekannt sind nur einzelne Fälle; weder die Zielrichtung noch das Ausmaß der Zerstörung ist bislang klar.

    Das Vorgehen russischer Behörden wurde nur zufällig entdeckt. Berichten zufolge erging 2014 eine geheime Anweisung, alle „verjährten“ Registrierkarten von Personen ab 80 Jahren zu vernichten. Offizielle Stellen widersprechen den Vorwürfen und behaupten, dass es sich nur um Einzelfälle handeln könne. 
    Bei einem kleinen Teil der Gesellschaft ließ die Meldung Alarmglocken schrillen, einen Großteil lässt sie bislang kalt. Bei Umfragen bekunden ohnehin nur rund zwölf Prozent der Menschen in Russland ein großes Interesse für Stalinsche Säuberungen, auch das Fußballfest lässt es gerade wohl schwinden.

    Steckt da gezielte Geschichtspolitik dahinter? Und warum sind historische Quellen wichtig für die Gesellschaft? Diese Fragen stellte Pawel Aptekar für Vedomosti.

    Ein einzigartiger historische Fundus an Informationen – die Registrierkarten der Häftlinge / Foto © gulagmuseum.org
    Ein einzigartiger historische Fundus an Informationen – die Registrierkarten der Häftlinge / Foto © gulagmuseum.org

    Einige regionale Informationszentren des Innenministeriums vernichten Registrierkarten von Lagerhäftlingen. Auf das Problem aufmerksam wurde der Historiker Sergej Prudowski. Bei einer Aktenanfrage zum Lageraufenthalt eines Häftlings in Magadan wurde ihm von den dortigen Innenbehörden mitgeteilt, dass die angeforderten Dokumente  vernichtet worden seien. Und zwar gemäß einer mit dem Vermerk „Nur zum Dienstgebrauch“ versehenen zwischenbehördlichen Anordnung vom Februar 2014. Laut Kommersant ging diese Anordnung an das Innenministerium, das Justizministerium, das Katastrophenschutzministerium, das Verteidigungsministerium, den [gnose-7771FSB[/gnose], die Drogenaufsichtsbehörde, die Zollbehörde, den FSO (Föderaler Dienst zur Bewachung der Russischen Föderation), den Auslandsnachrichtendienst, die Staatsanwaltschaft und den staatlichen Kurierdienst.

    In welchem Maßstab die Anweisung umgesetzt wurde, ist bislang unbekannt. Prudowski sagt: „Vor  zwei Jahren habe ich vom Informationszentrum des Innenministeriums in Komi noch ausführliche Auskünfte aus Akten und Registrierkarten ehemaliger Häftlinge erhalten.“

    Einzigartiger historischer Fundus

    Die Registrierkarten der Häftlinge sind ein einzigartiger historischer Fundus an Informationen über Menschen, die zur Strafverbüßung in Lager  geschickt wurden. De facto befindet sich in den Archiven des FSB und in den Staatsarchiven also eine Fortführung der Akten der Repressierten. „Die Registrierkarten ergänzen die Prozessakten um Informationen über den Aufenthaltsort, die Verlegungen und durch zusätzliche Vermerke: die ausgeführte Zwangsarbeit, Krankheiten und Strafen während der Haftzeit“, so Prudowski.

    Derartige Anordnungen würden wohl kaum die Geschichtspolitik des Staates widerspiegeln, meint Nikita Sokolow, Begründer der Freien Historischen Gesellschaft. „Die Staatsorgane, insbesondere das Rossarchiv und das Verteidigungsministerium befassen sich aktiv mit der Digitalisierung von Dokumenten. Anschließend werden die Materialien im Netz frei zugänglich gemacht und ermöglichen so jedem Interessierten, die dokumentierten Ereignisse zu den eigenen mythisch verklärten oder politisch gefärbten Versionen ins Verhältnis zu setzen.“

    Widersprüchliche Signale

    Doch die Signale von oben sind widersprüchlich. Hochrangige Politiker fordern eine Erziehung zum Stolz auf die eigene Geschichte und rechtfertigen Stalin, um kurze Zeit später an der Enthüllung eines Denkmals für die Opfer der Repressionen teilzunehmen und die Repressionen als eine Tragödie zu bezeichnen, die sich nicht wiederholen dürfe. Diese Doppelzüngigkeit ermöglicht auch solche absurden Transformationen wie die Umgestaltung des Museums der Geschichte politischer Repressionen Perm-36 in ein Museum über die Lageraufseher.

    Dieser Vorfall hat der Gesellschaft gezeigt, was für ein begrenztes, bürokratisches Verständnis die Archivangestellten des Innenministeriums von ihrer Arbeit haben: Für sie sind die Registrierkarten keine Dokumente von unschätzbarem Wert, sondern einfach nur vergilbtes Papier.
    Erstaunlich, dass in Zeiten, wo man über große Erfahrung in der Digitalisierung von historischen Dokumenten verfügt, diese vernichtet werden, ohne auch nur eine Kopie zu erstellen. Das würde wohl kaum viel Zeit, Personal oder Mittel in Anspruch nehmen. Es geht um Registrierkarten – ein Blatt Papier, nicht um umfangreiche Akten.
    So ein Umgang mit historischen Materialien macht diese „Arbeit“ zu einem Verbrechen – sei es auch ohne Vorsatz – an der vaterländischen Geschichte und am Gedenken an die Opfer, denen man in öffentlichen Reden neuerdings so gern Respekt bekundet. 

    Oleg Chlewnjuk, Historiker und Verfasser zahlreicher Bücher über den Großen Terror, sagt: „Bedenkt man, um welche Dokumente es sich handelt und welche Bedeutung das Thema hat, ist ein solches Vorgehen unvernünftig.“ Die heimliche Anordnung offenbart tatsächlich ein tiefschürfendes Problem: den Konflikt zwischen dem, was die Silowiki für die staatlichen Interessen halten, und der gesellschaftlichen Forderung nach Zugang zu wichtigen Informationen. Derartige Säuberungen müssen, selbst wenn sie auf staatliche Anweisung hin geschehen, transparent sein und mit Erklärung von Zielen und Motiven erfolgen. 

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Warlam Schalamow

    Warlam Schalamow

    Im heutigen Russland ist Warlam Schalamows Name nicht mehr wegzudenken aus der Erinnerung an das von Kriegen, Revolution, Terror und Gewalt zerrissene 20. Jahrhundert russischer Geschichte. 
    Die Menschenrechtsorganisation Memorial machte seinen Namen auch im Moskauer Stadtraum sichtbar: Sie organisierte Straßenausstellungen und Vorträge, gab einen Stadtführer zu Schalamows Moskau heraus, und richtete im Online-Projekt Topographie des Terrors eine Schalamow-Themenseite ein. 
    Mittlerweile finden sich Zitate aus seinen Werken neben denen von Alexander Solschenizyn – in großen historischen Ausstellungen. Und dies nicht nur im Moskauer Gulag-Museum, sondern auch in propagandistischen Ausstellungen, wie etwa der multimedialen Schau Von großen Erschütterungen zum Großen Sieg. 1914–1945, die vom Kulturrat des Patriarchats der Orthodoxen Kirche mit Unterstützung der Stadt Moskau in der Manege organisiert und später auf dem WDNCh-Gelände stationiert wurde. 
    Eine derartige Präsenz von Schalamow im öffentlichen Raum war lange nicht selbstverständlich, sagt allerdings nur wenig darüber aus, ob und wie seine Werke im gegenwärtigen Russland gelesen werden.

    Zu seinen Lebzeiten (1907–1982) litt Schalamow sehr darunter, dass seine Lyrik bis auf wenige, schmale Bändchen unveröffentlicht blieb und seine Prosa nur in den informellen Kommunikationskreisen des Samisdat kursierte. Sein Hauptwerk, die sechs Zyklen der Kolymskije rasskasy (dt. Erzählungen aus Kolyma), an dem er zwischen 1954 und Anfang der 1970er Jahre arbeitete, konnte in der Sowjetunion erst nach seinem Tod, Ende der 1980er Jahre erscheinen. Er selbst sprach früh von deren grundlegendem literarischen Neuwert. All seine Schilderungen des buchstäblich am eigenen Leibe Durchlebten führen auf die Frage hin, mit der er eine ethische und eine ästhetische Herausforderung verband: Wie konnten Menschen, die über Generationen in den Traditionen der humanistischen Literatur des 19. Jahrhunderts erzogen worden waren, Auschwitz, Kolyma, Hiroshima hervorbringen?

    Den Himmel erstürmen

    Dabei hatte der junge Schalamow einen anderen Traum von seiner Zukunft als Dichter. In einem Brief vom 1964 vermerkte er „Ich schreibe Gedichte seit meiner Kindheit, in meiner Jugend wollte ich Shakespeare werden oder, zumindest, Lermontow, und ich war überzeugt, die Kraft dafür zu besitzen“. Der 17-jährige, als Sohn eines orthodoxen Geistlichen in der nordrussischen Provinzstadt Wologda aufgewachsene Schalamow, bricht 1924 nach Moskau auf, um, wie er Jahrzehnte später schrieb, „den Himmel zu erstürmen“. Moskau scheint ihm alle Wege zu öffnen, um am revolutionären Aufbruch in eine neue Welt teilhaben zu können. Sei es durch die, wie er hoffte, bei Dichtern der linken Avantgarde erlernbare Schärfung des eigenen poetischen Wortes, sei es durch politisches Handeln.

    Auf die Euphorie folgte schon bald die Ernüchterung: Führende Vertreter der Linken Front der Künste (LEF) wie Wladimir Majakowski, Ossip Brik oder Sergej Tretjakow, denen er sich in ihrer politischen Parteinahme verbunden fühlte, schürten jedoch durch ihre rigorose Abkehr vom herkömmlichen Dichten und Erzählen zunächst Zweifel an der Notwendigkeit von Dichtung in Zeiten des revolutionären Umbruchs. Auch seine politischen Aktivitäten, die ihn in die Reihen der linken studentischen Opposition führten, hatten für den Studenten des „sowjetischen Rechts“ an der Moskauer Universität ein gänzlich anderes, als das ersehnte Ergebnis: Erst wurde er wegen Verbergens seiner sozialen Herkunft aus der Universität ausgeschlossen, dann 1929 in einer illegalen Druckerei verhaftet und wegen „konterrevolutionärer Agitation und Propaganda“ als „sozial schädliches Element“ zu drei Jahren Haft im „Konzentrationslager“ verurteilt. Dies war auch seine erste Begegnung mit dem Gulag-System.

    Überleben als Zufall

    1932 kehrte er nach Moskau zurück, arbeitete als Journalist, erlebte erste literarische Publikationen. Der Neuanfang währte nur kurz: Im Januar 1937 wurde er zum zweiten Mal verhaftet. Wegen „konterrevolutionärer trotzkistischer Tätigkeit“ verurteilte man Schalamow zu fünf Jahren Haft und verbannte ihn in die Zwangsarbeitslager am Kältepol der Erde, in die fernöstliche Kolyma-Region um den gleichnamigen Fluss. Da die Region damals einzig mit dem Schiff von Wladiwostok aus erreichbar war, wurde sie im allgemeinen Sprachgebrauch einer Insel gleichgesetzt und dem übrigen Territorium als dem ‚Festland‘ gegenübergestellt. Schalamow wurde noch im Lager (Mai 1943) denunziert, der „konterrevolutionär-trotzkistischen defätistischen Agitation“ angeklagt und durch ein Militärtribunal zu weiteren zehn Jahren Lagerhaft verurteilt.

    Sein Überleben im Lager hielt der Schriftsteller Warlam Schalamow für das Ergebnis glücklicher Zufälle / Foto © gemeinfrei
    Sein Überleben im Lager hielt der Schriftsteller Warlam Schalamow für das Ergebnis glücklicher Zufälle / Foto © gemeinfrei

    Sein Überleben unter extremen Bedingungen im Lager hielt er für das Ergebnis glücklicher Zufälle. Ein solcher Zufall bildet den Hintergrund der Erzählung Die Juristenverschwörung: Im Dezember 1938 verhaftete man ihn im Zusammenhang mit einer angeblichen Verschwörung und brachte ihn ins Untersuchungsgefängnis nach Magadan. Die Anklage platzte, da jene, die sie angestrengt hatten, selbst in die Mühlen des Großen Terrors gerieten.

    Als Glücksfall bezeichnete Schalamow später auch seine Einweisung ins Lagerkrankenhaus. Dort konnte er sich nicht nur etwas erholen, sondern lernte auch Ärzte bzw. Arzthelfer (meist Häftlinge) kennen, die ihn fortan unterstützten. Einer der Ärzte schickte ihn 1946 auf einen Arzthelferlehrgang. Der Lehrgang bedeutete einen Wendepunkt, denn danach verbesserten sich seine Lebensbedingungen.1 Die Lagerhaft endete 1951, im November 1953 durfte er die Region an der Kolyma verlassen. Aber erst ab 1956 war es ihm erlaubt, wieder nach Moskau zurückkehren.2

    Schreiben als Teilhabe am Leben

    Der (Wieder-)Eintritt ins Leben war ein Schritt hin zum Schreiben. Jorge Semprúns grundsätzliche Frage „Schreiben oder Leben“ stellte sich Schalamow nie in der gleichen Weise. Leben war für ihn identisch mit Schreiben. Und Schreiben bedeutete unmittelbare Teilhabe am Leben. Er setzte sein bezeugendes literarisches Wort wider das staatlich verordnete Vergessen.

    Alles, was er in den 14 Jahren Haft in den Straflagern der Kolyma-Region durchleben musste, hatte sich in sein Gedächtnis eingebrannt und seiner bisherigen Sicht auf den Menschen und die Welt für immer den Boden entzogen. Inhumane Bedingungen (eisige Kälte, schwere physische Arbeit bei bis zu minus 55 Grad, Hunger und Schläge) reduzierten den Menschen binnen weniger Wochen auf ein animalisches, biologisches Wesen. Die Errungenschaften unserer in Jahrhunderten gewachsenen Kultur und Zivilisation erwiesen sich als äußerst fragil.

    Eingedenk dieser existentiellen Erfahrungen bedeutete für ihn jeder Versuch, das Grauen in den Lagern sprachlich zu fassen, ein doppeltes Wagnis. Einerseits hieß Schreiben über die Kolyma, sich selbst gleichsam noch einmal dem Tod auszuliefern und dem Leser die extremen negativen Erfahrungen aufzubürden, von denen dieser eigentlich überhaupt nichts wissen sollte. Andererseits ging Schreiben nach der Kolyma mit der Gefahr einher, den eigenen Authentizitätsanspruch durch literarisches „Wortgerassel“ (Schalamow) aufs Spiel zu setzen.

    In der Konsequenz forderte er eine Abkehr von gewohnten Sujets und literarischen Charakteren. Darstellungsverfahren der klassischen realistischen Erzählliteratur – vor allem der russischen mit ihrem Hang zum Moralisieren – versagten aus seiner Sicht angesichts dieser Aufgabe.3

    Erzählungen aus Kolyma

    In seinen autobiographisch grundierten Erzählungen aus Kolyma wandte er sich poetischen Verfahren der Avantgarde (wie dem Montageprinzip) zu, verzichtete auf psychologische Charakterstudien. So wird der Einzelfall überhöht und als einer von Tausenden erkennbar. Menschen tauchen wie aus dem Nichts auf und verschwinden wieder, die meisten von ihnen spurlos, einige treten unverhofft erneut ins Blickfeld des Erzählers, aber in einer anderen Erzählung, wobei auch die Erzählerfigur durchaus eine andere sein kann. Tritt ein Ich-Erzähler auf, so unter verschiedenen Namen, vereinzelt auch unter dem des Autors. Reales mischt sich mit Fiktivem. Motive wandern von einer Erzählung in eine andere, Episoden werden mehrfach erzählt, aber aus unterschiedlichen Perspektiven, oder sie betreffen verschiedene Personen. 

    Die Erzählungen aus Kolyma führen dem Leser jenen Raum der Willkür und Unberechenbarkeit vor Augen, in den der Einzelne in der Kolyma-Region geriet. Schalamow vertraute der Wirkmacht des literarischen Wortes. Erklärtes Ziel war „das Wiedererwecken des Gefühls“: Der Leser sollte nachempfinden, was geschieht, wenn sich der Mensch im Lager buchstäblich auflöst, wenn ihm Vergangenheit und Zukunft entgleiten und er sich nur noch im Jetzt an die schwächer werdende Hoffnung klammern kann, den Tag, die Stunde oder den Augenblick zu überleben. 

    Es ist unbestritten, auch für Schalamow selbst, dass ihm in den Erzählungen aus Kolyma die konsequenteste Umsetzung seiner ästhetischen Maximen gelang. „Jede meiner Erzählungen“, notierte er 1971, „ist eine Ohrfeige für den Stalinismus, und wie jede Ohrfeige gehorcht sie reinen Muskelgesetzen …“

    Schalamows Werk auf eine politische Abrechnung mit dem stalinistischen Terrorsystem zu reduzieren, hieße aber, die philosophische Tiefe seines Nachdenkens über den Menschen zu verkennen. Hierin liegt seine – bisweilen erschreckende – Aktualität: Und diese darf man angesichts der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht verkennen.

    Aus der Erinnerung an Krieg und Terror in Russland ist sein Name nicht wegzudenken - heute ist Warlam Schalamow auch im städtischen Raum sichtbar / Foto © Alexander Spiridonow/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0
    Aus der Erinnerung an Krieg und Terror in Russland ist sein Name nicht wegzudenken – heute ist Warlam Schalamow auch im städtischen Raum sichtbar / Foto © Alexander Spiridonow/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0

    Schalamow heute

    Wie aber wird Schalamow heute in Russland gelesen, und vor allem, wer liest ihn? Das lässt sich nur schwer sagen. Seine Werke werden verlegt. In Vorbereitung ist eine zweibändige Ausgabe seiner Gedichte, die viele bisher unveröffentlichte enthält. Für Abiturienten, die sich 2018 an der Philologischen Fakultät der MGU bewerben, zählen immerhin drei Erzählungen Schalamows zur Pflichtlektüre. Dennoch sind junge Menschen bei Veranstaltungen meist kaum anwesend. Auch die anhaltenden Kontroversen um Schalamow werden eher von Vertretern älterer Generationen ausgefochten. Sie betreffen nicht nur weiterhin Schalamows literarischen wie menschlichen Streit mit Solschenizyn oder etwa seine Religiosität. In jüngster Zeit gibt es Tendenzen, Schalamows Treue zu den revolutionären Idealen seiner Jugend als Argument für eine neue Heroisierung der Sowjetepoche zu instrumentalisieren und damit ins Fahrwasser der neuen patriotischen Propaganda zu geraten.

    Umso wichtiger sind alle Initiativen, die die Menschen veranlassen könnten, selber zum Buch zu greifen und seine ebenso lakonische wie berührende Prosa der Erzählungen aus Kolyma, seine Gedichte und autobiographischen Werke zu lesen.


    1. vgl. den Band Schalamow, Warlam (2018): Über die Kolyma: Erinnerungen, aus dem Russischen von Gabriele Leupold, herausgegeben und mit einem Nachwort von Franziska Thun-Hohenstein, Berlin ↩︎
    2. in: Schalamow, Warlam (2007): Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1, aus dem Russischen von Gabriele Leupold, herausgegeben und mit einem Nachwort von Franziska Thun-Hohenstein, Berlin ↩︎
    3. vgl.: Thun-Hohenstein, Franziska (2011): Überleben und Schreiben: Varlam Šalamov, Alkesanr Solženicyn, Jorge Semprún, in: Schmieder, Falko (Hrsg.): Überleben: Historische und aktuelle Konstellationen, München, S. 123-145 ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Video #16: Loblied auf Stalin

    Video #16: Loblied auf Stalin

    Eine kleine Revolution bei den Kommunisten: Wenn im postsowjetischen Russland ein neuer Präsident gewählt wurde, hieß der Kandidat der KPRF in der Regel Gennadi Sjuganow – der auch seit Parteigründung deren Vorsitzender ist. Für die bevorstehende Präsidentschaftswahl am 18. März 2018 haben die Kommunisten nun einen neuen Kandidaten ins Rennen geschickt: Pawel Grudinin. Dem Mehrheitseigner und Direktor der Sowchose Lenin wird aktuell vorgeworfen, mehrere schweizer Bankkonten verschwiegen zu haben. Das wäre formell ein Grund, Grudinin von der Wahl auszuschließen. Doch die Zentrale Wahlkommission beschränkt sich derzeit darauf, Grudinins neu entdeckten Auslandskonten in die offizielle Kandidaten-Info aufzunehmen.

    Der russische YouTuber Juri Dud hat sich für seinen Kanal vDud mit dem Kandidaten der Kommunisten getroffen und ihn über sein Verhältnis zu Stalin befragt.


    Das Originalvideo finden Sie hier.
    Veröffentlicht: 9. März 2018.


    Wie stehen andere Kandidaten zu Stalin?

    Xenia Sobtschak: Schandfleck der russischen Geschichte

    Die Präsidentschaftskandidatin Xenia Sobtschak geht auf ihrer Website hart ins Gericht mit dem Diktator. Sie erklärt, warum eine Verherrlichung Stalins im heutigen Russland nicht zulässig sei:

    [bilingbox]Vor 65 Jahren ist Stalin gestorben. Bedauerlich ist nur, dass er für seine Untaten nie vor einem irdischen Gericht stand. […] Stalin ist ein Schandfleck in der Geschichte unseres Landes. Von dieser Schande kann man sich nur auf eine Art befreien – so wie sich das deutsche Volk von seiner historischen Schande befreit hat: indem man die Wahrheit sagt. Die Wahrheit darüber, dass Stalin verantwortlich ist für den Tod von Millionen Menschen – unschuldiger, verletzter, alter, Kinder. Politiker, die Stalin rechtfertigen, […] die ihm irgendeine mythische oder gar positive Rolle in der Geschichte zuschreiben, sind Mittäter dieser und künftiger Verbrechen.~~~65 лет назад умер Сталин. Жалеть можно только о том, что за свои злодейства он не предстал перед земным судом. […] Сталин — позорное пятно на истории нашей страны. Избавиться от этого позора можно единственным способом — так же, как избавился от своего исторического позора народ Германии. Говоря правду.

    Правда в том, что Сталин — ответственный за смерть миллионов людей, невиновных, раненых, стариков, детей. Политики, оправдывающие Сталина […] , признающие за ним какую-то мифическую и тем более положительную роль в истории, — соучастники этих преступлений и соавторы преступлений будущих.[/bilingbox]

     

    Wladimir Putin: Kind seiner Zeit

    Wladimir Putin sieht die Sache nicht so eindeutig wie seine Konkurrentin im Wahlkampf. In Oliver Stones The Putin Interviews meinte er, man müsse Stalin trotz seiner Verbrechen aus dem historischen Kontext heraus betrachten:

    [bilingbox]Stalin war ein Kind seiner Zeit. Man kann ihn noch so sehr dämonisieren oder eben noch so viel über über seine Verdienste beim Sieg über den Nazismus sprechen. […] Eine übermäßige Dämonisierung Stalins ist, wie mir scheint, eines der Mittel, um die Sowjetunion und Russland anzugreifen. Um zu zeigen, dass das heutige Russland irgendwelche Muttermale des Stalinismus trägt. Wir alle haben irgendwelche Muttermale. Na und? Natürlich bleibt was im Bewusstsein hängen, aber das heißt nicht, dass wir alle Gräuel des Stalinismus vergessen sollten, die mit Konzentrationslagern und der Vernichtung von Millionen von Landsleuten verbunden sind.~~~Сталин был продуктом своей эпохи. Можно сколько угодно его демонизировать и сколько угодно, с другой стороны, говорить о его заслугах в победе над нацизмом. […] Мне кажется, что излишняя демонизация Сталина — это один из способов, один из путей атаки на Советский Союз и Россию. Показать, что сегодняшняя Россия несет на себе какие-то родимые пятна сталинизма. Мы все несем какие-то родимые пятна, ну и что. Конечно, в сознании что-то остается, но это не значит, что мы должны забыть все ужасы сталинизма, связанные с концлагерями и уничтожением миллионов своих соотечественников.[/bilingbox]

     

    Wladimir Shirinowski: Halunke und Verbrecher

    Wladimir Shirinowski, Präsidentschaftskandidat der LDPR, ist bekannt für seine leidenschaftlichen Ausbrüche. Dementsprechend beantwortet er auch die Frage nach Stalin:

    [bilingbox]Schauen Sie sich den Lebenslauf an: Hat nie irgendwo studiert, nie irgendwo gearbeitet, in zehn Jahren zwei Priesterseminare abgebrochen, war nie bei der Armee. Seine ganze Biografie besteht aus Verbannung, Lager, Flucht und Diebstahl. Das war vor der sowjetischen Herrschaft. Unter sowjetischer Herrschaft ist er gleich Minister geworden. Stellen Sie sich das vor, der hat nie etwas geleitet, nur kriminelle Strukturen verwaltet. […] Alles was Stalin gemacht hat ist, Konkurrenten auszuschalten. Auf Russland hat er doch gespuckt, auf das russische Volk, auf sein eigenes Georgien, auf alles. […] Anfang März liegt er im Sterben, liegt da mit einem Schlaganfall und seine engsten Berater, wie wilde Tiere, machen nichts. Soll das ein Anführer sein? […] Es haben ihn doch alle gehasst, alle, die wussten was für ein Halunke und Verbrecher das ist.~~~Посмотрите на биографию: никогда нигде не учился, никогда нигде не работал, десять лет – две духовные семинарии так и не окончил. Человек в армии никогда не был. Вся его биография: ссылки, лагеря, побеги, грабежи. Это до советской власти. Советская власть: сразу министром стал. Представляете, ничего никогда не управлял, только криминальными структурами управлял. […] Вся деятельность Сталина – это уничтожить своих конкурентов. Плевать на Россию, на русский народ, на собственную Грузию, на все наплевать. […] Он умирает первого марта, он лежит с инсультом и ближайшие соратники как звери ничего не делают. Это что руководитель? […] Так его ненавидели все, все его ненавидели, кто знал, каков он негодяй и преступник.[/bilingbox]

    Diese Veröffentlichung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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    Stalins Tod

  • Stalins Tod

    Stalins Tod

    Am 6. März 1953 stand die Wahrheit in der Prawda. Die Welt erfuhr, dass der Führer der Werktätigen am Vortag nach schwerer Krankheit verschieden sei. Auch wenn das „Herz des Kampfgefährten und genialen Fortsetzers der Sache Lenins“ zu schlagen aufgehört habe, versicherten die obersten Organe des Parteistaates, werde Stalin „immer in den Herzen des sowjetischen Volkes und der gesamten progressiven Menschheit“ fortleben. Wie Lenin rund 30 Jahre zuvor, sollte nun auch sein treuester Schüler im Säulensaal des Hauses der Gewerkschaften aufgebahrt werden, um seinen Anhängern Gelegenheit zum Abschied zu geben.1 Dieser einträchtigen Trauer waren allerdings dramatische Tage vorausgegangen. 

    Begonnen hatten sie am 28. Februar mit einem Kinoabend im Kreml. Für gewöhnlich saß Stalin an diesen Abenden mit seiner Entourage zusammen, zuletzt bestehend aus Nikita Chruschtschow, Lawrenti Berija, Georgi Malenkow und Nikolaj Bulganin. Diese Abende nahmen sich keineswegs erholsam aus: vielmehr waren sie informelle Zusammenkünfte des stalinistischen Machtzirkels, nicht selten gefolgt von ausgedehnten nächtlichen Gelagen auf der Lieblings-Datscha Stalins ganz in der Nähe Moskaus.2

    Licht im Zimmer des Führers

    Auch am 28. Februar fand man sich also nach der Filmvorführung zu einem späten Abendessen in Kunzewo ein. In ausgelassener Stimmung, so Chruschtschow in seinen Memoiren, verbrachten sie den letzten gemeinsamen Abend, bis Stalin seine Gäste gegen vier Uhr morgens zur Tür geleitete.3 Am nächsten Tag, einem Sonntag, wartete man dann allerdings vergebens auf Anweisungen. Erst am frühen Abend vermeldeten außerhalb des Hauses postierte Wachtposten Licht im Zimmer des Führers; indes sah der Sicherheitsdienst erst in der eingetroffenen Abendpost einen geeigneten Vorwand, gegen 23:30 Uhr nach Stalin zu schauen.

    Entsetzen vor dem Tod

    Nun war offenbar, dass es schlecht stand um den Diktator. Die engsten Vertrauten wurden informiert: Berija und Malenkow trafen noch in der Nacht auf den 2. März in Kunzewo ein, am frühen Morgen kam Chruschtschow mit einer Gruppe von Ärzten hinzu. Diese attestierten eine Hirnblutung.4 Es waren „schreckliche Tage“, erinnert sich Stalins Tochter Swetlana Allilujewa: „Die Atemzüge wurden immer kürzer und kürzer. In den letzten zwölf Stunden war es bereits klar, dass sich der Sauerstoffhunger vergrößerte. […] Die Agonie war entsetzlich, sie erwürgte ihn vor aller Augen. In einem dieser Augenblicke – ich weiß nicht, ob es wirklich so war, aber mir schien es jedenfalls so – offenbar in der letzten Minute öffnete er plötzlich die Augen und ließ seinen Blick über alle Umstehenden schweifen. Es war ein furchtbarer Blick, halb wahnsinnig, halb zornig, voll Entsetzen vor dem Tode und den unbekannten Gesichtern der Ärzte, die sich über ihn beugten […] – da hob er plötzlich die linke Hand (die noch beweglich war) und wies mit ihr nach oben, drohte uns allen.“5

    Der König ist tot …

    Der Kampf um die Nachfolge war längst in vollem Gange, als die Welt aus der Zeitung erfuhr, dass Stalin am 5. März gestorben sei und eine Begräbniskommission unter Chruschtschows Vorsitz die Beisetzung für den 9. März festgesetzt hatte. In den drei Tagen bis zu diesem Termin strömten Tausende zum Haus der Gewerkschaften, um sich von Stalin zu verabschieden. Da die begrenzten Besuchszeiten in keinem Verhältnis zu dem Andrang standen, seien mindestens 109 Menschen erstickt oder einfach totgetrampelt worden, was Chruschtschow einige Jahre später preisgab.6

    Unzählige verfolgten das letzte Geleit Stalins und erhofften sich neue Orientierung von den Grabreden / Foto © Manhoff Archives
    Unzählige verfolgten das letzte Geleit Stalins und erhofften sich neue Orientierung von den Grabreden / Foto © Manhoff Archives

    Die chaotischen Zustände im Zentrum Moskaus lassen sich geradezu als Metapher umfassender Überforderung verstehen, denn niemand wusste, was der Tod des Diktators für die Hinterbliebenen bedeuten würde. So herrschte denn auch bei vielen Opfern der stalinistischen Ordnung eine bedrückende Mischung aus Erleichterung und Trauer.7Selbst Häftlinge in den Lagern des GulagKomplexes wollten den Nachrichten aus Moskau keinen rechten Glauben schenken und boten der sowjetischen Führung ihre Hilfe an. Von anderen Reaktionen berichtet der Insasse eines Lagers bei Workuta: „Wir hörten die Posten auf den Wachtürmen erregt miteinander telefonieren und bald darauf die ersten Betrunkenen lärmen.“8

    Der Tod des Führers erwies sich als Wendepunkt des Personenkults. Ein Kult, der seit dem 50. Geburtstag Stalins die gesamte Sowjetunion und die sozialistischen Bruderländer zu erfassen begonnen und stets zu den runden Geburtstagen besondere Höhepunkte erfahren hatte. Das Ableben des Sakralisierten und die völlige Ungewissheit des Kommenden erzeugten somit im März 1953 eine außerordentlich widersprüchliche Atmosphäre. Während die einen von der Freiheit zu träumen wagten, erschien anderen ein Leben außerhalb des stalinistischen Koordinatensystems geradezu unvorstellbar. Wieder andere fürchteten gar eine noch schlimmere Zukunft. 

    … es lebe der König

    Am 9. März erwiesen das Präsidium und kommunistische Würdenträger aus dem Ausland Stalin das letzte Geleit. Unzählige verfolgten das Spektakel und erhofften neue Orientierung von den drei Grabreden, die Molotow, Berija und Malenkow hielten. Nicht zuletzt aufgrund ihrer politischen Funktionen – Außenminister, Innenminister und Vorsitzender des Ministerrates – standen diese drei für die neuen Machtverhältnisse. Die Alleinherrschaft Stalins erschien nunmehr als Triumvirat. 
    Chruschtschow hatte demgegenüber lediglich die Begräbniskommission leiten dürfen, während er im selben Zeitraum das Amt als Moskauer Parteiführer einbüßte. Als einer von acht Sekretären sollte er das Zentralkomitee neu organisieren. In den nächsten Wochen konnte er allerdings aus dieser unscheinbaren Position seine Macht ausbauen. Chruschtschow folgte somit faktisch Stalin als Erstem Sekretär des Zentralkomitees nach, auch wenn er in dieses Amt erst im September 1953 offiziell gewählt wurde.

    Sollte „Chruschtschow seinen Triumph vorhergesehen haben“, so resümiert der Historiker William Taubman den unwahrscheinlichen Aufstieg des Tauwetterpolitikers in spe, „dann muss er wirklich der einzige gewesen sein.“9 Nun ist es keine historische Seltenheit, dass sich in der Politik unterschätzte Personen durchsetzen. Und so erwies sich auch im Falle Chruschtschows gerade dieser Umstand als entscheidender Vorteil. Als eine weitere Überraschung sollte sich in den nächsten Jahren sodann erweisen, dass der neue Machthaber im Kreml 1956 öffentlich mit dem Personenkult Stalins abrechnete und damit die Verbrechen publik machte, in die auch er selbst verstrickt war. Das Sprechen über den Terror des Stalinismus hatte auf oberster Ebene begonnen – die Epoche der Entstalinisierung war angebrochen. 


    1. Pravda, 6. März 1953, 1 ↩︎
    2. vgl. etwa Chlevnjuk, Oleg (2015): Stalin: Žizn odnogo voždja, S. 23f. ↩︎
    3. Khrushchev, Sergei (2006): Memoirs of Nikita Khrushchev: Vol. 2: Reformer [1945-1964], S. 147 ↩︎
    4. Die Darstellung folgt hier Gorlizki, Yoram/Khlevniuk, Oleg (2004): Cold Peace: Stalin and the Ruling Circle, 1945-1953, S. 162 ↩︎
    5. Allilujewa, Swetlana (1967): Zwanzig Briefe an einen Freund, S. 19, 24f. ↩︎
    6. vgl. Chlevnjuk, Oleg (2015): Stalin: Žizn odnogo voždja, S. 428 ↩︎
    7. vgl. Figes, Orlando (2008): Die Flüsterer: Leben in Stalins Russland, S.737-836 ↩︎
    8. Applebaum, Anne (2003): Der Gulag, S. 502 ↩︎
    9. Taubman, William (2003): Khrushchev: The Man and His Era, S. 241 ↩︎

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    Editorial: Fragen meiner Generation
    Pjotr Lawrentjew, Republik Kalmückien (Ende 1930er–Anfang 1940er Jahre), Foto – © privat
    Pjotr Lawrentjew, Republik Kalmückien (Ende 1930er–Anfang 1940er Jahre), Foto – © privat

    Mein Urgroßvater starb, als ich vier Jahre alt war. Ich habe ihn nur ein paarmal gesehen. Wenn ich ihn treffen wollte, dann wurde mir oft gesagt, er sei sehr krank. Wie ich erst später erfuhr, war er in der Tat schwerkrank. Er war Alkoholiker. Er trank die letzten vier oder fünf Jahrzehnte seines Lebens fast jeden Tag.

    In einer Arbeiterfamilie in der Provinz des Russischen Reiches 1906 geboren, machte Pjotr Lawrentjew in den 1920er und 1930er Jahren eine steile Karriere, die der Oktoberrevolution zu verdanken ist. Er fängt an, in einer Fabrik zu arbeiten, tritt bald der kommunistischen Partei bei und studiert am sogenannten Institut der Roten Professur, einer Moskauer Hochschule für die Ausbildung der höchsten ideologischen Parteikräfte. Die soziale Mobilität, die in der Zeit des Großen Terrors eher einer schrecklichen sozialen Turbulenz ähnelte, katapultiert ihn in die Höhe, weit nach oben. Nach den Stalinschen Säuberungen 1937–38 wurde er zum Delegierten auf dem 18. Parteitag (1939) und Mitglied der Zentralen Revisionskommission, letztlich zum Ersten Parteisekretär in der Republik Kalmückien, einer Region im Süden Russland. Seine Position entsprach in etwa der eines Gouverneurs.

    Seine rasche Karriere war schon beeindruckend. Sehr lang dauerte sie allerdings nicht. Während des Großen Vaterländischen Kriegs gab es zu viele Opfer in der Bevölkerung Kalmückiens, was anscheinend unter anderem mit einer schlecht organisierten Evakuierung zu tun hatte. Außerdem fand in der Republik ein antibolschewistischer Aufstand statt. 1943 wurde er entlassen und …

    Ja, alle dachten, es kommt noch ein „und …“ und er selbst hat das ganze weitere Leben auf dieses „und“ gewartet. Er hatte erwartet, dass er verhaftet und erschossen wird, wie es mit einem großen Teil seiner Professoren, Mitstudenten, Kollegen, Vorgänger beim Parteitag und in der Revisionskommission geschah. Er wurde aber einfach auf einen niedrigen Posten versetzt, leitete seit 1944 einige Jahre eine Hochschule in der zentralrussischen Provinz. Die Hochschule, an der später meine Mutter, mein Vater und für jeweils ein Jahr auch mein Bruder und ich studierten. Ich erinnere mich noch an den Stolz, als ich am ersten Studientag in die Universität kam und das Foto meines Urgroßvaters an der Wand sah.

    Und jetzt, 2018, sehe ich mir auch ein altes Fotos von ihm an: Er sitzt in einem Zimmer, das Licht dringt durch das Fenster, so dass eine Schulter beleuchtet und die zweite im Dunkel bleibt. Er trägt, wie Trotzki, eine runde Brille, die er immer aufhatte, und den sogenannten stalinschen Frentsch – ein Symbol der damaligen Nomenklaturmode. Ich sehe nun sein Foto an und weiß nicht, wer er eigentlich war. War er ein Funktionär, der von der Stalinschen Säuberungen profitierte? Hat er beigetragen zum schrecklichen Verbrechen, zur Zwangsdeportation des ganzen kalmückischen Volkes, die seiner Amtszeit unmittelbar folgte? Oder kann man ihn mit seinem jahrzehntelangen Alkoholismus als ein Opfer der Stalinzeit bezeichnen?

    Wenn man heutige Medienberichte in Russland genau anschaut, fällt sofort auf, dass die Stalinzeit plötzlich ins Zentrum der öffentlichen Diskussion rückt. Das Aus für The Death of Stalin, das Errichten neuer Stalin-Denkmäler, die strafrechtliche Verfolgung eines Aktivisten oder auch die Versuche von Denis Karagodin, ein Gerichtsverfahren gegen Stalin zu eröffnen: Das alles zeigt, dass diese traumatisierte Epoche wieder aktuell wird, neu aufgerollt und thematisiert wird. Und die Mediendebatten werden meistens emotional so heftig geführt, als ob die Stalinschen Säuberungen nicht vor 80 Jahren, sondern gestern stattfanden.

    Wir bei dekoder haben entschieden, dass wir über das ganze Jahr 2018 diese Debatten in einem neuen Dossier beobachten, abbilden und kontextualisieren. Wie werden die Stalinschen Säuberungen im heutigen Russland wahrgenommen? Was verbindet man mit Stalin und warum spricht man nun über eine schleichende Stalinisierung? Wie verlief der Prozess der Ent-Stalinisierung nach Stalins Tod? Hängt eine Re-Stalinisierung mit einer misslungenen Ent-Stalinisierung zusammen? Damit beschäftigen wir uns in dem Dossier Stalin: Zwischen Kult und Aufarbeitung, das wir mit freundlicher Unterstützung der Stiftung für Aufarbeitung der SED-Diktatur durchführen.

    Viele Russen meiner Generation stellen sich diese Fragen. Das ist eine Generation, die nicht nur die offizielle Geschichte der Lehrbücher kennt, sondern auch die Zusammenhänge verstehen und erfahren möchte, welche Rolle ihre Vorfahren dabei gespielt haben.

    Wir haben viel zu tun.

    Euer Leonid
    Gnosenredakteur

    Diese Veröffentlichung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Die Brüder Henkin

    Die Brüder Henkin

    St. Petersburg, 1990er Jahre. Eine alte Dame stirbt und hinterlässt eine Wohnung mit allerlei Krimskrams. Neben anderem Gerümpel finden die Nachkommen zufällig einige Kästchen mit alten aufgerollten Negativstreifen. Einfache Familienfotos, die eh in alten verstaubten Fotoalben zu finden sind, mutmaßen die Erben zunächst und beachten die Rollen nicht weiter. Außerdem sind die Filme so alt, dass sie beim ersten Antasten zu Staub zu zerfallen drohen. Aus reiner Neugier entscheiden sich die Erben fast zwanzig Jahre später, die Filme doch zu scannen.

    Wenn man die Folien in den Händen wärmt, dann lassen sie sich langsam entrollen – in jeder der in Papier gewickelten Rollen sind einige Filmschnipsel – vier, acht, fünfzehn Aufnahmen, selten alle 36. Der erste Schnipsel ist gescannt und alles wie erwartet: Es sind Fotos des Großvaters, Leningrad, 1920-30er Jahre, Familie, Bekannte, Verwandte … Ab dem zweiten wird es aber spannend – dieselbe Zeit, aber plötzlich: Berlin. Aufnahme für Aufnahme entsteht auf dem Bildschirm eine ganze Geschichte zweier Städte und zweier Leben, erzählt von zwei Brüdern: Jewgeni und Jakow Henkin.

    dekoder veröffentlicht einen Bruchteil dieses Fotonachlasses, einige Aufnahmen zum ersten Mal.

    Leningrad, Foto – Jakow Henkin / © Olga Maslova Walther
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin / © Olga Maslova Walther

    Die alte Dame, die die Negative aufbewahrte, war Sofia Henkin (1910-1994), die jüngere Schwester von Jewgeni (1900–1938) und Jakow Henkin (1903–1941). Die drei Geschwister stammen aus Rostow am Don, wo sie in einer wohlhabenden jüdischen Familie aufgewachsen sind. Die Erbin Olga Maslova Walther erzählt: „Sofia erinnerte sich an lustige Geschichten, Gedichte, Liedchen und sprach nie darüber, wie dieses glückliches Leben jäh abbrach, wie die Eltern verstarben und welche Ereignisse genau sie zwangen, Rostow am Don zu verlassen.” Sicher ist nur, Ende der 1920er Jahre leben Jakow mit seiner Familie und sie in Leningrad; Jewgeni ist spätestens seit 1926 in Berlin.

    Geschichte einer untergegangenen Welt

    Aufnahme für Aufnahme entsteht auf dem Bildschirm eine untergegangene Welt wieder neu, eine äußerst tragische Geschichte, in der vieles noch unklar bleibt und die grundsätzlich aufgearbeitet werden muss. Zwei Städte, Berlin und Leningrad, die beide einst Hauptstädte großer europäischer Reiche waren, die beide im Ersten Weltkrieg auf verschiedene Weise bittere Niederlagen erlebten, entwickeln sich schrittweise zu Metropolen zweier totalitärer Regime. In die Bilder dringt oft unauffällig diese Realität ein, die beiden Brüdern zum Verhängnis wird und beide Länder in einen weiteren Krieg führt.

    Das alles wissen weder die Fotografen noch die Menschen, die fotografiert werden. Die dargestellte Welt ist von einer besonderen Atmosphäre, von scheinbarer Leichtigkeit des Daseins, von Sinnlichkeit und Freude gekennzeichnet, wie sie die hunderte, meist anonymen Gesichter auf den Fotos widerspiegeln.

    Beide Brüder waren keine hauptberuflichen Fotografen. Jakow war Wirtschaftsingenieur, Jewgeni studierte Schiffsmaschinenbau an der Technischen Universität Berlin und arbeitete danach als Musiker. Trotzdem zeugen die über 7000 Fotografien aus dem Nachlass der Brüder von ihrer großen Begeisterung für dieses Medium sowie von ihrer außergewöhnlichen fotografischen Begabung, die weit über die Grenzen der Amateurfotografie hinausgeht. Beide fotografierten hauptsächlich privat, bekamen aber immer wieder Aufträge, vor allem was die Dokumentation von Sport- und Massenereignissen anbelangte.

    Stummfilm ohne Untertitel

    Hunderte und tausende Gesichter machen den gesamten Fotobestand zu einem Gruppenportrait vor dem Hintergrund eines Zeitalters. Manche – zufällige Passanten, Bauarbeiter, Marktverkäufer – erscheinen nur einmal, um dann in Vergessenheit zu geraten. Einige tauchen mehrfach auf und erzählen kleine Geschichten – von einem Pionierlager bei Leningrad, vom Berliner Zoo, von Autorennen, Demonstrationen, Restaurants oder von einem Brand. Wenige Gesichter nur kommen immer wieder vor, werden zu lebendigen Protagonisten mit persönlichen Eigenschaften und schaffen ganze Sujetlinien.

    Wenn man die Folien in den Händen wärmt, dann lassen sie sich langsam entrollen. Foto – Olga Maslova Walther
    Wenn man die Folien in den Händen wärmt, dann lassen sie sich langsam entrollen. Foto – Olga Maslova Walther

    Zu diesen Menschen zählen nicht nur Familienmitglieder wie Sofia Henkin oder Jakows Ehefrau Frida, die namentlich bekannt sind. Da sind auch Freunde und Kollegen, wie zum Beispiel die Mitarbeiter des Heinrich-Hertz-Institutes in Berlin, mit denen Jewgeni zusammen einen Thereminvox baut, oder die Musiker, mit denen Jewgeni auf verschiedenen Bühnen auftrat, wie etwa im Konzerthaus Clou in Berlin-Friedrichstadt. Oder auch Lebensgefährten, wie eine schöne Berlinerin, mit der Jewgeni Ruderboot fährt, im Wald spazieren geht, verschiedene Veranstaltungen oder Freunde besucht.

    Wenn man sich lange mit diesen Fotos beschäftigt, bekommt man das seltsame Gefühl, dass all diese Leute alte und gute Bekannten seien, die aber keine Stimme und keine Namen haben. Wie ein Stummfilm ohne Untertitel.

    Bemerkenswert sind die vielen Gemeinsamkeiten und Parallelen in den Bildern der beiden Brüder, obwohl die Aufnahmen völlig unabhängig voneinander entstanden sind. Beide scheinen sich für ähnliche Themen zu interessieren und verwenden vergleichbare Kompositionsprinzipien, so dass es nicht immer einfach zu sagen ist, wer genau welche Fotos aufgenommen hat, und manchmal weiß man auf den ersten Blick auch nicht wo: Ist das Berlin oder Leningrad?

    Hauptthemen sind Portraits von Frauen und Kindern, Freunden und Bekannten, Straßenszenen, Massen- und Sportveranstaltungen, Tiere, Autos und Landschaften. Viele davon wurden nicht einfach spontan aufgenommen, sondern häufig unter Rückgriff auf ikonographische Traditionen, etwa das Motiv Mutter mit Kind, sorgfältig ins Bild gesetzt.

    „Es lebe der große Stalin“

    An dem von ihnen fotografierten, brodelnden Leben nehmen beide Fotografen aktiv teil (manchmal lassen sie sich auch von anderen fotografieren, so dass sie auf einem Filmabschnitt sowohl Fotografen als auch Fotografierte sind), die Entwicklung zweier totalitärer Regime betrachten sie etwas aus der Ferne. Scheinbar auch ohne große Angst, eher mit Neugier. Jewgeni geht mit Freunden durch Berlin spazieren und stolpert plötzlich über eine Anzeige auf der Litfaßsäule mit dem Aufruf „Die Juden aller Welt wollen Deutschland vernichten! Kauf nicht beim Juden!”. Er holt seine Kamera, macht ein Foto und geht weiter. Ein anderes Mal nimmt er die NS-Militärparade entlang der Straße Unter den Linden auf oder das Wahl-Transparent „Für den deutschen Sozialismus“ auf der Pariser Straße. Aber das alles geschieht nur unter anderem, nebenbei.

    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin (1933)
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin (1933)

    Auf den Fotos von Jakow sind die Stalin- und Lenin-Portraits in einem Stadion zu sehen, manchmal auch nur an der Seite des Fotos, die riesige Aufschrift „Es lebe der große Stalin“ oder eben die Parade bewaffneter Sportler. Ob er den sozialistischen Optimismus der Stalinzeit teilte, ist nicht bekannt. Aber selbst wenn, war es spätestens 1937 damit vorbei.

    Erstaunlicher als die Gemeinsamkeiten in den Bildmotiven sind die Parallelen im tragischen Schicksal der Brüder. Jakow Henkin, der das ganze Leben in Russland verbrachte, fiel 1941 unter deutschen Kugeln an der Leningrader Front. Sein Bruder Jewgeni, dessen Leben über viele Jahre hindurch eng mit Deutschland verbunden war, musste als Jude 1936 das Land verlassen, wurde aber im Dezember 1937, zur Zeit des Großen Terrors, in Leningrad als deutscher Spion vom NKWD verhaftet und nach wenigen Wochen erschossen. Sein Status als „Volksfeind“ löschte seinen Namen aus der Familiengeschichte. Sofia Henkin wusste von seiner Verhaftung, doch es gelang ihr nicht, Einzelheiten in Erfahrung zu bringen. Später vermied sie es, darüber zu sprechen.

    Beispiel reiner Fotokunst

    Entdeckt wurde der Fotobestand erst 2012, als keiner mehr gefragt werden konnte. Sofias Erbin Olga Maslova Walther gründete 2016 die NGO Henkin Brothers Archiv mit Sitz in Lausanne und konnte die Staatliche Eremitage in St. Petersburg begeistern, diese Fotos in einer Sonderausstellung zu zeigen. Die Schau, die es im Sommer 2017 in die Bloombergs Liste der zehn besten Ausstellungen weltweit geschafft hat, verwurzelte die Fotos nicht nur im historischen, sondern auch im künstlerischen Kontext. Der Fotograf Dmitry Konradt, der den Fotobestand 2012 entdeckte, sieht die Fotos nicht nur als historische Quelle, sondern als „ein Beispiel reiner Fotokunst. Und geboren ist sie nicht aus dem Bestreben, Kunst zu machen, sondern ausschließlich dank der Begabung der Fotografen“.

    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin
    Leningrad, Foto – Jewgeni oder Jakow Henkin (1936–37)
    Leningrad, Foto – Jewgeni oder Jakow Henkin (1936–37)
    In einem Vorort von Leningrad, Foto – Jewgeni oder Jakow Henkin (1936–37)
    In einem Vorort von Leningrad, Foto – Jewgeni oder Jakow Henkin (1936–37)
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin (1930er Jahre)
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin (1930er Jahre)
    In einem Vorort von Leningrad, Foto – Jewgeni Henkin (1936–37)
    In einem Vorort von Leningrad, Foto – Jewgeni Henkin (1936–37)
    In einem Vorort von Leningrad, Foto – Jewgeni Henkin (1936–37). Von links nach rechts – Frida, Jakow und Sofia Henkin
    In einem Vorort von Leningrad, Foto – Jewgeni Henkin (1936–37). Von links nach rechts – Frida, Jakow und Sofia Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Berlin, Foto - Jewgeni Henkin (Erste Hälfte der 1930er Jahre)
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin (Erste Hälfte der 1930er Jahre)
    Leningrad, Foto - Jakow Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Berlin, Foto - Jewgeni Henkin
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Leningrad, Foto – Jakow Henkin
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin (1933)
    Berlin, Foto – Jewgeni Henkin (1933)
    Berlin. Jewgeni Henkin (rechts) im Heinrich-Hertz-Institut
    Berlin. Jewgeni Henkin (rechts) im Heinrich-Hertz-Institut
    Leningrad. Jakow Henkin mit seiner Frau Frida und Tochter Galina
    Leningrad. Jakow Henkin mit seiner Frau Frida und Tochter Galina

    Text: Leonid A. Klimov
    Fotos © Olga Maslova Walther /  Henkin Brothers Archive


    Veröffentlicht am 08.02.2018

    Diese Veröffentlichung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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