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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Müde Helden und bröckelnde Nymphen

    Müde Helden und bröckelnde Nymphen

    Mit den gigantischen Monumenten und spektakulären Bilderstürmen der Wendezeit hielt sich Fotograf Igor Mukhin nur kurz auf. Stattdessen erkundete er in seinem Langzeitprojekt seit den späten 1980er Jahren bis ins Jahr 2017 die Reste der sowjetischen Utopie in der Provinz. Hier fand er auf Plätzen, in Parks und vor Krankenhäusern das untere Ende der sozrealistischen Kunstproduktion: billige, kleine Gipskopien bekannter Werke, die ihren ursprünglichen Kontext der Erholungsparks oder Pionierpaläste verloren hatten und sich selbst überlassen dahindämmerten. 

    Was Denkmalstürzer in den Zentren des Landes publikumswirksam inszenierten, vollbrachte an den Rändern, im Schatten der Geschichte, der Zahn der Zeit und manchmal auch die unsichtbare Hand von Vandalen. Mukhin holt die Überreste der sowjetischen Zukunftsmärchen ins Bild, zukunftsfrohe Fußballer in Aktion, fürsorgliche Mütter mit ihren Kindern, zum Sprung ansetzende Schwimmerinnen … Dabei lassen Mukhins Bilder die üppigen Reize, die Sinnlichkeit und Lebensfreude der antik anmutenden Figuren, mit denen die sowjetische Zukunft ausstaffiert war,1 durchaus ihre Wirkung entfalten: Die Tristesse der nicht eingetroffenen, längst überfälligen Utopie ist beklemmend oder poetisch. In der späten Sowjetunion war allen klar, dass die Antike im Laufe von Jahrhunderten zerfiel, aber die sowjetische Ewigkeit schon nach 20 oder 30 Jahren den Charakter von Ruinen angenommen hatte.

    In den krisengeschüttelten 1990er Jahren sprachen die Menschen in Metaphern des Zerfalls über den Niedergang des Sozialismus: in Erzählungen von rinnenden Dächern und bröckelnden Fassaden. Die bröckelnden Körper der Götter und Helden, der Milchmädchen, Speerwerferinnen und Mütter, der Kosmonauten und Parteiführer hatten ihre Aura schon vor der Wende verloren. 1991 schien sich in ihnen der Bogen vom Aufbau des Sozialismus bis zu seinem Fall zu verkörpern. Doch der Fall war nicht endgültig, schon Ende der 1990er kehrten einige auf ihre Sockel zurück.

    Igor Mukhins Fotografien sind eine Hommage an die sichtbar werdende Zeitlichkeit des Sozialistischen Realismus, auch an seinen Hang zu Vervielfältigung und Serialität. Das Auge seiner Kamera richtet sich nicht auf die Bilderstürze in den Hauptstädten, sondern auf den langsamen Verfall der für alle Ewigkeit mit ausgestrecktem Arm in die Zukunft weisenden Leninstatuen in Provinzstädten, im wuchernden Gebüsch von Plattenbausiedlungen oder aus der Zeit gefallen vor aktuellen Werbeballonen. Er spürt abblätternde Grüppchen von Müttern mit Kindern vor Kleinstadt-Krankenhäusern auf und Pioniere, die sich in peripheren Grünanlagen auf ihre Speere stützen. Die Helden von gestern fristen ein vergessenes Dasein auf dezentralen Straßenkreuzungen. Nicht nur das Material, auch die Gesten wirken müde.

    Josef Stalin, Moskau, 1991 / Foto © Igor Mukhin
    Josef Stalin, Moskau, 1991 / Foto © Igor Mukhin
    Linkes Foto – Karl Marx, Moskau, 2001 | Rechtes Foto – Josef Stalin, Gari, Georgien, 2017 / Fotos © Igor Mukhin
    Linkes Foto – Karl Marx, Moskau, 2001 | Rechtes Foto – Josef Stalin, Gari, Georgien, 2017 / Fotos © Igor Mukhin
    Stalins Grab an der Kremlmauer, Moskau, 2010 / Foto © Igor Mukhin
    Stalins Grab an der Kremlmauer, Moskau, 2010 / Foto © Igor Mukhin
    Wladimir Lenin, Pawlowski Possad, Moskau, 1994 / Foto © Igor Mukhin
    Wladimir Lenin, Pawlowski Possad, Moskau, 1994 / Foto © Igor Mukhin
    Linkes Foto – Wladimir Lenin, Kiewer Bahnhof, Moskau, 1991 | Rechtes Foto – Wladimir Lenin, Aluschta, Krim, 1991 /  Fotos © Igor Mukhin
    Linkes Foto – Wladimir Lenin, Kiewer Bahnhof, Moskau, 1991 | Rechtes Foto – Wladimir Lenin, Aluschta, Krim, 1991 / Fotos © Igor Mukhin
    Wladimir Lenin und Karl Marx, Belarussischer Bahnhof, Moskau, 1988 / Foto © Igor Mukhin
    Wladimir Lenin und Karl Marx, Belarussischer Bahnhof, Moskau, 1988 / Foto © Igor Mukhin
    Hammer und Sichel, Kantemirowskaja, Moskau, 1989 / Foto © Igor Mukhin
    Hammer und Sichel, Kantemirowskaja, Moskau, 1989 / Foto © Igor Mukhin
    Pioniere, Podkumok, 1992 / Foto © Igor Mukhin
    Pioniere, Podkumok, 1992 / Foto © Igor Mukhin
    Fußballspieler „Spartak“ – „Dinamo“, Shelesnowodsk, 1992 / Foto © Igor Mukhin
    Fußballspieler „Spartak“ – „Dinamo“, Shelesnowodsk, 1992 / Foto © Igor Mukhin
    Frjasino Stadion, Moskau, 1991 / Foto © Igor Mukhin
    Frjasino Stadion, Moskau, 1991 / Foto © Igor Mukhin
    Alupka, Krim, 1991 / Foto © Igor Mukhin
    Alupka, Krim, 1991 / Foto © Igor Mukhin
    Park Pokrowskoje-Streschnewo, Moskau, 1993 / Foto © Igor Mukhin
    Park Pokrowskoje-Streschnewo, Moskau, 1993 / Foto © Igor Mukhin
    Linkes Foto – Fußballspieler, Sotschi, 1993 | Rechtes Foto – Sotschi, 1993 / Fotos © Igor Mukhin
    Linkes Foto – Fußballspieler, Sotschi, 1993 | Rechtes Foto – Sotschi, 1993 / Fotos © Igor Mukhin
    Städtischer Strand, Gelendshik, 2005 / Foto © Igor Mukhin
    Städtischer Strand, Gelendshik, 2005 / Foto © Igor Mukhin
    Linkes Foto – Sanatorium M O. Swenigorod, 1991 | Rechtes Foto – Batumi, 2008 / Fotos © Igor Mukhin
    Linkes Foto – Sanatorium M O. Swenigorod, 1991 | Rechtes Foto – Batumi, 2008 / Fotos © Igor Mukhin
    Platz Krestjanskaja Sastawa, Moskau, 1990 / Foto © Igor Mukhin
    Platz Krestjanskaja Sastawa, Moskau, 1990 / Foto © Igor Mukhin
    Maxim Gorki, Belarussischer Bahnhof, Moskau, 1991 / Foto © Igor Mukhin
    Maxim Gorki, Belarussischer Bahnhof, Moskau, 1991 / Foto © Igor Mukhin
    Ernst Thälmann, Moskau, 1991 / Foto © Igor Mukhin
    Ernst Thälmann, Moskau, 1991 / Foto © Igor Mukhin
    Denkmal zu Ehren Felix Dshershinskis, Moskau, 1990 / Foto © Igor Mukhin
    Denkmal zu Ehren Felix Dshershinskis, Moskau, 1990 / Foto © Igor Mukhin
    Linkes Foto – Busbahnhof, Ordshonikidse, Ukraine, 1993 | Rechtes Foto – Juri Gargarin, Moskau, 1990 /  Fotos © Igor Mukhin
    Linkes Foto – Busbahnhof, Ordshonikidse, Ukraine, 1993 | Rechtes Foto – Juri Gargarin, Moskau, 1990 / Fotos © Igor Mukhin

    Zum Weiterlesen:
    Mukhin, Igor (2018): In Search of Monumental Propaganda, Berlin

    Fotos: Igor Mukhin
    Bildredaktion: Andy Heller
    einführender Text: Monica Rüthers

    Veröffentlicht am 22.02.2019

    1.Kruk, Sergei (2008): Semiotics of visual iconicity in Leninist ‘monumental’ propaganda, in: Visual Communication 7 (2008) 1, S. 27-56 

    Dieses Visual wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Vom Versuch der „einheitlichen“ Geschichte

    Vom Versuch der „einheitlichen“ Geschichte

    Kann Geschichte objektiv sein? Nein. Es geht immer um eine Neudeutung, um einen multiperpektivischen Blick. Was bedeutet das aber für ein einheitliches Geschichtslehrbuch? Die Initiative dafür wurde kurz nach Putins Amtseinführung gestartet, 2013 schließlich wies Präsident Putin das Bildungsministerium an, ein solches einheitliches Geschichtsbuch zu konzipieren. Es solle eine „kanonische Version“ der russischen Geschichte bieten. Zum Gegenargument, dass es eine solche nicht geben könne, da Historiker die Geschichte in einigen Fragen unterschiedlich bewerteten, sagte er, er sehe dabei keinen Widerspruch zu einem „einheitlichen Standard“. 
    Letzten Endes war es dann auch nicht ein einheitliches, sondern waren es drei Lehrbücher, aus denen russische Schulen ab dem Schuljahr 2015/16 auswählen sollten.

    Was bedeutet der Wunsch nach einheitlicher Geschichtsschreibung aber etwa für komplexe und umstrittene Fragen wie die Zeit des Großen Terrors unter Stalin oder die Revolution? Olga Filina hat für Kommersant-Ogonjok den Praxistest gemacht.

    Sechs Jahre, nachdem die Diskussionen hochgekocht waren, wie nützlich oder schädlich das „Einheitsgeschichtsschulbuch“ sei, stellt sich heraus, dass diese Schwalbe noch keinen Sommer macht: Selbst wenn es nun [drei] empfohlene Lehrbücher gibt, können den Schülern unverfälschte Versionen von Geschichte vermittelt werden – alles hängt allein von den Neigungen und dem Engagement des Lehrers und von seinen Methodikbüchern ab. Und gegen Neigungen und Methodiken ist, wie Ogonjok herausfand, bislang noch kein Kontroll-Kraut gewachsen.

    Unerwarteter Effekt

    „Die konzeptuelle Ausarbeitung eines neuen Lehr- und Methodik-Kompendiums zur russischen Geschichte sollte einen Konsens von professionellen Historikern, Lehrern und dem Staat festschreiben“, erläutert Galina Swerewa, Leiterin des Lehrstuhls für Geschichte und Kulturtheorie der Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität (RGGU). „2016 bildeten sich die Konturen einer gemeinsamen Position heraus: Zum einen war man übereingekommen, dass sich eine allgemeingültige Vorstellung über die wichtigsten Entwicklungsetappen des russischen Staates herstellen lässt, und dass – aufgepasst! – ,die verbreitetsten Ansichten in Zusammenhang gesetzt werden können‘ mit den wichtigsten Ereignissen unserer Geschichte. Zweitens einigte man sich darauf, dass man einander ausschließende Interpretationsstränge historischer Ereignisse durchaus vermeiden könne. 

    Es gehörte großes Geschick dazu, auf dieser Grundlage ein Lehrbuch zu verfassen, schließlich hatten die Autoren alles in „Zusammenhang“ zu bringen und Widersprüche auszuschließen. Was ist dabei herausgekommen? Eine Art Telefonbuch, ein leerer Raum von Text mit einer Aneinanderreihung von Namen, Daten und ‚Standpunkten‘. Also musste man sich überlegen, wie die Schüler zu unterrichten wären. Und hier kam die Methodik ins Spiel …“

    Vieles hängt nun vom Lehrer ab

    „In nächster Zeit werden im Internet und in großer Auflage gedruckte Methodik-Hefte erscheinen, zu jeder der 20 ,schwierigen Fragen unserer Geschichte‘. Sie sind von unserem Team entwickelt worden“, berichtet Alexander Tschubarjan, wissenschaftlicher Leiter des Instituts für allgemeine Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften und Leiter der Arbeitsgruppe zur Ausarbeitung neuer Lehrbuchrichtlinien. „Ein Lehrer kann natürlich auch andere Methodik-Hefte nutzen, die ihm interessanter erscheinen. Wir können ihm etwas empfehlen. Wir können aber nicht verfolgen, ob er die Empfehlungen umsetzt. Außerdem, das möchte ich hervorheben, haben die neuen Standards für den Geschichtsunterricht in der Schule dazu geführt, dass sich die Rolle des Schulbuches im Unterrichtsgeschehen erheblich verringert hat, während gleichzeitig die Rolle des Lehrers stärker geworden ist. Von dessen Einschätzungen hängt nun sehr viel ab.“

    Wenn man das jemandem 2013 gesagt hätte, dass die Idee eines Einheitsgeschichtslehrbuches den überraschenden Effekt hat, dass die „Interpretations-Anforderung“ an den Lehrer steigt, hätte einem das kaum jemand geglaubt.

    Zu Beginn des Projekts hatten alle auf das vereinheitlichende Potenzial gehofft (und es gefürchtet). In Wirklichkeit hat sich das Einheitslehrbuch weniger als ein hochgezogener Damm erwiesen denn als Schutzschirm, der die angsteinflößende Vielfalt an Sichtweisen auf die Geschichte Russlands verdecken soll.

    Inspiziert man die didaktischen Materialien zur Geschichte, die in einer großen Buchhandlung zur Auswahl stehen, so lassen sie sich (grob) in vier Gruppen unterteilen: in „vermittelnde“, prosowjetische, monarchistische und „aktuell politische“ Werke. In der Regel gelten Lehrer und auch Hochschulstudenten als Leserschaft dieser Lehrwerke, doch können sie praktisch an jeden adressiert sein. Die Reichweite des Vertriebs hängt eher vom Lobbypotenzial ihrer Macher ab.

    Diplomatische Geschichtsschreibung

    Eines der respekteinflößendsten Werke sind die Schwierigen Fragen der Geschichte Russlands: Vom 20. bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts eines Autorenkollektivs der Moskauer Pädagogischen Hochschule. Gattungsmerkmal der „vermittelnd“ ausgerichteten  Lehrmaterialien ist die Formulierung „einerseits … andererseits“. So begegnen uns in dem weniger bekannten Begleitbuch von Juri Schestakow, einem Historiker einer Außenstelle der Staatlichen Technischen Don-Universität (das Buch hat immerhin zwei Neuauflagen erfahren), meisterlich geschmiedete Wechselwirkungen, die die Mobilisierung in den 1930er Jahren gehabt hätte: „Einerseits zwang dieser Weg dem Volk einen hohen Preis auf (Massenrepressionen, Leibeigenschaft in den Kolchosen, niedriger Lebensstandard, fehlende bürgerliche Freiheiten und so weiter). Andererseits waren die sozialen Kosten teilweise niedriger als in den Ländern mit Marktwirtschaft (fehlende Arbeitslosigkeit, kostenloses Bildungs– und Gesundheitssystem, geringe Kommunalabgaben, garantiertes Konsum-Minimum und so weiter).“

    Die rote Geschichtsschreibung

    In den prosowjetisch ausgerichtetender Begleitbüchern sind alle Schattierungen des Roten vertreten, von dubiosen Werken bis hin zu wissenschaftlich anerkannten Arbeiten wie beispielsweise denen des Historikers Lennor Olschtynski.

    Als kleines Stilbeispiel mag das im Internet intensiv beworbene Material von Jewgeni Spizyn dienen, einem „Geschichtslehrer mit 20-jähriger Berufserfahrung“, der die Herausgabe seines mehrbändigen Werkes über Crowdfunding finanzierte: 

    „Was die sogenannten Erschießungslisten anbelangt, so läuft hier eine ganz direkte Fälschung seitens sämtlicher eingefleischter Antistalinisten“, erklärt der Autor. „[…]  Es hat keinerlei persönliche und konkrete Anweisungen zur Erschießung bestimmter Menschen gegeben, weder durch Josef Stalin, noch durch dessen engste Mitstreiter; all diese Menschen wurden von Gerichten zur Höchststrafe [der Todesstrafe – dek] für Verbrechen verurteilt, die im Zuge einer gerichtlichen Untersuchung nachgewiesen worden waren.“

    Die monarchische Geschichtsschreibung

    Die Monarchisten, die zunächst gewissenhaft und gebildet durch Bücher des Historikers Andrej Subow hervorgetreten waren, melden sich seit dem vergangenen Jahr lauter zu Wort. Die unlängst gegründete Gesellschaft für historische Bildung Doppelköpfiger Adler (Initiator und Spiritus rector der Gesellschaft ist Konstantin Malofejew, der Besitzer des Fernsehsenders Zargrad) hat unter dem Titel Schwierige Fragen unserer Geschichte ihr eigenes Lehrwerk veröffentlicht. Herausgeber ist Dimitri Wolodichin, Professor an der Historischen Fakultät der MGU

    Das sowjetische Regime wird in diesem Buch erwartungsgemäß negativ bewertet. Dabei wird als Hauptmerkmal Stalins dessen „tiefer quasireligiöser Fanatismus“ genannt. Und die Untätigkeit des Zaren Nikolaus' II. in der Zeit, die heute als „Große russische Revolution“ bezeichnet wird, erfährt dort folgende Charakterisierung: 

    „Wie hätte der Herrscher den Befehl zum Krieg mit seinen eigenen Untertanen geben können? Mit jenen, denen er so viel Kraft und Arbeit gewidmet hat. Die russischen Monarchen betrachteten ihr Volk stets als ihre Kinder, und wie kann der Vater gegen seine Kinder in den Krieg ziehen? Nikolaus II. beschloss, sich selbst zu opfern …“ 

    Eine Präsentation des Lehrbuches hat – folgt man allein den Informationen auf der Website – bereits in der Schule Nr. 41 in Kaluga, in der Schule Nr. 37 in Iwano-Wosnessensk, im Kadetten-Corps der Kosaken in Schachty sowie in einem Dutzend Bibliotheken anderer Städte stattgefunden. Eingeladen waren hierzu „führende Geschichtslehrer“ (den Bibliotheken wurden kostenlos Exemplare des Buches übergeben).

    Die offiziöse Geschichtsschreibung

    Schließlich sind da noch jene Lehrbücher irgendwie zu benennen, die auf Initiative bekannter Vertreter des russischen Staatsapparates verfasst wurden. Kurz gesagt könnte man sie als „aktuell-politisch“ bezeichnen.

    Die Siegerpalme gebührt hier einem Werk, das bereits 2012 entstand und von Wladimir Jakunin, dem Ex-Chef der Russischen Eisenbahn, gesponsert wurde: das Lehrbuch für den Lehrer zur Geschichte Russlands. Herausgeber war Stepan Sulakschin. Das Buch ist durch seine chauvinistische Ausrichtung bekannt und durch Zitate wie: 

    „Der Große Terror stellte, unter der gegebenen Fragestellung, einen Feldzug nationaler Kräfte gegen die internationalistische Übermacht dar.“ 


    Doch das „offizielle Gesicht“ des aktuellsten Lehrbuches ist natürlich Kulturminister Wladimir Medinski, unter dessen Redaktion das für Schüler geschriebene Buch Militärgeschichte entstanden ist. Wladimir Solotarjow von der MGU hob als Rezensent die Objektivität der Autoren hervor, die vermieden, von „der Fiktion einer aggressiven sowjetischen Politik am Vorabend des Krieges zu sprechen, […] wie sie bis heute von westlichen und zum Teil von russischen Medien verbreitet wird“.

    „Gefährdende“ Geschichtsschreibung

    In dieser ganzen Vielfalt von Veröffentlichungen sind natürlich auch Interpretationen der Vergangenheit zu finden, die aus der Ecke der Bürgerrechtler und Liberalen stammen. Doch die sind auf dem Massenmarkt weniger konkurrenzfähig: Allen zu Ohren gekommen ist der Fall des Methodik-Begleitbuches für Lehrer der 9. bis 11. Klasse des Historikers Andrej Suslow aus Perm und seiner Kollegin Maria Tscheremnych. Das Buch wurde 2017 per Gericht als gefährlich für die psychische Gesundheit von Kindern eingestuft. Ein Gutachten der Aufsichtsbehörde für Massenkommunikation Roskomnadsor, befand: Aussagen in dem Lehrbuch zum sowjetischen Regime der 1930er Jahre, wie zum Beispiel „die maßgebliche Rolle von Gewalt in der Ideologie und Praxis der Bolschewiki“, „die Grausamkeit der bolschewistischen Anführer (Stalin, Lenin und andere) gegenüber dem eigenen Volk“ und so weiter – würden einen „schweren, emotionalen Druck der Angst und des Hasses“ reproduzieren und seien daher für Schüler ungeeignet. Das Buch ist nach wie vor im Internet zu finden, von der Website des regionalen Bildungsministeriums ist es aber verschwunden.

    Meinung statt Fakten?

    Bedeutet dies alles nun, dass die Regierung nach einer „einheitlichen Richtlinie für Lehrbücher“ intensiver auch eine „einheitliche Richtlinie für methodische Begleitmaterialien“ einführen sollte, weil sonst Gefahr und Bürgerkrieg drohen?

    „Die Freie Historische Gesellschaft machte ihre Position deutlich: Bevor irgendetwas zu ‚Lehrmaterial‘ wird, ist eine Erörterung des Projekts in Fachkreisen erforderlich“, sagt der Historiker Iwan Kurilla, Professor der Europäischen Universität in Sankt Petersburg. „Es kann keine Rede davon sein, dass Historiker den Meinungspluralismus zerstören wollen: Pluralismus ist gut, aber nur dann, wenn er nicht unter dem Anschein, es handele sich um Fakten, Meinungen aufnötigt.“

    Doch anscheinend werden die fachliche Bewertung und das Einvernehmen, das Historiker mit Regierung und Lehrern bei gemeinsamer Betrachtung unserer Vergangenheit herstellen konnten, ziemlich genau durch diejenigen Schulbücher umrissen, die vorhanden sind. Dort bleiben nämlich alle schwierigen Fragen gewissermaßen außen vor. Innerhalb der „schwierigen Fragen“ Meinung von Fakten zu trennen, ist eine überaus komplizierte Aufgabe, die schlichtweg eine Erneuerung nicht nur der Lehrprogramme, sondern auch der allgemeinen Haltung der Gesellschaft zum 20. Jahrhundert erfordern würde. 

    Es ist es allem Anschein nach unmöglich, zu einem eingängigen, den Schülern vermittelbaren Verhältnis zur Geschichte zu gelangen, ohne bei dem, was mit Russland geschah, die berüchtigte Unterscheidung zwischen Gut und Böse vorzunehmen.

    Olga Malinowa, Professorin an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Higher School of Economics in Moskau, meint: „Der Versuch, alle zufriedenzustellen und in der Schule eine einheitliche Version der Geschichte zu entwickeln, konnte wohl kaum gelingen, weil der Konflikt zwischen den Geschichtsinterpretationen sehr viel tiefere Gründe hat.“ 

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Sowjetnostalgie und Stalinkult

    Sowjetnostalgie und Stalinkult

    „Ihr habt vieles, worauf ihr stolz sein könnt“ – so schließt der US-amerikanische, russischstämmige Schauspieler David Duchovny 2014 auf YouTube seine Werbung für eine russische Biermarke. Im Spot durchlebt der Zuschauer mit Duchovny seinen alternativen Lebenslauf à la „was wäre, wenn seine Großeltern nicht ausgewandert wären“. Er öffnet ein Familienalbum und ein angeblich typisch russisch-sowjetisches Leben zieht an ihm vorbei: sein Portrait auf der Jahrgangsseite eines sowjetischen Schulalbums, als Langläufer im verschneiten Birkenwald, bei der Schulabschlussfeier mit Klassenkameraden auf dem Roten Platz. Seine Karrieremöglichkeiten zeigen ihn als Kosmonauten, als Choreografen im Bolschoi Theater, als erfolgreichen Schauspieler vor sowjetischen Kinoplakaten und als Eishockeyspieler mit Zahnlücke. Er feiert ausgelassen mit Freunden in einer Banja, singt mit ihnen Sowjet-Hits und rezitiert das bekannte Kindergedicht Rodnoje (dt. Verwandte): „Ich lernte, dass ich eine große Familie habe: den Pfad, das Wäldchen, jede Ähre auf dem Feld.“

    Worauf man also in Russland laut Werbespot nebst beworbenem Produkt noch stolz sein darf? Auf Heldentaten in Schnee und Eis, Gagarin, Ballett, Kameradschaft und Spaß – auf die zentralen Themen der Sowjetnostalgie.

    David Duchovny, dessen Name von russ. duchowni (dt. geistreich, beseelt) stammt, schwelgt in vergangenen Utopien, in nicht gelebten und nicht überprüfbaren Möglichkeiten. Die Gegenwart bleibt interessanterweise ausgespart, es geht auch nicht um die Geschichte, sondern um Atmosphäre und Kultur.

    Vom „Geist einer Epoche“ und der Sehnsucht nach vergangenen Utopien

    Kunst und Kultur des Sozrealismus zelebrierten überschwänglich das Gefühl, Teil einer „besonderen Epoche“ zu sein. Betrachtet man die liebevoll rekonstruierten Erinnerungsräume, den Phantomschmerz einer UdSSR 2.0 offline und im Netz, auf patriotischen Seiten, die Back in UdSSR oder Unsere Heimat UdSSR heißen1, so taucht dort zwischen den in den sanften Glanz des Vergangenen getauchten Bildern sowjetischer Werbeplakate, Kochbücher und Warenkataloge der 1950er bis 1970er Jahre immer wieder der Begriff des „Geistes jener Epoche“ auf – gemeint ist die große sowjetische Epoche, das „Land, das wir verloren“. Die schiere Größe seiner Geschichte als respektierte, ja gefürchtete Weltmacht reißt wie eine Naturgewalt alles mit sich. 

    Das Erhabene und das Heroische kommen dem menschlichen Bedürfnis nach Sinnsuche entgegen. Angesichts des seit Jahren stagnierenden russischen Alltags birgt die Sowjetära mit ihren utopischen Zielsetzungen für einige junge Menschen neues Sehnsuchtspotenzial.



    Quelle: Lewada

    Vor allem ältere Menschen denken nostalgisch an die Sowjetunion zurück. Sie erinnern die „goldenen 1970er“ Jahre unter Breshnew als eine Zeit, in der es alles gab: bescheidenen Wohlstand, soziale Sicherheit, Arbeit, Großmachtstatus und gemeinschaftlichen Stolz auf das Erreichte. Zahlreiche Retro-Produkte, versehen mit den Prüfnummern der längst versunkenen staatlichen sowjetischen Prüfstelle GOST, knüpfen an solche Werte und an einen spezifisch sowjetischen Konsumstil an. Dieser war durch informelle Beschaffungsnetzwerke, Gefälligkeiten und Tauschsysteme (russ. blat) geprägt. Die zentrale Währung war das Vertrauen, nicht die anonymen und abstrakten Kräfte des westlichen Kapitalismus. Der vertrauens- und beziehungsbasierte Konsumstil gilt als dem entfremdeten „kapitalistischen“ Konsumstil moralisch überlegen.

    Wie der Konsumstil so waren auch sowjetische Konsumgüter bald den westlich-kapitalistischen vorzuziehen: Die Sowjetbürger, durch die schlechte Qualität der lang ersehnten Importwaren enttäuscht, hörten bald von Gerüchten über abgelaufene Lebensmittel, die nach Russland geliefert würden. Zum Symbol kapitalistischer Machenschaften, der Erniedrigung der einstmals großen Nation, wurden die im Rahmen von Not-Krediten gelieferten US-amerikanischen Hühnerkeulen, die unter der Bezeichnung „Bush’s Keulchen“ bis heute durch die Medien geistern. Sie seien mit Hormonen und Chemie verseucht gewesen und hätten Allergien verursacht.

    So wuchs die Überzeugung, dass die reichen westlichen Länder Russland grundsätzlich mit minderwertiger Ware belieferten. Parallel zu diesen Ängsten, zur Erosion des Rubels und steigenden Preisen für Importe wuchs die Aura der eigenen Lebensmittel und Güter. Sowjetische Eiscreme ist eine exemplarische nostalgische Speise, die mit Reinheitsvorstellungen, Kindheitserinnerungen und starken Emotionen verbunden ist. Sie wird von vielen explizit als Geschenk des sowjetischen Staates an seine Kinder erinnert.

    Warum bedauern Sie den Zerfall der UdSSR in erster Linie?


    Anteil der Respondenten, die angegeben hatten, den Zerfall der UdSSR zu bedauern. Quelle: Lewada

    Güter und Atmosphären für den Heilungsprozess 

    Durch die Erfahrungen aus der frühen postsowjetischen Zeit unterscheiden WissenschaftlerInnen hinsichtlich des Umgangs mit der zurückliegenden Sowjetära verschiedene Phasen: Eine erste Phase der postsozialistischen Distanznahme von der Symbolwelt, in der die einst so mächtigen Ikonen des Sozialismus zu Kitsch wurden. 
    Eine zweite Phase brachte Mitte der 1990er Jahre die Rückbesinnung auf die materielle Kultur des sozialistischen Alltags. Sowjetische Güter standen nun für bestimmte Werte und erschienen in einer Gegenposition zum entzauberten Westen. 
    Der dritte Typ nostalgischer Praktiken betraf die Rekonstruktion von Atmosphären, Werten und Stimmungen des Spätsozialismus. Dazu gehörten geteilte Erfahrungen wie Ferienlager oder die Populärkultur. 
    Ein vierter Typus war die zunächst objektfixierte Stil-Nostalgie der jungen Generation. Die Nostalgie galt der entzauberten Utopie vom Westen ebenso, wie dem Verlust der respektierten Großmacht Sowjetunion. Die Südosteuropahistorikerin Maria Todorova sprach von der heilenden (restaurativen) Funktion der Nostalgie.

    Die 1990er Jahre dagegen galten vor allem als Jahre des chaotischen Zerfalls des Sowjetreiches, der Entsolidarisierung der Gesellschaft und grassierender Kriminalität, während der Staat und die parlamentarische Demokratie versagten. Die ehemaligen Sowjetbürger erfuhren die 1990er Jahre als Dauerkrise und sprachen in Metaphern des Bröckelns und des Einsturzes darüber. Die Silowiki erfuhren den schmerzlichen Verlust des Großmachtstatus, ein Gefühl, das Putin in die Formel der „geopolitischen Katastrophe“ goss.

    Sowjetnostalgie und symbolische Re-Stalinisierung

    Spätestens seit Mitte der 2000er Jahre ist die Sowjetnostalgie Teil des patriotischen Projekts Russlands, den verlorenen imperialen Status wiederzugewinnen. Die politische Rhetorik sprach zwar von Erneuerung und Modernisierung – vor allem während der Präsidentschaft Medwedews –, benutzte aber die sowjetische Vergangenheit zur Legitimierung ihrer Politik. Das „Sowjetische“ war dabei historisch diffus und wurde zu einem gemeinsamen „kulturellen Erbe“. Diese Politik wertete Nostalgie als positive gesellschaftliche Kraft. Im offiziellen russischen Diskurs kursieren die Schlüsselbegriffe „traditionelle Werte“, „russische Kultur“, „Spiritualität“ und „historische Vergangenheit“. Die sowjetische Matrize erlaubt das Ausblenden ethnischer, religiöser und sonstiger regionaler Unterschiede und schafft eine alle umfassende „russische Kultur“. Leider stimmen die Grenzen der so erneuerten russischen Zivilisation zuweilen nicht mit den aktuellen Staatsgrenzen überein. Die nationale Kultur wird als historisch gewachsener „Organismus“ imaginiert, dem die rational fassbare Gegenwart und die nicht absehbare Zukunft weniger entsprechen als die Vergangenheit.

    Betrachtet man die mediale Umsetzung, spielt Sowjetnostalgie eine zentrale Rolle, um diese gemeinsame Kultur mit vertrauten Bildern, Worten und Klängen zu illustrieren. Dazu gehörte zu Beginn der 2000er Jahre die Wiedereinführung der Melodie der sowjetischen Nationalhymne, die unter Stalin entstanden war.

    Auch sowjetische Sehnsuchtsorte werden restauriert. Ferienheime, Pionierlager, die Metro und das 1939 eröffnete Gelände der Allunions-Landwirtschaftsausstellung WDNCh waren märchenhafte Geschenke des Staates – und Stalins – an seine Bürger. Das Messegelände der WDNCh wird seit einigen Jahren aufwendig restauriert, die erhaltenen Pavillons aus der Stalinzeit erstrahlen bereits in neuem Glanz. Auf der paradiesischen Krim befand sich das berühmteste aller Pionierlager, Artek, das mit der Annexion der Krim vor dem Verfall gerettet und sogleich unter die persönliche Schutzherrschaft Putins gestellt wurde.

    Putin belebte das sowjetische Staatsmodell, zentralistisch und autoritär, mit starker Kontrolle durch die Sicherheitskräfte. Ein Rückgriff auf stalinistische Formeln ist die Belagerungsmentalität: Wir sind von Feinden umzingelt, der Faschismus lebt wieder auf.

    Stalin – ein diffuser Erinnerungsdiskurs 

    Mit dem paternalistischen Staatsmodell kam auch Stalin zurück. Mindestens zwei TV-Serien zeigen Stalin als „geschniegelten Opa, der sich auf sein luxuriöses Landgut zurückgezogen und im trauten Kreis der Seinen den Frieden mit sich selbst gefunden hat“2. Oder als strengen, aber freundlichen Vater, der absolute Autorität in allen Wissenschaften besaß, den Krieg gegen Nazideutschland gewann und für sein Volk sorgte.

    Stalin verkörpert den Archetyp der Führerfigur, den strengen, aber gerechten Vater der Völker, er ist ein Symbol der Autorität und nationalen Stärke, eine Art Alleinstellungsmerkmal einer gedemütigten Nation. Seine Bewertung ist widersprüchlich: Umfragen des Lewada-Zentrums belegen die verbreitete Meinung, Stalin sei ein weiser Führer gewesen, der die Sowjetunion zu Macht und Wohlstand führte. Dieselben Befragten befanden aber auch, der Große Terror sei ein politisches Verbrechen gewesen, das sich nicht rechtfertigen lasse. Die Mehrheit meinte, das Wichtigste sei, dass unter Stalins Führung die Sowjetunion den Krieg gewonnen habe.

    Obwohl die Gesellschaft Russlands die gewalthafte Natur der stalinistischen Politik kennt, fällt es ihr schwer, den Repräsentanten absoluter Macht zu verurteilen. Am meisten lieben ihn ältere, bildungsferne, ärmere BürgerInnen in strukturschwachen und ländlichen Gegenden. Entlang dieser Linien gruppiert sich auch die Wählerschaft Putins. Widersprüchlich ist auch die Bewertung des Stalinismus im politischen und wissenschaftlichen Diskurs, der zwischen der Verurteilung stalinistischer Verbrechen und deren Minimierung zugunsten der Größe und Stärke Russlands schwankt. Es gibt zwar keine offizielle Glorifizierung Stalins, und die stalinistischen Verbrechen werden von den Kremloberen nicht geleugnet. Aber sie werden klein gehalten, und Stalins Leistungen etwa als Generalissimus sind in populären Buchpublikationen weit präsenter als seine Verbrechen.

    Es gibt kein konsistentes Narrativ Stalin und den Stalinismus betreffend, weder ein offizielles noch ein inoffizielles. Nationale Größe und kollektive Werte wie Einigkeit, Prestige und Ehre sind in der Wahrnehmung untrennbar mit brutaler Gewalt verbunden. Die Opfer sind bekannt, aber sie werden durch die Verdienste des Tyrannen aufgewogen: Die Anziehungskraft, die nationale Größe und ruhmreiche Geschichte auf einfache Bürger ausüben, verbindet sich mit der Legitimation despotischer Macht.

    Die diffuse, rückwärtsgewandte offizielle Rhetorik kommt der Deutung der eigenen Geschichte in mythischen und sakralen Kategorien entgegen – nicht in Kategorien von Schuld und Verantwortung, sondern in solchen von Schicksal und Tragödie. So haben sich sowjetische Interpretationsmuster im russischen Erinnerungsdiskurs gehalten. Im Schulunterricht erscheint etwa der Gulag als Tragödie ohne identifizierbare Täter.3 Stalin war kein gewöhnlicher Mensch, er wurde zum Teil der Verklärung und Nostalgie.


    Weiterführende Literatur:
    Dubin, Boris (2005): Goldene Zeiten des Krieges: Erinnerung als Sehnsucht nach der Brežnev-Ära, in: Osteuropa 4-6/55, S. 219-233
    Humphrey, Caroline (1995): Creating a culture of disillusionment: Consumption in Moscow, a chronicle of changing times, in: Miller, Daniel (Hrsg.): Worlds Apart: Modernity through the prism of the local, London/New York, S. 43-68
    Kalinin, Ilya (2011): Nostalgic Modernization: The Soviet Past as „Historical Horizon“, in: Slavonica 17/2, S. 156-166
    Kalinin, Il’ja (2015):  Prazdnik identičnosti: Russkaja Kul’tura kak nacional’naja ideja, in: Politekonomija povsednevnosti 101/3, S. 250-261
    Kravets, Olga/Örge, Örsan (2010): Iconic Brands: A Socio-Material Story, in: Journal of Material Culture 15/2, S. 205-232
    Nadkarni, Maya/Shevchenko, Olga (2004): The Politics of Nostalgia: A Case for Comparative Analysis of Post-Socialist Practices, in: Ab Imperion 2/4, S. 487-519 
    Sabonis-Chafee, Theresa (1999): Communism as Kitsch. Soviet Symbols in Post-Soviet Society, in: Barker, Adele Marie (Hrsg.): Consuming Russia: Popular Culture, Sex, and Society since Gorbachev, Durham, S. 362-382
    Todorova, Maria (2010): Introduction: From Utopia to Propaganda and Back, in: Todorova, Maria/Gille, Zsuzsa (Hrsg.): Post-communist Nostalgia, Oxford/new York, S. 1-13
    Zubarevič, Natal’ja (2012): Russlands Parallelwelten: Dynamische Zentren, stagnierende Peripherie, in: Osteuropa 62/6-8, S. 263-278

    Diese Gnose wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Butowski Poligon

    Butowski Poligon

    Der Butowski Poligon (dt. Schießplatz Butowo) bei Moskau ist einer von hunderten Massenerschießungs- und Begräbnisorten, die während des Großen Terrors überall in der Sowjetunion entstanden sind. Innerhalb von 15 Monaten, zwischen August 1937 und Oktober 1938, sind in Butowo mindestens 20.760 Menschen erschossen und auf dem knapp 4,8 Hektar großen Gebiet begraben worden. Zudem wurden hier in den Folgejahren immer wieder die sterblichen Überreste weiterer Hingerichteter aus den umliegenden Gefängnissen verscharrt. Erst in den 1990er Jahren übergab man die sogenannten Erschießungslisten der Hinrichtungen und Bestattungen aus dem KGB-Archiv an eine Bürgerrechtsorganisation.1 Diese Organisation erwirkte zunächst öffentlichen Zugang zum Schießplatz und stellte bereits 1993 den ersten Gedenkstein auf.

    Bei der Erstellung von Kurzbiographien der Ermordeten fiel den BearbeiterInnen auf, dass eine große Anzahl an Priestern unter den Verurteilten von Butowo war. Ihre Namen wurden der Russisch-Orthodoxen Kirche (ROK) übergeben. Wenig später gründeten Nachfahren der dort ermordeten Priester die Gemeinde von Butowo und fingen an, sich an der Erinnerungsarbeit zu beteiligen. Zwei Jahre später, 1995, errichteten sie auf dem Gelände eine Kapelle, und der KGB übergab das gesamte Gelände in den Besitz der Kirche.2

    Das russische Golgatha

    In den folgenden Jahren avancierte der Butowski Poligon zu einem Symbol für den Umgang der ROK mit dem Stalinismus. Der Erschießungsplatz sei das russische Golgatha – Ort der Kreuzigung Jesu – so definierte es der Patriarch Alexius II. Damit setzte er ein klares Statement gegen den Stalinismus und die atheistische Ideologie der Sowjetunion.

    Zugleich legte Alexius II. einen weiteren Grundstein für die scharfe Haltung der ROK gegenüber der Epoche Stalins. Zwar berichten unabhängige Medien immer wieder spöttisch über sogenannte orthodoxe Stalinisten, die Leitung der Kirche unter dem Nachfolger Alexius’ wendet sich aber weiterhin oft gegen den Stalinismus, Kommunismus, Bolschewismus und Leninismus.

    Mit dieser Haltung fordert die Kirchenleitung einen eklatanten Widerspruch heraus: Denn die ROK gehört zu jenen Institutionen, die laut Umfragen am meisten Vertrauen in der Gesellschaft genießen.3 Gleichzeitig bewerten über 40 Prozent der Menschen in Russland Stalins Rolle in der Geschichte positiv.4 Außerdem ist Stalin untrennbar mit dem Sieg im Großen Vaterländischen Krieg verbunden – und dieser gilt als zentral für die offizielle Erinnerungskultur des Landes.

    Vermutlich deshalb sah sich Patriarch Kirill 2009 offenbar gezwungen, diesen Widerspruch zur offiziellen Erinnerungspolitik zu kommentieren: Bei einer Messe sagte er damals, dass der Sieg als Gotteswunder zu betrachten sei – ein Wunder, das nur durch die Einheit des Volkes möglich wurde.5 Da Kirill darüber hinaus die Opfer des Krieges als „Rache Gottes“ für den staatlichen Atheismus geißelte und die Rolle Stalins schmälerte, brachten ihm diese Aussagen massive Kritik ein – auch seitens der kremlnahen Kreise.6 Auf diese Kritik reagierte wiederum Erzbischof Hilarion, Leiter der Abteilung für kirchliche Außenbeziehungen: Der Sieg, so der Geistliche, sei deshalb als Gotteswunder anzusehen, weil Stalin im Vorfeld des Krieges alles dafür getan habe, das Land zu „zertrümmern“. Insgesamt sei der Sieg nicht wegen, sondern trotz Stalin errungen worden, so Hilarion.7

    Neumärtyrer und Bekenner

    Butowski Poligon steht wie kaum ein anderer Erinnerungsort in Russland für diese Haltung. Auf dem Gelände wurden Gedenkkreuze aufgestellt und eine große Steinkathedrale zu Ehren der Neumärtyrer und Bekenner gebaut. Mit diesen Begriffen verehrt die Kirche die heiliggesprochenen Opfer der Sowjetzeit. Regelmäßig finden hier Gottesdienste mit dem Moskauer Patriarchen statt. Präsident Wladimir Putin war bereits 2007 da, lobte die Arbeit der Kirche und bezeichnete die in Butowo liegenden Opfer der politischen Verfolgungen als „Menschen mit eigener Meinung, die Besten der Nation.“8

    Den vorläufigen Höhepunkt des Gedenkens markierte die Eröffnung eines monumentalen Denkmals – des sogenannten Gartens der Erinnerung – zum 80. Jahrestag des Großen Terrors im Oktober 2017. Dafür wurden die Namen aller Opfer auf übermannshohe schwarze Marmorplatten eingraviert, die entlang eines tiefergelegten Gehwegs in den Boden eingelassen worden waren. Die Gestaltung soll den Eindruck eines langgezogenen Massengrabes erwecken. Am Ende des Weges hängt eine Kirchenglocke, die jeder Besucher anschlagen darf. Die gesamte sichtbare Symbolik des Ortes ist ausschließlich orthodox, ungeachtet der tatsächlichen Vielfalt der Opfer, unter denen sich nicht wenige Muslime, Buddhisten und wohl auch Atheisten finden lassen.9

    Dimensionen der Erinnerungsarbeit

    Die kirchliche Auseinandersetzung mit dem Stalinismus hat in Butowo mindestens drei Dimensionen: Zum einen haben Nachfahren der dort ermordeten Geistlichen ein persönliches Interesse an der Aufarbeitung und Verurteilung der Verbrechen. So dient der Enkel eines ermordeten Geistlichen heute als Priester in der Gemeinde am Schießplatz. Weitere Angehörige beteiligen sich ehrenamtlich an der Gedenkstättenarbeit und betreiben unter anderem die Social Media Accounts.10

    Zum anderen wird der Ort für institutionell-kirchenpolitische Zwecke genutzt, um den Einfluss der ROK als Weltkirche auszudehnen. Der Bau der großen Steinkathedrale ist eng verknüpft mit der Wiedervereinigung der ROK mit der Russisch-Orthodoxen Kirche im Ausland. Diese hatte sich nach der Oktoberrevolution 1917 abgespalten und eigene Strukturen in Europa und den USA aufgebaut. Bis in die späten 1990er Jahre hat die Auslandskirche dem Moskauer Patriarchat unter anderem vorgeworfen, dem atheistischen Staat trotz der Verfolgungen hörig geblieben zu sein. Erst 2007 fand die offizielle Wiedervereinigung unter Moskaus Federführung statt, und Butowo eignete sich perfekt, diesen Akt symbolisch zu feiern: Die Grundsteinlegung für die Kathedrale erfolgte 2004 beim ersten offiziellen Besuch einer Delegation der Auslandskirche in Moskau, und die Eröffnung wurde im Zuge der Wiedervereinigungs-Feierlichkeiten zelebriert. Offensichtlich konnten sich beide Parteien auf die gemeinsame Trauer um die Opfer des Großen Terrors und die damit einhergehende Verurteilung des Stalinismus einigen. Weitere Fragen nach der späteren Zusammenarbeit der ROK mit den sowjetischen Geheimdiensten wurden dabei allerdings ausgeblendet.

    Ähnlich ist auch die dritte Dimension der Auseinandersetzung geprägt: die Rolle der Kirche im politischen Erinnerungsdiskurs Russlands. Man konzentriert sich vor allem auf die Trauer um die Opfer, die Rolle der Täter gerät aber zunehmend in den Hintergrund.

    Die dafür gelieferte Erklärung ist einfach: Die Täter, Stalin und seine Schergen, seien lange tot und würden für ihre Taten von Gott bestraft. Die Opfer wiederum hätten durch ihren Märtyrertod wie Jesus Christus am Kreuz die Sühne übernommen. 
    Eine solche Argumentation seitens der ROK ist für die heutige Politik (und Gesellschaft) ein bequemer Weg, den Widerspruch auszublenden und mit der Vergangenheit umzugehen. Denn damit wird beides möglich: Man braucht die Sowjetunion als System nicht völlig abzulehnen, gleichzeitig kann man den Massenterror unter Stalin eindeutig als ein punktuelles Ereignis verurteilen. In etwa so, wie es der FSB-Chef Alexander Bortnikow nannte: als „lokale Auswüchse“.


    Diese Gnose wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Stalins Henker

    Stalins Henker

    Vor 101 Jahren, am 20. Dezember 1917, wurde die Außerordentliche Allrussische Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage (kurz: Tscheka) unter Felix Dsershinski gegründet – die Vorläuferorganisation des KGB. Der Kampf gegen vermeintliche innere Feinde führte knapp zwei Jahrzehnte später unter Stalin zu einer Maschinerie von Repression, Willkür und massenhaften Erschießungen, der hunderttausende Bürger der Sowjetuntion zum Opfer gefallen sind und die als Großer Terror zu einem der dunkelsten Kapitel der sowjetischen Geschichte wurde.

    Wie konnte sich dieses riesige Gewaltsystem etablieren, woher rekrutierte es seine Täter? Welche regionalen Besonderheiten gab es im Verbannungsort Sibirien? Welchen Einfluss hat die Öffnung von Archiven in der Ukraine auf den Diskurs um die Vergangenheit in Russland? Wie sollte die Gesellschaft umgehen mit denen, die zunächst Täter waren und später selber zu Opfern wurden? 

    Über diese Fragen spricht die Novaya Gazeta mit dem Nowosibirsker Historiker Alexej Tepljakow – ein hintergründiges Interview über die Aufarbeitung eines Themas, bei dem noch vieles im Verborgenen liegt.

    Novaya Gazeta: Alexej Tepljakow, in Ihren Büchern entfaltet sich eine nicht abreißende Kette von fürchterlichen Verbrechen, die Angehörige der Strafbehörden begangen haben, und zwar seit Beginn ihres Bestehens. Die Gräueltaten der Bürgerkriegszeit lassen sich noch teilweise durch die exorbitante Brutalität der verfeindeten Seiten erklären. Allerdings brach der Große Terror erst anderthalb Jahrzehnte später aus …

    Alexej Tepljakow: Aus den Unterlagen der Gerichtsverfahren, die ich einsehen konnte – aus der Zeit, in der Tschekisten zur Verantwortung gezogen wurden, die sich in den Jahren des Großen Terrors besonders „hervorgetan“ hatten – erfährt man monströse Dinge. 

    Die Handlungsanweisungen, nach denen die Hinrichtungen durchgeführt wurden, sind bis heute nicht veröffentlicht. Erst kürzlich wurden allerdings Dokumente aus dem Archiv des georgischen Innenministeriums publiziert, in denen als offizielle Methode die Hinrichtung mittels eines Schusses „in die rechte Schläfe“ angegeben wird. Andererseits wurden beispielsweise in Minussinsk Menschen mit dem Brecheisen erledigt … Einen gab es, den versuchten betrunkene Henker mit einem elektrischen Sprengzünder in die Luft zu jagen …

    Wobei der 1939 verurteilte Leiter des Operativen Bereichs [des NKWDdek] in Minussinsk namens Alexejew in seinen Beschwerden über die „Unbegründetheit des Urteils“ angegeben hat, dass er persönlich 2300 „Trotzkisten“ verhaftet habe, von denen 1500 erschossen worden seien. Die Behörden berücksichtigten diese gewichtigen Argumente: Im Januar 1941 wurde Alexejew freigelassen und arbeitete dann im System des Gulag …

    Der ehemalige Leiter des Operativen Bereichs Kuibyschew (bis 1935: Kainsk) der NKWD-Verwaltung für das Gebiet Nowosibirsk, Lichatschewski, gab im August 1940 an: „Bei uns wurden die Urteile auf zwei Arten vollstreckt: Tod durch Erschießung und durch Erdrosseln […] Die Einsätze wurden folgendermaßen durchgeführt: In einem Raum fesselte eine Gruppe von fünf Personen den Verurteilten, dann wurde dieser in einen anderen Raum geführt, wo er mit einem Strick erdrosselt wurde. Insgesamt dauerte es bei jedem eine Minute, nicht mehr […]. Insgesamt wurden rund 500 bis 600 Menschen erdrosselt […]“

    Insgesamt dauerte es eine Minute, bis jemand erdrosselt war

    Einige der Henker hielten einen Wettbewerb ab, wer es schafft, den Verurteilten mit einem einzigen Tritt in die Leiste zu töten. Den Hinzurichtenden wurde der Mund mit einem Knebel verschlossen, wobei der Sekretär der Kreisverwaltung Iwanow ein Werkzeug hatte, mit dem er die Münder solcher, die sich wehrten, zwangsweise öffnete …

    Die gleichen Mitarbeiter des Operativen Bereichs Kuibyschew zwangen 1938 eine verurteilte Lehrerin und einen verurteilten Mann dazu, in ihrer Gegenwart den Geschlechtsakt zu vollziehen, unter dem Versprechen, sie dann zu begnadigen. Nach dem Ende der „Vorstellung“ wurden die Unglücklichen erdrosselt.

    In der NKWD-Verwaltung Shitomir zwangen die Tschekisten einen alten Mann zum Sex mit der Leiche einer gerade erst Erschossenen. Und das ist nur ein Teil des Horrors, den man den Archiven entnehmen kann.

    Und wer waren diese Leute, die das alles angerichtet haben? Können Sie ein allgemeines Portrait eines sibirischen Tschekisten Ende der 1930er Jahre zeichnen?

    Die Anzahl der operativen Mitarbeiter der NKWD-Verwaltung für die Region Westsibirien lässt sich für das Jahr 1937 mit etwas über 1000 beziffern. Das waren vorwiegend junge Männer aus bäuerlichen Familien, die in der Armee gedient hatten, oft beim Grenzschutz oder bei den Truppen des Innenministeriums, aus denen man sie vorzugsweise zu rekrutieren versuchte … Oft waren das ehemalige geheime Informanten, die dann offizielle Mitarbeiter wurden. 

    Auf diese Leute ist dann auch die bis Anfang der 1930er Jahre explosionsartig gestiegene Mitarbeiterstärke der entsprechenden Behörden zurückzuführen. Während der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) hatte diese noch bei rund 18.000 gelegen – in ganz Russland. Ich rede von jenen Mitarbeitern, die wir heute als Offiziere bezeichnen würden: Ermittler, Führungsoffiziere … Anfang 1937 gab es 25.000 von ihnen, zu Kriegsbeginn waren es 50.000.

    Wie konnte der Terror in dieser Massivität bewerkstelligt werden? Schließlich war das System im Grunde nicht darauf vorbereitet, Hunderttausende zu erschießen. In den 1920er Jahren wurden jährlich 2000 bis 3000 Menschen hingerichtet. Anfang der 1930er Jahre waren es dann bis zu 20.000, danach folgte wieder ein starker Rückgang. 1936 etwa wurden 1118 Personen hingerichtet. Da es keine außergerichtlichen Stellen gab, die berechtigt waren, Erschießungen anzuordnen, verhängten nur Gerichte Todesurteile. 1937 wurden dann 353.000 Menschen hingerichtet und 1938 ungefähr genauso viele.

    In den Jahren des Großen Terrors wurde nahezu die Hälfte der Verurteilten erschossen. Innerhalb von anderthalb Jahren (so besagen es sogar die offiziellen, um einige Zehntausend nach unten korrigierten Daten) waren das 681.692 Menschen.

    Innerhalb von anderthalb Jahren wurden 681.692 Menschen hingerichtet

    Damit die Behörden in diesen Extremsituationen nicht kollabierten, wurden die sogenannten Operativen Bereiche geschaffen: In Städten, in denen es ein Gefängnis gab, entstanden diese Operativen Bereiche, die auch für 10 bis 15 angrenzende Kreise zuständig waren. Dort gab es natürlich die städtische Dienststelle mit 10 bis 15 Mitarbeitern. Und es wurden jeweils sechs erfahrene Ermittler aus der Gebietsverwaltung und ein weiteres Dutzend oder zwei aus den Bezirksstellen des NKWD dorthin abgestellt. Komplettiert wurden sie durch Offiziersschüler, beispielsweise aus Lehranstalten der Grenztruppen. So trafen zum Beispiel in Nowosibirsk 50 Schüler der Moskauer Lehranstalt für Grenztruppen ein. Das waren die „Hauer“, die „Sitzhelfer“ (die den Verhafteten das Schlafen unmöglich machten), die dann zu Ermittlern heranwuchsen.

    Die eigentlichen Tschekisten waren entweder auf Dienstreise oder besoffen sich

    Somit arbeiteten in den Operativen Bereichen um die zwanzig, dreißig Tschekisten. Denen wurden ebenso viele (oder mehr) Polizisten der fortgeschrittenen Sorte sowie Feldkuriere beigeordnet. Schließlich gab es in jedem Abschnitt mehr Feldkuriere als Ermittler – der gesamte Postverkehr war ja geheim. Sollte jemand verhaftet werden, wurde dann nicht selten ein Feldkurier losgeschickt, der das übernehmen sollte; sollte jemand erschossen werden, passierte das Gleiche. Die eigentlichen Tschekisten waren entweder auf Dienstreise, besoffen sich oder drückten sich vor dieser Arbeit; die Kuriere jedoch waren verfügbar, die konnte man auch ins Erschießungskommando stecken, nach dem Motto: Sollen sie doch ruhig Erfahrung sammeln! Und so konnte ein energischer Kurier aus einem anscheinend harmlosen System zur Miliz abgestellt werden, oder zum Wachdienst eines Gefängnisses. Dann wurde genauer hingeschaut: Da trinkt jemand nicht besonders viel, ist fähig und gebildet, ist diszipliniert und wird als operativer Mitarbeiter angefordert. Das war der Weg, wie jemand aus einer normalen Bauernfamilie bis zu dieser Ebene aufstieg.

    Das waren die einfachen Tschekisten. Und wer hatte die Leitung?

    In den zwanzig Vorkriegsjahren sind die Organe in Sibirien nacheinander von neun Personen geleitet worden, alles große Figuren, Leute von „Moskauer Rang“. Sechs von ihnen sind Ende der 1930er Jahre erschossen worden, einer wurde zu Lagerhaft verurteilt und ist dort gestorben, einer wurde rehabilitiert; zwei weitere haben sich erschossen.

    Habe ich Sie richtig verstanden, dass sich nach 1938, nach dem Ende des Großen Terrors die Zahl der Tschekisten erhöht hat?

    Und zwar drastisch! Wobei es eine massive Säuberung gegeben hatte – allein 1939 war ein Viertel der Tschekisten entlassen worden. Allerdings war das eine Säuberung der milden Art, von den 20.000 „Gesäuberten“ wurden keine fünf Prozent erschossen.

    Viele hatten fürchterliche Dinge angestellt. Und nicht nur als Gesetzesbrecher, sondern auch als korrupte Figuren, als Räuber und Marodeure. Die große Masse wurde einfach so entlassen, „aufgrund kompromittierender Umstände“.

    Unmittelbar vor Kriegsbeginn gab es plötzlich erheblich mehr Tschekisten als noch 1937

    Es gab allerdings auch viele, die aufstiegen, die weit aufstiegen. Besonders Leute der unteren und mittleren Ebene. Die auf der oberen Ebene galten (zunächst) als Anhänger Jagodas, und später als Jeschows Leute. Von denen wurden am meisten erschossen. Und von den Dienststellenleitern, die besonders exzessiv gewütet und tausende Tote auf dem Gewissen hatten. Die Leutnants oder Oberleutnants aber, die machten eine steile Karriere. Den Gesäuberten folgten massenhaft Nachrücker, und so gab es plötzlich unmittelbar vor Kriegsbeginn erheblich mehr Tschekisten als noch 1937.

    Und das mit all der Erfahrung des Großen Terrors.

    Es gibt eine Version, nach der „all das“ von Letten begangen wurde, von Ungarn … und vor allem von Juden. Wenn man Bücher über den Großen Terror in der Ukraine liest, da schüttelt es einen: durchweg jüdische Namen.

    Das ist eine Besonderheit der Ukraine, wo es einen besonders großen jüdischen Bevölkerungsanteil gab, speziell in den Städten. Die Ukrainer selbst waren Bauern und kaum gebildet. Gebildet waren die Nationalisten, die Petljura-Anhänger … Die Juden nahmen das Regime, nachdem sie die Gleichberechtigung erhalten hatten, als das ihre wahr und machten sich dementsprechend daran, es zu verteidigen; in der Ukraine bestand Mitte der 1930er Jahre der Operative Bereich zu rund vierzig Prozent aus Juden, bei den Leitungskräften waren es zwei Drittel. In Belarus gab es unter den Tschekisten ebenfalls viele Juden. In den anderen Regionen waren erheblich weniger Juden vertreten.

    Es waren einfach aktive Leute, die aufgrund einer Maxime, die ihnen von Kindheit an eingeimpft worden war, Karriere machten: Wenn du ein Jude bist, dann musst du dich doppelt und dreifach ins Zeug legen, sonst ist dir schnell der Weg versperrt. Und das ist kein Phänomen, das es nur in Russland gibt.

    Natürlich würde ich den „jüdischen Faktor“ nicht überbewerten, da die russischen, kaukasischen und ukrainischen Tschekisten keinen Deut milder waren.

    Kann man denn auch von „sibirischen Besonderheiten“ des Großen Terrors sprechen?

    Zweifellos. Obwohl das Regime den Terror ansatzweise rational anging, mit einer für alle Regionen gültigen Logik. Und natürlich gab es auch einen subjektiven Faktor: Sehr viel hing vom Verwaltungsleiter ab, ob dieser mehr oder weniger blutrünstig war.

    Es gab Tschekisten, die waren fürchterliche Karrieristen, oder einfach nur Karrieristen

    Es gab Tschekisten, die waren fürchterliche Karrieristen, oder einfach nur Karrieristen. Und es gab extreme Karrieristen.

    So wurden von den verurteilten Deutschen im Gebiet Nowosibirsk 96 Prozent erschossen. Bei jungen Frauen und bei jungen Männern unter zwanzig ließ man Gnade walten, wenn auch nicht bei allen. Und wer als Spitzel angeworben wurde, wer im Lager „berichten“ sollte, der konnte davonkommen. Von den Polen wurden 94 Prozent [der Verurteilten – dek] erschossen. Im benachbarten Gebiet Omsk und in der Region Krasnojarsk war der Anteil der Erschossenen nichtrussischer Nationalitäten nur halb so groß.

    Was nun das wirklich Besondere der Lage in Sibirien betrifft … Das bestand in den riesigen Dimensionen der Verbannung, der politischen und der von Bauern. Die „Entkulakisierten“ wurden aus den südlichen, fruchtbaren Gegenden der Region Altai und den Gebieten Nowosibirsk, Omsk und Kemerowo nach Norden verfrachtet, etwa nach Narym, weit abseits der Eisenbahn. Es gab also hier die Verbannung, bei der Bauern [aus anderen Landesteilen – dek] „importiert“ wurden, und dann noch eine innersibirische.

    Auch die jüngere Vergangenheit einer Region spielte eine Rolle, nämlich, wie aktiv die antisowjetischen Aufständischen dort während des Bürgerkrieges waren. Immerhin war Sibirien ein Ort riesiger antibolschewistischer Aufstände gewesen, deren Teilnehmer seinerzeit mehrheitlich amnestiert worden waren, die man dann aber aufzuspüren und zu erledigen versuchte – 15 Jahre später.

    Es hatte eine zahlenmäßig starke, wohlhabende Bevölkerung gegeben und schon seit den 1920er Jahren ein riesiges Protestpotential, unter anderem eine ganz beträchtliche Erfahrung mit bewaffnetem Widerstand gegen die Kollektivierung … Für das alles folgte 1937 die Abrechnung.

    In Belarus waren die Repressionen sehr brutal, in der Ukraine waren sie äußerst brutal, [die Zahlen – dek] doppelt so hoch wie sonst im Land. In Sibirien waren sie viermal so hoch.

    Wie markant waren die Veränderungen, die der Antritt Berijas mit sich brachte? Er hat ja unter anderem angeordnet, dass die Todesurteile, die von den Troikas verhängt, aber noch nicht vollstreckt worden waren, nicht mehr vollstreckt werden sollten.

    Ja. Allerdings wurde dieser Befehl in vielen Regionen ignoriert, die Hinrichtungen gingen weiter; dabei wurden sie formal zurückdatiert. Mal waren es 300, mal 200, und auf der Krim sogar 800 … Doch wurden die Tschekisten, die ertappt wurden, verhaftet – und mitunter erschossen.

    Daher verwende ich mit meinem Kollegen Andrej Sawin und dem deutschen Historiker Mark Junge den Begriff „Disziplinierung der Tschekisten“, wenn wir die Ziele von Berijas Politik beschreiben. Den Tschekisten sollte klargemacht werden, dass sie zwar die bewaffnete Avantgarde der Partei sind, aber nicht über der Partei stehen, sondern lediglich deren Anweisungen auszuführen haben; und das wurde eben auch mit Hilfe von Säuberungen bewerkstelligt.

    Die Verhaftungen gingen unter Berija zwar stark zurück, doch wer verhaftet wurde, wurde weiterhin geschlagen; es wurde weiterhin gefoltert. 

    Also sollte man aus Lawrenti Pawlowitsch Berija keinen großen Demokraten und Bürgerrechtler machen?

    Natürlich nicht! Er war ein Pragmatiker und hat die Aufgabe, die er erhielt, präzise umgesetzt, nämlich die Tschekisten zur Räson zu bringen. Schließlich – und das ist wichtig – war das nicht der erste Versuch dieser Art: 1921 hatte eine große Säuberung in der Partei begonnen, von der innerhalb weniger Monate ein Drittel der KP-Mitglieder betroffen war, und am schärfsten traf es wiederum die Silowiki, insbesondere die Tschekisten.

    Bis 1924 waren die Tschekisten heftig zusammengestrichen worden; etliche wurden aus der Partei ausgeschlossen, viele wurden verhaftet, den übrigen wurden die Vollmachten drastisch beschnitten.

    1939/40 wurden dann erneut massenweise Tschekisten entlassen, aus der Partei ausgeschlossen, wurden ins zweite Glied versetzt, zu den Lagerwachen, auf Streife oder in Personalabteilungen großer Unternehmen geschickt.

    Und wie ernsthaft geriet diese Erneuerung der Organe? Uns wird ständig eine Zahl genannt: 20.000 Tschekisten seien während des Großen Terrors repressiert worden. Es wird sogar versucht, diese Opfer der Repressionen zu heroisieren.

    Nun, zunächst mal ist die Zahl von 20.000 „betroffenen“ Tschekisten eine Desinformation der einstigen KGB-Führer Viktor Tschebrikow und Filipp Bobkow, die diese Zahl als erste in den öffentlichen Raum gestellt haben. In Wirklichkeit ist sie um Etliches übertrieben. Wie auch viele andere Fakten, die das Bild der Tschekisten der Stalinzeit veredeln sollen …

    Vieles wird übertrieben, um das Bild der Tschekisten in der Stalinzeit zu veredeln

    Insgesamt waren die Säuberungen des NKWD unter Berija nicht genereller, sondern selektiver Natur. In Omsk gingen 1939 gegen 102 Tschekisten Beschwerden wegen Misshandlung ein, eingereicht von freigelassenen Parteimitgliedern. Von diesen Tschekisten wurden bis zum Januar 1940 relativ wenige bestraft: 12 wurden verhaftet und 16 aus dem NKWD entlassen. Die Übrigen erhielten entweder einen Verweis für eine Ordnungswidrigkeit oder blieben unbehelligt, wegen „Geringfügigkeit des Vergehens“.

    Nachdem ich Ihre Bücher gelesen habe, hat mich die Frage umgetrieben, wie es Ihnen wohl gelungen sein mag, Einsicht in all diese Unterlagen zu erhalten?

    Ich habe mit vielen Ermittlungsunterlagen der Tschekisten gearbeitet, die unter Verschluss waren, dann freigegeben wurden und Personen aus Nowosibirsk und Barnaul betrafen, die heute rehabilitiert sind. Alles andere waren Parteiunterlagen und Dokumente aus Archiven der Sowjetzeit, in denen Berichte der Tschekisten ja unweigerlich ihre Spuren hinterlassen haben. Die Personalakten der Tschekisten liegen seelenruhig in den Parteiarchiven. Mitunter kann man ihnen fast so viel Informationen entnehmen wie den Geheimdienstakten … Damit habe ich Mitte der 1990er Jahre begonnen, als sie geöffnet wurden.

    Die Personalakten der Tschekisten liegen seelenruhig in den Parteiarchiven

    In Sibirien habe ich lange auf eine Gelegenheit gewartet, mit den Beständen der Staatssicherheit arbeiten zu können. Und die ergab sich dann per Zufall: 2002 begann die Arbeit an einem Gedenkbuch, und ich wurde Mitglied der Arbeitsgruppe. Aus der wurde ich erst nach anderthalb Jahren rausgeworfen. Weil die Direktorin des Gebietsarchivs, eine durchaus reaktionäre Dame, dem FSB gesteckt hatte: „Der da“ sammele wohl eine Kartei über „eure Mitarbeiter“! Und ich wurde ohne jede Erklärung … Aber einiges hatte ich bereits geschafft. Üblicherweise sind Fotokopien nicht gestattet, ich hatte mir aber ‘nen Stift mitgenommen …

    Und dann ist da natürlich noch die Ukraine, wo ich 2013 und 2015 jeweils zwei Wochen lang arbeiten konnte, und zwar mit Fotoapparat und in einer Gruppe, so dass wir uns über die Funde austauschen konnten. Das ist etwas ganz anderes. Die Staatssicherheit, das ist eine vertikal organisierte Behörde, da waren alle Vorschriften zu finden, alle Befehle, alle Rundschreiben; ob nun in Nowosibirsk oder in Kiew – überall das Gleiche.

    Außerdem wurden mir in Kiew Unterlagen von Ermittlungsverfahren gezeigt, die nicht gegen einfache Handlanger liefen, sondern gegen die an der Spitze. So veröffentlichen wir einige Dutzend Befehle von Berija an den NKWD zur Bestrafung von Tschekisten. Bei uns sind die Befehle noch immer geheim, die Ukrainer haben sie aber freigegeben, und wir legen sie vor. Übrigens sind dort etliche Dokumente nicht nur aus Moskau enthalten, sondern sogar welche aus Sibirien, die seinerzeit im ganzen Land verschickt wurden. Somit ist also gewissermaßen auch aus den Moskauer Archiven etwas herausgesickert.

    Mein Lieblingsbild hierzu ist ein Wasserhahn: So gut er auch sein mag, er wird trotzdem zu tropfen beginnen, wenn die Dichtung hinüber ist.

    Gerade erst ist in Moskau die Mauer des Gedenkens in Kommunarka mit den Namen der über 6000 Opfer des Terrors eingeweiht worden, die dort begraben liegen. Es sind unter diesen Namen auch die von repressierten Tschekisten zu finden, auch von solchen, die eindeutig Henker waren und die nicht rehabilitiert wurden. Es entstand eine leise, aber erbitterte Diskussion: Wie lassen sich die unschuldigen Opfer von jenen unterscheiden, die unmöglich als unschuldig zu bezeichnen sind? Macht der Tod sie alle gleich? Jeschow und Eiche, Jakir und Wawilow, Bucharin und Jagoda? Was soll man mit denen allen machen?

    Der Tod ist ein großer Gleichmacher. Und da sie nun alle dort liegen … Es muss da ein rein rechtlicher Ansatz verfolgt werden, der erklärbar, klar verständlich und allgemeingültig ist. Zu allem Übrigen müssen sich dann die Historiker und die Öffentlichkeit äußern.

    Ob uns das gefällt oder nicht – ohne sie alle wäre unser Volk unvollständig. Soll man sie posthum mit Vergessen bestrafen? Ich weiß nicht … Die Gesellschaft muss entscheiden, vor allem jedoch muss sie möglichst vollständige Informationen erhalten.

    Und dafür müssen vor allem die Archive tatsächlich geöffnet werden.

    Bei uns ist man zu sehr mit dem Problem beschäftigt, wie man es schafft, die Enkel und Urenkel der Henker und Spitzel nicht zu sehr zu beschämen. Jene, die angeblich leiden würden, wenn über ihre Verwandten die Wahrheit gesagt wird. Mit Recht und gesundem Menschenverstand hat diese Haltung nichts zu tun. Als Memorial Ende 2016 seine Datenbank mit über 40.000 Offizieren des NKWD vorlegte, blieb der Versuch der Angehörigen, sie zu blockieren, gleichwohl erfolglos. Dabei ist diese Datenbank ja von ungeheurer Bedeutung, was ich unbedingt betonen möchte. Selbst wenn dort nur Vorname, Vatersname, Nachname, Geburtsdatum, Jahr der Beförderung und der Entlassung aus dem Dienst aufgeführt werden. Allein das ist schon ein riesiger Durchbruch.

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Entstalinisierung unter Chruschtschow

    Entstalinisierung unter Chruschtschow

    Als die Kommunistische Partei im Februar 1956 im Kreml in Moskau zusammenkam, war dies der erste Parteitag nach Stalins Tod knapp drei Jahre zuvor. Das Plenum des XX. Parteitags lauschte den Rechenschaftsberichten und anderen wegweisenden Beiträgen der Parteiführung, wählte Gremien und verabschiedete Beschlüsse. Ein letzter Vortrag des Generalsekretärs der Partei, Nikita Chruschtschow, stand am 25. Februar auf der Tagesordnung. In einer nicht-öffentlichen Sitzung vor 1436 Mitgliedern der Partei sowie einigen Hundert internationalen Gästen kommunistischer Parteien anderer Länder sprach er über Stalins Verbrechen und seinen Personenkult. In der Rede thematisierte er die Parteisäuberungen, Stalins massive Fehler als oberster Kriegsherr und dessen despotische Art zu regieren. Diese Geheimrede ist ein zentraler Baustein der Sowjetepoche, die als Beginn der Entstalinisierung gilt und als Tauwetter in die Geschichte einging.

    Als Chruschtschow seine Rede beendet hatte, soll tosender Applaus aufgebrandet sein. So steht es zumindest in den 1989 veröffentlichten Stenogrammen des Parteitags.1 Zeitgenossen wie Wladimir Semitschastni hingegen berichteten von einer tödlichen Stille, die anschließend geherrscht haben soll.2 So oder so hatte die Rede einschlagende Wirkung, auch als Chruschtschow wenige Tage später eine parteiinterne Veröffentlichung befahl. Jedes der über zehn Millionen Parteimitglieder wurde somit zu einem potenziellen Multiplikator der Kritik an Stalin; die Rede oder zumindest ihr Inhalt war de facto öffentlich.3

    Erzählungen aus dem Lager

    Die ersten Anzeichen einer Entstalinisierung zeigten sich jedoch bereits unmittelbar nach Stalins Tod. Wenige Tage nach dem 5. März 1953 erließ Lawrenti Berija, Chef der sowjetischen Geheimpolizei, die erste Amnestie für inhaftierte Parteimitglieder. In den folgenden Monaten kam wohl mehr als die Hälfte aller Gulag-Häftlinge frei. Über eine Reintegration in die sowjetische Gesellschaft hatte sich jedoch keiner Gedanken gemacht, sodass vielerorts ein Anstieg von Diebstählen, Vergewaltigungen und Morden zu verzeichnen war.4
     
    Die entlassenen Häftlinge aber brachten vor allem die Erzählungen aus den Lagern mit – haarsträubende Erlebnisse, über die zwar nicht offen geredet wurde und die nicht gern gehört wurden. Doch die Gerüchte reichten aus, damit Chruschtschow einen Vorstoß zur Aufklärung der Verbrechen wagte. Er beauftragte den ehemaligen Prawda-Chefredakteur und ZK-Sekretär Pjotr Pospelow mit der Gründung einer neuen Kommission. Diese sollte untersuchen, welches Ausmaß die Parteisäuberungen in den 1930er Jahren hatten. Seine Erkenntnisse nahm Chruschtschow als Grundlage für seine Geheimrede.

    Rückkehr zum „Leninistischen Prinzip“

    Diese zeigte bald Wirkung. Im ganzen Land diskutierten die Menschen über die Schlüsse, die sie aus der Rede ziehen sollten. Chruschtschow forderte eine Abkehr vom Personenkult Stalins, gleichzeitig setzte er Lenin als Gründungsvater der sozialistischen Revolution erneut gekonnt in Szene. Die Partei sollte nach Leninistischer Tradition wiederauferstehen und von Stalins Untaten unbeschädigt bleiben. Doch wie war das umzusetzen?
     
    Sechs Wochen später kamen die Parteisekretäre der Unionsrepubliken zusammen und besprachen die Fragen, die ihnen auf Parteiversammlungen gestellt wurden. Was bedeutete das „Leninistische Prinzip“, wenn doch Stalin die längste Zeit die Partei und ihre Geschichte zwischen 1927 und 1953 bestimmt hatte? Warum blieben überall die Stalinbüsten und -portraits hängen? Musste Stalingrad nun umbenannt werden? Warum druckte die Prawda nicht genaue Anleitungen, wie nun der Personenkult zu überwinden sei? Und wo machte die Überwindung des Personenkults halt, oder galt sie auch für den eigenen herrischen Fabrikdirektor?5
     
    Es blieb nicht bei Fragen: Aufgebrachte ArbeiterInnen jagten tatsächlich vereinzelt Fabrikdirektoren auf die Straße, und in etlichen Städten stürzten wütende Menschen Büsten und setzten Portraits in Brand. Dem konnte die Partei nicht tatenlos zusehen und ließ solchen Protest gegen den Personenkult als Chuliganstwo (dt. „Rowdytum“) verfolgen und verurteilen.6 
    Doch weit höher schlugen die Wellen in den sozialistischen Bruderländern. Im polnischen Poznan begannen im Juni 1956 ArbeiterInnen für einen politischen Kurswechsel und gegen die Mangelversorgung zu streiken. Die polnische Armee schlug die Proteste blutig nieder, 57 Menschen starben, etwa 600 wurden verletzt. Dramatischer wurde die Situation in Ungarn. Der dortige Aufstand gegen die kommunistische Partei wurde im Herbst des Jahres von sowjetischen Truppen niedergeschlagen. 2500 Menschen starben, 350 Personen wurden später als Rädelsführer hingerichtet. In der DDR fand nichts dergleichen statt – hier waren die Erfahrungen des niedergeschlagenen Aufstands vom 17. Juni 1953 noch zu frisch.7

    Reformen und Begleiterscheinungen

    So unbedarft die Parteiführung den Reaktionen auf die Enthüllungen der Geheimrede entgegensah, so schnell schien sie die Deutungshoheit nach wenigen Wochen wiedergewonnen zu haben. Zugute kam Chruschtschow dabei grundsätzlich das Ende der spätstalinistischen Agonie. Stillschweigend verschwanden die Schriften Stalins aus den Bibliotheken und seine Zitate aus den Zeitungen und der Fachliteratur. Die sogenannte Tauwetter-Phase erlaubte eine deutliche Liberalisierung des Kulturbereichs. Dabei war jedoch klar: Konstruktive Kritik am Personenkult war akzeptiert und gewollt, doch durfte sich daran keine generelle Kritik am sozialistischen Projekt entwickeln.
     
    Gleichzeitig verfolgte Chruschtschow seit Stalins Tod eine Vielzahl von Reformprojekten, die allerdings wenig durchdacht waren. Die Wohnungsnot wollte er über eine radikale Wende im Bauprogramm bekämpfen, was zunächst zu ersten Erfolgen führte. Doch die neue massenweise Produktion billiger, vorgefertigter Bauteile war von miserabler Qualität. Einerseits konnte die Eroberung des Weltraums gefeiert und der ideologische Erzfeind USA damals noch deutlich auf den 2. Platz verwiesen werden. Doch versprochene Lohnerhöhungen blieben aus und gegen Ende der 1950er Jahre verschärfte sich der Versorgungsmangel. Andere Reformen sollten die innerparteiliche Demokratie stärken, doch nach anfänglicher Begeisterung über neue Partizipationsmöglichkeiten stellte sich alsbald Verdruss über konkurrierende Kompetenzbereiche und festgefahrene bürokratische Strukturen ein.

    Das Ende des Staates

    Zu guter Letzt wurden in einer Nacht-und-Nebel-Aktion während des XXII. Parteitags 1961 der Leichnam Stalins aus dem Mausoleum entfernt. Die Straßen und Plätze, die seinen Namen trugen, wurden umbenannt. Auf diesem Parteitag versprach Chruschtschow auch, dass der Kommunismus zum Greifen nah sei – binnen einer Generation werde er erreicht. In dem dort beschlossenen, neu formulierten Parteiprogramm malte er aus, welche Planzahlen die sowjetische Wirtschaft in Zukunft erfüllen würde. Die Ideen von Marx und Lenin versuchten das Programm zu konkretisieren: Am Ende des Kommunismus stehe schließlich die Abschaffung des Staates selbst; der Partei käme nur noch verwaltende Funktion zu. Ein erster Schritt sollte das Rotationsprinzip sein, in dessen Rhythmus jeder Parteiposten alle paar Jahre wechseln sollte.8
     
    Damit griff Chruschtschow zwar einen kommunistischen Kerngedanken auf, aber vor allem zielte er auf die Pfründe der Nomenklatura (wobei er sich selbst dabei natürlich vornehm herausnahm).9 Diese konnte das nicht akzeptieren und reagierte. Mit Verweis auf Chruschtschows chaotischen Führungsstil, die Unzufriedenheit in der Bevölkerung und nicht zuletzt die außenpolitische Beinahe-Katastrophe der Kuba-Krise setzte das Zentralkomitee ihn im November 1964 als Generalsekretär ab.
     
    Doch wo 25 Jahre zuvor nachts der NKWD unliebsam Gewordene abholte, folterte, ins Lager sperrte oder erschoss, geschah nun – nichts. Das ZK-Plenum teilte Chruschtschow die Entscheidung am 14. Oktober 1964 mit und schickte ihn in Pension auf seine Datscha: „Breshnew legte ihm die Höhe der Pensionsansprüche, die Wohnung, Datscha, Krankenversorgung, den Kantinenzugang und Autotyp fest und bat ihn, sich nicht mehr in Moskau blicken zu lassen.“10 Am Ende gelang es Chruschtschow sogar, heimlich seine Memoiren auf Tonband aufzunehmen und von der Partei unbemerkt in den Westen zu schmuggeln. War das also nun Entstalinisierung, dass die in Ungnade Gefallenen nicht erschossen wurden?11

    Entstalinisierung oder Goldene Stagnation?

    Auf Chruschtschows Absetzung folgte sein früherer Schützling Leonid Breshnew. Dem Netzwerker gelang binnen zwei Jahren eine Restauration der Macht- und Parteienstruktur in der Sowjetunion. Er benannte den Posten des Ersten ZK-Sekretärs zurück in Generalsekretär und vereinte diesen mit dem des Regierungschefs.
     
    Breshnews Ära gilt den einen als die der Stagnation, anderen als das sogenannte goldene Zeitalter der sowjetischen Geschichte. Die Versorgung der Bevölkerung stabilisierte sich auf niedrigem Niveau, doch die liberalen Lockerungen der vorangegangenen Jahre wurden wieder eingeschränkt. Zwanzig Jahre nach Kriegsende rückte auch die Erinnerung an den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg wieder in den Fokus der Öffentlichkeit. Stalins Rolle (Stichwort: Generalissimus) wurde dabei sukzessive wieder positiv umgedeutet. Machtpolitisch war es ein autoritäres Patronagesystem,12 das vor allem von westlichen Beobachtern mitunter als Neostalinismus gelabelt wurde. Doch das Günstlingsnetzwerk innerhalb der Führungselite deutet weniger auf eine Restauration des Stalinismus unter Breshnew hin, sondern „bloß“ auf ein autoritäres Regime, das sich mit Ritualen und Inszenierungen seiner selbst stetig vergewisserte und dabei den Kontakt zur Gesellschaft vollends verlor. Von einer Rückkehr des stalinistischen Terrors blieb sie verschont.

    Auch wenn die Sowjetunion Zeit ihres Bestehens eine Diktatur blieb, so änderte sie nach Stalins Tod deutlich ihr Antlitz. Auch nach 1953 blieb die Repression ein wichtiges Instrument der Systemstabilisierung, doch der omnipräsente Terror und die Millionen Toten sollten der Vergangenheit angehören. Auch wenn die Chruschtschow-Zeit als Entstalinisierung gilt, fand eine tiefergehende Auseinandersetzung mit den stalinistischen Verbrechen nicht statt und hat es seitdem nicht nennenswert in das kollektive Gedächtnis geschafft.


    1. O kul’te ličnosti i ego posledstviach: Doklad XX s“ezdu KPSS, in: Izvestija CK KPSS (3/1989), S. 132-158. Die 1956 im Anschluss veröffentlichten Stenogramme enthielten lediglich den Titel des Vortrags: XX s“ezd kommunističeskoj partii Sovetskogo Sojuza, 14-25 fevralja 1956 goda: Stenografičeskij otčet, Tom II, Moskva 1956, S. 498 ↩︎
    2. Taubman, William (2005): Khrushchev: The Man and His Era, London, S. 273 ↩︎
    3. dazu auch: Aksjutin, Jurij (1990): Nikita Chruschtschow: „Wir müssen über den Personenkult die Wahrheit sagen“, in: Nikita Sergejewitsch Chruschtschow: Skizzen zur Biografie, Berlin, S. 40-52 ↩︎
    4. Dobson, Miriam (2006): „Show the Bandit-Enemies no Mercy!“: Amnesty, Criminality and Public Response in 1953, in: Jones, Polly (Hrsg.): The Dilemmas of De-Stalinization: Negotiating Cultural and Social Change in the Khrushchev Era, New York, S. 21-40 ↩︎
    5. Jones, Polly (2006): From the Secret Speech to the Burial of Stalin: Real and Ideal Responses to De-Stalinization, in: dies. (Hrsg.): The Dilemmas of De-Stalinization: Negotiating Cultural and Social Change in the Khrushchev Era, New York, S. 41-63 ↩︎
    6. ebd. ↩︎
    7. vgl. 1956 and Its Legacy, in: Europe-Asia Studies 58, 8/2006 ↩︎
    8. Programa kommunističeskoj partii Sovetskogo Sojuza: Prinjata XXII s“ezdom KPSS 31 oktjabrja 1961 goda: Na nemeckom jazyke, Moskva, 1961 ↩︎
    9. Merl, Stephan (2012): Politische Kommunikation in der Diktatur: Deutschland und die Sowjetunion im Vergleich, Göttingen, S. 118-119 ↩︎
    10. Schattenberg, Susanne/Lehmann, Maike (2014): Stabilität und Stagnation unter Breschnew, in: Bundeszentrale für politische Bildung: Sowjetunion II: 1953-1991 ↩︎
    11. Baberowski, Jörg (2012): Wege aus der Gewalt: Nikita Chruschtschow und die Entstalinisierung 1953-1964, in: Bielefeld, Ulrich/Bude, Heinz /Greiner, Bernd (Hrsg.): Gesellschaft – Gewalt – Vertrauen: Jan Philipp Reemtsma zum 60. Geburtstag, Hamburg, S. 401-437 ↩︎
    12. Oberender, Andreas (2008): Die Partei der Patrone und Klienten: Formen personaler Herrschaft unter Leonid Brežnev, in: Annette Schuhmann (Hrsg.): Vernetzte Improvisation: Gesellschaftliche Subsysteme in Ostmitteleuropa und in der DDR, Köln/Weimar/Wien, S. 57-76 ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Hungersnot in der Sowjetunion 1932/33

    Hungersnot in der Sowjetunion 1932/33

    „Als meine ganze Familie [aufgrund von Hungerödemen] begann anzuschwellen, brachte ich meine Tante und ihre zwei Kinder zu meinem Vater. Während des gesamten Weges sah ich Menschen, die sich die Straße zum Getreidespeicher entlangschleppten. Dabei lasen sie aus dem Staub Körner auf, die nur sie selbst erkennen konnten. Einige unter ihnen brachen zusammen und starben auf der Stelle. Sie wurden auf die Seite geschafft und niemand beachtete sie mehr. Ist es ein Wunder, dass meine Haare begannen zu ergrauen, als ich vierzehn Jahre alt war?“, so erinnert sich der Ukrainer Iwan Alexijenko an das Jahr 1933, als die Hungersnot in der Sowjetunion ihren Höhepunkt erreichte. 

    1932/33 kam es überall im Land zu Versorgungsengpässen, doch in der Ukraine, in Kasachstan, dem Wolgagebiet, dem Nordkaukasus und anderen Regionen der Sowjetunion herrschte eine dramatische Hungerkatastrophe, der insgesamt zwischen fünf und sieben Millionen Menschen zum Opfer fielen.1 Die meisten Menschen starben in der Ukraine, wo rund 3,3 Millionen Tote zu beklagen waren. In der Ukraine ist der Holodomor heute integraler Bestandteil der nationalen Erinnerungskultur und gilt als Genozid. Diese Klassifizierung ist jedoch umstritten.

    Vielfach brachen Gemeinschaften angesichts der verheerenden Bedingungen auseinander / Foto © Zentrales Staatsarchiv der Republik Kasachstan für Film- und Fotodokumente sowie Tonaufnahmen
    Vielfach brachen Gemeinschaften angesichts der verheerenden Bedingungen auseinander / Foto © Zentrales Staatsarchiv der Republik Kasachstan für Film- und Fotodokumente sowie Tonaufnahmen

    Die Hungersnot der Jahre 1932/33 war eine direkte Folge der stalinschen „Revolution von oben“.  Mit der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, der Verfolgung der sogenannten Kulaken und immer höheren Ablieferungsquoten auf Getreide und Fleisch hatten die Bolschewiki die sowjetische Landbevölkerung seit 1928 permanent unter Druck gesetzt. 

    Der Weg in den Hunger 

    Die meisten Bauern fügten sich in ihr Schicksal und versuchten in den Kolchosen die ihnen auferlegten Pläne zu erfüllen. Wer ins Kreuzfeuer der Dekulakisierungskampagne geriet, wurde stigmatisiert, verbannt, verhaftet oder gar erschossen. Vielerorts erhoben sich Bauern und setzten sich gegen die Zumutungen des Staates zur Wehr. In diesen Auseinandersetzungen um die Zukunft des sowjetischen Dorfes setzten sich die Bolschewiki schließlich durch, weil sie mit einer Mischung aus rücksichtsloser Gewalt und Anreizen für ihre Anhänger operierten.2

    Die gute Ernte des Jahres 1930 schien den Befürwortern eines radikalen Kollektivierungskurses recht zu geben. Doch diese Erfolge kamen nicht wegen, sondern trotz des Umbaus der sowjetischen Landwirtschaft zustande. Bereits ein Jahr später zeichneten sich in einigen Regionen ernsthafte Versorgungsengpässe ab. Die Planer in Moskau focht das nicht an: Sie legten für 1932 noch höhere Ablieferungspläne für Kolchosen und die verbliebenen Einzelbauern fest. Ein erheblicher Teil der Ernte sollte nicht der Versorgung der eigenen Bevölkerung dienen, sondern ins Ausland exportiert werden, um das ehrgeizige sowjetische Industrialisierungsprogramm zu finanzieren. 

    Als im Verlaufe des Jahres 1932 deutlich wurde, dass die Ernte dramatisch hinter den Erwartungen zurückbleiben würde, nahm das Verhängnis seinen Lauf. Die Verantwortlichen in den Republiken und Regionen taten alles in ihrer Macht Stehende, die exorbitanten Vorgaben zu erfüllen. Dabei schreckten die Beschaffungskommandos oftmals auch nicht davor zurück, Futtergetreide für das Vieh und Saatgut zu beschlagnahmen. Damit aber verurteilten sie die Menschen faktisch zum Hungertod.3

    Hunger als Instrument der Herrschaftsdurchsetzung 

    Alle Versuche, die Planziele zu erreichen erwiesen sich als nutzlos. Auch deshalb zeigten sich die führenden Bolschewiki davon überzeugt, dass die Landbevölkerung bewusst „Sabotage“ betrieb und begriffen den Hunger als eine Form des Widerstands. Stalin selbst erklärte, manche Bauern würden lieber hungern, als ihre Ernte abzuliefern.3 Diese Wahrnehmung trug entscheidend dazu bei, dass die Hungerkrise zur Katastrophe wurde, denn die Lösung konnte unter diesen Umständen nicht in Hilfslieferungen, sondern nur in noch stärkerem Druck liegen. 

    Vor allem in der Ukraine, aber auch in anderen Regionen agierten die sowjetischen Funktionäre jetzt mit offenem Terror. Ganze Regionen wurden von der Außenwelt abgeriegelt, Familien und ganze Dörfer unter Arrest gestellt und den Menschen das letzte Getreide genommen.5 Dort, wo Getreide in betroffene Gebiete geschickt wurde, erwiesen sich die Lieferungen oft als unzureichend, und sie kamen außerdem oft nicht den bedürftigsten, sondern den leistungsfähigsten und loyalsten Personen zugute. Individuelles Überleben war vielfach an die Akzeptanz des sowjetischen Herrschaftsanspruchs gebunden. Auch wenn die Hungersnot nicht bewusst geplant und intendiert war, instrumentalisierten die führenden Bolschewiki um Stalin die Katastrophe für ihre Interessen: Sie erwies sich als mächtiges Instrument zur Herrschaftsdurchsetzung und Disziplinierung der Bevölkerung. 

    Die gesellschaftlichen Konsequenzen des Hungers 

    Die Hungersnot beeinflusste alle Bereiche menschlicher Existenz. Der dauerhafte Nahrungsmangel wirkte sich nicht nur gravierend auf die Körper der Hungernden aus, sondern auch auf soziale Zusammenhänge. Vielfach brachen Gemeinschaften angesichts der verheerenden Bedingungen auseinander. Hatten die meisten Bauern zu Beginn der Hungerkrise noch Anteilnahme gezeigt und Betroffenen geholfen, änderte sich dies, als immer größere Gruppen Mangel litten. Viele Menschen verloren das Vertrauen zueinander, Diebstahl und Morde waren an der Tagesordnung. Manchmal fiel auch das letzte Tabu, und es kam zu Fällen von Kannibalismus. Die Gesellschaft zerfiel.

    Die Gewalt nahm endemische Ausmaße an. In einem – wohl irrtümlich veröffentlichten – Leserbrief in einer Zeitung der kasachischen Stadt Akmolinsk hieß es etwa über die kasachischen Hungerflüchtlinge, die man als Otkotschewniki bezeichnete: „Der Rote Markt ist eröffnet worden, den man nur deshalb rot nennen kann, weil dort täglich rotes Blut fließt. In Gruppen oder allein reißen die Otkotschewniki den Händlern und Käufern die Lebensmittel aus den Händen und natürlich schlagen die Bestohlenen sie dafür bis aufs Blut, bis zur Bewusstlosigkeit, und manchmal schlagen sie sie tot.“

    Ganze Regionen wurden von der Außenwelt abgeriegelt, Familien und ganze Dörfer unter Arrest gestellt / Foto © Foto © Zentrales Staatsarchiv der Republik Kasachstan für Film- und Fotodokumente sowie Tonaufnahmen
    Ganze Regionen wurden von der Außenwelt abgeriegelt, Familien und ganze Dörfer unter Arrest gestellt / Foto © Foto © Zentrales Staatsarchiv der Republik Kasachstan für Film- und Fotodokumente sowie Tonaufnahmen

    Doch die Jahre des Hungers waren nicht nur eine Zeit des Gesellschaftszerfalls, denn auf sich allein gestellt konnte kaum jemand in dieser Krise bestehen. Viele Menschen taten sich in häufig verwandtschaftlich organisierten Überlebensgemeinschaften zusammen, innerhalb derer Zusammenhalt und gegenseitige Solidarität hoch waren.6

    In den meisten Regionen der Sowjetunion endete die Hungersnot im Herbst 1933; nicht zuletzt auch deshalb, weil die Parteiführung den Druck auf die Kolchosbauern in begrenztem Maße lockerte. Das massenhafte Sterben mochte vorüber sein, doch die demographischen und sozialen Folgen dieser Katastrophe blieben noch lange Zeit spürbar. 

    Genozid-Debatte 

    In der Sowjetunion durfte niemand vom Hunger sprechen. Das verordnete Schweigen endete erst in den späten 1980er Jahren, als im Zuge von Perestroika und Glasnost die „weißen Flecken“ der sowjetischen Geschichte thematisiert (und skandalisiert) wurden. Insbesondere in der Ukraine begannen viele Überlebende des Hungers nun damit, ihre Erlebnisse öffentlich zu artikulieren. 

    Diese Zeitzeugen fanden Gehör, weil die Erinnerung an den Hunger hier trotz aller Tabus stets präsent geblieben war und als Beleg für die antiukrainische Politik der Bolschewiki galt und gilt. Diese These verband sich mit dem vor allem von ukrainischen Emigranten in Nordamerika immer wieder geäußerten Überzeugung, beim Holodomor handele es sich um einen Genozid an der ukrainischen Nation. Im spannungsreichen russisch-ukrainischen Verhältnis seit 1991 wurde die Hungersnot von beiden Seiten immer wieder für tagespolitische Auseinandersetzungen instrumentalisiert. 

    Historiker wurden zu wichtigen Akteuren in diesen Debatten. Dabei besteht weitgehend Konsens darüber, dass die bolschewistische Führung um Stalin für die Hungersnot verantwortlich war. Der Konflikt entzündet sich jedoch an der Frage, ob sich im Handeln der sowjetischen Führer eine konkrete Vernichtungsabsicht erkennen lässt. Während dies für ukrainische Historiker unzweifelhaft feststeht,7 argumentieren viele ihrer russischen Kollegen, dass es sich bei der Hungersnot der Jahre 1932/33 um ein gesamtsowjetisches Phänomen handelte, von dem nicht allein die Ukraine betroffen war.  Auch unter „westlichen“ HistorikerInnen ist die Genozidfrage durchaus umstritten.8 

    Große Unterschiede lassen sich hinsichtlich der Bedeutung des Hungers in den nationalen Historiographien ausmachen: Während der Holodomor eines der zentralen Themen der ukrainischen Geschichtswissenschaft nach 1991 wurde (und bis heute ist), spielt die Hungersnot in Russlands Geschichtswissenschaft eine eher untergeordnete Rolle.9  

    In vielen aktuellen Arbeiten zum Hunger in der Sowjetunion steht die Genozid-Debatte nicht im Zentrum: Hier geht es etwa um die Rolle und Verantwortung von Funktionären auf der mittleren Ebene, lokale Dynamiken des Hungers oder um die gesellschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Hungersnöte.10Auch die Diskussion um die Opferzahlen dauert an.

    Erinnerungsdiskurse

    Die historiographische Auseinandersetzung mit der Hungersnot lässt sich von ihrer politischen Instrumentalisierung längst nicht mehr trennen. In der Ukraine ist der Holodomor ein zentraler Bestandteil der nationalen Identität, der seit 2006 offiziell als Genozid gilt und dessen Leugnung unter Strafe steht. Die Würdigung der Hungertoten durch ukrainische Politiker enthält meist auch eine antirussische Stoßrichtung, die seitens russischer Politiker entschieden zurückgewiesen wird. Eine spezifische russische Erinnerungskultur für die Opfer der Hungersnot gibt es nicht. 

    In Kasachstan, wo in Relation zur Gesamtbevölkerung die meisten Menschen während der Hungersnot starben, versuchten sowohl Staat als auch Historiker, Konflikte mit Russland über diese Frage zu vermeiden. Rund 1,7 Millionen Kasachen kamen hier ums Leben; etwa ein Drittel der ethnischen Kasachen. Dennoch spielte die Hungersnot in Kasachstan jahrzehntelang kaum eine Rolle, sieht man einmal von einer Phase zu Beginn der 1990er Jahre ab. Zu groß schien der kasachischen Führung das Risiko eines Konflikts mit Russland und zu besorgt war sie angesichts der multiethnischen Bevölkerungszusammensetzung Kasachstans. Erst in den letzten Jahren änderte sich dies und die Hungersnot wurde zum Gegenstand offizieller kasachischer Erinnerungsdiskurse. Die Schuldfrage tritt dabei zugunsten der Betonung menschlichen Leids in den Hintergrund.11

    Die Konflikte und widerstreitenden Positionen in Politik und Geschichtswissenschaft der betroffenen Staaten finden ihre Entsprechung in „westlichen“ Debatten. Mehrere Staaten – allen voran die USA –  haben den Holodomor offiziell als Genozid anerkannt und damit im ukrainisch-russischen Streit eindeutig Partei ergriffen. Unter dem Eindruck des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine hat die Diskussion auch in Deutschland an Dynamik gewonnen. Der Bundestag hat am 30. November 2022 eine Resolution verabschiedet, wonach der Holodomor als „Menschheitsverbrechen“ anerkannt wird, aus heutiger Perspektive liege „eine historisch-politische Einordnung als Völkermord nahe“. Ein Ende der Debatten um den genozidalen Charakter des Holodomor ist indes nicht zu erwarten.


    1. Die Opferzahlen sind umstritten. Es kursieren auch wesentlich höhere Angaben, die teilweise von mehr als zehn Millionen Opfern allein in der Ukraine ausgehen. Die genaue Zahl der Hungertoten wird sich nicht ermitteln lassen, da die Toten vielfach nicht registriert wurden. ↩︎
    2. Zur Kollektivierung der sowjetischen Landwirtschaft und den Konflikten zwischen Staat und Bauern: Fitzpatrick,Sheila (1996): Stalin’s Peasants: Resistance and Survival in the Russian Village after Collectivization, New York; Viola, Lynne (2009): The Unknown Gulag: The Lost World of Stalin’s Special Settlements, New York ↩︎
    3. Der bekannte Dissident Lew Kopelew beteiligte sich als junger Mann an solchen Expeditionen in ukrainische Dörfer und hat in seinen Memoiren darüber berichtet. Kopelew, Lew (1981): Und schuf mir einen Götzen: Lehrjahre eines Kommunisten, München ↩︎
    4. So beschrieb Stalin seine Sicht der Dinge in einem Brief an den sowjetischen Schriftsteller Michail Scholochow, vgl. Werth, Nicolas (2002): Ein Staat gegen sein Volk: Das Schwarzbuch des Kommunismus: Sowjetunion, München, S. 143 ↩︎
    5. ausführlich: Applebaum, Anne (2017): Red Famine: Stalin’s War on Ukraine, New York, S. 186-221 ↩︎
    6. Kindler, Robert (2014): Stalins Nomaden: Herrschaft und Hunger in Kasachstan, Hamburg, S. 239-262 ↩︎
    7. Zentrale Positionen ukrainischer Historiker sind leicht zugänglich in: Sapper, Manfred/Weichsel, Volker (Hrsg.) (2004): Vernichtung durch Hunger: Der Holodomor in der Ukraine und der UdSSR (Osteuropa 12/2004) ↩︎
    8. zusammfassend: Applebaum, Red Famine, S. 320-362 ↩︎
    9. Eine Ausnahme stellen etwa die Arbeiten des wichtigsten russischen Experten zum Thema dar, vgl.: Kondrashin, Viktor (2008): Golod 1932-1933 godov: Tragedija rossijskoj derevni, Moskva ↩︎
    10. vgl. bspw.: Cameron, Sarah (2018): The Hungry Steppe: Famine, Violence, and the Making of Soviet Kazakhstan, Ithaca ↩︎
    11. Kindler, Stalins Nomaden, S. 338-348 ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Bystro #6: Was war der Große Terror?

    Bystro #6: Was war der Große Terror?

    Ein Überblick über den Großen Terror – in 14 Fragen und Antworten von Memorial-Mitarbeiter Sergej Bondarenko auf Meduza. Einfach durchklicken oder durchwischen.

    1. 1. Was genau geschah eigentlich im Jahr 1937?

      Im Sommer 1937 begann eine ganze Serie staatlicher Repressionskampagnen, die heute allgemein als der Große Terror bezeichnet wird. Mit dem Befehl Nr. 00447 des Volkskommissariats des Inneren (NKWD) wurde die „Kulakenoperation“ verkündet, bei der Bauern, Priester, ehemalige Adelige und Menschen verhaftet wurden, die auf die eine oder andere Art einer Verbindung zur Weißen Bewegung oder zu oppositionellen Parteien verdächtig waren. 

      Fast parallel hierzu wurden sogenannte nationale Operationen durchgeführt: Nach vorgefertigten Listen wurden Deutsche, Polen, Letten und viele andere Bürger der UdSSR oder auch Ausländer verhaftet. Und mit der Verhaftung einiger hochrangiger Militärführer begannen auch die Säuberungen in der Armee. 

      Unter der Anschuldigung, Verbindungen zu Volksfeinden zu haben, kamen Tausende ins Lager – das waren die sogenannten Familienmitglieder von Heimatverrätern (russ. TschSIR).

    2. 2. Weshalb kam es so weit? Und warum ausgerechnet 1937?

      Die heftigste Welle des staatlichen Terrors erfolgte zwar Mitte 1937, die Vorbereitungen liefen aber schon in den Jahren davor. Als Ausgangspunkt wird oft der 1. Dezember 1934 genannt, der Tag an dem Sergej Kirow, Chef der Leningrader Parteiorganisation und Sekretär des ZK der KPdSU, ermordet wurde (die Rolle, die Stalin bei diesem Mord spielte, ist bis heute nicht endgültig geklärt). 

      In den Jahren danach stieg nicht nur die Zahl der Verhaftungen, es fanden darüber hinaus in Moskau „offene Gerichtsprozesse“ [Schauprozesse – dek] gegen ehemalige Angehörige der Parteispitze statt, gegen den „rechts-trotzkistischen Block“. Es erfolgte ein großangelegter Kaderwechsel im Bereich der Staatssicherheit (Genrich Jagoda wurde als Volkskommissar [des Inneren] durch Nikolaj Jeschow abgelöst). 
      In der Presse wurde viel darüber geschrieben, dass die Repressionen verschärft werden müssen. Eine neue Welle des staatlichen Terrors wurde vorbereitet: Es wurden Lager errichtet, in die zukünftige „Feinde“ geschickt werden sollten; es wurden spezielle Kommissionen gebildet, die die Strafverfahren gegen diese Menschen bearbeiten sollten. 

    3. 3. Und welche Rolle spielte die außenpolitische Lage?

      Zu der Frage, warum die größten Repressionen ausgerechnet 1937 stattfanden, gibt es vielfältige Erklärungen. Neben der inneren Logik der Ereignisse selbst – Jeschow wurde bereits im September 1936 Leiter des NKWD und bereitete dann fast ein Jahr lang sein Ministerium auf die Massensäuberungen vor – wird zu Recht oft auf die große Rolle der außenpolitischen Lage verwiesen, auf den Verlauf des Krieges in Spanien, wo die Kommunisten durch Frankos Armee eine Niederlage erlitten, auf das Erstarken des nationalsozialistischen Deutschland und auf das von allen gespürte Näherrücken eines neuen großen Weltkrieges

      Vor diesem Hintergrund verstärkten sich in der UdSSR Spionomanie, die Suche nach inneren Feinden – bei denen eben jene sogenannten Ehemaligen (vermeintliche „Kulaken“, Priester, Esery [Sozialrevolutionäre] …) ganz oben auf der Liste standen – wie auch deren Umgebung, ihre Familien, Freunde und Arbeitskollegen.

      Ein weiterer, nicht minder wichtiger Grund ist das Verwaltungssystem selbst, das in der UdSSR in den 20 Jahren seit der Revolution entstanden war. Da die bürgerlichen und politischen Rechte in keinster Weise gewährleistet waren, es keine wirklichen Wahlen der staatlichen Organe und keine Meinungsfreiheit gab, blieb der Terror wichtigstes Mittel für sozialen Wandel. Gewalt wurde zur Gewohnheit. 

    4. 4. Wie reagierte die Gesellschaft auf diese Gewalt?

      Die Repressionen sorgten zwar für Schrecken, wurden aber als etwas Unabdingbares, als Teil des Alltags aufgefasst. In dieser Hinsicht ragen die Ereignisse von 1937 allein durch ihre Dimension und Intensität heraus, schließlich hatte es ja bereits den Roten Terror und die Kollektivierung/Entkulakisierung gegeben sowie in der ersten Hälfte der 1930er Jahre den im Zuge der Industrialisierung organisierten Hunger in der Ukraine, in Kasachstan und im Wolgagebiet. Der Große Terror ist in dieser Hinsicht lediglich eine weitere Episode in einer Reihe der bisherigen Ereignisse.

    5. 5. Wie viele Opfer gab es?

      In der heißen Phase des Großen Terrors, von August 1937 bis November 1938 (als Jeschow abgesetzt wurde), sind über 1.700.000 Menschen aufgrund politischer Anklagen verhaftet worden. Von ihnen wurden über 700.000 Personen erschossen. Und das ist nur das Minimum der statistischen Opferzahl-Schätzung, da zur gleichen Zeit weiterhin Menschen verschickt und „auf administrativem Wege“ deportiert wurden (mindestens 200.000 Personen); Hunderttausende wurden als „sozial schädliche Elemente“ verurteilt. 

      Viele Paragraphen des Strafgesetzbuches jener Zeit (beispielsweise, wenn jemand sich zur Arbeit verspätete oder blau machte), konnten in ihrer Ausrichtung auch als politische Paragraphen eingesetzt werden. Somit ließe sich die Opferstatistik der Vorkriegszeit um mindestens einige Hunderttausend erweitern.

    6. 6. Warum wird oft gesagt, dass die Dimensionen des Terrors übertrieben dargestellt werden?

      Behauptungen, die Dimensionen des Terrors der Jahre 1937 und 1938 seien „übertrieben“, entspringen in der Regel zwei Vorstellungen: Angezweifelt wird die angeblich „gefälschte“ Statistik – obwohl eine große Zahl der regionalen Verhaftungspläne und Stalinschen Erschießungslisten heute bereits veröffentlicht und in vielen Regionen Nekrologe, Gedenkbücher für die Opfer erschienen sind, die sich auf Archivunterlagen stützen. Daneben – und sogar noch häufiger – wird in Zweifel gezogen, dass es einen „politischen“ Gehalt der Beschuldigungen gegeben hat: Viele meinten, wenn jemand verhaftet wurde, dann wird da auch etwas gewesen sein.

    7. 7. Die wird man ja nicht einfach so verhaftet haben?! Da wird jemand schon schuldig gewesen sein!

      Hauptmerkmal des sowjetischen politischen Terrors der 1930er Jahre war seine grundlegende Irrationalität und Unberechenbarkeit. Hierin unterscheidet er sich beispielsweise vom Terror der Nationalsozialisten, dem er oft vergleichend gegenübergestellt wird. 

      Es stimmt zwar, dass die Zugehörigkeit zu einer der „falschen“ Bevölkerungskategorien für die Betroffenen Gefahr bedeutete, andererseits wurden auch Hausmeister und Lokführer verhaftet, wie auch Hausfrauen, Sportler und Künstler – kurzum: Es konnte jeden treffen. 

      Nur ein ganz kleiner Anteil der Verhafteten war tatsächlich an nicht genehmen Aktivitäten beteiligt (ob nun jede Handlung, die von der Politik der Partei abwich, ein Verbrechen darstellt, ist noch eine ganz andere Frage). Alle Übrigen zählten zur Mehrheit der gewöhnlichen, gesetzestreuen Bürger. 

      Da die Ermittlungen zu den Verfahren mit Hilfe von Folter geführt wurden (mit physischer Gewalt, Drohungen gegen Familienangehörige, Schlafentzug in Form von allnächtlichen Verhören und Schlafverbot am Tage), lag der Anteil der „Geständigen“ bei nahezu hundert Prozent. Die Geständnisse dienten als äußerst wichtiges Argument für eine Schuld der Betroffenen, genauso wie die Aussagen von bereits verhafteten oder erschossenen Bekannten und Kollegen.

    8. 8. Stimmt es, dass die Säuberungen in erster Linie die Parteiführung selbst trafen?

      Von den 1,7 Millionen Opfern politischer Repressionen standen lediglich rund 100.000 auf die eine oder andere Weise in einer Beziehung zur Partei der Bolschewiki. Dabei handelte es sich entweder um Mitglieder des Komsomol oder gewöhnliche Parteimitglieder, oder aber – in geringer Zahl – um leitende Parteikader. 

      Zweifellos bestand eines der Ziele Stalins in der Vernichtung der alten Bolschewiki und Revolutionäre, doch in Wirklichkeit waren viele von ihnen zu diesem Zeitpunkt bereits in zweit- und drittrangige Rollen abgeschoben worden und stellten in der Partei keine wirkliche Opposition dar. 

      Die Vorstellung vom Großen Terror als Terror gegen die Partei ist in der Ära Chruschtschow entstanden, als man bemüht war, die „treuen Gefolgsleute Lenins“ als Hauptopfer der Stalinschen Verbrechen zu deklarieren, während nebenbei die Dimensionen der Repressionen heruntergespielt wurden.

    9. 9. Warum wird Stalin die Schuld an den Repressionen gegeben, wo sich doch die Bürger selbst gegenseitig denunziert haben?

      Ein weiterer, sehr verbreiteter Mythos über die Repressionen sind die „drei Millionen Denunziationen“ (bisweilen werden zwei genannt, manchmal vier). Dass verbreitet schriftlich denunziert wurde, war Teil der allgemeinen politischen Hysterie. Es steht außer Zweifel, dass das bei den Massenverhaftungen eine Rolle gespielt hat, doch sind sehr viel mehr Menschen schlicht und einfach nach Listen verhaftet worden, nach im Voraus abgesegneten Plänen, in denen alle „unzuverlässigen“ Bürger der verschiedenen Ebenen aufgeführt wurden. 

      Zudem sind viele Anzeigen unter riesigem psychischem Druck geschrieben worden: Bereits in der Ermittlungsphase schwärzten die Betroffenen ihre Angehörigen an. Sehr oft standen sie vor der Wahl zwischen der (oft illusorischen) Aussicht zu überleben und dem Zwang, eine Aussage gegen jemand anderen zu unterschreiben. 

      Die Denunziationen sind Teil einer weiteren, sehr wichtigen Frage, nämlich der nach der bürgerlichen Verantwortung der Gesellschaft für den staatlichen Terror. Die Erkenntnis, dass viele an der Ausübung des Terrors beteiligt waren, ist sehr wichtig. Allerdings können die Repressionen auch nicht als reine „Initiative von unten“ betrachtet werden.

    10. 10. Hat Stalin persönlich die Befehle zur Hinrichtung gegeben oder doch nicht?

      Selbstverständlich. Von den 383 Listen, die zur persönlichen Gegenzeichnung durch Mitglieder des Politbüros verfasst wurden – den sogenannten Stalinschen Erschießungslisten – hat Stalin 357 persönlich unterschrieben. Die Gesamtzahl der nach diesem Listenverfahren Verurteilten beträgt rund 44.500. Die ganz überwiegende Mehrheit von ihnen wurde erschossen. 

      Darüber hinaus ist die gesamte Architektur des Terrors höchstpersönlich von Stalin und dessen Umgebung entworfen worden. Umgesetzt wurden die Repressionen unter Stalins unmittelbarer Kontrolle: Ihm wurde über den Stand der Verhaftungskampagnen Bericht erstattet, er ergänzte die Listen um einzelne Personen, und er las die Verhörprotokolle.

    11. 11. Wie war das System der Registrierung der Verhaftungen und Erschießungen aufgebaut?

      Im Unterschied zu vielen der früheren Repressionskampagnen wie denen des Roten Terrors und der Entkulakisierung sind die umfangreichen Operationen des Großen Terrors recht gut dokumentiert. Neben den erwähnten Stalinschen Erschießungslisten sind viele Schlüsseltexte erhalten geblieben, die vor Ort verfasst wurden und in denen gebeten wurde, jene Verhaftungspläne zu präzisieren oder auszuweiten, die aus der Hauptstadt eingegangen waren. 
       
      Die Zahl der Verhaftungen war festgelegt, über die Anzahl der Verhaftungen wurde Bericht erstattet; die Ermittler lieferten sich untereinander einen sozialistischen Wettbewerb über erledigte Verfahren. Und die archivierten Ermittlungsakten der 1937 und 1938 Verhafteten sind mit dem Vermerk „Aufbewahren für alle Zeit“ versehen: Jeder, der es will, kann hingehen und detailliert den Gang der meisten Verfahren gegen die verhafteten (und rehabilitierten) Opfer des Großen Terrors nachlesen.

    12. 12. Kam es denn vor, dass sich bei jemandem, der verhaftet wurde, dann herausstellte, dass man sich geirrt hatte, und er dann freigelassen wurde?

      Geschichten über wundersame Freilassungen und Rettungen bereits verhafteter Menschen stammen in der Regel aus den 1920er Jahren und der ersten Hälfte der 1930er Jahre. 1937/38 waren im Verlauf der Ermittlungen keine Freisprüche vorgesehen: Der Beschuldigte hatte weder das Recht auf einen Anwalt, noch auf eine Revision seines Falles (sehr häufig wurden die Urteile noch am Tag der Verkündung vollstreckt; gefällt wurden sie von Gerichten oder außergerichtlichen Troikas [Dreierkollegien]).
       
      Ein Teil der Personen, die unter Jeschow verhaftet wurden, ist 1939 wieder freigekommen; das wird bisweilen als Berija-Amnestie bezeichnet. Denjenigen, die aus welchen Gründen auch immer das Glück hatten, vor dem November 1938 ihr Urteil noch nicht erhalten zu haben, gelang es manchmal, eine Revision zu erreichen. Besonders dann, wenn beim Verfahren der Ermittler gewechselt hatte oder es formal noch nicht zu Ende geführt worden war. 
      Allerdings wurden viele dieser Hunderttausenden später wieder verhaftet, während des Krieges oder 1947/48, kurz nach Kriegsende.

    13. 13. Wie viele Menschen wurden wegen ihrer Beteiligung an den Erschießungen bestraft? Gab es überhaupt ein Sanktionierungssystem für Tschekisten?

      Den Statistiken zufolge, die uns vorliegen, sind in dem Jahr nach der Absetzung Jeschows mit ihm rund 1000 Mitarbeiter des NKWD verhaftet worden. Wie auch in den grausamsten Momenten der Kollektivierung wurde der Terror auf Fälle „lokaler Exzesse“ zurückgeführt. Beschuldigt wurden die konkreten Täter. 
      Gleichwohl sind längst nicht alle Tschekisten bestraft oder von ihren Posten entfernt worden. Viele der unmittelbaren Täter des Großen Terrors arbeiteten während des Krieges weiter, erhielten militärische Auszeichnungen für „politische Arbeit in der Armee“ und kehrten als Helden aus dem Krieg zurück.

    14. 14. „Natürlich tut es einem um die Menschen leid, aber dafür ist der Gulag effektiv gewesen“ – stimmt das?

      Wir haben es hier mit einem gigantischen und sehr komplexen, vielschichtigen System zu tun, das nicht erst 1937 entstand, sondern erheblich früher, Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre. Der Gulag bestand nicht nur aus politischen Häftlingen, es gab dort auch gewöhnliche Strafgefangene, und darüber hinaus die Wachen und die Lagerleitungen. 

      Auch in den Lagern war die Zeit des Großen Terrors mit massenhaften Erschießungen und sehr schweren Überlebensbedingungen verbunden (an einigen Orten ist es nur während des Krieges noch schlimmer gewesen, als es nämlich überhaupt nichts zu essen gab). 

      Man könnte jetzt natürlich versuchen herauszufinden, wann genau mehr gebaut wurde, was hätte gebaut werden müssen und was sinnlos gewesen ist … Gleichwohl bleibt die Frage nach der Zweckmäßigkeit des Gulag eine ethische: Welcher Koeffizient von eingesetzter Sklavenarbeit und welche Zahl an Toten wäre für uns „effizient“ im Verhältnis zu der Menge an gebauten Fabriken und Städten? 

      Darüber hinaus ist die Wirtschaft des Gulag von der modernen Forschung analysiert worden und steht dabei in keiner Weise als „erfolgreich“ da. Es kommt extrem selten vor, dass Zwangsarbeit effizienter ist als freie Arbeit.


    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Autor: Sergej Bondarenko
    Übersetzer: Hartmut Schröder
    Veröffentlicht am: 30.10.2018

    Dieses Bystro wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • „Wir müssen die Erinnerung wiederbeleben“

    „Wir müssen die Erinnerung wiederbeleben“

    Der Große Terror unter Stalin ist in der russischen Gesellschaft bis heute kaum aufgearbeitet und bleibt immer noch viel zu oft ein Tabu. Ganz anders in Tugatsch, wo vor 65 Jahren ein Lager des stalinistischen Gulag-Systems stand. In dem Ort leben die Kinder und Enkel von ehemaligen Lagerhäftlingen heute Seite an Seite mit den Nachkommen der Lagermitarbeiter. Statt einander zu hassen, erzählen sich die Menschen in Tugatsch gegenseitig ihre Geschichten – und sie haben ein Museum gegründet.

    Swetlana Chustik und die Fotografin Jewgenia Shulanowa haben Tugatsch für Takie Dela besucht, viele Geschichten gehört und aufgeschrieben. 

    dekoder bringt die Reportage zum Gedenktag an die Opfer politischer Repressionen, dem 30. Oktober.

    In Tugatsch leben heute Kinder und Enkel ehemaliger Lagerhäftlinge und Lagermitarbeiter Seite an Seite / Foto © Jewgenia Shulanowa
    In Tugatsch leben heute Kinder und Enkel ehemaliger Lagerhäftlinge und Lagermitarbeiter Seite an Seite / Foto © Jewgenia Shulanowa

    In Tugatsch, einem Dorf in der Region Krasnojarsk, befand sich vor 65 Jahren, zwischen 1938 und 1953, eines der Lager des stalinistischen Gulag-Systems – das Tugatschinsker Kraslag. 1800 Gefangene waren dort inhaftiert. Die meisten von ihnen aufgrund des „politischen“ Paragraphen 58. Also Menschen, die wegen einer ungeschickten Äußerung, eines Scherzes oder auch einfach nur wegen eines Logos auf einem Heft zwischen die Mühlsteine der Repressionen geraten waren.

    Nach der Schließung des Lagers blieben die meisten ehemaligen Häftlinge in Tugatsch. Um wegzugehen, fehlte ihnen das Geld – Freunde und Verwandte hatten sich abgewandt, vielen war zudem die Ausreise auch nach der Befreiung verboten. Heute leben hier die Kinder und Enkelkinder von Gefangenen Seite an Seite mit den Nachkommen der Lagermitarbeiter. Und in dieser Situation, die eigentlich alle Bedingungen für gegenseitigen Hass und Feindschaft erfüllt, werden in den Menschen plötzlich Wunder der Nächstenliebe wach.

    Lidija Slepez wurde in Tugatsch geboren, ihr Vater war aus Kasachstan hierher deportiert worden / Foto © Jewgenia Shulanowa
    Lidija Slepez wurde in Tugatsch geboren, ihr Vater war aus Kasachstan hierher deportiert worden / Foto © Jewgenia Shulanowa

    Lidija Slepez wurde in Tugatsch geboren. Ihr Vater, Gerassim Alexandrowitsch Bersenew, war aus West-Kasachstan hierher deportiert worden, er war erst 22 Jahre jung. Damals hatte er als Fahrer für den Kolchose-Leiter gearbeitet. Der Leiter wurde denunziert und verhaftet. Nach einer Weile kamen sie und holten auch Gerassim – fuhren ihn in einem Anhänger weg. Die Troika des NKWD verurteilte ihn zu „zehn Jahren ohne Recht auf Briefverkehr“.

    10 Jahre ohne Recht auf Briefverkehr

    „Als wir noch klein waren und Vater noch lebte, redeten wir zu Hause nur selten über diese zehn Jahre. Immer, wenn er anfing zu erzählen, musste er weinen. Die schlimmste Erinnerung war der Hunger, von dem alles anschwoll. Brot bekamen sie 400 Gramm pro Tag, dazu gab es dünne Balanda und wässrigen Brei. Sie mussten Essen aus den Trögen der Ferkel stehlen, die für die Lagerleitung gehalten wurden. Im Winter war es eiskalt, zum Anziehen hatten sie nur Wattejacken, in den Baracken fraßen einen die Bettwanzen und im Sommer bei lebendigem Leib die Stechfliegen, Kriebelmücken und Moskitos.
    Für jedes kleine Vergehen konnte man in der Baracke mit verschärften Haftbedingungen (BUR) landen, wo es pro Tag nur einen Becher Wasser und 200 Gramm Brot gab.
    Einmal hat mein Vater zufällig beobachtet, wie Häftlinge, die wegen Bandenkriminalität einsaßen, den Lebensmittelschuppen plünderten. Sie drohten ihm: ‚Ein Wort, und du bist tot.‘ Er schwieg. Aber die Lagerleitung fand es trotzdem heraus und steckte ihn wegen Beihilfe für einen Monat in diese Baracke. 
    Als er da rauskam, wog er 38 Kilo. Auf die Beine brachten ihn dieselben Häftlinge, die ihm das eingebrockt hatten. Sie besorgten ihm Arbeit in der Lagerküche. Am ersten Tag aß er so viel Suppe, dass sie ihm zu allen Löchern wieder rauskam, er wäre fast gestorben. Danach verboten sie ihm zu viel zu essen, päppelten ihn Stück für Stück wieder auf.“

    Gerassim Bersenew mit seiner Familie – „Immer, wenn er anfing zu erzählen, musster er weinen.“ / Foto © privat
    Gerassim Bersenew mit seiner Familie – „Immer, wenn er anfing zu erzählen, musster er weinen.“ / Foto © privat

    Gearbeitet wurde in Tugatsch bis zur völligen Erschöpfung. Hauptsächlich in der Holzbeschaffung: Sie mussten die Stämme ins Wasser rollen und per Hand den Fluss hinabflößen. Von den ersten Frühlingstagen an bis spät in den Herbst, so lange wie die Eisschicht am Rand sich noch brechen ließ. Den ganzen Tag bis zum Knie im Eiswasser. Die Flüsse der Taiga werden nicht einmal im heißesten Sommer warm. Über den Tag kam Sand in die Stiefel und scheuerte die Haut an den Füßen blutig. Die Wachen wüteten. Einmal, als sie eine Arbeitsbrigade durch den Wald führten, setzte sich ein Gefangener auf einen Baumstumpf, um einen Moment in die Sonne zu schauen, da feuerten sie eine Salve auf ihn ab – „Fluchtversuch“. 

    Die Misshandlungen hatten Methode, sie schossen auf die Beine, kamen angelaufen und fragten: „Tut‘s weh?“ Schossen wieder: „Und jetzt?“ So ging das mehrere Male. Grausamkeit wurde honoriert. Nach der Schließung des Lagers fand man Dokumente über derartige Belohnungen. Der Name Medwedew tauchte oft auf. Offenbar war der besonders „tüchtig“.

    Ein Teil des Damms – einst gebaut von den Lagerhäftlingen / Foto © Jewgenia Shulanowa
    Ein Teil des Damms – einst gebaut von den Lagerhäftlingen / Foto © Jewgenia Shulanowa

    „Gegen Ende seiner Haftstrafe wurden die Haftbedingungen meines Vaters gelockert, er fing wieder an, als Fahrer zu arbeiten. Er lernte meine Mutter kennen, sie verliebten sich. Damals war sie schon seit sechs Jahren Witwe mit drei Kindern. Ihr Mann, ein Lagerwachmann, war 1941 an die Front gerufen worden, bald darauf kam die Todesnachricht. Die jüngste Tochter war gerade erst drei Monate alt. Meine kleine dünne Mutter schrubbte die Böden der Abteilung für die Arbeiterversorgung (ORS) und kam kaum über die Runden mit ihrer Kinderschar.“

    Gerassim unterstützte seine Geliebte von Anfang an, von jeder Dienstfahrt brachte er etwas Leckeres mit. Als er endlich freigelassen wurde, war sie schon schwanger. „Nadjuscha“, „Nadenka“, „mein Sonnenschein“, „mein Entchen“, so nannte er die Kleine. Lidija war die Zweite, später wurde noch ein Schwesterchen geboren. Insgesamt waren sie zu sechst. Dass er die Kinder seines eigenen Wächters großzieht, darüber verlor Gerassim kein Wort, er hatte sie alle gleich lieb.

    Erst vor Kurzem entdeckten die Dorfbewohner auf einem Dachboden Fellmützen der Lagerinsassen / Foto © Jewgenia Shulanowa
    Erst vor Kurzem entdeckten die Dorfbewohner auf einem Dachboden Fellmützen der Lagerinsassen / Foto © Jewgenia Shulanowa

    Anfang der 1970er Jahre kam auf eine Anfrage von den westkasachischen Organen des NKWD die Antwort, Bersenew Gerassim Alexandrowitsch sei „mangels Tatbestand rehabilitiert“. Aber eine Entschädigung erlebte er nicht mehr. Zehn Jahre Lagerhaft hatten ihre Spuren hinterlassen. Die Gesundheit war dahin. Der erste Schlaganfall traf ihn 1968, er kam nur schwer wieder auf die Beine – ein Monat zwischen Leben und Tod. 1981, mit 66, folgte der zweite. Zwei Wochen ist er noch selbst gelaufen, obwohl das Atmen ihm schon schwer fiel, dann löste sich ein Blutgerinnsel, er schaffte es gerade noch zum Haus, ließ sich auf die Stufen sinken, und so, im Sitzen, starb er auch. Nadenka überlebte ihn um vierzehn Jahre.

    Truhe, Karte, Erinnerung

    65 Jahre lang erwähnte man in Tugatsch das Lager nur im Flüsterton. Man wollte die Vergangenheit nicht aufwühlen, versuchte zu vergessen und weiterzuleben. Aber die Nachklänge ließen den Leuten keine Ruhe. Einmal erzählte ein alter Mann, ein ehemaliger Wächter, in einem Laden genussvoll davon, wie sie die „Knackis fertiggemacht haben, damit sie endlich alle verrecken“. Da meldete sich am Ende der Schlange eine leise Frauenstimme: „Nicht alle, ich lebe noch.“ Grabesstille.

    Lidija Gerassimowna erinnert sich: „Mein Vater hatte im Lager gesessen, und der Mann meiner Tante war ehemaliger Wächter, aber sie redeten normal miteinander, saßen an einem Tisch, gingen zusammen spazieren – solche Geschichten gibt es in fast jeder Familie. Das war kein Grund, dass jemand ein schlechterer Mensch war. Es hieß, die Lagerleute hätten einfach Pech gehabt, es sei nun mal ihre Arbeit gewesen, sie hatten keine andere Wahl.

    Aber natürlich lastete das auch schwer auf den Herzen. Die Wachleute, die am grausamsten gewesen waren, versuchten gleich nach der Schließung hier wegzukommen, aber einige sind eben auch geblieben.“

    Die Geschichtslehrerin Ljudmila Konstantinowna Miller war die erste, die anfing über die Vergangenheit in Tugatsch zu sprechen /  Foto © Jewgenia Shulanowa
    Die Geschichtslehrerin Ljudmila Konstantinowna Miller war die erste, die anfing über die Vergangenheit in Tugatsch zu sprechen / Foto © Jewgenia Shulanowa

    „Klawdija Grigorjewna Gurjanowa war aus Dshambul (Kasachstan) nach Tugatsch deportiert worden. Sie war erst 15 Jahre alt. Eine Freundin hatte sie angeschwärzt. Sie hatten Hefte mit einem Logo, das man als „weg mit der WKP(B)“ lesen konnte. Das war so ein Witz. Klawdija hatte damals einen Verehrer, einen Studenten. Diese Freundin hatte ein Auge auf ihn geworfen und beschlossen, ihre Konkurrentin auf diese Art loszuwerden. Klawdija Grigorjewna erzählte, dass es nachts war und alle schliefen, als jemand an die Tür klopfte. Drei NKWDler kamen herein: ‚Wer von euch ist Ljamkina?‘ Und so nahmen sie sie mit. 
    Ihre ältere Schwester studierte damals. Zu ihr sagten sie: ‚Entweder du lässt sie fallen oder du verlierst deinen Studienplatz.‘ Und die Mutter unter Tränen: ‚Klawa, wir müssen dich vergessen.‘ 
    So war sie schon als junges Mädchen auf sich allein gestellt. Sie war eine Frohnatur, tanzte gern, ein zierliches, lebensfrohes Wesen – trotz allem.

    Nach der Befreiung blieb sie, weil sie nirgendwohin gehen konnte, in Tugatsch, heiratete einen Frontsoldaten, bekam einen Sohn und eine Tochter. Einmal spielten wir mit ihrer [Tochter] Weronika im Hof. Da geht plötzlich das Gartentor auf, und eine Frau kasachischen Aussehens fällt zu Boden und kriecht auf uns zu, streckt flehend die Hände aus. Hinter ihr läuft eine zweite, jüngere Frau, mit Tränen in den Augen: ‚Klawa, vergib uns.‘ Das waren ihre Mutter und ihre Schwester. Klawdija hat ihnen natürlich vergeben, aber nach Hause ist sie nicht zurück. Ihre Schwester hatte dann auch kein Glück im Leben, fing an zu trinken.“

    Abteilung für die Arbeiterversorgung (ORS) / Foto © Jewgenia Shulanowa
    Abteilung für die Arbeiterversorgung (ORS) / Foto © Jewgenia Shulanowa

    Die erste, die anfing, über die Vergangenheit in Tugatsch zu sprechen, war die Geschichtslehrerin Ljudmila Konstatinowna Miller, das war noch 2009. Sie ist die Tochter eines Aufsehers und die angesehenste Pädagogin im Dorf:

    „Mein ganzes Leben war mit dem Lager verbunden. Mein Vater hat erst als einfacher Wachmann gearbeitet, später dann als Vorsteher über die Baracke mit verschärften Haftbedingungen (BUR). Wir waren fünf Geschwister, lebten in einem kleinen Häuschen ganz in der Nähe. Jeden Tag brachten mein Bruder und ich unserem Vater das Essen in seinen Turm. Ich war mit den Aufsehern genauso befreundet wie mit den Gefangenen. Obwohl wir Kinder waren, verstanden wir damals schon viel. Aber die wichtigste Frage – warum diese Menschen das alles erleiden mussten – bleibt für mich bis heute unbeantwortet.“

    Im vergangenen Jahr fand die Schulleiterin eine Karte – so fing alles an / Foto © Jewgenia Shulanowa
    Im vergangenen Jahr fand die Schulleiterin eine Karte – so fing alles an / Foto © Jewgenia Shulanowa

    Wer man auch vor 65 Jahren gewesen sein mochte – es ist Geschichte. Ljudmila Konstantinowna hat beschlossen, dass man offen darüber sprechen muss. Gemeinsam mit ihren Schülern fing sie an, die älteren Dorfbewohner zu befragen und ihre Geschichten aufzuschreiben. Zuerst hat dem niemand große Beachtung geschenkt – ein Schulprojekt eben. Aber irgendwann fügten sich die Geschichten zu einem einzigen gemeinsamen Drama zusammen.

    Dann, im vergangenen Jahr, fand die stellvertretende Schulleiterin, Swetlana Nikolajewna Shukowitsch, bei sich zu Hause eine Karte. So fing alles an.

    „Wir waren in das Haus einer unserer Alteingesessenen umgezogen, dort stand eine alte Truhe. Ganz unten war sie mit Papier ausgelegt. Ich habe diese Truhe fünf Jahre lang benutzt, bis ich schließlich auf die Idee kam, mir die Rückseite anzuschauen. Als ich das Papier umdrehte, sah ich eine Karte: Erschließung der Rohholzbasis im Tugatschinsker Kraslag des MWD.“

    Das war der Auslöser. Es stellte sich heraus, dass alle davon gehört hatten und es wussten, viele erinnerten sich noch deutlich an die Ereignisse hier. Nur haben alle geschwiegen. Und plötzlich war es, als hätten sich die Schleusen geöffnet. Es gab Gespräche, die Leute hielten endlich nicht mehr die Luft an, entspannten sich. Sie brachten verschiedene Dinge, Alltagsgegenstände, die Geschichten strömten nur so. Die Engagiertesten bildeten eine Initiativgruppe, die den Informationsfluss koordinierte. Eine der ersten, die sich ihr anschloss, war Lidija Gerassimowna.

    Der Friedhof für Lagerhäftlinge hat jetzt ein Kreuz – eines für alle / Foto © Jewgenia Shulanowa
    Der Friedhof für Lagerhäftlinge hat jetzt ein Kreuz – eines für alle / Foto © Jewgenia Shulanowa

    „Als meine Geschwister noch am Leben waren, haben wir nie darüber gesprochen, dass wir die Erinnerung wiederbeleben müssen. Erst jetzt habe ich verstanden, dass meine Seele sich schon lange danach sehnte. Unsere Verwandten waren ja vollkommen unschuldig.“

    Und so entstand in Tugatsch Stück für Stück ein interaktives Freilichtmuseum: Streng geheim – das Tugatschinsker Kraslag. Der außergewöhnliche Name kommt nicht von ungefähr – der Großteil der Informationen zum Lager wird bis heute unter dem Vermerk „Geheim“ aufbewahrt. Das Projekt gewann einen Wettbewerb der Timtschenko-Stiftung: Ein Kulturmosaik unserer Kleinstädte und Dörfer. Das ermöglichte nicht nur, dass weitere Erinnerungen gesammelt wurden, sondern auch, dass das Museum selbst Form annahm.

    Man rekonstruierte verschiedene Außenobjekte: einen Damm, einst gebaut von den Gefangenen, um das Holz auf den Fluss zu lassen, der jetzt als Aussichtsplattform mit Blick auf das gesamte Gelände der ehemaligen Kolonie dient; eine Baracke, in der die Habseligkeiten der Häftlinge ausgestellt sind (die Gegenstände haben die Dorfbewohner selbst hergebracht). Ein Denkmal für die Opfer politischer Repressionen wurde errichtet. Der verlassene Friedhof des Lagers, wo man die Gräber nur anhand der länglichen Vertiefungen entlang der Kiefern erkennt, hat jetzt ein Kreuz – eines für alle.

    Dank der Arbeit am Museum füllen sich allmählich weiße Flecken im Schicksal des Dorfes / Foto © Jewgenia Shulanowa
    Dank der Arbeit am Museum füllen sich allmählich weiße Flecken im Schicksal des Dorfes / Foto © Jewgenia Shulanowa

    Erst vor Kurzem entdeckten die Dorfbewohner auf dem Dachboden eines der Häuser Fellmützen, Tassen und Löffel, die früher den Lagerinsassen gehörten, Schüsseln, auf denen die Namen ihrer Besitzer eingraviert sind, dazu Briefpapier und Umschläge, alte Fotos und Karten von Außeneinsatzstellen – Waldstücke, in denen die Gefangenen gearbeitet haben.

    Bald soll eine Übersichtskarte an der Ortseinfahrt entstehen, damit die Besucher sich schneller zurechtfinden. Außerdem ist ein Nachbau der Schmalspurbahn in Planung, mit deren Hilfe die Gefangenen Holz transportiert haben, und die Rekonstruktion einer Dampfmaschine, die auf dem Museumsgelände ausgestellt werden soll.

    Die Träume des Lju Pen-Sej 

    Dank der Arbeit am Museum füllen sich allmählich weiße Flecken im Schicksal des Dorfes und seiner Bewohner mit Geschichten. Zuweilen ganz zufällig.

    Am Rande von Tugatsch steht ein Spezial-Pflegeheim für alte und behinderte Menschen. Hierher kommen Menschen aus der ganzen Region, die wegen Verhaltensauffälligkeiten nicht in den üblichen Heimen leben können, aber auch ehemalige Häftlinge, die auf der Straße gelandet sind. Im Grunde ist das ein Gefängnis mit erleichterten Haftbedingungen. Seit letztem Jahr ist auch Lju Pen-Sej hier. Er stammt aus China, aber er spricht akzentfreies Russisch und möchte Kolja Iwanow genannt werden.

    Die ersten sechs Jahres seines Lebens verbrachte Lju Pen-Sej im Lager in Tugatsch / Foto © Jewgenia Shulanowa
    Die ersten sechs Jahres seines Lebens verbrachte Lju Pen-Sej im Lager in Tugatsch / Foto © Jewgenia Shulanowa

    „Ich bin 77 Jahre alt. Geboren wurde ich in China. 1941 herrschte dort eine schwere Hungersnot, und meine Eltern überquerten mit mir als Säugling die Grenze zur UdSSR. Sie wurden als Überläufer verhaftet und ins Lager geschickt, wo ich die ersten sechs Jahre meines Lebens verbrachte. Woran ich mich selbst erinnere und was ich aus den Erzählung meiner Eltern weiß, lässt sich nicht mehr unterscheiden. Ein paar Bilder sehe ich noch vor mir. Meine liebe Amme, eine Tatarin, Tamara Iwanowna, und wie ich mich an ihrem Rocksaum festhalte, ihre Stimme ist liebevoll, sie dehnt meinen Namen: ‚Ko-o-o-lja‘. Und dann wie ich renne.

    Von meinen Eltern weiß ich, dass sie fast die ganze Zeit über eingesperrt waren, die Frauen in der Frauenbaracke, die Männer bei den Männern. Besuche waren nur am Tag erlaubt. Sie sprachen kein Wort Russisch. Mein Vater wurde zum Holzfällen mitgenommen, meine Mutter putzte und kochte im Lager. Freigelassen wurden wir erst 1946. Ich sehe noch vor mir, wie mein Vater, meine Mutter und ich uns an den Händen halten und aus dem Lager laufen. Wir fuhren nach Krasnojarsk, und dort ging ich verloren. Ich kam in eine Sammelstelle, dann ins Kinderheim. Aus dem Kinderheim holten mich meine Eltern erst, als meine Schwester schon da war.

    Meine Mutter starb 1977, mein Vater 1980. Als Jugendlicher war ich ein paar Mal in China, aber weg wollte ich aus Russland nie. Mein Leben war ziemlich turbulent, zuletzt habe ich in Sozialeinrichtungen gewohnt, hab es dort etwas zu bunt getrieben, und jetzt bin ich hier gelandet.“

    65 Jahre lang erwähnte man in Tugatsch das Lager nur im Flüsterton / Foto © Jewgenia Shulanowa
    65 Jahre lang erwähnte man in Tugatsch das Lager nur im Flüsterton / Foto © Jewgenia Shulanowa

    In Tugatsch hatte Kolja gleich das Gefühl, dass ihm dieser Ort bekannt vorkam. Er fing an zu träumen: Kindheit, Jugend, alles durcheinander. Dann fragte er nach: „Jungs, gab es hier früher Lager?“ „Ja, die gab’s“, hieß es.

    Wie sich herausstellte, standen früher buchstäblich fünf Meter vom Wohnheim entfernt die Baracken, in denen die Häftlinge untergebracht waren. So fügte sich das Bild zusammen. Er verstand, dass er praktisch in seiner Heimat gelandet war. Kolja ist der letzte noch lebende Gefangene des Tugatschinsker Kraslag. Und er sagt, dass er nicht mehr weg will. In Krasnojarsk wartet niemand auf ihn, und hier träumt er Träume aus seiner Kindheit.

    Sie sind keine Feinde

    Nicht alle in Tugatsch sind der Ansicht, dass man an der Vergangenheit rühren sollte. Manche meinen, dass hier nur Mörder und Vergewaltiger saßen, man hätte die Menschen ja nicht ohne Grund weggesperrt – und warum sollte man deren Andenken bewahren? Aber von denen, die so denken, gibt es immer weniger.
    Lidija Slepez sagt, man könne täglich beobachten, wie sich die Einstellung der Menschen zum Museum verändere. Jemand, dem das Ganze gestern noch völlig egal war, stellt heute plötzlich seinen Traktor zur Verfügung, damit ein Weg aufgeschüttet werden kann. Jemand erinnert sich, dass auch in seiner Familie Gefangene waren, also geht es plötzlich auch um deren Andenken.

    Der Werklehrer der Schule arbeitet schon seit fast einem Jahr an einem Modell des Lagers: „Für mich ist das leicht, mein Onkel war ja Lagerwächter, ich habe eine ungefähre Vorstellung, wo was war.“

    Das Einzige, was Lidija Gerassimowna bedauert, ist, dass sie den letzten Willen ihres Vaters nicht erfüllt hat. Vor seinem Tod hatte er sie gebeten: „Kind, wenn ich sterbe, stell bitte keinen Zaun auf, ich habe zehn Jahre hinter Gittern verbracht.“ 
    Damals hat sie das nicht ernstgenommen und sein Grab eingezäunt (wie es die Tradition verlangt). Erst jetzt versteht sie, wie sehr es das Leben ihres Vaters wirklich zerstört hat. Sie wurden zwar rehabilitiert, aber der endgültige Freispruch, der laute Ausruf: „Sie sind keine Feinde!“ – der kam erst jetzt.

    „Überhaupt kommt es mir so vor, als hätte man mich zusammen mit meinem Vater freigesprochen, als wäre auch ich von etwas reingewaschen worden.“

    Erst vor Kurzem wurde ein Denkmal für die Opfer politischer Repressionen errichtet / Foto © Jewgenia Shulanowa
    Erst vor Kurzem wurde ein Denkmal für die Opfer politischer Repressionen errichtet / Foto © Jewgenia Shulanowa

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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    Gulag-Museum unter besonderen Bedingungen

  • Gulag-Museum unter besonderen Bedingungen

    Gulag-Museum unter besonderen Bedingungen

    Das Museum Perm-36 wurde am 5. September 1995 gegründet. Es ist der einzige in Russland erhaltene Gebäudekomplex eines stalinistischen Arbeitslagers. In den Sowjetjahren saßen hier viele Dissidenten ein, darunter Wladimir Bukowski, Sergej Kowaljow und hunderte andere Polithäftlinge. 
    Beinahe 18 Jahre lang war das Museum in den Händen einer unabhängigen Organisation, doch dann beschloss der Staat, es unter seine Kontrolle zu bringen. Die Organisation, die das Museum gründete und betrieb, wurde zunächst zum ausländischen Agenten erklärt und hat sich 2016 selbst aufgelöst. Max Sher hat 2015 das einzigartige Museum für Meduza fotografiert.

    Einfahrtstor zum Arbeitslager
    Von der Fernstraße Perm-Tschussowoi abbiegen in Richtung des Dorfes Kutschino: Dort befindet sich das Museum „Perm-36“ 
    Kontrollpunkt mit Verwaltungs- und Besuchsräumen, oben Stabsunterkunft, rechts Einfahrtstor und Zaun
    Mehrfachumzäunung des Lagers
    Wohnbaracke aus den 1940er bis 1950er Jahren
    Inneneinrichtung einer Wohnbaracke (Rekonstruktion)
    Fenster der Strafisolationszelle (SchISO) bzw. Karzer
    Gattersäge
    Rote Ecke in der Wohnbaracke. Hier schrieben die Häftlinge Briefe
    Besuchszimmer für kurze Treffen ​
    Besuchszimmer für längere Treffen ​
    Spion an der Tür zum Karzer
    Diese Allee dürfte es eigentlich nicht geben, weil das ganze Lager einsehbar sein sollte. Sie wurde in der Zeit angepflanzt, als ehemals hochgestellte Mitarbeiter des NKWD-KGB und des Innenministeriums verurteilt im Lager einsaßen (1953 bis 1972) 
    Kontrollpunkt des „Abschnitts mit besonderen Haftbedingungen“ („Sonderregime für besonders gefährliche Wiederholungstäter“) 500 Meter vom Stammlager entfernt. Die einzige Abteilung dieser Art in der späten UdSSR für wiederholt politisch Verurteilte war 1980 gegründet worden
    Eingang zum Kontrollpunkt der Abschnitts mit besonderen Haftbedingungen
    Wohnbaracke auf dem Gelände des Abschnitts mit besonderen Haftbedingungen. Der Holzzaun links versperrte zusätzlich den Blick aus den vergitterten Fenstern
    Blick aus einem „Spazierhof”, links der Wach-Balkon
    Wachturm auf dem Gelände des Abschnitts mit besonderen Haftbedingungen

    Fotos: Max Sher
    Übersetzung der Bildunterschriften: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am 05.09.2018

     

    Dieses Visual wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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