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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Das Regime kann sich nur auf seine Härte stützen“

    „Das Regime kann sich nur auf seine Härte stützen“

    Stalin, der „Dshingis Khan mit Telefon“ habe nach dem Sieg im Zweiten Weltkrieg einen Mythos begründet, der noch das Russland von heute prägt – den Mythos „vom siegreichen Führer und dem großartigen Staat, vom Neid des Westens und der Einzigartigkeit der russischen Nation, von den Kränkungen, dem gestohlenen Ruhm, dem Messianismus“, so der Sheffield-Historiker Jewgeni Dobrenko.

    Unlängst hat Putin den Hitler-Stalin-Pakt verteidigt und Polen eine Mitschuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs gegeben. Nun hat die Staatsduma Anfang Juni einen Gesetzentwurf angenommen, wonach es künftig strafbar ist, die Sowjetunion mit NS-Deutschland zu vergleichen sowie die „entscheidende Rolle der Sowjetunion beim Sieg über NS-Deutschland“ zu leugnen. Schon im Vorfeld wurde Kritik laut, dass der historische Diskurs so noch weiter verengt werde.  

    Inwiefern der Kriegsmythos unter Stalin die neue sowjetische Nation schuf, wie stark deren Traumata und Phobien Russland bis heute noch prägen und die politische Führung Produkt dieser Traumata und Phobien ist – das diskutiert Olga Timofejewa, Kulturredakteurin der Novaya Gazeta, im Interview mit Jewgeni Dobrenko.

    Novaya Gazeta: Als ich Ihre zwei Bände Late Stalinism. The Aesthetics of Politics (dt. Der Spätstalinismus. Ästhetik der Politik) gelesen habe, konnte ich besser verstehen, warum das Interesse an Stalin heute so groß ist. Dass die Menschen die Gräueltaten jener Zeit gutheißen, das kann man sich nur schwer vorstellen, aber das, was Sie über den späten Stalinismus schreiben, erklärt vieles. Was macht diese Epoche so interessant für Sie?

    Jewgeni Dobrenko: Es gibt viele Gründe, aber einer der wichtigsten ist, dass diese Zeit im Schatten anderer Epochen steht, die viel turbulenter und deshalb für Historiker interessanter sind – die revolutionäre Epoche der 1920er Jahre, die Epoche des Terrors in den 1930er Jahren und die Tauwetter-Periode von 1956 bis 1964.

    Aber für mich sind die wichtigsten Epochen die, in denen nichts passiert. Ein Vulkanausbruch ist nur eine kurze Erscheinung, aber dass ein Vulkan entsteht, dauert sehr lange. Solche Epochen, in denen sich etwas lange hinzieht, formen das Massenbewusstsein. Damit ein langfristiger Effekt eintritt, müssen die Folgen einer Umbruchszeit eine Phase der Stabilisierung durchlaufen, in der die revolutionäre Welle abebbt und die Menschen sich an das Leben unter den neuen Bedingungen anpassen. 

    Für mich sind die wichtigsten Epochen die, in denen nichts passiert

    Natürlich sind es nicht die 1930er Jahre mit ihrer brutalen Kollektivierung, den Kraftakten der ersten Fünfjahrespläne und dem Großen Terror, sondern der späte Stalinismus mit seinem Siegespathos, dem Pomp und der Selbsterhöhung: Diese bleiben als Idealbild und nähren die postsowjetische Nostalgie bis heute.

    Dennoch erwachsen aus dieser Nostalgie ziemlich aktuelle Komplexe, wie der Antiliberalismus, der Antimodernismus, die antiwestlichen Stimmungen.

    Es ist eher umgekehrt: Sie erwachsen nicht aus ihr, sondern rufen sie hervor. Unter der äußeren Konfliktlosigkeit der Nachkriegsjahre reifte nämlich das heran, was das historische Bewusstsein der sowjetischen, und dann auch der postsowjetischen Nation auf Jahrzehnte geformt hat. Das Ereignis, in dem sich die Nation voll entfaltet hat, war der Sieg im Krieg. Aber geschehen ist das nicht 1945. Damit der Sieg zu einem Triumph des Regimes werden konnte, brauchte es Jahre. Jahre, in denen ein Mythos vom Krieg und der sowjetischen Überlegenheit erschaffen wurde, vom siegreichen Führer und dem großartigen Staat, vom Neid des Westens und der Einzigartigkeit der russischen Nation, von den Kränkungen, dem gestohlenen Ruhm, dem Messianismus. Und daraus sind dann in der Tat viele der heutigen Komplexe erwachsen.

    Warum hat Stalin so hartnäckig genau diese Nation geformt?

    Er hat ein Land übernommen, dessen Bevölkerung ihre Geschichte und nationale Identität verloren hatte. Während vor dem Krieg die Außenwelt im sowjetischen Bewusstsein kaum existiert hatte, erforderte der Status einer Supermacht eine aktive Außenpolitik, die wiederum eine künstlich erschaffene Bedrohung und den Westen als deren Quelle brauchte. 

    Um den Sieg zu einem Triumph des Regimes zu machen, brauchte es Jahre

    Stalin setzte alle erdenklichen Mittel ein, um Druck auf das Massenbewusstsein auszuüben, denn genau dadurch wird die politische Kultur geformt. Und noch wichtiger – durch die Mentalität. Deshalb frage ich immer, wenn ich höre, Putin sei schlecht: „Können Sie sich vorstellen, dass in diesem Land Václav Havel regiert? Oder Angela Merkel?“ Das wäre unmöglich.

    Denn ein Leader, der humanistisch eingestellt ist und ein liberales Programm verfolgt, ist im Bewusstsein der Bevölkerung ein Loser. Gorbatschow ist ein sehr gutes Beispiel dafür. Die Mehrheit sieht ihn als Schwächling, der alles zugrunde gerichtet, zugelassen, nicht verhindert hat … Die Mentalität der Nation bestimmt die Nachfrage nach einem bestimmten Typus von politischer Führung. Stalin hat die sowjetische Nation bewusst geformt, aber auch die Nation hat sich ein Regime geformt.

    Bei liberalem Tauwetter beginnt es zu bröckeln, und dann kommt wieder eine Eiszeit, in der nur ein solches Regime möglich ist, das die Nachfrage der Massen bedient.

    Warum gibt es dann überhaupt Tauwetterperioden?

    Auf Frost folgt Tauwetter, das ist unvermeidlich. Auch nach Putin wird eine Tauwetterperiode kommen. Nicht, weil dann ein Liberaler kommt – Liberale gibt es da oben nicht, woher auch. Es wird jemand kommen, der aus demselben Holz geschnitzt ist, nur hoffentlich jemand, der nicht so verstockt, weniger komplexbeladen, jünger und moderner ist.

    Auch nach Putin wird eine Tauwetterperiode kommen

    Tauwetterperioden kommen in Russland nicht durch liberale Anführer, sondern weil das Land sich nicht bewegen kann, weil es in einer wirtschaftlichen und technologischen Sackgasse feststeckt. Es verliert seine technologischen, also auch militärischen Vorzüge, und das ist in den Augen des Regimes gefährlich. Deshalb ist das Regime gezwungen, Modernisierung zuzulassen.

    Stalins Fünfjahrespläne und der Gulag – war das auch Modernisierung?

    Bucharin nannte Stalin einen „Dshingis Khan mit Telefon“. Also einerseits einen orientalischen Despoten, grausam, blutrünstig und so weiter, und andererseits einen ziemlich modernen Demagogen, der ein paar marxistische Begriffe aufgeschnappt hatte und hervorragend mit ihnen zu manipulieren verstand.

    Wenn ich vom 20. Jahrhundert erzähle, sage ich meinen Studierenden immer etwas, was ihnen nicht klar ist. Sie denken, die Russische Revolution habe sich 1917 ereignet, aber in Wirklichkeit hat sie ein halbes Jahrhundert gedauert. Sie hat am 9. Januar 1905 begonnen und ist am 25. Februar 1956 geendet – an dem Tag, als Chruschtschow seinen Geheimbericht vorlegte.

    Bucharin nannte Stalin einen „Dshingis Khan mit Telefon“

    Was ist eine Revolution? Die Revolution ist eine Form des Bürgerkriegs. Was ist der Stalinismus? Der Stalinismus ist ein Bürgerkrieg im institutionalisierten Rahmen. Stalin hat ein System erschaffen, in dem der Bürgerkrieg zur Existenzform wurde. Der Gulag war eine Form des Bürgerkriegs, genau wie die Kollektivierung eine Form des Bürgerkriegs war – wer erinnert sich heute noch an den Holodomor in der Ukraine oder daran, dass ein Drittel der Bevölkerung Kasachstans während der Kollektivierung vor Hunger nach China geflohen ist?

    Was ist eine Revolution? Die Revolution ist eine Form des Bürgerkriegs. Was ist der Stalinismus? Der Stalinismus ist ein Bürgerkrieg im institutionalisierten Rahmen

    Dann die Industrialisierung, die in den Baracken mit Millionen von hungernden Bauern begann, die der Hunger vom Land in die Städte getrieben hatte. Dann die Zeit des Großen Terrors. Danach stürzte das Land in den Zweiten Weltkrieg mit seinen unfassbaren Opferzahlen, einer zerstörten Wirtschaft und so weiter. Und 1946 beginnt dann der Kalte Krieg … Drei Generationen haben in einem Zustand von Gewalt und Terror gelebt. Was für einen politischen Anführer konnte so ein Land haben? Stalin ist nicht vom Himmel gefallen, er war ein logisches, folgerichtiges Produkt aus diesem Dauerkrieg.

    Haben die persönlichen Komplexe totalitärer Herrscher Einfluss auf den nationalen Charakter?

    Natürlich. Wenn einer bösartig ist, so wie Stalin, dann findet man auch hochgradiges Ressentiment und Hass. Unter einem weniger bösartigen Anführer wie Breshnew hat das repressive Regime einen anderen Charakter. Aber alle diese Regime folgen einem bestimmten Programm, einer inneren Logik. Aus einer Tulpenzwiebel wächst keine Chrysantheme: Stalin konnte kein Tauwetter initiieren, Breshnew konnte keine Perestroika beginnen. 

    Drei Generationen haben in einem Zustand von Gewalt und Terror gelebt. Was für einen politischen Anführer konnte so ein Land haben?

    Nehmen Sie die sowjetische Geschichte. Was kam nach 20 Jahren Sowjetmacht? 1937. Die Chinesische Revolution hat 1949 gesiegt. Was kam 20 Jahre später, 1969? Die Kulturrevolution. In der Logik ihrer Entwicklung kommen totalitäre Regime nach 20 Jahren (das hängt zu einem gewissen Grad mit dem Generationenwechsel zusammen) offenbar in ein repressives Stadium. Ja, wir haben in Russland im Moment weder 1937 noch die Kulturrevolution, das ist immerhin das 21. Jahrhundert und eine andere Welt, aber die Logik des Regimes ist immer noch dieselbe.

    Was denken Sie, ist Putins Hauptinteresse – Macht oder Geld?

    Ich denke, Geld ist nur ein Instrument der Macht. Putin ist ein typisches Polit-Tier. Er ist genau wie Stalin ein Machtfanatiker. Geld ist nur ein Mittel, diese Macht zu besitzen. Stalin hat dieses Mittel nicht gebraucht. Er besaß ein Sechstel der Erde, wozu brauchte er einen Biberpelz?

    Ich glaube, Putins Problem ist, dass er weiß, wie es bei Stalin ausgegangen ist, und ihm klar ist, wie es bei ihm ausgehen wird. Er weiß, was mit Stalins Leuten, Stalins Kindern geschehen ist. Mit der Tochter, die bettelarm in einem Altersheim irgendwo in der Fremde gestorben ist, seiner Enkeltochter, die an der Supermarktkasse arbeiten musste, und so weiter.

    Stalin besaß ein Sechstel der Erde, wozu brauchte er einen Biberpelz?

    Ich nehme an, Putin denkt, er muss die ihm Nahestehenden absichern. Außerdem ist Geld etwas, das sein gesamtes Umfeld braucht. Was bekommen denn diese Leute für ihre Dienste? Sie bekommen ihr eigenes Stück Macht, und die bemisst sich in den Summen, die diese Menschen besitzen. Das ist der institutionalisierte Fressnapf, den es in Russland immer gegeben hat. Gogols Revisor ist unsterblich: Alle Beamten klauen auf dem Posten, der ihnen zum Fressen hingestellt wurde. Und so sichern diese Menschen im Endeffekt die Macht des politischen Anführers.

    Manchmal scheint es, als würden sie sie zerstören, indem sie immer absurdere Gesetze verabschieden.

    Diese Gesetze sollte man nicht zu ernst nehmen: Das wird alles in sich zusammenfallen, sobald das Regime zerfällt. Und das wird nach Putin garantiert zerfallen, selbst wenn er von einem loyalen Nachfolger abgelöst wird. Es gibt einen objektiven Prozess, der unterschwellig abläuft und der absolut unaufhaltsam ist. Die nächste Generation kommt. Die Jugend rückt nach. Was bleibt da noch zu sagen?

    Dass Menschen aufgrund dieser Gesetze im Gefängnis sitzen.

    Vergessen Sie nicht: Macht ist die Demonstration von Macht. Den Menschen wird diese Show vorgeführt, weil das Einzige, worauf sich dieses Regime stützen kann, seine Härte ist. Und dafür braucht es ein bestimmtes Bild: ein starkes Russland, das sich von den Knien erhoben hat, ein eigenständiges Land, vor dem alle Angst haben, weil es so unbezwingbar ist; ohne uns können sie nichts machen, die Amerikaner werden auf ihren Knien angekrochen kommen et cetera … Aber dieses Bild dient nur einem Zweck: Es soll verbergen, dass dieses Land – das sich als Supermacht darstellt, das Amerika ebenbürtig sein will – ein ganzes Prozent des weltweiten BIP hervorbringt!   

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  • „Wir suchen gern in fremden Kellern nach Leichen“

    „Wir suchen gern in fremden Kellern nach Leichen“

    „Ein Name, ein Leben, ein Zeichen“ – unter diesem Motto startete 2013 in Russland die Bürgerinitiative Posledni Adres. Sie hat sich die „Erinnerung an die Opfer von politischer Repression und Staatswillkür in der Sowjetzeit“ zur Aufgabe gemacht. Analog zu den Stolpersteinen in Deutschland werden an Häusern, in denen die Opfer politischer Verfolgung bis zu ihrer Verhaftung wohnten, kleine Metalltafeln mit Namen und kurzen biografischen Daten angebracht. Mittlerweile wurden auf diese Art mehr als 1000 Opfer des Großen Terrors unter Stalin in mehr als 40 Städten gewürdigt, darunter auch drei in Deutschland

    Diese Initiative stößt in Russland jedoch regelmäßig auf Widerstand der Bewohner, Hausbesitzer oder -verwalter, die sich weigern, die Tafeln anzubringen oder bereits angebrachte Erinnerungszeichen wieder entfernen. Manche Tafeln werden auch mutwillig beschädigt oder zerstört

    Zuletzt wurden 16 Tafeln vom sogenannten Dowlatow-Haus in Sankt Petersburg entfernt. Diese 16 Tafeln erinnerten an 16 Menschen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Nationalität, die zu verschiedenen Berufsgruppen gehörten. Das einzige, was sie außer dem Wohnhaus teilten, war ihr Schicksal: Sie alle wurden während des Großen Terrors festgenommen und erschossen und erst Jahrzehnte später rehabilitiert.  

    Auf Initiative dreier Hausbewohner hin wurden die Tafeln wieder abmontiert. Dies hat für eine heftige Diskussion und gegenseitige Beschimpfungen in Sozialen Netzwerken gesorgt. Auch in den Medien wird der Fall breit diskutiert. 

    Warum löst das Thema Repressionen in der heutigen russischen Gesellschaft eine so waidwunde Reaktion aus? Wie wird das kollektive Trauma in Russland und wie in anderen Ländern behandelt? Und kann man Menschen zum Gedenken zwingen?
    Auf diese Fragen antwortet Boris Kolonizki, renommierter Historiker und Professor an der Europäischen Universität in Sankt Petersburg, im Interview mit der Novaya Gazeta

    Maria Baschmakowa: Die Gesellschaft ist in zwei Lager gespalten. Die einen rufen zur kollektiven Reue auf, die anderen bestehen darauf, dass „wir keine Schuld haben“ und „keine schlechten Menschen sind“. Wie kam es zu dieser Spaltung?

    Boris Kolonizki: Die Überwindung des Stalinismus hängt nicht von oktroyierten Losungen und Programmen ab, sondern von der Taktik, mit der man das Ziel zu erreichen versucht. In jeder Politik sind die Mittel wichtiger als der Zweck. Der Zweck heiligt die Mittel eben nicht, sondern die Mittel verändern den Zweck. Und Taktik ist wichtiger als Strategie. 

    Stalinismus kann nicht mit stalinistischen Methoden bekämpft werden. Ein Teil der Gesellschaft fordert von dem anderen Reue und ruft nicht nur die Nachkommen von Henkern und Denunzianten zur Reue auf, sondern alle, die versucht haben, in dieser schrecklichen Zeit zu überleben. Als ob durch Reue alles gut würde. 
    Doch so funktioniert das nicht. Reue ist eine persönliche Entscheidung, die man nicht erzwingen kann; dazu aufrufen kann man, indem man selbst mit gutem Beispiel vorangeht. 

    Reue ist eine persönliche Entscheidung, die man nicht erzwingen kann

    In Russland wird Deutschland gern als Vorbild hingestellt, das es nachzuahmen gilt. Und gerade in Deutschland bekannten sich viele, die mit den Naziverbrechen persönlich nichts zu tun hatten und sogar im antifaschistischen Kampf aktiv waren, öffentlich zu ihrer Verantwortung für das, was Deutschland im 20. Jahrhundert angerichtet hat. Sogar jene, die während des Krieges und danach geboren wurden, die allein aufgrund ihres Alters an gar nichts beteiligt gewesen sein konnten, sprachen von ihrer moralischen Verantwortung. Beispiele, dass Kriegsverbrecher Reue gezeigt hätten, findet man jedoch selten.  

    Ein reifer und verantwortungsbewusster Patriotismus verlangt eine Kombination aus Stolz und Scham für die eigene Heimat

    Wir beobachten heute einen globalen Viktimisierungswettstreit: Fast alle fühlen sich als Opfer und fordern von anderen Reue. Das ist nicht nur ein russischer Charakterzug, das findet man in vielen Ländern. Für uns wird unsere Geschichte aber noch lange ein Stolperstein sein: Die Menschen fühlen sich oft als Opfer des Stalinismus, des Kommunismus, des russischen Imperialismus, fordern Reue von anderen, ohne über die eigene Verantwortung für die Vergangenheit des Landes zu sprechen. 

    Ein reifer und verantwortungsbewusster Patriotismus verlangt eine Kombination aus Stolz und Scham für die eigene Heimat. Einem solchen Patriotismus stehen Aufrufe zum Vergessen der „schweren Vergangenheit“ und das Gefühl, sich als Opfer der Geschichte zu sehen, im Wege.   

    Warum werfen unsere Zeitgenossen heute so leichtfertig mit Worten wie „Faschist“ und „Stalinist“ um sich? Polemik über Repressionen bedeutet im Netz fast immer Streit und Beschimpfungen.

    Das ist der, mitunter durchaus unbewusste, Einfluss der sowjetischen Tradition. Die Antikommunisten sowjetischer Provenienz tragen sehr viel Sowjetisches in sich. Die Revolutionäre haben sehr gern das in ihrem Sinne abgeänderte Evangelium zitiert: „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.“ Dieser Logik folgen auch viele Antikommunisten. 
    Hinzu kommt die allgemeine Zuspitzung der Situation: Wir erleben mehrere ineinander verwobene Krisen als schwere emotionale Belastung. Auf all das wirkt auch die schwindende, vor allem humanistische, Bildung.   

    Die Menschen fühlen sich oft als Opfer des Stalinismus, ohne gleichzeitig auch über die eigene Verantwortung an der Vergangenheit zu sprechen

    Das zeigt sich auch in einer heimlichen Sehnsucht nach klarer Zugehörigkeit: Das Schema „das Eigene“ versus „das Fremde“ wirkt schon, bevor das erste Argument auf dem Tisch ist. 

    Das Thema der Verantwortung der Nachfahren für die Handlungen ihrer Väter und Großväter ist komplex. Wer wie leben will, ob er etwas über die Taten seiner Vorfahren wissen will oder nicht, entscheidet jeder selbst.

    Keiner meiner Verwandten war Offizier des NKWD. Aber ich kann nicht hundert Prozent sicher sein, dass meine Vorfahren keine Denunziationen geschrieben, bei Versammlungen keine „Feinde“ entlarvt haben. Und es sind auch nur wenige, die mit Sicherheit sagen können, dass ihre Vorfahren ganz bestimmt nicht „beteiligt“ waren. 

    Wir suchen gern in fremden Kellern nach Leichen, aber haben Angst im eigenen nachzuschauen. Wir haben ein schlechtes politisches Erbe. Wir sind Menschen unterschiedlicher politischer Ansichten, Träger jener radikalen, konfrontativen politischen Kultur, die den Stalinismus ermöglicht hat. 

    Zur Sowjetzeit haben sich Millionen Pioniere die Frage gestellt: Wie kann ich im Verhör durchhalten, wenn ich der Gestapo in die Hände falle? Mehrere Generationen wurden so erzogen. Wir sollten uns heute die Frage stellen: Wie hättest du dich in einem Verhör beim NKWD verhalten? Und wenn Leute sofort, vollkommen überzeugt und ohne nachzudenken sagen: „Ich hätte niemals jemanden denunziert“, dann glaube ich ihnen das nicht einfach so. Denn zwischen Ablehnung des Stalinismus und seiner Manifestation besteht ein Zusammenhang.     

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  • Gulag-Literatur

    Gulag-Literatur

    Im November 1962 erscheint in der sowjetischen Literaturzeitschrift Nowy Mir die Erzählung Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch. Ein bis dahin völlig unbekannter Autor hatte sie geschrieben – Alexander Solschenizyn. Der Text schildert auf 65 Seiten einen typischen Tag eines typischen Lagerhäftlings im Jahr 1951: vom morgendlichen Wecksignal bis zum abendlichen Zählappell. 

    Die mit ausdrücklicher Genehmigung Nikita Chruschtschows erfolgte Veröffentlichung war eine Sensation: Erstmals durfte in der Sowjetunion verhältnismäßig offen über das harte Leben im Gulag zur Herrschaftszeit Josef Stalins berichtet werden. Zeitgenössische Leserbriefe zeigen, dass die Erzählung nur wenige Leser gleichgültig ließ. Neben Zuschriften, die dem Autor vorwerfen, Lügen zu verbreiten und der Sowjetunion zu schaden, finden sich vor allem enthusiastische Stimmen, die der Redaktion und dem Autor überschwänglich dafür danken, das Thema aufgegriffen zu haben.1 Auch der ehemalige Gulag-Häftling Warlam Schalamow schreibt an Solschenizyn und lobt ihn überschwänglich: „Ich habe zwei Nächte nicht geschlafen – ich habe ihre Erzählung gelesen, noch einmal gelesen, mich zurückerinnert … Die Erzählung ist wie ein Gedicht, alles daran ist vollkommen, alles ist schlüssig.“2

    Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch legte den Grundstein für den Ruhm Alexander Solschenizyns, der sich in den Folgejahren zu dem Autor der Gulag-Literatur entwickeln sollte. Der Text unterbrach das staatlich verordnete, fast 30 Jahre währende Schweigen über das sowjetische Repressionssystem. Er wurde zu einem Initiationstext, der viele ehemalige Lagerhäftlinge nicht nur dazu ermutigte, ihre eigenen Erlebnisse aufzuschreiben, sondern sie zur Publikation in Zeitungen und Zeitschriften einzureichen. Auch Warlam Schalamow hoffte darauf, endlich etwas veröffentlichen zu können. In seinem Brief an Solschenizyn heißt es: „Ich habe tausend Gedichte und hundert Erzählungen geschrieben und in sechs Jahren mit Mühe einen Band verkrüppelter Gedichte veröffentlicht, wo jedes Gedicht beschnitten, verstümmelt ist.“3 

    Entstehungsgeschichte des Repressionssystems

    Die Anfänge der sowjetischen Gulag-Literatur gehen indes bis in die 1920er Jahre zurück.4 Damals erschienen im Ausland erste Texte von russischen Emigranten, die von den Repressionen nach der Revolution handeln und von den chaotischen Zuständen in den ersten Lagern der Sowjetunion, etwa in dem Lagerkomplex auf Solowki. Die Texte, meist Memoiren und häufig in der Sprache des Aufnahmelandes veröffentlicht, wollten über die Herrschaft der Bolschewiki informieren und ihre Leserschaft aufrütteln. Ihren Weg zurück in die Sowjetunion fanden sie nicht, auch nach der Perestroika blieben sie einem russischsprachigen Publikum meistens verschlossen.

    Neben den Memoiren und Zeugnissen, die von Repressierten verfasst wurden, entstanden bis Mitte der 1930er Jahre auch literarische Texte, deren Veröffentlichung in der noch jungen Sowjetunion erlaubt und sogar gefördert wurde. In der sogenannten Tschekistenliteratur, die unmittelbar nach der Oktoberrevolution zu entstehen begann, avancierten die Mitarbeiter der staatlichen Sicherheitsorgane zu literarischen Helden. Zwar wird das Lager in diesen Texten nur am Rande erwähnt, sie geben aber einen aufschlussreichen Einblick in die Entstehungsgeschichte des sowjetischen Repressionssystems und in die Mentalität der Exekutive.5 

    Umerziehung zu aufrichtigen Sowjetmenschen

    Außerdem kamen Texte heraus, die die sogenannten Arbeitsbesserungslager in den Fokus rücken. Berühmtheit erlangte das Kollektivprojekt Der Weißmeer-Ostsee-Kanal »Stalin«. Eine Baugeschichte 1931–1934. Dieses entstand 1934 im Anschluss der Reise einer Schriftstellerdelegation rund um Maxim Gorki an den Weißmeer-Ostsee-Kanal. Der Text vermittelt den Eindruck, dass die sowjetischen Lager erforderliche und gesellschaftlich nutzbringende Einrichtungen seien, in denen „gesellschaftsferne Elemente“ zu aufrichtigen Sowjetmenschen umerzogen werden. Nur so lässt sich erklären, warum sich in dem Buch Details über das junge Gulag-System finden, die mit dem Beginn des Großen Terrors eigentlich streng geheim waren. Bis zum Jahr 1937, in dem die sowjetischen Behörden Der Weißmeer-Ostsee-Kanal aus dem Verkehr zogen, diente der Band anderen Autoren als Prototyp für ähnliche Texte. 

    Schreibverbote

    Ab Mitte der 1930er Jahre konnten in der Sowjetunion keine Texte mehr erscheinen, die die Lager oder die staatlichen Repressionen thematisierten. Verfasst wurden sie dennoch. Allerdings ist wohl nur ein Bruchteil von ihnen erhalten geblieben und zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht worden. 

    Die bekannt gewordenen Texte sind zumeist Aufzeichnungen, die Aufschluss über Details des Lageralltags geben, ihr literarischer Gehalt gilt als gering bis nicht vorhanden. Auch Briefe, die Lagerhäftlinge an ihre Angehörigen schrieben, ermöglichen heute – trotz der Zensurbedingungen, unter denen sie verfasst wurden – einen Einblick in das Lagerleben. Größere Bekanntheit erlangten die Briefe des Priesters, Religionsphilosophen und Wissenschaftlers Pawel Florenski. Von seiner Verhaftung 1933 bis zu seiner Erschießung im Jahr 1937 hatte dieser seiner Familie von verschiedenen Etappen seiner Lagerhaft geschrieben. 1998 wurden die Briefe Florenskis erstmals komplett veröffentlicht.6 

    Die literarischsten Texte, die in den Lagern selbst entstanden, waren Gedichte. Sie hatten den Vorteil, dass sie auf kleinstem Raum verfasst, gut versteckt und durch ihre Form leicht auswendig gelernt werden konnten. Unter Umständen konnten sie so – wie auch Lieder – die Haftzeit ihrer Verfasser überdauern und zu einem späteren Zeitpunkt erneut aufgeschrieben und publiziert werden. Die bekannt gewordenen Gedichte, die im Lager entstanden, umfassen ein weites Spektrum: Neben tiefgründigen Reflektionen über das Lagerleben und das eigene Schicksal finden sich hier auch Beschwerden und Spottverse.7 

    Verschmolzen zu einem einzigen Hypertext

    Nach Stalins Tod und der Geheimrede Chruschtschows auf dem XX. Parteitag im Jahr 1956 begannen viele Menschen, ihre Erinnerungen an die Lager aufzuschreiben. Dabei mag es den meisten weniger darum gegangen sein, Memoiren zu veröffentlichen, sondern vielmehr darum, ihre Erinnerungen an das erlittene Unrecht überhaupt zu Papier zu bringen. Das Ablegen eines Zeugnisses (auch gegenüber sich selbst) wurde zum wesentlichen Motivationsmoment des Schreibprozesses. Diese Texte sind nach einem nahezu identischen Muster angelegt, das auf der Chronologie der Ereignisse beruht: Die Autoren schildern ihr Leben vor der Verhaftung, die aufkommende Angst vor einer Festnahme und schließlich die (von einigen fast als Erlösung von ihrem angstvollen Warten empfundene) Verhaftung selbst. Dem folgen Erinnerungen an die Untersuchungshaft, die Verurteilung, die Überführung ins Lager und in unterschiedlicher Ausführlichkeit an das Lagerleben selbst. Schließlich schildern die Autoren ihre Entlassung und die Rückkehr ins zivile Leben. Durch ihre Ähnlichkeit scheinen diese Texte, wie die russische Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Irina Schtscherbakowa treffend feststellte, zu einem „einzigen Hypertext zu verschmelzen“.8

    Die Tauwetterperiode währte nur kurz. Solschenizyns Folgewerke, Im ersten Kreis der Hölle, Die Krebsstation und natürlich sein Monumentalwerk Archipel Gulag, erschienen bereits im Samisdat beziehungsweise im Ausland. Ähnlich erging es Warlam Schalamow und Jewgenija Ginsburg, deren Werke durch ihre literarische Qualität aus der Vielzahl der Lagertexte herausstechen. Erst während der Perestroika konnten Schalamows Erzählungen aus Kolyma und Ginsburgs Marschroute eines Lebens in der Sowjetunion frei zugänglich erscheinen, beide erlebten das nicht mehr. 

    Neben diesen heute zum Kanon der Gulag-Literatur zählenden Texten erschien zu dieser Zeit eine Vielzahl von Zeugnistexten, die Betroffene zu einem früheren Zeitpunkt verfasst und dann jahrzehntelang aufbewahrt hatten oder die erst während der Perestroika niedergeschrieben worden waren. Bis heute werden neue Gedächtnistexte publiziert, meist durch die Nachfahren der Repressierten, die etwa beim Aufräumen auf die Manuskripte stießen.9 Keiner dieser Texte hat jedoch die Bekanntheit und die Bedeutung von Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch erreicht. Der Wegbereiter der sowjetischen Gulag-Literatur ist bis heute Pflichtlektüre für russische Schulklassen – trotz der aktuellen russischen Geschichtspolitik, die Stalins Herrschaft zunehmend in ein besseres Licht zu rücken sucht.

     

    Zum Weiterlesen:
    Toker, Leona (2000): Return from the Archipelago: Narratives of Gulag Survivors, Bloomington und Indianapolis
    Frieß, Nina (2017): „Inwiefern ist das heute interessant?“ Erinnerungen an den stalinistischen Gualg im 21. Jahrhundert, Berlin 
    Für russischsprachige Leser bietet die Internetseite Wospominanija na Gulage eine große Auswahl an Texten, die an den Gulag erinnern, und die dazugehörigen Autorenbiografien. 

    1. Anlässlich des 50. Jubiläums der Veröffentlichung erschien eine Sammlung von Leserbriefen: Tjurina, Galina (2012): «Dorogoj Ivan Denisovič!..» Pisʼma čitatelej 1962–1964: K 50-letiju publikacii rasskaza Aleksandra Solženicyna‚ Odin denʼ Ivana Denisoviča‘, Moskva ↩︎
    2. Šalamov,Varlam (2007): Šalamov an Aleksandr Solženicyn, in: Osteuropa: Das Lager schreiben, Berlin 6/2007, S. 125-136, hier S. 125 ↩︎
    3. ebd., S. 136 ↩︎
    4. Texte über die Zwangsarbeit unter den russischen Zaren wie Fjodor Dostoevskijs Aufzeichnungen aus einem Totenhaus (1860-62) und Anton Čechovs Die Insel Sachalin (1893) sind streng genommen nicht Teil der Gulag-Literatur, bilden aber wichtige Prätexte für diese. ↩︎
    5. siehe dazu ausführlich Heller, Michel (1975): Stacheldraht der Revolution: Die Welt der Konzentrationslager in der sowjetischen Literatur, Stuttgart, S. 93 ff. ↩︎
    6. Florenskij, Pavel (1998): Sočinenija v četyrech tomach: Tom 4: Pisʼma s Dalʼnego Vostoka i Solovkov, Moskva ↩︎
    7. Eine beeindruckende Sammlung der „Poesie der Gefangenen des Gulags“ findet sich in der russischsprachigen Anthologie Poezija Uznikov GULAGa, die Gedichte von über 300 politischen Häftlingen enthält. Vilenskij,Semen (Hrsg., 2005): Poėzija uznikov GULAGA: Antologija, Moskva ↩︎
    8. Shcherbakova,Irina (2003): Remembering the Gulag: Memoirs and Oral Testimonies by Former Inmates, in: Dundovich, Elena et al. (Hrsg.): Reflections on the Gulag: With a documentary appendix on the Italian victims of repression in the USSR, Milano, S. 187-207, hier S. 198 ↩︎
    9. So wie es Vorläufer der sowjetischen Gulag-Literatur gab, gibt es auch Nachfolger, etwa Michail Chodorkowskis Briefe aus dem Gefängnis, München, 2011 ↩︎

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  • Lubjanka

    Lubjanka

    Im März 2015 veröffentlichte das Zentrale Kinderkaufhaus eine Serie von Werbeclips. Zu sehen waren zwei Kinder, die ein Verhör ihrer Eltern inszenieren, mit barschen Fragen, blendendem Licht, psychischer Folter. Ziel der Aktion: Sie möchten mit ihren Eltern in das Zentrale Kinderkaufhaus am Lubjanka-Platz fahren. Die Clips enden mit dem Slogan: „Du liebst dein Kind? Bring es zur Lubjanka!“ 

    Die Werbefilme riefen in den sozialen Medien einen Sturm der Entrüstung hervor und sogar die russische Wettbewerbskommission auf den Plan: Während Intellektuelle wie Lew Rubinstein die Geschichtsvergessenheit der Werbeleute anprangerten,1 urteilte die Wettbewerbskommission (allerdings erst Monate später), das Video würde das russische Werbegesetz verletzen und Eltern diskreditieren, die das Kaufhaus nicht aufsuchten.2 Nach kurzer Zeit löschte das Zentrale Kinderkaufhaus die Clips von seinem YouTube-Kanal, zu diesem Zeitpunkt hatten sie sich aber bereits über andere Kanäle verbreitet.3

    Sowohl die Videoclips selbst als auch die Reaktionen darauf zeigen, womit der Begriff Lubjanka auch heute noch von den meisten Russen assoziiert wird: mit Terror, Angst und Unrecht. Doch was ist die Lubjanka eigentlich?

    Erst in den 1980er Jahren erhielt die Lubjanka ihr heutiges ockergelbes Antlitz im Stil des sozialistischen Klassizismus / Foto © James Offer/flickr unter CC BY-NC-SA 2.0
    Erst in den 1980er Jahren erhielt die Lubjanka ihr heutiges ockergelbes Antlitz im Stil des sozialistischen Klassizismus / Foto © James Offer/flickr unter CC BY-NC-SA 2.0

    1897/98 errichtete die Versicherungsgesellschaft Rossija ihre Verwaltungszentrale am Lubjanka-Platz in Moskau. Nach der Oktoberrevolution 1917 wurde das Gebäude im Zentrum Moskaus konfisziert. Zunächst sollte der Moskauer Gewerkschaftsrat in die Große Lubjanka 2 einziehen, doch schon wenige Tage später entschieden die Behörden im Mai 19194, das Gebäude an die Moskauer Außerordentliche Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage (Tscheka) zu übergeben. Seitdem dient es dem sowjetischen Geheimdienst unter seinen wechselnden Namen – von der Tscheka bis zum KGB – durchgehend als Amtssitz; seit 1996 ist es Sitz des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB. Die Adresse „Lubjanka“ steht längst auch synonym für die Geheimdienstorgane selbst.

    Das Gebäude, das die Tschekisten bezogen, war damals noch wesentlich kleiner als heute. Der Personalzuwachs der sogenannten Organe in den 1920er und 1930er Jahren führte dazu, dass nach und nach immer mehr Gebäude in der Nachbarschaft eingegliedert oder angebaut wurden. Irgendwann nahm das stetig wachsende Ensemble den gesamten Block ein. Pläne für weitere Umbauarbeiten gab es bereits in den 1930er Jahren, durch den Zweiten Weltkrieg verzögerten sie sich aber. Erst in den 1980er Jahren erhielt die Lubjanka ihr heutiges Antlitz mit der einheitlichen ockergelben Fassade im Stil des sozialistischen Klassizismus. Bis heute dominiert das einer Trutzburg gleichende Gebäude den Lubjanka-Platz.5

    Ort des Schreckens

    Unter der Führung von Felix Dsershinski wurde der Dienstsitz des sowjetischen Geheimdienstes zu einem Ort des Schreckens. Ab 1920 diente einer der inneren Gebäudeteile als Gefängnis. Unzählige Untersuchungshäftlinge durchliefen ihre Verhöre in dem Gebäude, in denen ihnen insbesondere während der Zeit des Großen Terrors unter schwerer psychischer und physischer Folter bizarre Geständnisse über nicht begangene Verbrechen abgepresst wurden. Zahlreiche Arretierte – darunter prominente politische Häftlinge wie Lew Kamenew und Grigori Sinowjew – wurden in den Kellern der Lubjanka erschossen. 

    Folter und Exekutionen gab es zwar auch in anderen sowjetischen Gefängnissen, etwa in der Moskauer Butyrka, in der Nikolaj Jeschow erschossen wurde – führender Organisator der Stalinschen Säuberungen. Aber nirgendwo sonst saßen die, die den Terror planten und ausführten, so dicht zusammen mit ihren Opfern wie in der Lubjanka. Nicht selten gerieten außerdem einstige Täter in der Lubjanka selbst in die Mühlen des sowjetischen Repressionssystems.

    Zwar haben Historiker inzwischen vor allem durch Berichte von überlebenden Häftlingen wie Alexander Solschenizyn, Margarete Buber-Neumann oder Juri Treguboff eine gewisse Vorstellung davon, wie die Lubjanka aufgebaut war: So weiß man heute unter anderem von der Größe und Lage der Zellen sowie von den Wegen zu den Verhörzimmern. Aus denselben Quellen ist bekannt, wie sich die Abläufe gestalteten: wie Einlieferung, Verhöre, Leben in der Zellengemeinschaft vor sich gingen, wie Weitertransport in andere Gefängnisse beziehungsweise Arbeitslager organisiert waren. Doch liegen genaue Zahlen über die Opfer der Lubjanka bis heute nicht vor und nähren damit den Mythos des Ortes.

    Das Gefängnis in der Lubjanka wurde 1957 geschlossen, einige Zellen blieben aber erhalten und wurden mitunter für die Unterbringung prominenter Häftlinge genutzt:  So saß der US-amerikanische Pilot Francis Gary Powers in der Lubjanka ein, nachdem sein Flugzeug während eines Spionageflugs am 1. Mai 1960 über dem Ural abgeschossen worden war. 
    Ein Ort des Schreckens blieb die Lubjanka auch nach 1957: Noch in den 1980er Jahren – und wohl auch darüber hinaus – machten Menschen „einen möglichst großen Bogen um sie“, wie Witali Schentalinski in seinem Buch Das auferstandene Wort schreibt. „Jeder Bürger unseres unermeßlichen Staates wußte, daß er der Lubjanka jederzeit ins Visier geraten konnte, daß sie die Macht hatte, in sein Leben einzugreifen und mit ihm anzustellen, was sie wollte. Vor der Lubjanka gab es keinen Schutz.“6

    Abkehr von der Geschichte

    Im Jahr 1958 errichtete man in der Mitte des Lubjanka-Platzes, der unmittelbar nach dem Tod Dsershinskis 1926 in Felix-Dsershinski-Platz umbenannt wurde, ein Denkmal für den sogenannten Eisernen Felix.

    33 Jahre später entwickelte er sich zu einem Schauplatz historischer Umwälzung, die die Politologin Tatjana Rastimeschina als „die markanteste Episode bei der Abkehr von der Geschichte“ bezeichnete:7 Im August 1991 wurde der Eiserne Felix von wütenden Demonstranten attackiert, die kurz zuvor erfolglos versucht hatten, die Geheimdienstzentrale zu stürmen. Der Denkmalsturz gelang allerdings erst mit Hilfe zweier Kräne. Seitdem ist die Statue im Moskauer Skulpturenpark zu sehen, in dem sich auch andere abgeräumte Statuen finden. Im Jahr 2002 brachte der damalige Moskauer Bürgermeister Juri Lushkow ins Spiel, das Denkmal an seinem alten Standort wiederaufzustellen – ein Vorschlag, der nicht realisiert wurde.

    Gedächtnisort

    Im Oktober 1990 errichtete die Menschenrechtsorganisation Memorial schräg gegenüber des Geheimdienstsitzes ein Mahnmal für die Opfer des totalitären Regimes: den Solowezki-Stein. Der Findling, der von den Solowki-Inseln stammt, wo das System der Arbeitslager seinen Anfang genommen hatte, ist der einzige sichtbare Hinweis auf das, was wenige Meter von ihm entfernt geschah. Am Lubjanka-Gebäude selbst befindet sich bis heute keine Gedenktafel, die auf die dort verübten Verbrechen hinweist oder der Opfer gedenkt.

    Zum Gedenktag an die Opfer politischer Repressionen am 30. Oktober versammeln sich Menschen am Solowezki-Stein und verlesen nacheinander die Namen der Opfer. Auch Karl Schlögel brachte die Lubjanka als Erinnerungsort ins Spiel: Im Abschlusskapitel seines 2017 erschienenen Monumentalwerks Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangenen Welt schlug der Osteuropahistoriker vor, man solle aus der Lubjanka ein Museum machen, in welchem man die Geschichte der Sowjetunion (und auch des Ortes Lubjanka) erzählt. 

    Dieser Vorschlag wird allerdings wohl so bald nicht realisiert werden. Zwar befindet sich in der Lubjanka ein Museum, doch es ist das Museum der inneren Organe, das der Geheimdienst in den 1980er Jahren zur Fortbildung seiner Mitarbeiter eingerichtet hatte. Eine Zeitlang war es auch für die Öffentlichkeit zugänglich, aktuell ist es aber nur für den internen Dienstgebrauch geöffnet.


    Zum Weiterlesen:
    Uroki istorii: Formirovanie kvartala gosorganov na Lubjanke (letzter Zugriff am 05.06.2019)
    Rüthers, Monica (2007): Die Lubjanka, in: Diess.: Moskau bauen von Lenin bis Chruščev, Wien u. a., S. 153-169
    Schlögel, Karl (2017): Das sowjetische Jahrhundert: Archäologie einer untergegangenen Welt, München

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  • Debattenschau № 76: Kolyma – Heimat unserer Angst

    Debattenschau № 76: Kolyma – Heimat unserer Angst

    Am 23. April veröffentlichte der Journalist und YouTuber Juri Dud seinen Film Kolyma – Heimat unserer Angst. Mit mehr als 14 Millionen Views und über 700.000 Likes ist die mehr als zwei Stunden lange Doku eines der erfolgreichsten Videos des jungen Journalisten.

    Kolyma gilt als Inbegriff des Gulag und der Stalinschen Säuberungen. Allein in Sewwostlag, dem 1932 gegründeten größten Lager in der Region, saßen unter unmenschlichen Haftbedingungen jährlich bis zu 190.000 Menschen ihre Strafe ab. Viele davon, ohne je ein Verbrechen begangen zu haben. In den Kolyma-Lagern waren unter anderem der Autor der Kolymskije rasskasy (Erzählungen aus Kolyma) Warlam Schalamow inhaftiert sowie Sergej Koroljow, der später als Vater der sowjetischen Raumfahrt berühmt wurde. Mit Nachfahren und Historikern führt Dud lange Interviews.  

    Duds Zuschauerschaft gilt als jung. Da fast die Hälfte der 18- bis 24-Jährigen in Russland laut einer Umfrage noch nie etwas von Stalinschen Säuberungen gehört hat, feiern viele seinen Dokumentarfilm nun als eine aufklärerische Leistung. Auch vor diesem Hintergrund löste der Film eine heftige Diskussion in den russischen Medien aus: Ist es ein Auftrag, Russland zum Einsturz zu bringen? Ist es ein Film über die Geistesstärke des sowjetischen Menschen, oder eine Möglichkeit für die Nation, in den Abgrund zu schauen? dekoder bringt Ausschnitte aus der Debatte.

    Echo Moskwy: Hohlraum der Erinnerungskultur

    Laut einer Umfrage haben 47 Prozent der 18- bis 24-Jährigen in Russland noch nie etwas von Stalinschen Säuberungen gehört. Diese Leerstelle füllt jetzt der Film Kolyma aus, meint Ex-Polittechnologe Gleb Pawlowski auf Echo Moskwy:

    [bilingbox]Es ist ein guter Aufklärungsfilm. Davon sollte es viele geben, und das wäre übrigens auch möglich. […] Er füllt eine Leerstelle, eine Leerstelle an der Stelle des Wortes „Stalin“. Stalin kennen alle, 100 Prozent. Aber was ist das bitteschön, was steht hinter dem Wort? Nicht alle wissen doch, dass es eine besondere Bestialität war, derer sich die Staatsmacht bediente, und zwar – ich würde sogar sagen – unter persönlichem Druck von Josef Wissarionowitsch Stalin. Dass er der Autor des Ganzen war, dass er persönlich wie am Fließband Dokumente durchsah und entschied: „Plattmachen!“ Wer weiß diese Dinge?~~~Это хороший просветительский фильм, я думаю. Таких должно быть много, между прочим, и могло быть много <…>.
    [Он] заполняет пустоту на этом месте, пустоту на месте слова «Сталин». Сталина-то все знают, сто процентов. А что это такое, чем это заполнено? Не все же знают, что это особый тип зверства, который практиковался властью, практиковался именно под личным, я бы сказал даже, давлением Иосифа Виссарионовича Сталина; что он автор этого, что он лично просматривал паточные [sic – dek] документы и ставил резолюцию: «Бить!» Вот эти вещи кто знает?[/bilingbox]

    erschienen am 29.04.2019, Original

    Rossijskaja Gaseta: Mächtige journalistische Arbeit

    In der regierungsnahen Zeitung Rossijskaja Gaseta bringt der Schriftsteller Andrej Maximow eine persönliche Note in seine lobenden Worte ein:

    [bilingbox]Juri Dud hat mit Kolyma einen grandiosen Film gemacht. Auf dieser Feststellung bestehe ich. Juri Dud hat ein Filmereignis geschaffen. 70 Prozent der Russen heißen die Taten Stalins gut. Die Intelligenzija sagt dazu Ach! und Oh!. Und Dud dreht einen Film. Einen klugen Film. Sehenswert. Ernst.
    Meine Mutter ist vor mehr als zehn Jahren gestorben. Und bis zu ihrem Tod ist sie zusammengezuckt, wenn sie nachts hörte, wie jemand Autotüren zuschlug: Meinen Opa hatten sie geholt. 
    Ein junger Mensch in zerfetzten Jeans und roter Winterjacke hat nun über diese Angst einen Film gedreht. Ich nicht. Und viele andere nicht. Er hat es gemacht. Danke, Juri Dud, für diese mächtige journalistische Arbeit. Danke für das Beispiel. […]
    Dem Autor des Films wird fehlender Patriotismus vorgeworfen und unterstellt, etwas in den Dreck ziehen zu wollen. Aber ich möchte Ihnen eines sagen, meine Lieben: Kolyma ist nicht nur – was sag ich – vielleicht gar nicht so sehr ein Film über die Stalinschen Säuberungen als vielmehr ein Film über die Geistesstärke des sowjetischen Menschen, über einen Geist, den zu zerstören nicht möglich war. Ein Film darüber, dass die Menschen hier bei uns immer stärker und gütiger sind als das System. ~~~Юрий Дудь снял выдающийся фильм „Колыма“. Я настаиваю на этом определении. Юрий Дудь снял картину-событие. 70% россиян одобряют деятельность Сталина. Интеллигенция заахала. Дудь снял кино. Талантливое. Зримое. Серьезное. 
    Моя мама умерла более десяти лет назад. И до самой смерти она вздрагивала, если слышала, как ночью хлопает дверь машины: мой дедушка был репрессирован. Молодой человек в рваных джинсах и красной куртке снял кино про этот страх. Я не снял. И много кто еще не снял. А он сделал. […] Спасибо, Юрий Дудь, за мощную журналистскую работу. Спасибо за пример.

    […]
    … автора картины обвиняют в отсутствии патриотизма и желании чего-то там опорочить. А знаете, что я вам скажу, дорогие мои: „Колыма“ – это не только, а, может быть, и не столько картина о сталинских репрессиях, сколько фильм – о силе духа советского человека, духа, который невозможно было сломить. Про то, что люди у нас всегда сильнее и добрее системы.[/bilingbox]

    erschienen am 05.05.2019, Original

    Livejournal/Arkadi Babtschenko: Hipper Jüngling in teuren Klamotten

    Der oppositionelle Journalist Arkadi Babtschenko sieht auf Livejournal ein Authentizitätsproblem der Doku:

    [bilingbox]Sieh an: in Kolyma ist es kalt. Wer hätte das gedacht. Moskau hat für sich den Einfluss der Kälte entdeckt: als das Vernichtende all des Menschlichen im Menschen. Eine übersättigte Community, die es fertiggebracht hat, sich aus allen Erschütterungen, Kriegen, Naturkatastrophen herauszuhalten, die das Land in den letzten 30 Jahren umfänglich mitgemacht hat, hört jetzt zu, wie ein hipper Jüngling in teuren Klamotten ihnen etwas über die Kälte erzählt. […]
    Geht in die Bibliotheken, ihr Infantilos.
    Nehmt eure Kinder mit.
    Und lest.~~~На Колыме, оказывается, холодно. Кто бы мог подумать. Москва открыла для себя уничтожающее в человеке все человеческое влияние холода. Сытая тусовка, умудрившаяся остаться в стороне от всех потрясений, войн, катаклизмов, которые последние тридцать лет несла их страна по всему периметру, слушают, как им про холод рассказывает модный мальчик в дорогой одежде. <…>
    Идите в библиотеки, инфантилы. 
    Детей своих ведите. 
    Читайте.[/bilingbox]

    erschienen am 03.05.2019, Original

    Swobodnaja Pressa: Wir klauen euch eure Zukunft

    Zu den schärfsten und lautstärksten Kritikern des Dokumentarfilms gehört Sachar Prilepin. Auf Swobodnaja Pressa erläutert der polarisierende Schriftsteller seinen Standpunkt:

    [bilingbox]Der Sinn des Films ist so banal, dass einem leicht übel wird. Der Autor sagt: Kinder, jetzt erzähle ich euch, warum ihr diesem fiesen Land nichts schuldig seid, in dem in vergangenen Zeiten solche wie ihr, nämlich Kinder, für’s Eisessen ins Lager gesteckt wurden. […]
    Offensichtlich ist es möglich, den historischen Fokus, der 1987 bis 1991 gesetzt wurde, einfach zu wiederholen. Mit dem bisherigen Resultat waren die Auftraggeber nicht zufrieden: Denn wir sind wieder hervorgekrochen und fluchen nun, was das Zeug hält. Nun gut, sagen sie, dann fangen wir euch eben eure Zukunft weg: eure naiv dreinschauenden Erben. Und sie sind äußerst erfolgreich auf ihrem Fang: 500.000 Likes – das ist ein ganz veritabler Maidan, ein Versammlungsplatz gefüllt bis in die letzte Ecke.
    ~~~Смысл фильма банален до легкой тошноты. Автор говорит: дети, сейчас я вам расскажу, почему вы ничего не должны этой мерзкой стране, где в былые времена таких же, как вы, детей сажали за съеденное мороженое. <…>
    Оказывается, фокус, который был произведён в 1987—1991 гг. — вполне можно еще раз повторить. Прежним результатом заказчики не удовлетворены: мы как-то выползли и отругиваемся теперь. Ну, ладно, сказали они, мы своруем у вас ваше будущее: ваших лупоглазых наследников. И более чем успешно воруют. Пятьсот тысяч лайков — это вам, имейте в виду, хорошая майданная площадь, заполненная до краёв.[/bilingbox]

    erschienen am 29.04.2019, Original

    The New Times: Guter Grund für Optimismus!

    Nicht nur die Doku selbst hat in Russland für Aufsehen gesorgt, auch die implizite Kontroverse zwischen Prilepin und Dud ist ein großes Thema. Auf The New Times sieht der Politologe und Schriftsteller Fjodor Krascheninnikow diesen Streit entschieden: 

    [bilingbox]Der Streit zwischen Prilepin und Dud ist grundlegend: Es geht darum, wer die Jugendlichen in die Zukunft führt und wie diese Zukunft einst werden wird. […]
    Die Niederlage Prilepins und seinesgleichen war unausweichlich, weil all ihre faulige UdSSR-Nostalgie, all ihre masochistische Liebe zu Stalin-Stiefeln, ihr gewissenloses Jonglieren mit Orden toter Kriegsveteranen und das Posieren in Soldatenmänteln, all die Sagen über den Donbass, den provinziellen Hass gegen Amerika und Europa – all das kannst du nicht denen verkaufen, die mit dem Internet geboren sind und ihr Leben lang damit gelebt haben. Diese junge Menschen interessiert kein Prilepin, der über den Donbass redet, sie interessiert Dud, wenn er über Kolyma spricht – und das lässt Optimismus aufkommen!~~~Спор Прилепина и Дудя принципиален, и он о том, кто поведет молодежь в будущее и каким это будущее станет. <…>
    Поражение Прилепина и ему подобных неизбежно, потому что всю их протухшую ностальгию по СССР, всю их мазохистскую любовь к сапогам тов. Сталина, их бессовестное жонглирование медалями умерших ветеранов и позирование в мундирах, все эти былины про Донбасс и провинциальную ненависть к Америке и Европе — всё это не продать тем, кто родился и прожил всю жизнь в интернете. Им, этим ребятам, не интересен Прилепин про Донбасс, им интересен Дудь про Колыму — и это хороший повод для оптимизма![/bilingbox]

    erschienen am 06.05.2019, Original

    Spektr: Wenn man lange in einen Abgrund schaut …

    Semjon Nowoprudski betrachtet Duds Kolyma als „die größte Tat des gegenwärtigen russischen Journalismus“. Auf Spektr argumentiert er für seine These:

    [bilingbox]Kolyma ist in Duds Film ein Gebiet von schönster Natur und absoluter Hoffnungslosigkeit, was das Leben angeht. So kann man nicht leben. Hier kann man nicht leben. Hier herrscht ewiges Eis. Ewiges Eis und die ewige Scheußlichkeit der Verwüstung in den Seelen von Millionen Russen. Dieser Film und die Reaktion darauf ergeben ein Blutbild – es ist der Versuch der Russen, öffentlich über ihre schlimmste Tragödie zu sprechen. 
    In der russischen Geschichte ist immer viel Blut geflossen. Die Machthaber haben das Volk immer als „menschliches Material“ angesehen, als „Personal“, jetzt auch noch als „Elektorat“. Dieser Film – beinahe mutet er unterhaltsam, ruhig an, mit Elementen aus dem ganz normalen Leben – erweist sich als Möglichkeit für unsere Nation, in den Abgrund zu schauen. Und dort ihr Spiegelbild zu sehen.~~~Колыма в фильме Дудя предстает территорией красоты природы и абсолютной безнадежности уклада жизни. Так жить нельзя. Здесь жить нельзя. Это вечная мерзлота. Но мерзлота и мерзость запустения в душах миллионов россиян. Этот фильм и реакция на него дают «общий анализ крови» — становятся попыткой россиян публично проговаривать свою самую главную трагедию. В российской истории всегда лилось много крови. Власть всегда считала людей «человеческим материалом», «личным составом», теперь вот еще «электоратом». Этот фильм, вроде бы почти развлекательный, спокойный, с элементами обычной нормальной жизни, оказался способом для нации заглянуть в бездну. И увидеть там свое отражение.[/bilingbox]

    erschienen am 07.05.2019, Original

    dekoder-Redaktion

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  • „Dieses Haus ist eine Metapher“

    „Dieses Haus ist eine Metapher“

    Das Haus der Regierung entstand 1931 am Ufer der Moskwa. Yuri Slezkine, Geschichtsprofessor an der Universität Berkeley, erzählt in seinem gleichnamigen Buch die Geschichte des Sowjetkommunismus anhand des Gebäudes und seiner Bewohner. 2018 ist es auf dem deutschen, 2019 auch auf dem russischen Markt erschienen.

    Jahrzehntelang hat Slezkine dafür in Archiven recherchiert, entsprechend unterteilt der US-amerikanische Historiker, der 1982 aus der Sowjetunion emigrierte, sein Buch in drei unterschiedliche Stränge: einen biografischen, einen historischen und einen analytischen.

    Im Interview mit Maxim Trudoljubow für Colta.ru spricht Yuri Slezkine über das besondere Gebäude und seine Bewohner und darüber, weshalb er den Kommunismus als Sekte begreift.

    © Peter-Andreas Hassiepen
    © Peter-Andreas Hassiepen
    Maxim Trudoljubow: Die Baustelle ist eine gute Metapher. Die Bolschewiki machten sich an den Bau dessen, was sie Sozialismus nannten, ohne einen Bauplan zu haben. Aber für das Haus der Regierung gab es einen Bauplan – übrigens eines der wenigen Wohnhäuser, die damals überhaupt gebaut wurden.

    Yuri Slezkine: Dieses Gebäude ist in der Tat eine Metapher. Das Haus der Regierung wurde gleichzeitig mit der Sowjetunion erbaut und, wenn man so will, gleichzeitig mit dem Stalinismus – in den Jahren des ersten Fünfjahresplans. Die Bewohner errichteten eine neue Wirtschaft, einen neuen Staat und gleichzeitig ein Haus, in dem sie mit ihren Familien leben wollten.

    Die Bewohner errichteten einen neuen Staat und gleichzeitig ein Haus, in dem sie mit ihren Familien leben wollten

    Man redete zwar ständig von Städten und Wohnraum, und es wurde viel darüber geschrieben, wie die Wohnkommunen aussehen sollten. Gebaut wurde allerdings wenig, der Staat hatte andere Sorgen – die Industrialisierung, die Kollektivierung. Baustellen gab es viele, vor allem aber industrielle und metaphorische. Das Haus der Regierung war eines der wenigen Wohnprojekte.

    Als ich [Ihr Buch Das Haus der Regierungdek] zu lesen begann, dachte ich, es würde um das Haus und seine Bewohner gehen. Aber es stellte sich heraus, dass die Protagonisten noch etwas anderes als der Wohnort verbindet. Die zentrale Metapher des Buchs (oder ist es keine Metapher?) ist die Sekte. Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?

    Ich hatte nicht die Absicht, über eine Sekte zu schreiben. Als ich mit der Arbeit an dem Buch begann, hatte ich keine Ahnung von Sekten. Erst beim Lesen der Briefe, Manifeste, Tagebücher und anderer Dokumente kam mir dieser Gedanke. Ich war erstaunt, wie oft das Wort Glaube vorkam, wie diese Menschen dachten und worauf sie hofften. Mich verblüffte die Ähnlichkeit dessen, was sie sagten, mit dem, was ich aus ganz anderer Literatur kannte. Ich fing an, Bücher über Millenarismus, Apokalyptik und ähnliche Phänomene zu lesen. 

    Als ich mit der Arbeit an dem Buch begann, hatte ich keine Ahnung von Sekten. Erst beim Lesen der Briefe, Manifeste, Tagebücher und anderer Dokumente kam mir dieser Gedanke

    Eigentlich wollte ich das Haus der Regierung „bauen“, seine Bewohner dort „einziehen“ lassen, zuschauen, wie sie darin leben, um dann Zeuge ihrer Verhaftung und Hinrichtung zu werden. Aber am Ende hatte ich ein Buch, das viel größer war, in seinem Umfang und auch in jeder anderen Hinsicht.

    Das bolschewistische Sektentum ist für mich keine Metapher. Ich ziehe keinen Vergleich zwischen den Bolschewiki und religiösen Sektenanhängern. Ich verwende das Wort Religion nicht, weil es das Bild nur verstellen würde. Ich behaupte, dass die Bolschewiki Sektenanhänger waren, ohne Anführungszeichen.

    Welche Art von Sektenanhängern?

    Der apokalyptische Millenarismus ist der Glaube daran, dass die Welt, die voller Ungerechtigkeit und Unterdrückung ist, noch zu Lebzeiten der jetzigen (oder spätestens nachfolgenden) Generation in einem katastrophalen Gewaltausbruch ihr Ende finden wird. 
    Manche bezeichnen solche Bewegungen als religiös, andere nicht – das hängt ganz davon ab, welche Religionsdefinition man ansetzt. Für mich spielt das keine Rolle. Als mir beim Lesen der Dokumente bewusst wurde, dass die Bolschewiki – ganz egal, welche Definition man benutzt – apokalyptische Millenaristen waren, begann ich sie im Vergleich zu anderen, ähnlichen Bewegungen zu betrachten. Cargo-Kulte, das frühe Christentum, der frühe Islam, die Münsteraner Wiedertäufer, die Roten Khmer, der Taiping-Aufstand – all das sind millenaristische Bewegungen. Die Anhänger- oder Opferzahlen miteinander zu vergleichen ist uninteressant. Wichtiger ist der Kern der Sache.

    Lenin nannte sie eine ,Partei neuen Typs’, aber er hätte sie auch ,Sekte gewöhnlichen Typs’ nennen können

    Für die Bolschewiki selbst war ihre Partei keine Partei, wie Politiker und Soziologen sie definieren. Es war keine Vereinigung, deren Tätigkeit auf die Machtergreifung im Rahmen eines bestehenden politischen Systems abzielte. Es war vielmehr eine Organisation, die auf den Sturz des bestehenden politischen Systems im Kontext der Zerstörung der gesamten Alten Welt hinarbeitete – einer Welt der Ungerechtigkeit und unauflösbaren Widersprüche. Lenin nannte sie eine „Partei neuen Typs“, aber er hätte sie auch „Sekte gewöhnlichen Typs“ nennen können.

    Ihre Protagonisten machen keinen Halt vor Grausamkeit, aber sie leiden auch und weinen immerzu. Lenins Tod lässt Tränenströme losbrechen, die Ermordung Kirows löst eine Schockstarre aus. Warum? Waren sie so unglaublich emotional?

    Ich denke, das hat mit ihren Vorstellungen zu tun, mit der Prophetie, an die sie glaubten, mit der Intensität der Erwartungen, der Opferbereitschaft, die ursprünglich zum Bolschewismus gehörte. Außerdem dürfen wir nicht vergessen, dass es am Anfang des Buches um sehr junge Menschen geht. Um emotionale, ehrfürchtige junge Männer und Frauen, die von fieberhaften apokalyptischen Stimmungen beseelt sind. 
    Sie lebten in konspirativen Wohnungen, in Gefängnissen, in der Verbannung. In ihrem Weltgefühl waren Sehnsucht, Verzweiflung und die inbrünstige Hoffnung auf das Kommen des „rechten Tages“ vereint. Und dann geschah etwas, das in der Geschichte solcher Bewegungen unglaublich selten ist: Ihre Apokalypse trat ein. Der rechte Tag kam. Zumindest erlebten sie seinen Anbruch. Genau, wie es einmal ein anderer Millenarist prophezeit hatte: „Es wird aber ein Bruder den andern zum Tod überantworten und der Vater das Kind, und die Kinder werden sich empören gegen ihre Eltern und werden sie zu Tode bringen“ (Matthäus 10,21).

    Ihre Apokalypse trat ein. Der rechte Tag kam. Zumindest erlebten sie seinen Anbruch

    Die Briefe aus den Tagen des Bürgerkrieges zeugen von einem beeindruckend intensiven Erleben. Extreme Erfahrungen bringen extreme Emotionen. Alle Millenaristen ereilt früher oder später das, was die amerikanische Geschichte als die „große Enttäuschung“ kennt: Die Zeit vergeht, aber die Prophezeiung tritt nicht ein. 
    Für die Bolschewiki war diese Erfahrung besonders schmerzhaft, weil sie die „Schlacht von Armageddon“ bereits gewonnen hatten. Aber kaum war sie gewonnen, da wurden die Positionen auf dem X. Parteitag auch schon aufgegeben, der charismatische Anführer starb, und in den Häusern der Sowjets wurde nur irgendwelches Zeug gemacht. Die Periode der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) war ihre große Enttäuschung. Das wird deutlich, wenn man die Parteiliteratur der 1920er Jahre liest oder sich ansieht, wie diese Menschen lebten, wie sie weinten, wie sie sich in Sanatorien behandeln ließen.

    Kommt das Gefühl der „belagerten Festung“ erst in den 1920er, 1930er Jahren auf? Oder war das ein allgemeiner Wesenszug?

    Es war ein Wesenszug. Es ist nicht so, dass ich – nur weil ich einmal beschlossen habe, dass die Bolschewiki eine Sekte sind – ihnen alles zuschreibe, was ich über Sekten weiß. Es zeigte sich einfach, dass vieles von dem, was ich über sie herausfand, mit dem übereinstimmt, was wir über Sekten wissen. 

    Die Absonderung von der Außenwelt ist eines der Merkmale des frühen Bolschewismus. Und eine Sekte ist, in welcher Definition auch immer, eine Gruppe von Gleichgesinnten, die sich von der feindlichen, sündigen, dem Untergang geweihten Welt lossagt. Die Bolschewiki haben viel darüber geschrieben, was es für sie bedeutete, ein Teil dieser heiligen Bruderschaft zu sein und welch ein Abgrund sie von dem kleinbürgerlichen „Sumpf“ trennt. Das Haus der Regierung war ihre belagerte Festung.

    Das heißt, sie fühlten sich auch innerhalb des Landes umzingelt?

    Das Haus an der Uferstraße war eine riesige Festung. Bei seiner Eröffnung war im Land gerade die Kollektivierung im Gange. Die Bewohner wussten und wussten gleichzeitig nicht, wie sie genau abläuft. Sie erließen Dekrete und stellten Pläne auf, aber sie diskutierten nicht, welchen Preis sie dafür zahlten. Sie sprachen nicht mit ihren Haushälterinnen darüber, was mit deren Familien passiert war. 
    Es war in dem Sinne eine belagerte Festung, als sie von sowjetischen Menschen umgeben waren, die gar keine waren. Die Sowjetunion war eine belagerte Festung innerhalb einer bourgeoisen Welt, das Haus der Regierung war eine belagerte Festung innerhalb der Sowjetunion, und jede einzelne Wohnung eine innerhalb des Hauses. Jeder Bolschewik war in seinen eigenen vier Wänden belagert. 

    Jeder Bolschewik war in seinen eigenen vier Wänden belagert

    Wir sehen, wie sehr sie darunter litten, dass das Leben von allen Seiten an sie herandrängte. Die Kinder wuchsen heran, auf den Tischen breiteten sich Tischdeckchen aus, an den Fenstern Vorhänge; Eltern, Verwandte kamen zu Besuch. Kleine Familien gab es da kaum, die allermeisten hatten eine Großfamilie. Der Schwiegervater – ein ehemaliger Rabbi – kam, die Schwiegermutter betete flüsternd, die Haushälterin vom Land taufte heimlich die Kinder. 
    Der rechtgläubige Bolschewik wurde überwuchert von Sachen und armen Verwandten. Denen, die Zeit zum Nachdenken hatten, war bewusst, dass sie Tag für Tag und Stunde für Stunde ihren Glauben verrieten. Und wenn man sie holen kam, wussten sie deshalb auch, dass sie in gewisser Weise schuldig waren.

    Stalin bleibt in Ihrem Buch fast außen vor. War er für [die Bolschewiki] der „Großinquisitor“, eine Dostojewski-Figur, die verstanden hat, dass man nicht auf die „Wiederkunft“ warten darf, sondern ein System errichten muss?

    Über Stalin habe ich nichts Neues zu sagen. Und er lebte ja auch nicht im Haus an der Uferstraße. Das ist gut, weil man in historischen Romanen den König normalerweise nicht zur Hauptfigur macht. Im Unterschied zu jemandem, der einen historischen Roman schreibt, konnte ich nichts erfinden, es kam mir also sehr gelegen, dass Stalin auf der anderen Seite des Flusses wohnte. Und es ist auch nicht so wichtig, was er dachte. Ich glaube, dass er ein wahrer Bolschewik war, ein gläubiger Mann. Aber gleichzeitig ein pragmatisches Staatsoberhaupt. Sie waren alle zugleich Gläubige und Staatsbeamte.

    Welches Erbe hinterließ die erste Generation von Bauherren der UdSSR? Ist es der nachfolgenden Generation gelungen, dem System Routine zu verleihen?

    Der Bau war nicht besonders solide. Wir wissen, wie die Sowjetunion zu Ende ging. Sie ist nie wirklich zur Routine geworden. Das Christentum existiert als Zivilisation schon seit 2000 Jahren. Die Kommunisten sind ausgestorben. Die Entwicklungskader meiner Figuren sind gestorben, und mit ihnen auch der Staat, den sie aufgebaut haben. Das heißt, etwas ist ihnen schon gelungen, und das ist nicht wenig. Sie sind die einzige millenaristische Sekte, die es geschafft hat, die Herrschaft in Babylon an sich zu reißen. 

    Das Christentum wurde erst vier Jahrhunderte nach dem Tod seines Propheten die offizielle Religion des Römischen Reiches, als kaum noch jemand den baldigen Weltuntergang herbeigesehnt hat. Die Bolschewiki blieben auch nach ihrer Machtergreifung inbrünstig gläubige Millenaristen. So etwas hat es noch nie gegeben. Aber es währte eben nicht lange.

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  • Die Massenerschießungen von Katyn

    Die Massenerschießungen von Katyn

    Im Frühjahr 1940 haben Erschießungskommandos des stalinistischen NKWD – des berüchtigten Innenkommissariats unter der Leitung von Lawrenti Berija – über 22.000 polnische Offiziere und Elitemilitärs getötet. Sie waren nach dem Einmarsch der Roten Armee in Polen interniert, in sowjetische Sonderlager gebracht und später verhaftet worden. Die präzise geplante Geheimdienstaktion wurde an mindestens drei Orten durchgeführt: in den Kellern der regionalen NKWD-Hauptquartiere in Kalinin und Charkow sowie in einem Waldgebiet unweit der westrussischen Stadt Smolensk. Die Gräber von circa 8000 Ermordeten entdeckten deutsche Wehrmachteinheiten im April 1941. Die von Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels daraufhin inszenierte Kampagne gab dem Verbrechen seinen Namen: Katyn, so heißt ein Dorf in der Nähe des Erschießungsortes.

    Heute steht Katyn als Chiffre für eines der schrecklichsten Verbrechen, die das stalinistische Regime im Zweiten Weltkrieg an der Bevölkerung Osteuropas verübte. In Polen ist Katyn das zentrale nationale Geschichtssymbol für das Leiden und Märtyrertum des polnischen Volkes und seiner nationalen Tragödien. Deren Schicksalshaftigkeit schien der Absturz der polnischen Präsidentenmaschine am 10. April 2010 bei Smolensk auf beklemmende Art und Weise zu bestätigen: Die Insassen der Maschine waren auf dem Weg zur Gedenkfeier anlässlich des 70. Jahrestages der Erschießungen.

    Leugnung und Tabuisierung

    Die Sowjetunion leugnete ihre Täterschaft jahrzehntelang und tabuisierte das Verbrechen. Mit allen Mitteln – von politischen Drohungen bis hin zur Verfolgung und Bestrafung einzelner Personen – versuchten alle sowjetischen Regierungen im Kalten Krieg, die Rede über Katyn zu verhindern. Sie erreichten das Gegenteil. Katyn war das zentrale Thema des polnischen Widerstands und der Dissidentenbewegung, die das staatskommunistische System in den 1980er Jahren zum Einsturz brachte.

    Quasi als Antwort auf die Goebbelsche Propagandakampagne, beabsichtigte die Sowjetunion, Katyn als nationalsozialistisches Verbrechen dem Kriegsgegner anzulasten. Diese Unternehmungen, unter anderem während des Nürnberger Militärtribunals, trugen allerdings dazu bei, dass die Massenerschießungen in West- und Osteuropa bekannt wurden. Obwohl niemand – von den Richtern in Nürnberg, über Winston Churchill, John F. Kennedy, der polnischen Bevölkerung bis hin zu allen sowjetischen Regierungschefs selbst – der sowjetischen Version wirklich glaubte, gelang es zumindest, die Frage der Täterschaft in der Schwebe zu halten. Schließlich war die Ungeheuerlichkeit des deutschen Vernichtungskrieges so groß, dass immer auch die Deutschen an dem Verbrechen schuld sein konnten. Außerdem hatte Goebbels Propagandamaschine die sowjetische Täterschaft behauptet, und wer wollte sich schon mit Goebbels gemein machen, selbst wenn dessen Version plausibel war?

    Narrative des Zweiten Weltkriegs

    Nur ein einziges Mal – während des Koreakrieges von 1950 bis 1953 – initiierte das US-amerikanische Repräsentantenhaus eine Untersuchung, die, wenig überraschend, zu dem Ergebnis kam, dass die polnischen Offiziere vom NKWD getötet worden waren. Juristische Folgen hatte dieses Ergebnis nicht. Danach erlosch das Interesse des Westens an einer Geschichte, die im Kalten Krieg allenfalls die politische Verständigung mit Moskau erschwerte. Darüber hinaus aber drohte sie die etablierten Narrative des Zweiten Weltkriegs und seine Erinnerungsordnung durcheinander zu bringen.

    Die Konfrontation mit dem tragischen Schicksal der Katynopfer bedeutete die Auseinandersetzung mit einem Kriegskapitel, das sich den Eindeutigkeiten der deutschen und der sowjetischen Propaganda ebenso entzog wie denen der Kriegserinnerung. Katyn war ein Verbrechen aus der Zeit des deutsch-sowjetischen Bündnisses von 1939 bis 1941. Es geschah in jenen ersten 22 Monaten des Zweiten Weltkrieges, in denen der Hitler-Stalin-Pakt und nicht die Feindschaft der Diktatoren den Gang der Ereignisse bestimmte. Dass Katyn die Folge der „tödlichen Verstrickung“ (Sebastian Haffner) von Nationalsozialismus und Stalinismus war, geriet durch die jahrzehntelang offen gehaltene Täterfrage in den Hintergrund. Seit dem Überfall Hitlers auf die Sowjetunion im Juni 1941 ist diese Geschichte mehr verdrängt als vergessen worden.

    Mythos vom Großen Vaterländischen Krieg

    Dass die Massenerschießungen von Katyn eine irritierende geschichtsrevisionistische Kraft besaßen, wusste bereits Michail Gorbatschow, der letzte Nachfolger Stalins und Generalsekretär der KPdSU. Inmitten der von ihm initiierten Glasnost-Politik – der schonungslosen Aufarbeitung der stalinistischen Gewaltgeschichte – bekannte Gorbatschow die lange verleugnete NKWD-Täterschaft. Er tat dies nicht etwa, weil es ihm in diesem Fall um eine aufarbeitende Auseinandersetzung mit der kommunistischen Gewalt- und Terrorgeschichte ging. Vielmehr befürchtete er, dass die alte Strategie der Leugnung im gesellschaftlichen Klima der 1990er Jahre mehr Schaden anrichten würde als ein Schuldbekenntnis. Gorbatschow hoffte, durch das Ende des Täterstreits im Fall Katyn eine gefährliche Debatte um sowjetische Kriegsverbrechen „im Keim zu ersticken“. Sie bedrohte den letzten sowjetischen Integrationsmythos vom Großen Vaterländischen Krieg. Aus diesem Grund rieten ihm Außenminister Eduard Schewardnadze, sein Berater Valentin Falin und der Chef des KGB, Wladimir Krjutschkow, „zu sagen, was wirklich geschehen ist“, um „die Sache zu beenden“ und keine „Diskussion des Hitler-Stalin-Pakts in Gang zu setzen“.
    „Der Hintergrund dieser Kampagne ist klar – den Polen soll eingeredet werden, die Sowjetunion sei keineswegs besser, sondern eher noch schlechter als das damalige Deutschland; sie trage keine geringere Verantwortung für den Ausbruch des Krieges und sogar für die militärische Zerschlagung des damaligen polnischen Staates.“1 Gorbatschows Berater ahnten die grundstürzende Infragestellung des Mythos vom Großen Vaterländischen Krieg in einer Zeit, in der die Auseinandersetzung mit dem Stalinismus schon (zu) viele Gewissheiten erschütterte.

    Von der russischen Regierung werden die Massenerschießungen heute nicht mehr geleugnet. Die Staatsduma definierte Katyn im Jahr 2010 als Kriegsverbrechen, sprach den Opferfamilien ihr Mitgefühl aus, und der gleichnamige Film des polnischen Regisseurs Andrzej Wajda wurde in russischen Kinos gezeigt. Allerdings war mit diesen Zugeständnissen nicht das Recht auf eine juristische Rehabilitation oder Entschädigung der Opferfamilien verbunden. Darüber hinaus relativieren politische Diskurse die Tat mit dem Hinweis auf den Polnisch-Russischen Krieg 1919/21, und tatsächlich haben einschlägige Autoren wie der Verschwörungstheoretiker Juri Muchin die NKWD-Täterschaft wieder infrage gestellt. Putin lässt sie gewähren, während das Gedenken an die Verbrechen des Stalinismus aus der öffentlichen Erinnerung verschwindet. Das Interesse an einer breiten historischen Aufarbeitung, die Katyn beispielsweise in den Kontext der deutsch-sowjetischen Zusammenarbeit in den ersten Weltkriegsmonaten stellt, ist – ähnlich wie zur Zeit Gorbatschows – auch heute nicht vorhanden.

    Für die Geschichtswissenschaft gerät mit dem Blick auf Katyn als Ereignis der deutsch-sowjetischen Verflechtungsgeschichte eine kontrovers diskutierte Forschungsfrage in den Fokus. Warum trafen Stalin und sein Politbüro die Entscheidung zur Erschießung in den ersten Märztagen des Jahres 1940 und nicht schon unmittelbar nach der Verhaftung? Warum wartete Berija?

    „Liquidiert sie selbst“

    Die polnischen Offiziere, im Unterschied zu den einfachen Soldaten, konnten nicht in Arbeitslager deportiert werden. Im Winter 1940 hatte das NKWD mehrmals probiert, die Polen über ein bilaterales Umsiedlungsabkommen in das deutsche Besatzungsgebiet zu überführen. Obwohl das im November 1939 ausgehandelte Abkommen auf „Volksdeutsche“, Ukrainer und Belarussen beschränkt war, war dies in der Vergangenheit mehrmals gelungen. Beide Regime hatten das Abkommen auf diese Art und Weise genutzt. Im Frühjahr 1940 allerdings scheiterten die erneuten Verhandlungen, vor allem weil Deutschland bereits weitaus mehr Menschen (circa 130.000) aufgenommen hatte als die Sowjetunion (circa 12.000). Mit dem Hinweis, dass der Umsiedlungsvertrag am 1. März 1940 auslief, lehnte das Dritte Reich die Übernahme weiterer Gefangenen ab.

    Diese Begründung war rechtlich nicht zu beanstanden und gleichzeitig ein bequemer Vorwand. Im Frühjahr 1940 planten die Besatzungsbehörden im Generalgouvernement eine große Vernichtungs- und Säuberungsaktion gegen den polnischen Widerstand, die berüchtigte „AB-Aktion“. Vor diesem Hintergrund hatten sie schlichtweg kein Interesse, noch mehr potentielle „Widerständler“, die in der Begründungslogik dieser Aktion ebenfalls „zu säubern“ gewesen wären, zu übernehmen. „Liquidiert sie selbst“ war der Subtext, mit dem die Deutschen ablehnten.2
    Die Gefangenen auszutauschen war keine Option mehr, ebenso wenig, sie als Angehörige der polnischen Militärelite in der Sowjetunion am Leben zu lassen. Wenige Tage nachdem der deutsch-sowjetische Umsiedlungsvertrag offiziell ausgelaufen war, schlug Berija die Massenerschießungen vor. Kurz nach der Entscheidung begann der geheime Abtransport aus den Sonderlagern an die drei Erschießungsorte. Es gehört zu der an tragischen Momenten reichen Katyngeschichte, dass viele der Opfer zuerst tatsächlich glaubten, die Züge würden sie zurück zu ihren Angehörigen in das deutsche Besatzungsgebiet bringen.

    Täterstreit

    Drei Jahre nach den Erschießungen organisierte Joseph Goebbels seine Propagandakampagne. Der Wind des Krieges hatte sich gedreht, der Überfall Hitlers auf die Sowjetunion hatte aus den Verbündeten erbitterte Feinde gemacht. Das Propagandaministerium karrte Tausende – einfache Wehrmachtsoldaten, internationale Pressegruppen, namhafte Schriftsteller, renommierte Gerichtsmediziner und Delegationen des Polnischen Roten Kreuzes – an den Tatort, wo ihnen die „grausame Hinterlassenschaft des jüdischen Bolschewismus“ vorgeführt wurde.

    Aber wieder drehte sich der Krieg, und im Herbst 1943 eroberte die Rote Armee das Gebiet von den Deutschen zurück. Danach inszenierten Stalins Propagandisten und das NKWD ihre Version eines nationalsozialistischen Verbrechens und ließen ebenfalls internationale Besucher die Massengräber besichtigen, darunter die Tochter des damaligen US-amerikanischen Botschafters in Moskau: Kathleen Harriman bestätigte die offizielle Darstellung der Sowjetunion.
    Der „Täterstreit“ hatte begonnen. Er verdeckte für viele Jahre, dass Katyn als eines der schrecklichsten stalinistischen Kriegsverbrechen zur Geschichte des Hitler-Stalin-Pakts gehört; eine Geschichte, die nach wie vor im Schatten der großen Weltkriegserzählungen liegt.


    1. Falin, Valentin (1997): Konflikte im Kreml: Zur Vorgeschichte der deutschen Einheit und Auflösung der Sowjetunion, München, S. 108 ↩︎
    2. Stanisław Mikołajczyk, ein Mitglied der polnischen Exilregierung in London, berichtete: „[Sie] wollten keine polnischen Offiziere mehr und schlugen den Russen vor, sie doch selbst zu töten.“ Zu den Details siehe: Weber, Claudia (2015): Krieg der Täter: Die Massenerschießungen von Katyń, Hamburg, S. 76-86 ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Monumentale Propaganda

    Monumentale Propaganda

    Ein Denkmal wird, so sagt man, nur zweimal wirklich wahrgenommen: Am Tag seiner Enthüllung und am Tag seines Sturzes. Dazwischen ist es unsichtbar. 

    Als 1991 nach der Auflösung der Sowjetunion eine Menschenmenge vor der Lubjanka medienwirksam eine Statue vom Sockel stürzte, musste sie mit Felix Dsershinski Vorlieb nehmen. Stalin-Statuen gab es schon seit 1962 nicht mehr. Wie es dazu kam …

    Der Umgang mit Denkmälern nach ihrem Sturz gibt Auskunft über den Umgang mit der Vergangenheit, an die sie erinnern / Foto © Igor Mukhin
    Der Umgang mit Denkmälern nach ihrem Sturz gibt Auskunft über den Umgang mit der Vergangenheit, an die sie erinnern / Foto © Igor Mukhin

    Die renommierte Literaturwissenschaftlerin Svetlana Boym bescheinigte den steinernen Gestalten verehrter Dichter und Denker die durchschnittliche Lebensdauer sowjetischer Männer von etwa 50 Jahren und spürte ihren nächtlichen und bedeutungsvollen Wegen durch Straßen und Hinterhöfe nach. Bedeutungsvoll, weil sie das Schicksal der Statuen in enger Beziehung zum Schicksal der Menschen sah. In den 1930er Jahren seien die Unliebsamen in Hinterhöfen verschwunden, während für die Führer gegolten habe: je gigantischer die Statuen, desto geringer der Wert eines Lebens.1

    „Im Stadtkern und in einigen Arbeitervierteln standen ganz frisch errichtete, meist aus Gips hergestellte Denkmäler berühmter Männer der Weltkultur und der russischen Vergangenheit, die sich um den Fortschritt verdient gemacht hatten. Viele Häuser trugen ebenfalls vor kurzem entstandene, in Kopfhöhe in die Straßenwand eingelassene Reliefs, die entweder in großen Buchstaben Grundideen des Sozialismus propagierten oder Szenen aus dem Befreiungskampf darstellten. Alle diese Denkmäler und Reliefs hoben sich stark vom Straßenbild ab und wurden dadurch besonders wirksam. Ich erfuhr, dass auch diese ‚Monumental-Propaganda‘, wie man damals sagte, auf eine Anregung Lenins zurückging. Hier war der erste Versuch gemacht, die Künstler für eine unmittelbare Mitarbeit an der Verbreitung der sozialistischen Weltanschauung zu gewinnen.“2

    Besetzung des öffentlichen Raums nach der Oktoberrevolution 1917

    Lenin hatte die Bedeutung der symbolischen Besetzung von Raum und Zeit für die Machtsicherung erkannt. Am 12. April 1918 unterzeichneten Lenin, Stalin und der Kulturminister Lunatscharski das Dekret über Monumentalpropaganda.3 Die Bolschewiki führten einen neuen Festkalender ein, änderten die Namen von Straßen und Plätzen, stürzten Denkmäler und errichteten neue Monumente.4 In größter Eile sollten zum ersten Jahrestag der Oktoberrevolution neue Helden und Symbole geschaffen werden – die Sockel selbst wurden nicht gekippt, was sich eigentlich angeboten hätte. Aber die Bildhauerei hatte in Russland keine Tradition, da der Adel eher Tafelbilder in Auftrag gegeben hatte. Auch die Liste geeigneter Helden war umstritten. Lunatscharski entwarf schließlich ein demokratisches Verfahren: Entwürfe wurden in Gips und Lehm errichtet und dem Volk zur Begutachtung und Abstimmung überantwortet.5Der Wettbewerb begann im Frühjahr 1918; bis die Skulpturen standen, war es September. Weil die Gebilde nicht wetterfest waren, litten sie unter dem nassen Herbstwetter. Auch ihre künstlerische Qualität war oft mangelhaft. Viele stießen auf wenig Gefallen und wurden durch Vandalismus verunstaltet oder zerstört.

    Zum ersten Jahrestag der Oktoberrevolution wurden in aller Eile neue Helden und Symbole geschaffen / Foto © Igor Mukhin
    Zum ersten Jahrestag der Oktoberrevolution wurden in aller Eile neue Helden und Symbole geschaffen / Foto © Igor Mukhin

    Eine konsequente Gestaltung öffentlicher Räume und eine einheitliche Formensprache entwickelten sich allerdings erst zu Beginn der 1930er Jahre: Mit dem Sozialistischen Realismus war eine einheitliche Kunstdoktrin installiert und staatliche Mittel wurden gebündelt. Die Richtlinien der Parteilichkeit, der Volkstümlichkeit und des Optimismus paarten sich mit dem Rückgriff auf eine klassische figürliche Formensprache.

    Stalins Monumentale Propaganda

    Anders als noch unter Lenin wurden die Stalin-Statuen bereits zu Lebzeiten aufgestellt. Stalin inszenierte sich zunächst als Erbe Lenins. Seine Herkunft war auf Plakaten und Reliefs als Erbfolge in Form einer Portrait-Reihe gestaltet: Marx, Engels, Lenin, Stalin. Auf Plakaten und Gemälden war er zunächst hinter und neben dem lebendigen Lenin zu sehen und lernte von ihm. Dann geriet Lenin als Bild oder Skulptur in den Hintergrund und wurde immer kleiner. Schließlich verschwand er ganz und Stalin agierte bescheiden und väterlich inmitten seiner Getreuen. Nach dem gewonnenen Krieg erschien Stalin losgelöst aus Kontexten, allein und monumental. 

    Es gab kleine Stalins für den Alltag: Skulpturenfabriken produzierten hunderte von Stalin-Büsten und Statuen.6 Und es gab die Giganten. Sie monopolisierten den sozialen Raum. Ihre schiere Größe und Menge sollte dem Regime Glaubwürdigkeit verleihen und dessen „ewige“ Stabilität bezeugen. 

    Die monumentalen Stalin-Statuen, Denkmäler und aufwendigen Reliefs, die in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre entstanden, waren in sorgfältig gestaltete Landschaften und bauliche Ensembles eingebettet, in Großprojekte, die die stalinistische Modernisierung vor Augen führten. Diese Ensembles waren klar abgegrenzte, von der Propaganda heftig beworbene Oasen im oft katastrophalen sowjetischen Alltag. Hierhin konnten sich die Sowjetbürger, die Erbauer des Kommunismus, nach Feierabend aus dem Schlamm der Baustellen, ihren überfüllten Kommunalka-Zimmern oder Arbeiterbaracken flüchten. Die prunkvolle Moskauer Metro mit ihren üppigen Säulenhallen brachte sie zum Gorki-Park für Kultur und Erholung, in die Allunions-Landwirtschaftsausstellung oder zum Flussbahnhof in Chimki, der Moskau über die Kanalbauten zum „Hafen von fünf Meeren“ machen sollte. Diese Orte waren wie Fenster, durch die sie in die wunderbare Zukunft blicken konnten. 

    Parks, Sanatorien und Pionierlager waren ausgeschmückt mit lebensgroßen Statuen von SportlerInnen, Kindern oder Revolutionären / Foto © Igor Mukhin
    Parks, Sanatorien und Pionierlager waren ausgeschmückt mit lebensgroßen Statuen von SportlerInnen, Kindern oder Revolutionären / Foto © Igor Mukhin

    Die Zukunftsinseln in den Großstädten und die Sanatorien und Pionierlager auf der Krim waren üppig ausgeschmückt mit Reliefs und lebensgroßen antik anmutenden Statuen, SportlerInnen, Kindern oder kräftigen Revolutionären. Es waren Replica bekannter Formen, die in quasi-industrieller Produktion am Laufmeter produziert wurden. An zentraler Stelle, neben dem Moskau-Wolga-Kanal oder auf dem Gelände der Landwirtschaftsausstellung, überragte jeweils eine monumentale Stalin-Statue die Szenerie. Die Statuen zeigten Stalin als in sich ruhenden Kraftpol. Er hatte den Überblick und sah in die Zukunft.

    Stalin selbst kontrollierte seine Abbilder. Die Statuen ähnelten sich alle, ganz gleich ob sie von Nikolaj Tomski, Sergej Merkurow, Alexander Kibalnikow oder anderen Künstlern stammten. Sie alle zeigten Stalin aufrecht stehend, den Mantel geöffnet, die rechte Hand im Revers der Uniformjacke, ein zusammengerolltes Papier in der Linken. 1951 wurde Tomski kritisiert, weil er einen lächelnden Stalin gewagt hatte.7  

    Trotz der Einförmigkeit waren Stalin-Statuen ein gutes Geschäft. Eine kleine Gruppe von „Hofkünstlern“ unter der Leitung von Alexander Gerassimow monopolisierte zwischen 1939 und 1957 die Vergabe der Aufträge und die Festsetzung der Preise.8 Die Künstler kopierten ihre eigenen Statuen mehrfach, die multiplizierten Statuen bevölkerten verschiedene Städte. Künstler und Funktionäre teilten sich die so erzielten Gewinne.9 1953 kritisierte die Kulturabteilung des Zentralkomitees die mangelhafte Qualität der sowjetischen Bildhauerei und die Praxis der Replica, die dazu führte, dass in sowjetischen Städten immer die gleichen Statuen anzutreffen waren. 1954 wurden die finanziellen Unregelmäßigkeiten vom Kultusministerium aufgedeckt. Stalins Bildhauer-Kohorte Jewgeni Wutschetitsch, Nikolaj Tomski, Georgi Motowilow und Matwej Manizer hatte sich den Löwenanteil der Aufträge und Honorare gesichert.10

    Stalin als Koloss

    Um die Kolossalstatuen rankten sich Geschichten und Legenden, ganz gleich, ob sie umgesetzt wurden oder im Planstadium blieben wie der enorme Lenin, der den nie gebauten Palast der Sowjets krönen sollte. Diese Geschichten drehten sich um Fragen politischer Korrektheit – durfte man Lenin proportional verzerrt darstellen, damit er perspektivisch richtig wirkte? – oder um technische und terminliche Schwierigkeiten. 

    30 Meter hoch: Stalin in Prag / CC-BY SA 3.0
    30 Meter hoch: Stalin in Prag / CC-BY SA 3.0

    Die Stalin-Statue aus rosa Granit von Sergej Merkurow, die 1991 auf dem Moskauer Friedhof der gefallenen Helden auftauchte, soll eine Vorlage des Bildhauers aus dem Jahr 1937 für die 15 Meter hohe Kolossalstatue am Eingang des Moskau-Wolga-Kanals und für eine weitere auf dem Moskauer Theaterplatz gewesen sein.11 Der Legende nach hatte der Künstler die Statue nach der Entstalinisierung in seinem Garten verscharrt.

    Ebenfalls von Sergej Merkurow war der Stalin aus Eisenbeton vor dem Pavillon der Mechanisierung auf der 1939 eröffneten Landwirtschaftsausstellung. Auch hier gibt es eine Geschichte: „In die riesenhafte Stalin-Statue wurde das Modell eingelassen, nach dem sie errichtet worden war, da niemand es wagen konnte, dieses Modell zu vernichten.“12 Wie die Heiligen in den Ikonen so war auch Stalin in seinen Abbildern als Modell gegenwärtig. Ein Angriff auf das Modell hätte ihm im magischen Denken Schaden zufügen können.

    Nach 1945 wetteiferten zahlreiche Städte darum, Stalin durch möglichst große und prominent platzierte Monumente zu ehren. Anlässlich von Stalins 70. Geburtstag 1949 wurden allein in Leningrad fünf Stalin-Statuen eingeweiht – eine symbolische Eroberung der Stadt Lenins.13 

    In der armenischen Hauptstadt Jerewan wurde 1950 ein Siegespark eingeweiht, dessen gigantischer Stalin die Stadtsilhouette dominierte.14 Eine Initiative für eine Kolossalstatue gab es 1948 auch in der georgischen Hauptstadt Tbilissi. Das Monument sollte 80 Meter hoch sein und auf einem Berg 350 Meter oberhalb der Stadt stehen. Der Gigant gelangte dann aber nicht zur Ausführung.15 In Prag wurde 1955 eine immerhin 50 Meter hohe, weiße Marmorstatue enthüllt. Sie wog 17.000 Tonnen und soll die größte je errichtete Stalin-Statue gewesen sein.16

    Der Bildersturm des Tauwetters

    Unmittelbar nach der Geheimrede auf dem XX. Parteikongress 1956 gab es heftige Reaktionen an der Peripherie: In Tbilissi demonstrierten aufgebrachte Georgier gegen die Angriffe auf ihren Nationalhelden, in Budapest stürzte eine Menschenmenge die Stalin-Statue von ihrem Sockel. In der Sowjetunion waren die Menschen verunsichert: Sollte man Stalins Portraits abhängen? Zerstören?17 Viele Menschen warfen die Stalin-Bilder aus ihren Wohnungen, auch aus Büros und Klassenzimmern. In den 1950er Jahren wurden über einhundert Stalin-Statuen und -Reliefs aus der Moskauer Metro entfernt.18Angeblich klopften ehemalige Gulag-Häftlinge die Stalins aus den Wänden.19
    Aber spontane öffentliche Akte des Bildersturzes lösten bei den Parteioberen Unsicherheit und Ängste aus. Im April 1956 wurde in einem Bericht festgehalten, dass nach der Geheimrede zahlreiche Angriffe auf Bilder, Büsten und Statuen Stalins stattgefunden hatten. In Tallinn waren Bücher und Portraits verbrannt worden, vor der Bibliothek in Brest hatte ein Mann eine Stalin-Statue mit dem Hammer traktiert, und in Petrosawodsk war eine Statue mit Farbe beschmiert worden.20 Schon bald wurden Bilderstürmer, die man zunächst nur zur Ordnung gerufen hatte, strafrechtlich verfolgt, um jede Anarchie im Keim zu ersticken. Wer nun eine Stalin-Statue köpfte, wurde als Hooligan bestraft.21 

    Gefallene Helden – die sowjetischen Ikonen wurden nach 1991 von ihren privilegierten Standorten entfernt / Foto © Igor Mukhin
    Gefallene Helden – die sowjetischen Ikonen wurden nach 1991 von ihren privilegierten Standorten entfernt / Foto © Igor Mukhin

    Der XXII. Parteikongress 1961 sollte Chruschtschows Vision des Kommunismus voranbringen, entwickelte sich dann aber zu einer „Orgie der Stalin-Kritik“.22 Diese gipfelte in dem symbolisch bedeutsamen Entscheid, Stalins einbalsamierten Leichnam aus dem Mausoleum zu holen, wo er an der Seite Lenins ruhte. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion wurde er in einem Ehrengrab an der Kreml-Mauer beigesetzt. Dort liegt er noch heute.

    In der Folge wurden die Stalinstatuen systematisch abgeräumt. Zahlreiche Betriebe und Institutionen, die Stalins Namen trugen, wurden umbenannt. Als aus Stalingrad Wolgograd wurde, gab es Widerstände wegen der historischen Bedeutung der Stadt im Großen Vaterländischen Krieg. Der Bildersturm war aber kein öffentliches Happening, sondern blieb auf eine kleine Elite beschränkt, die effizient und überaus diskret arbeitete. Die Bürger durften die Entfernung Stalins von den öffentlichen Plätzen fordern, aber nicht selbst Hand anlegen: Die Stalin-Statuen verschwanden ohne Ankündigung, auf geheimnisvolle Weise, meistens über Nacht.23 

    Die Reaktionen waren auch jetzt ambivalent. Ein großes Stalindenkmal in Tbilissi wurde 1962 aus Angst vor Protesten während eines Fußballspiels per Helikopter abtransportiert, dann aber im Magazin des städtischen Museums verstaut.24 In Prag ordnete die Regierung die Sprengung des marmornen Giganten an. 800 Kilogramm Dynamit waren nötig, um den Koloss zu Kies zu machen, der dann in Lastwagen durch ein Spalier jubelnder Zuschauer abtransportiert wurde.25 

    Noch heute liegt Stalin in einem Grab an der Kremlmauer, in das er 1961 umgebettet wurde / Foto © Igor Mukhin
    Noch heute liegt Stalin in einem Grab an der Kremlmauer, in das er 1961 umgebettet wurde / Foto © Igor Mukhin

    Alle Stalins fielen. Aber es gab Ausnahmen. In Georgien war Stalin ein Volksheld, der berühmte Sohn des Landes, der die Sowjetunion in die Moderne geführt und die Faschisten besiegt hatte. In Stalins Geburtsstadt Gori wurde die Statue auf dem zentralen Platz erst 2010 entfernt,26 ungeachtet der Proteste der Kommunistischen Partei und der Stalin-Gesellschaft.27 Inzwischen steht sie wieder, im Park des Stalin-Museums, wo sie Igor Mukhin fotografierte. Diese Aufnahme aus dem Jahr 2017 zeigt sie in hellem Glanz. Stalin und die sowjetische Vergangenheit sind in der georgischen Gesellschaft ein strittiges Thema, das Verhältnis zu Russland ist schwierig. Aber auch in Russland ist Stalin für die einen Henker des eigenen Volkes, während die anderen ihn als Helden verehren. Er ist Teil des patriotischen Narrativs. In den letzten Jahren wurden über Hundert Gedenktafeln und Denkmäler zu seinen Ehren errichtet.28 

    Der Umgang mit Denkmälern nach ihrem Sturz gibt Auskunft über den Umgang mit der Vergangenheit, an die sie erinnern: Die sowjetischen Ikonen wanderten nach 1991 von ihren privilegierten Standorten auf den zentralen Plätzen der Hauptstadt über die Müllhalde auf den „Friedhof der gefallenen Helden“. Hier lagen sie zunächst herum und wurden zur Touristenattraktion. Auf ihrer Wanderung durch die Stadt verloren sie Schuhe, Finger und Nasen, wurden beschmiert und angepinkelt. Nun lag Stalin neben Swerdlow, Kalinin, Breshnew, einigen Lenins und dem „eisernen Felix“.29 Doch die Figuren erhoben sich überraschend schnell wieder, putzten sich heraus und gruppierten sich zur Darstellung von neuen Vergangenheitsversionen.30 Als die Moskauer Stadtverwaltung den Park 1996 aufräumte und die Statuen reinigte und restaurierte, stellte sie auch den liegenden Stalin wieder auf die Füße. Er wurde als Einziger in einem Arrangement mit Opfern des Terrors aufgestellt.31 Svetlana Boym deutete schon damals diese Wiederaufrichtung der Denkmäler im Park der Künste als symbolhaften Verweis auf den Umgang mit der sowjetischen Vergangenheit, deren Leitfiguren hier wieder auf ihre Sockel gestellt wurden.32 


    1. Boym, Svetlana (2001): The Future of Nostalgia, New York, S. 89 ↩︎
    2. Kurella, Alfred (1967): Unterwegs zu Lenin: Erinnerungen, Berlin (Ost), S. 276-277, zit. nach: Kuntze, Klaus (Hrsg., 1980): Reise nach Moskau: Aufzeichnungen und Berichte, S. 1526-1972, Frankfurt/Main ↩︎
    3. Tolstoy, Vladimir/Bibikova, Irina/Cooke, Catherine (Hrsg., 1990): Street art of the Revolution: Festivals and Celebrations in Russia 1918-33, London, S. 37 und Dmitrieva, Marina (2005): Dekorationen des Augenblicks im Massentheater der Revolution: Petrograd, Kiew und Witebsk 1918-1920, in: Bartetzky, Arnold/Dmitrieva, Marina/Troebst, Stefan (Hrsg.): Neue Staaten – neue Bilder? Visuelle Kultur im Dienst staatlicher Selbstdarstellung in Zentral- und Osteuropa seit 1918, Köln, S. 117-131 ↩︎
    4. Gaßner, Hubertus (1992): Sowjetische Denkmäler im Aufbau, in: Diers, Michael (Hrsg.): Mo(nu)mente. Formen und Funktion ephemerer Denkmäler, Berlin 1992, S. 153-178 ↩︎
    5. Bowlt, John E. (1978): Russian Sculpture and Lenin’s Plan of Monumental Propaganda, in: Milton, Henry A./Nochlin, Linda (Hrsg.): Art and Architecture in the Service of Politics, Cambridge, Massachussetts, S. 182-192 ↩︎
    6. Plamper,Jan (2012): The Stalin Cult: A Study in the Alchemy of Power, New Haven, S. 184 ↩︎
    7. Kruk,Sergei (2008): Semiotics of visual iconicity in Leninist ‘monumental’ propaganda, S. 49-50, in: Visual Communication 7 (2008) 1, S. 27-56 ↩︎
    8. Kruk, S. 49-50 ↩︎
    9. Kruk, S. 50 ↩︎
    10. Kruk, S. 51 ↩︎
    11. Taylor, S. 46, Abb. bei Kruk, S. 42 ↩︎
    12. Ryklin, Michail (2003): Räume des Jubels: Totalitarismus du Differenz, Frankfurt/Main, S. 135 ↩︎
    13. Kruk, S. 35 ↩︎
    14. Lehmann,Maike (2011): Eine sowjetische Nation: Nationale Sozialismusinterpretationen in Armenien seit 1945, Frankfurt/Main, S. 118-120 ↩︎
    15. Kabachnik, Peter/Gugushvili, Alexi/Jishkariani, David (2015): A Personality Cult’s Rise and Fall: Three Cities after Khrushchev’s “Secret Speech” and the Stalin Monument that Never Was, S. 319-324, in: Region: Regional Studies of Russia, Eastern Europe, and Central Asia 4 (2015) 2, S. 309-26 ↩︎
    16. Kabachnik/Gugushvili/Jishkariani, S. 312 ↩︎
    17. Jones, Polly (2005): From the Secret Speech to the Burial of Stalin, S. 48, in: Jones, Polly (Hrsg.): Dilemmas of De-Stalinization, Abingdon-on-Themes, S. 41-63 ↩︎
    18. Kruk, S. 48 ↩︎
    19. Boym, S. 88 ↩︎
    20. Jones, S. 50 ↩︎
    21. Jones, S. 51 ↩︎
    22. Jones, S. 51 ↩︎
    23. Jones, S. 55-56 ↩︎
    24. Tomaszewski, Andrzej (1993): Zwischen Ideologie, Politik und Kunst: Denkmäler er kommunistischen Ära, in: Gamboni, Dario (Hrsg.): Bildersturm in Osteuropa: Die Denkmäler der kommunistischen Ära im Umbruch, Icomos Hefte des deutschen Nationalkomitees XIII, S. 29-34 ↩︎
    25. Kabachnik/Gugushvili/Jishkariani, S. 312 ↩︎
    26. Crawford, Dean (1990): History by Association, S. 55, in: Southwest Review, Vol. 75, No. 1, S. 55-71 ↩︎
    27. Bendtsen Gotfredsen,Katrine (2014): Void Pasts and Marginal Presents: On Nostalgia and Obsolete Futures in the Republic of Georgia, S. 246, in Slavic Review, Vol. 73, No. 2, S. 246-264 ↩︎
    28. Neue Zürcher Zeitung: Noch ist Stalin heiße Geschichte – Russlands Kampf mit einer Vergangenheit, die nicht vergehen will ↩︎
    29. Brandon Taylor (2000): Later Soviet sculpture, S. 42, in: Third Text, 14:51, S. 39-50 ↩︎
    30. Forest,Benjamin/Johnson,Juliet (2002): Unraveling the Threads of History: Soviet-Era Monuments and Post-Soviet National Identity in Moscow, S. 536f., in: Annals of the Association of American Geographers,Vol. 92, No. 3, S. 524-547 und Boym, S. 79 ↩︎
    31. Forest/Johnson, S. 536 und Boym, S. 86 f. ↩︎
    32. Boym, S. 89 ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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