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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Raketensammler im hohen Norden

    Raketensammler im hohen Norden

    Polja Padenija (dt. „Absturzfelder“) ist eine Geschichte über die Bewohner des Mesen-Flussbeckens. Seit den 1960er Jahren dienen die dortigen Wälder als Deponie für unterschiedliche Raketenstufen. Die stürzen nach jedem Start vom Kosmodrom in Plessezk unweit der umliegenden Dörfer in die Wälder. 
    Die Waldgebiete, die das Militär für das Kosmodrom nutzt, galten als dünnbesiedelt. Doch für die Einheimischen waren diese Wälder Teil ihres Jagdreviers, des Fischfangs und einfach ein persönlicher, vertrauter Ort. 
    Das ist eine Geschichte darüber, wie sich die Dorfbewohner in den 1990er Jahren an die neuen Gegebenheiten angepasst und ein Gewerbe aufgebaut haben: Grundlage dafür war das Metall des Raketen-Schrotts.

    Das Fotoprojekt auf Colta nutzt Bilder aus Privatarchiven aus der Oblast Archangelsk und der Republik Komi.

    Bis zum Zerfall der Sowjetunion beschränkte sich die Bekanntschaft der örtlichen Bewohner mit der Weltraumtechnik darauf, dass Jäger zufällig auf herabgefallene Raketenstufen stießen. Das Militär räumte das Metall nicht aus dem Wald ab, aber die Anwesenheit des Staates hinderte die örtlichen Bewohner daran, einfach selbst darüber zu verfügen. / Fotos © Makar Tereschin

     

    Ein wirkliches Interesse am Weltraumschrott zeigte sich erst nach dem Zerfall der Sowjetunion.

     

    Seit den 1960er Jahren, als das Kosmodrom Plessezk in Betrieb genommen wurde, türmten sich in jeder der Absturzzonen mehrere Dutzend und manchmal Hunderte von Raketenteilen.

     

    Die Raketenteile, die jahrzehntelang als Schrott in den umliegenden Wäldern und Sümpfen gelandet waren, entpuppten sich als gute Einnahmequelle.

     

    Viele Dörfer, die in der Nähe der Absturzgebiete liegen, sind weit entfernt von den nächsten regionalen Zentren. Teilweise sind diese Dörfer nur per Flugzeug oder eigenem Boot zu erreichen.

     

    Seit Mitte der 1990er Jahre verfielen in der Gegend viele Kolchosen. Die Dorfbewohner, die arbeitslos wurden, blieben sich selbst überlassen.

     

    Die Dorfbewohner aus der Nähe der Absturzgebiete organisierten sich in Gruppen, um das Altmetall zu sammeln. So verdienten sie Geld, was auf andere Art und Weise viel schwerer gewesen wäre.

     

    Der Großteil der Jugend zog in die Städte, wo es mehr Chancen gab, Geld zu verdienen. Die Dörfer entvölkerten sich zusehends.

     

    Gleichzeitig kam es in den Städten zu einem Handelsboom. In Archangelsk und Syktywkar öffneten Altmetallannahmestellen, die das Interesse am Raketenschrott merklich steigen ließen.

     

    Wer nicht wegziehen wollte, dem ermöglichte das Schrottsammeln einen Zuverdienst zum ständig zu spät ausgezahlten Lohn. Die Eifrigsten verdienten damit so viel Geld, dass sie damit die Familie ernähren konnten.

     

    Ein paar Arbeitsplätze blieben in den Kolchosen an der Küste des Weißen Meeres bestehen, wo heute noch Fischereiboote aus Sowjetzeiten im Einsatz sind.

     

    Diejenigen Dorfbewohner, die weit weg vom Meer und Zufahrtswegen leben, sind in Krisenzeiten zur Selbstversorgung übergegangen. Die Fischerei und die Jagd sind hierbei grundlegend für die Lebensmittelversorgung.

     

    Mit dem Schrottsammeln haben als erstes die erfahrenen Jäger angefangen, die die umliegenden Wälder gut kennen. Sie haben Teile der Raketenstufen herausgetrennt und daraus Schlitten gebaut.

     

    Im Winter wurde der gefundene Raketenschrott in einzelne Stücke gesägt. Es gab kein geeignetes Werkzeug dafür, deshalb musste jeder sein eigenes erfinden – das gängigste war die Säge Freundschaft.

     

    Die zugeschnittenen Metallteile brachten sie im Frühjahr aus dem Wald, als der Schnee fester war.

     

    Der Sommer dagegen war der landwirtschaftlichen Arbeit gewidmet, der Jagd, dem Fischfang und der Suche nach Raketenschrott.

     

    Wenn man in den 1990er Jahren in einigen Gegenden über den Sumpf blickte, konnte man in Sichtweite dutzende Raketen ausmachen.

     

    Jede gefundene Raketenstufe enthält einige Tonnen Aluminium, Titan, Kupfer und einen bedeutenden Anteil an Silber und Gold.

     

    Die Raketenteile wurden nicht immer komplett verschrottet. Einige Teile fanden ihre Verwendung im Alltagsleben. Brennstoffleitungen wurden für die Samogon-Apparatur verwendet, innere Konstruktionselemente wurden zu Dachrinnen auf den Häusern der Dörfer. Und ein Bootsbauer hat aus Metallteilen – die noch übrig waren von Schiffen, die er zunächst daraus gebaut hatte – den Zaun seines Hauses und seines eigenen Grabs geschmiedet.

     

    Irgendwann hat dieses Gewerbe einen solchen Umsatz gebracht, dass man in fast jedem beliebigen Dorf unweit des Absturzgebietes Schrotthaufen sah, die man aus dem Wald getragen hatte.

     

    Die örtlichen Bootsbauer haben gelernt, aus dem oberen Teil der Raketenstufen längliche Flachboote herzustellen, gut geeignet für den flachen Fluss. Die aus solchem Metall gefertigten Boote bekamen den Namen „Rakete“.

     

    Da die „Raketen” so bequem und langlebig sind, werden sie von vielen Bewohnern der umliegenden Dörfer genutzt. Die Herstellung eines solches Bootes bringt viel Geld. Ein Exemplar kostet 120.000 Rubel (derzeit ca. 1600 Euro – dek): 80.000 zahlt der Kunde fürs Metall, und 40.000 gehen an den Handwerker.

     

    In den 2000ern begannen die Bewohner dagegen zu protestieren, dass die umliegenden Wälder als Schrotthalden genutzt werden. Hauptgrund war Hepytl, giftiger Treibstoff einer Reihe von Raketenträgern. Damit verbunden ist nicht nur die Verunreinigung des Bodens, sondern auch ein erhöhtes Krebsrisiko.
    Heute hat das Militär das Absturzgebiet verlegt und die Raketen stürzen deutlich weiter nördlich ab. Es gibt nur noch wenige komplette Raketenstufen im Wald, sie zu finden ist viel schwieriger und der Transport wesentlich arbeitsintensiver. 
    Das Gewerbe ist praktisch auf Null gesunken. Nur die vielen „Raketen” in den Flüssen der Gegend erinnern noch daran.

    Text und Fotos: Makar Tereschin/Colta.ru
    Übersetzung: dekoder-Team
    Veröffentlicht am 01.11.2018

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  • Das Himmelfahrts-Kommando

    Das Himmelfahrts-Kommando

    „Willkommen in Asgardia – die allererste Weltraumnation, die allen offensteht!“ Mit diesem Grußwort ruft der russische Unternehmer Igor Aschurbejli auf seiner Website alle Erdenbürger dazu auf, sich den 170.000 Asgardianern anzuschließen. Der kosmische Staat soll die Erde vor Weltraumschrott, -strahlung und Sonnenstürmen schützen. Alle Grenzen werden überwunden, alle Konflikte beigelegt, verspricht Aschurbejli.  

    Alles Spinnerei? Taissija Bekbulatowa hat Aschurbejli für Meduza getroffen.

    Kolonie im Kosmos ©Личный сайт И.Р. Ашурбейли

    Igor Aschurbejli, 54, hat ein rundes gutmütiges Gesicht, Brille, einen grauen Schnauzer und war früher Chef eines Rüstungskonzerns. Man würde bei ihm als Letztes darauf kommen, dass er der Regierungschef eines Staates im Weltraum ist. 

    Während des Interviews benimmt er sich wie ein ungezogenes Kind: Unangenehme Fragen beantwortet er gar nicht erst, sondern kehrt mir den Rücken zu und fragt seine Assistentin mit gespielter Empörung: „Wen hast du mir denn da angeschleppt? Ich weiß nicht, was das hier soll?“ Dann dreht er sich wieder zu mir und sagt: „Ich habe irgendwie vergessen, was Sie gefragt haben.“ Nach einer meiner Fragen schaut er erstaunt auf die Uhr im Büro: „Die Uhr ist stehengeblieben. Irgendwas stimmt mit Ihnen nicht. Sogar die Uhr bleibt stehen.“ 

    Ein ganzes Jahrzehnt leitete Aschurbejli Almaz-Antei, einen der wichtigsten russischen Rüstungsbetriebe. Sein Büro befindet sich bis heute in demselben Gebäude am Leningrader Prospekt wie Almaz-Antei. Dort sind auch die Räume seiner Holding Sozium, die sich ebenfalls mit Rüstungsaufträgen beschäftigt. 

    Wie es sich für einen respektablen Geschäftsmann gehört, ist Aschurbejlis Arbeitszimmer mit dunklem Holz getäfelt, außerdem wird der Besucher zwischen Innen- und Außentür unerwartet von einem Skelett begrüßt. Die Assistentin erklärt, dass ihr Chef seine Leichen nicht im Keller verstecke, sondern dass er Offenheit demonstriere, „den Zustand der künftigen Welt”. Aschurbejli hat das Weltraum-Königreich Asgardia kurz nach seiner Kündigung bei Almaz-Antei gegründet. 

    Kolonie im Kosmos

    Asgardia hat schon 170.000 Bürger aus der ganzen Welt, und Aschurbejli hat die feste Absicht, eine Kolonie im Kosmos zu begründen. „Ich will zu meinen Lebzeiten eine ständige Kolonie auf dem Mond gründen und dort hinfliegen. Alles andere ist Abenteurerei.“

    Igor Aschurbejli wurde in Baku geboren, wuchs dort auf und studierte am Aserbaidschanischen Institut für Erdöl und Chemie. 1990 zog er nach Moskau und fing an Geschäfte zu machen, so organisierte er einige Kooperativen, die sich mit Softwareentwicklung und Computertechnik beschäftigten. Nach seinen eigenen Worten, fing er von Null an, „ohne jegliche Unterstützung, ohne Protektion“. „Die 1990er waren eine schwere Zeit, ich habe sie in all ihren Feinheiten am eigenen Leibe erfahren: Bei Schlägereien war ich dabei und reden konnte ich, dass ich als Gauner durchging.“
    „Was sollte man tun? Irgendwie musste man ja da durchkommen und den Überblick behalten“, erinnert er sich an einer anderen Stelle. 

    Aschurbejli gründete eine Firma, die ab 1991 mit dem Rüstungsbetrieb Almaz zusammenarbeitete, wo man ihm 1994 vorschlug, stellvertretender Generaldirektor zu werden. Sechs Jahre später wurde Aschurbejli Generaldirektor und blieb es bis 2011. Unter seiner Leitung entwickelten die Ingenieure von Almaz Flugabwehrraketensysteme, die im Ausland sehr beliebt waren und die Almaz-Antei einen stabilen Umsatz und einen Platz ganz vorne im Ranking der Rüstungsunternehmen sicherten. 
    2011 beschloss der Aufsichtsrat, Aschurbejli zu entlassen, verpackte die Nachricht allerdings in eine Danksagung. „Ich muss zugeben, der bittere Nachgeschmack, dass sie mich abgesägt haben, ist geblieben. Und die Staatsgeschäfte, mit denen ich mich in meinem vorherigen Lebensabschnitt erfolgreich befasst habe, war von ganz anderer Dimension als die privaten Aufgaben, denen ich mich heute widme.“ 

    Kirchenbau als Labsal für die Seele

    Laut Aschurbejli war es schwer, mit dem Stress nach der Kündigung klarzukommen: „Ich brauchte einen Ausgleich.“ Deswegen begann er „Kirchen zu bauen“ – das war eine Labsal „für die Seele“ des ehemaligen Waffenbauers. 
    Auch wenn er seine Kritik am aktuellen russischen Staat nicht näher benennen will, ist Aschurbejli ein politisch aktiver Mensch. Er ist Vorsitzender der Partei Wiedergeburt Russlands, die ihm 2015 nach dem Tod seines alten Freundes Gennadi Selesnjow, Parteigründer und Ex-Sprecher der Duma, zufiel.

    Eine der Initiativen der Partei war beispielsweise, die öffentlichen Toiletten zur „nationalen Idee“ Moskaus zu erklären. Aschurbejli behauptet, dass er kein Anhänger Wladimir Putins sei, aber ihm pünktlich zum Geburtstag zu gratulieren hat er nicht vergessen.

    Im Übrigen sind seine wahren politischen Ansichten monarchistisch. Er sagte mehrmals, dass Russland eine konstitutionelle Monarchie brauche und zwar „mit einem jungen, etwa 40-jährigen Zaren an der Spitze. Der neue Herrscher Russlands wird seine Thronbesteigung mit dem Segen des Patriarchen der ganzen Rus in der Alexander-Newski-Kirche in Jerusalem verkünden, und zwar … hoffentlich im Jahr … 2017, aber spätestens 2018“, so äußerte er sich im Sommer 2016. 

    Der Monarchist Aschurbejli wird aber auch nostalgisch, wenn es um die sozialistische Vergangenheit geht: „Ein Fläschen Wodka und eine Tafel Schokolade und, na ja, ein bisschen Kleingeld, das waren einmal die russisch-sowjetischen Kommunikationsmittel. Jetzt zählt nur noch der schnöde Dollar.“ Die heutige Gesellschaft missfällt ihm und er deutet an, dass das Volk „unprofessionellen Intriganten“, ja „Scharlatanen“, wenn nicht gar „Banditen“ zur Macht verholfen habe und erklärt, dass die gegenwärtigen Staaten „ausgelaugt und zu Vasallenburgen der räuberischen Mammonelite verkommen sind“. 

    Nach der Internetseite des Geschäftsmanns zu urteilen, sind es seine Überlegungen zum traurigen Zustand der heutigen Zivilisation und zur glücklosen demographischen Entwicklung Russlands, die ihn auf die Idee gebracht haben, einen eigenen, zunächst panslawischen Staat zu gründen – der dann aber auch Menschen aus der ganzen Welt aufnehmen soll. 
    Aufbauen will er ihn allerdings nicht auf diesem Planeten. „Auf der Erde kommt die Menschheit mit ihren Problemen nicht klar, das konnte sie noch nie und wird sie nie können“, erklärt Aschurbejli. 

    Auf der Erde kommt die Menschheit mit ihren Problemen nicht klar, das konnte sie noch nie und wird sie nie können
     

    Am 12. November 2017 startete vom Weltraumbahnhof Wallops im US-amerikanischen Bundesstaat Virginia die Trägerrakete Antares. Sie brachte den Raumtransporter Cygnus auf die Umlaufbahn. Neben einer Ladung für die Internationale Raumstation transportierte sie einen äußerst kleinen, 2,8 kg schweren Satelliten von der CubeSat-Größe eines Weißbrots mit dem Namen Asgardia-1. Auf dem Satelliten waren 512 Gigabyte Daten von „Bürgern“ Asgardias gespeichert, die, wenn sie sich auf der Asgardia-Homepage registriert hatten, eine Datei, zum Beispiel ein Foto, in den Weltraum schicken konnten. 

    „Ich habe den Verdacht, dass das die erste Erwähnung von Rap-Musik draußen im Weltraum ist, deswegen bin ich wahrscheinlich so eine Art Gagarin des russischen Raps“, scherzt der Musiker Leonid Popow. Als er von der Asgardia erfuhr, registrierte er sich einfach so zum Spaß auf der Website und beschloss, „ein Zeichen seines Daseins“ ins All zu schicken. „Damals habe ich gerade, meine Single Interstellar fertig gemacht und dachte, es wäre doch symbolisch, den Track in den Weltraum zu schicken”, erzählt er. „So sehr ich auch versucht habe, die Datei zu komprimieren, es ist mir leider nicht gelungen, diesen Track in den Weltraum zu senden. Die erlaubte Dateigröße war einfach zu klein. Letztlich konnte ich dann doch nur das Cover der Single hochladen.“

    Die eigentliche Aufgabe des Satelliten war es aber, ein wenn auch kleines, jedoch souveränes Territorium für den Staat Asgardia zu markieren. Eine Fahne, eine Hymne, ein Wappen und eine „Bevölkerung“ hatte er damals schon. Eine Mindestfläche, die ein Staat haben muss, ist nirgends festgeschrieben, sodass Asgardia jetzt formal über alle Merkmale eines Staates verfügt.

    Sobald es Staatsorgane gibt, will sich Aschurbejli außerdem an die UNO wenden, damit Asgardia Mitglied der Organisation wird. „Eher wird die UNO aufgelöst, als dass sie Asgardia nicht als Staat anerkennt“, ist Aschurbejli zuversichtlich. Hauptsache sei, dass andere Staaten Asgardia durch Unterzeichnung gegenseitiger Verträge anerkennen, sagt er weiter: „Und seien es nur fünf Staaten der Erde – und die kann ich schon nennen –, die Asgardia als Staat anerkennen, dann kommen wir einfach nach New York und sagen: ,Hallo, wagen Sie es nur, uns nicht aufzunehmen!’“ Nach den Worten eines Informanten aus der Umgebung Aschurbejlis rechnet er sicher mit der Unterstützung von Monaco und Lichtenstein.

    Monarchie statt Demokratie in Asgardia

    Im neuen Staat haben schon öffentliche Debatten angefangen. Am meisten kränkte die Asgardianer die Art, wie die Verfassung des neuen Staats erstellt wurde. Eine Gruppe von Juristen aus verschiedenen Ländern hatte die Verfassung ohne Mitwirken der Asgardianer selbst ausgearbeitet. 

    Obwohl Aschurbejli mehrmals mitgeteilt hat, dass die neue Staatsordnung von den Bürgern selbst bestimmt wird, erklärt die Verfassung Asgardia zum Königreich. In der Verfassung steht, dass Aschurbejli der Gründungsvater und der erste Staatschef sei. In der ersten Variante des Dokuments wurde ihm sogar das Recht zugestanden, sich Monarch, Präsident und König zu nennen, gleichfalls garantierte es ihm lebenslange Immunität. Zwar sind diese Punkte aus der letzten Variante der Verfassung verschwunden, dennoch hat er laut Verfassung weiterhin das Recht, den höchsten Richter und den Generalstaatsanwalt einzusetzen und zu entlassen. Außerdem kann Aschurbejli gegen Premierminister, Staatsbankleiter und Richter ein Veto einlegen, das Parlament auflösen und jedes beliebige Gesetz blockieren. Aschurbejli ist nicht der Meinung, dass er zu viel verlangt: „Das ist ein lächerliches Amt. Wo ist meine Krone und wer zahlt mir meinen Lohn?“ An Demokratie glaubt der Geschäftsmann nicht: „Mein Gott! Wo haben Sie Demokratie gesehen? Hören Sie damit auf! Das gibt es nicht. Das ist einfach eine Erfindung, mit der man die Menschen hinters Licht führt.“ 

    Die Asgardianer werden auch nur Affen im Kosmos sein

    Viele Asgardianer haben keine Lust mehr, weiter an dem Projekt teilzunehmen. „Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass auch die Bürger Asgardias bei allen hehren Idealen Menschen bleiben“, schreibt ein Asgardianer. „Die Asgardianer werden auch nur Affen im Kosmos sein, die sich gegenseitig die gleiche hässliche egoistische Scheiße antun, wie wir das schon hier auf der Erde machen.“

    Aschurbejli selbst behauptet, dass er sich nicht an das Amt des Staatsoberhaupts klammern werde. „Meine Amtszeit ist durch die Verfassung auf fünf Jahre beschränkt“, stellt er klar. „Ich will nämlich, wie auch Wladimir Putin, noch am Strand der französischen Riviera spazieren gehen.“ 

    Die Mitarbeiter des Projekts, mit denen Meduza sprach, sind der Meinung, dass sich die laufenden Kosten Asgardias auf etwa 200.000 Euro pro Monat belaufen. Aschurbejli spart nicht, so richtet er beispielsweise auf der ganzen Welt die Pressekonferenzen zu Asgardia in Ritz-Hotels aus.
    Der Gründer von Asgardia will, dass der Staat sich in Zukunft selbst trägt, aber es bleibt unklar, wie das funktionieren soll: Mal will er das mit Hilfe des Blockchain-Verfahrens und der eigenen Kryptowährung Solar erreichen (deren Absicherung der Mond selbst sein soll, also das Ziel zukünftiger Besiedelung), mal mit Hilfe von Startups der Bewohner Asgardias, mal mit Hilfe freiwilliger Steuern. 

    Laut einem Gesprächspartner von Meduza ist die größte Herausforderung für das Projekt, dass „die Anforderungen sich schnell ändern: Heute soll es auf die eine Weise gemacht werden, morgen auf eine ganz andere und was gestern gemacht wurde, ist dann plötzlich sinnlos“. „Asgardia ist ein Startup, das Leute leiten, die ihre Berufserfahrungen quasi noch in sowjetischer Zeit gemacht haben“, erklärt er. 

    Ein anderer ehemaliger Mitarbeiter des Projekts drückt sich gegenüber Meduza noch härter aus: „Von innen funktioniert das, als wäre es ein Spielzeug, das einem stinkreichen Kerl gehört. Totales Chaos, alles wird alle Nase lang verändert und dazu die absolute Tyrannei.“ Das Problem sei, dass „die Initiatoren des Projekts in ihrer Borniertheit überhaupt keinen Business-Plan haben. Ihre Ziele und Handlungen stimmen absolut nicht überein“. 

    Die Chefs hätten dem neuen Staat „so eine tyrannische Verfassung“ gegeben, dass ihnen „die Leute einfach davonlaufen“. Der ganze Weltraum-Staat ist also nichts mehr als der Zeitvertreib einer einzigen Person, so der ehemalige Mitarbeiter von Asgardia. „Obwohl sie sich das nie eingestehen werden. Selbst mit einer Sekte lässt sich das nicht vergleichen, denn da achtet man wirklich bei jedem einzelnen darauf, dass er sich nicht aus dem Staub macht“, sagt er noch. „Wenn kein Geld mehr da ist, dann ist auch das Projekt tot.“ 

    Von solchen Kleinigkeiten lässt sich Igor Aschurbejli nicht aus der Ruhe bringen. Er hat in Asgardia einen Sinn gefunden. „Irgendwie muss ich doch bis zum Tod noch leben“, sagt er, „und muss dabei doch auch was tun. Sonst wär’s doch langweilig.“

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    Raumfahrtprogramm der UdSSR

    Als die Sowjetunion am 4. Oktober 1957 den „ersten künstlichen Trabanten der Erde“ in den Weltraum schoss, hatte dieser neue Himmelskörper noch nicht einmal einen richtigen Namen: Sputnik im Russischen bedeutet Trabant, Begleiter, Weggefährte. Seinerzeit war dieser Gefährte lediglich ein zentraler Bestandteil des Forschungsprogramms während des Internationalen Geophysischen Jahres. In diesem Rahmen wollten die USA und die Sowjetunion künstliche Satelliten zur Erforschung der Sonnenaktivität in der Erdatmosphäre starten. Der kugelrunde, mit zwei mal zwei gegenüberliegenden Antennen ausgestattete Forschungssatellit war einige Wochen früher als erwartet auf seine Laufbahn gebracht worden – zur Überraschung der amerikanischen Kollegen. Diese Kugel, die mit einem Gewicht von 84 Kilogramm nur knapp dreimal größer als ein Fußball war, vermochte man drei Monate lang mit einem schlichten Fernglas am Nachthimmel zu erspähen, ehe sie nach 1440 Umkreisungen der Erde verglühte.

    Für die sozialistischen Bruderstaaten läutete diese Erkundungsmission den Beginn einer neuen „kosmischen Ära der Menschheit“ ein. Zugleich galt sie als Beweis der Überlegenheit des kommunistischen Systems. In den USA löste sie eine panikartige mediale Reaktion aus, die als Sputnik-Schock in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Sputnik – das war  auch der Beginn eines neuen Wettrüstens, an dessen Kosten nicht zuletzt die Sowjetunion zugrunde gehen sollte.1

    Die populäre Geschichte der Raumfahrt handelt davon, dass die Sowjetunion zumindest in diesem Bereich den nordamerikanischen Kontrahenten für fast ein Jahrzehnt für alle Welt sichtbar überholt hatte. Für den Westen signalisierten die regelmäßigen Pieptöne des Sputnik, die auf dem ganzen Globus zu empfangen waren, dass sowjetische Raketen nun auch Atomwaffen in die Neue Welt transportieren konnten. Gleichzeitig eröffnete die Satellitentechnik ganz neue Spionagemöglichkeiten, war doch nun jede größere Truppenbewegung, jeder neue Militärstützpunkt des Feindes, aber auch jedes private Eigenheim vom Weltraum aus beobachtbar.

    Arche Noah des 20. Jahrhunderts

    Schon im zweiten Sputnik, der einen Monat später gestartet wurde,  befand sich der „erste interplanetare Passagier“, die Straßenhündin Laika. Sie gab circa eine Woche lang Anhaltspunkte über das Leben in der Schwerelosigkeit. Der dritte Sputnik brachte im Mai 1958 das erste automatische Messlaboratorium in den Weltraum. 1959 transportierte die UdSSR – allerdings im zweiten Versuch – mit einer „kosmischen Rakete“ einen „sowjetischen Wimpel“ auf den Mond. Die Rakete schlug am 15. September als erster von Menschen geschaffener Flugkörper auf dem Mond ein. Noch einen Monat später fotografierte die Automatische Intergalaktische Station bei ihrer Mondumkreisung das erste Mal – allerdings noch recht unscharf – die ständig von der Erde abgewandte Rückseite des Mondes. Deren Landkarte bekam somit anfangs ausschließlich sowjetische Namensgebungen.

    1960 bereitete die Sowjetunion die Technik für den Menschen vor. In den Weltraum wurde eine Kapsel geschickt, in dem sich neben den Hunden Belka und Strelka eine ganze Reihe kleinerer Lebewesen von Ratten bis Bakterien befanden. Deswegen bezeichnete man sie auch als „kosmischen Zoo“ oder als „neue Arche Noah des 20. Jahrhunderts“. Alle Insassen der Raumkapsel landeten nach 17-maliger Erdumkreisung wieder lebend auf der Erde. Im Februar 1961 startete man die erste „interplanetare Station“ – die spätere Venus 1 – in Richtung des Morgensterns. Nach drei weiteren Testflügen mit Hunden brachte am 12. April schließlich eine mehrstufige Trägerrakete das Raumschiff Wostok 1 in den Weltraum: mit Juri Gagarin an Bord als erstem Menschen im Kosmos.

    Erste und letzte Kosmonauten

    Die Errungenschaften häuften sich weiter. Es folgten der Kosmonaut Nummer zwei, German Titow, mit 17 Erdumdrehungen im All, der Parallelflug zweier Raumschiffe, die erste Raumsonde Richtung Mars, die erste Frau im Weltraum (Walentina Tereschkowa), die Installation der ersten meteorologischen Satelliten, die Erprobung des ersten sich selbst manövrierenden kosmischen Apparats, der erste Gruppenflug von drei Kosmonauten, der erste Satellit zur Fernsehübertragung. 1965 ließ sich der letzte größere Erfolg der sowjetischen Raumfahrt vermelden: Die Woschod 2 startete mit Pawel Beljaew und Alexej Leonow an Bord. Letzterem gelang am 18. März der erste Ausstieg eines Menschen ins freie All.

    Doch diese letzten Missionen waren bereits mit großem Risiko vollbracht worden und aufgrund von massivem politischen Druck, den USA auf alle Fälle zuvorzukommen. Der nordamerikanische Konkurrent hatte eigentlich die Sowjetunion bereits in vielen Belangen überrundet. Angesichts von Gagarins Raumflug verkündete John F. Kennedy in seiner legendären Rede vor dem amerikanischen Kongress im Mai 1961, nun wolle man innerhalb eines Jahrzehnts als erster auf dem Mond landen. Das milliardenschwere Apollo-Programm wurde auflegt. Der sowjetische Raumfahrtsektor, von strikter Geheimhaltung, staatlicher Kontrolle und militärischen Interessen gegängelt, war allmählich ins Hintertreffen geraten.2

    Zwar hatte man auch in den 1970er und 1980er Jahren noch einige Pionierleistungen aufzuweisen, doch diese hatten längst nicht mehr die propagandistische Wirkung wie in der Dekade zuvor. Die große Mission der Raumfahrt, die 1971 begann, lag nun in ständig bemannten Weltraumstationen. Die Station Mir, die die Alte Saljut 1986 ersetzte, existierte fast zehn Jahre länger als die UdSSR selber und wurde erst 2001 zum kontrollierten Absturz gebracht – sie gab es nur noch Out of the Present, wie Andrei Ujica 1995 seinen abgründig traurig-schönen Dokumentarfilm über den letzten sowjetischen Kosmonauten an Bord, Sergej Krikaljow, nannte.

    Heldenideal und Popikonen

    Die Raumfahrt war in der Sowjetunion jahrzehntelang zentrales Identifikationssymbol und Zukunftsversprechen. Generalsekretär Nikita Chruschtschow hatte diese Hoffnung auf dem 22. Parteitag kurz nach Gagarins und Titows Weltraumflug auf die prägnante Formel gebracht: Nun, da sowjetische Menschen in den Weltraum geflogen seien, könne man auch in 20 Jahren den Kommunismus auf Erden aufbauen. Gleichzeitig stellten die „Helden-Kosmonauten“ – wie man die Weltraumfahrer von Anfang an ehrte – die ideale Synthese zwischen dem militaristischen Heldenideal der Stalinzeit und den postheroischen Popikonen der Tauwetterzeit dar. Fahrkarte zu den Sternen (1961) hieß ein weit rezipierter Jugendroman von Wassili Aksjonow, der davon handelte, wie das „Stück irdischen Metalls“ mit seinen zu Herzen gehenden Biep-Biep-Tönen als „glühender Block irdischer Hoffnungen“ die Träume der Heranwachsenden beflügelte.

    Bis zum Untergang der Sowjetunion blieb KosmonautIn der Lieblingsberuf aller Schulkinder, egal ob Mädchen oder Junge, der durch Lehrbücher, Gedicht- und Zeichenwettbewerbe, Spielzeug, Briefmarken und Souvenirs aller Art von klein auf zum Inbegriff des homo sovieticus verklärt wurde.3 Gerade Gagarin und Tereschkowa wurden anfangs als sympathische Boten einer kommunistischen Zukunft inszeniert, die weltoffen und gut gekleidet Freundschaft und Frieden in der ganzen Welt propagierten und bereits im Hier und Jetzt privaten Wohlstand mit moderner Einbauküche, Fernsehen, Telefon und eigenem Auto erreichten.4

    Wunsch- und Angstträume im Realsozialismus

    Doch diese propagandistische Instrumentalisierung der Kosmonauten war letztlich machtlos gegen das eskapistische Begehren, das hinter der Weltraumbegeisterung jener Jahre stand. Gagarin selbst hatte diese Sehnsucht nach den Sternen auf seiner ersten Pressekonferenz zusammengefasst, dabei nutzte er die Worte, die dem Raketenpionier und Raumfahrtpopularisator Konstantin Ziolkowski zugeschriebenen wurden: „Die Erde ist die Wiege der Menschheit, doch man kann nicht ewig in der Wiege leben.“

    Gagarins Lächeln stand für den Wunsch, im Weltraum laufen zu lernen, anderen Zivilisationen und außerirdischen Lebensformen zu begegnen, ein Traum, der die Science Fiction-Literatur innerhalb weniger Jahre zur beliebtesten Lektüre einer ganzen Generation machte. Wissenschaftliche Fantastik, wie das Genre auf Russisch hieß, versprach in Tausenden von Jahren und Milliarden von Kilometern Entfernung all die Gedankenspiele und Wunschträume fiktionale Wirklichkeit werden zu lassen, die es im irdischen Alltag des Realsozialismus nicht geben durfte. Und so handelten diese Weltraumgeschichten in den allerseltensten Fällen von kommunistischen Zukunftsutopien, sondern thematisierten eher die Gefahren technischen Fortschritts, autoritärer Gesellschaftssysteme und menschlichen Größenwahns.

    Autoren wie Arkadi und Boris Strugatzki machten sich mit Romanen wie Es ist schwer ein Gott zu sein oder Fluchtversuch einen Namen. Selbst ins Kino fand dieser „apokalyptische Realismus“5 Eingang, in Gestalt von Andrej Tarkowskis Film Stalker (1979) oder Alexander Sokurows Tagen der Finsternis (1988).6
    Es waren gerade solche an die sowjetische Raumfahrt gekoppelten Filmbilder und Romanplots, die lange vor dem Zusammenbruch des sozialistischen Weltsystems und dem Ende der kosmischen Ära Zukunftsszenarien gesellschaftlicher Katastrophen und menschlicher Ausnahmezustände imaginierten, die auch heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt haben.


    1. Zu allen Angaben siehe genauer: Schwartz, Matthias (2003): Die Erfindung des Kosmos: Zur sowjetischen Science Fiction und populärwissenschaftlichen Publizistik vom Sputnikflug bis zum Ende der Tauwetterzeit, Berlin ↩︎
    2. siehe zu diesen strukturellen, technologischen und wissenschaftsorganisatorischen Problemen des sowjetischen Raumfahrtprogramms ausführlich Gerovitch, Slava (2015): Soviet Space Mythologies: Public Images, Private Memories, and the Making of a Cultural Identity, Pittsburgh ↩︎
    3. vgl. Rüthers, Monica (2009): Lauter kleine Gagarins: Kosmosfieber im sowjetischen Alltag, in: Myrach, Thomas u.a (Hrsg.): Science & Fiction: Imagination und Realität des Weltraums, Bern, S. 220-240 ↩︎
    4. vgl. Kohonen, Iina (2014): Zuhause bei den Kosmonauten: Bild- und Repräsentationsstrategien in sowjetischen Fotografien der 1960er Jahre, in: Schwartz, Matthias u.a. (Hrsg.): Gagarin als Archivkörper und Erinnerungsfigur, Berlin, S. 81-104 ↩︎
    5. vgl. Howell, Yvonne (1994): Apocalyptic Realism: The Science Fiction of Arkady and Boris Strugatsky, New York ↩︎
    6. Ansonsten tat sich das sowjetische Kino im Unterschied zu Hollywood äußerst schwer, eingängige Plots für die Weltraumbegeisterung zu finden, weswegen bis zum Ende der Sowjetunion kein einziger großer Blockbuster in diesem Bereich gedreht wurde, vgl. Schwartz, Matthias (2017): Zukunftsutopien und Weltraumträume: Sozialistische Science-Fiction-Filme aus dem Osten Europas ↩︎

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    Kino #8: Kin-dsa-dsa!

    „Genosse, dort sagt ein Mensch, er sei ein Außerirdischer: Da muss man doch etwas tun!“ Doch, was der Genosse dann macht, führt schnurstracks nach Pljuk in die Galaxie des gleichnamigen Films Kin-dsa-dsa!, wo eine hochentwickelte Zivilisation lebt. Deren Einwohner sehen zwar wie Menschen aus, besitzen jedoch telepathische Fähigkeiten und können sich durch Raum und Zeit beamen. Trotzdem ist das, was Regisseur Giorgi Danelia da im Jahr 1987 auf die Leinwand brachte, keine schöne, neue Welt. Hier offenbart sich eine vom Fortschritt völlig ausgelaugte Gesellschaft mit Bewohnern in zerlumpter Kleidung und einer absurden sozialen Ordnung, wo die einen mit gelben Hosen etwas gelten und die anderen mit Nasen-Glöckchen ausstaffiert werden.

    Vor Kin-dsa-dsa! hatte Danelia vor allem mit leicht gesellschaftskritisch angewürzten Komödien landesweite Publikumserfolge erzielt. Doch Kin-dsa-dsa! ist anders. Mit zwei Sowjetbürgern inmitten einer Wüstenlandschaft, die von einer verstörenden Begegnung zur nächsten stolpern, ist der wohl seltsamste Film sowjetischer Kinogeschichte gelungen: eine Art kunstvolle Zeitverschwendung als satirische Sci-fi-Persiflage.

    Hier finden Sie den Film beim Filmstudio Mosfilm mit englischen Untertiteln

    Als Kin-dsa-dsa! in die Kinos kam, war mit Glasnost und Perestroika die Hochzeit politischer Hoffnung und gesellschaftlicher Unsicherheit. Erste, bis dahin verbotene, Filme durften gezeigt werden, und die westliche Massenkultur sickerte in den Alltag ein, während dissidente Grundsatzkritik am sowjetischen Gesellschaftsprojekt immer häufiger erklang. Der meistgesehene Kinofilm des Jahres 1987 war die Western-Komödie Tschelowek s Bulwara Kapuzinow ( dt. Der Mann vom Kapuziner-Boulevard), die von Liebe, Eifersucht und dem Traum vom goldenen Westen handelt.

    Solche Wildwestromantik und Signale des Umbruchs bedient Giorgi Danelia nicht. Vielmehr versetzt er seine beiden Haupthelden in die öde Fremde des Wüstenplaneten Pljuk in der Galaxis Kin-dsa-dsa und erzählt eine Geschichte, die sowohl als sozialkritische Parabel auf den westlichen Kapitalismus wie auch als politische Allegorie auf die korrupte sowjetische Bürokratie gedeutet werden könnte. Keine Szene, kein Detail, das nicht eine Anspielung auf sowjetische kulturelle und politische Realien beinhaltet. 

    Sowjetische Realien in der Pljuk-Wüste

    Schon die Ankunft auf Pljuk ist ganz von Alltagsklischees geprägt: Die beiden Protagonisten wähnen sich zunächst in einer Kapstrana der Dritten Welt, in der die verarmten Einheimischen betteln und schnorren. Gleichzeitig tragen die beiden selbstgemachten Weinessig mit sich herum, was auf die blühende Schattenökonomie ihrer heimischen Mangelwirtschaft verweist.1 Ausgerechnet Streichhölzer, die zwar noch en Masse, dafür aber qualitativ so schlecht hergestellt werden, dass sie ständig abbrechen, erweisen sich auf Pljuk als begehrtes Luxusgut. So wie dieses billige Alltagsutensil hier gewissermaßen zum Symbol sowjetischer Misswirtschaft wird, gräbt Danelia auf 130 Minuten Spielzeit die allzu vertraute Vorstellungswelt des Sowjetbürgers um.

    Die Handlung ist schnell erzählt: Der biedere Vorarbeiter Wladimir Maschkow (gespielt von Stanislaw Ljubschin), genannt Onkel Wowa, den seine Ehefrau nach Feierabend noch schnell für Makkaroni losschickt, und der schüchterne Student Gedewan Alexidse aus Batumi (gespielt von Lewan Gabriadse), genannt der Geiger, begegnen sich zufällig am Kalinin-Prospekt im Zentrum von Moskau, wo sie sich um einen vermeintlichen Obdachlosen kümmern wollen. Der stellt sich als Außerirdischer vor und fragt sie nach den Koordinaten ihres Planeten. Ehe sie sich versehen, bringt sie eine falsche Bewegung per Teletransporter nach Pljuk. Dort begeben sie sich auf die Suche nach dem knappen und teuren Treibstoff, den sie für die Rückkehr zur Erde benötigen. 

    Abweichler als Norm

    Ihre ersten Bekannten sind Uef und Bi, zwei Einheimische, die mit den strebsamen Sowjetbürgern so gar nichts gemeinsam haben. Letztlich erweisen sie sich als Begleiter, die den Gästen von der Erde andere Lebenswege und -formen nahebringen wollen. Das deutet Uef bereits bei seinem ersten Auftritt an, als er ihnen mit tänzelndem Schritt und leicht die Hüften schwingend entgegenkommt – nachdem Uef und Bi beinahe wie aus dem Nichts einem quietschenden Raumgleiter entstiegen und ein schräges Hupkonzert angestimmt hatten.

    Zwei Sowjetbürger landen inmitten einer Wüstenlandschaft und stolpern von einer verstörenden Begegnung zur nächsten / Fotos © Mosfilm
    Zwei Sowjetbürger landen inmitten einer Wüstenlandschaft und stolpern von einer verstörenden Begegnung zur nächsten / Fotos © Mosfilm

    Dieser tänzelnd-verführerische Gestus ist es, der sich durch den Film zieht und ihn einzigartig macht. Die Besetzung mit Jewgeni Leonow in der Rolle des Uef und Juri Jakowlew2 in der Rolle des Bi ist dabei entscheidend: Mit ihnen erscheinen zwei der populärsten Schauspieler der Sowjetunion in dieser flimmernden Wüstenhitze. Diesmal kommen sie als kosmische Wiedergänger von Fy und Bi (dt. Pat und Patachon) daher, tollpatschig, kindlich-betrügerisch und mit Hang zum Egoismus. In ihrer Komik geht es aber nicht so sehr darum – wie bei Pat und Patachon – die Automatismen des irdischen Alltagslebens zu entblößen. Stattdessen vermögen es die liebgewonnenen Filmschauspieler in der Rolle schräger Vögel, ein für den Zuschauer verstörendes Setting zu etablieren: Darin erscheinen die nonkonformistischen Lebensweisen als Norm. 

    Kulturkritik und Fortschrittspessimismus?

    Diese zerlumpten Figuren Uef und Bi haben zugleich einen solch verschmitzten Gleichmut an sich, dass die Filmkritiker bis heute ratlos sind, ob es sich bei dem Film eher um eine dystopische Komödie, philosophische Fabel, satirische Gesellschaftskritik oder doch eine absurde Groteske handele.3

    Das rührt auch daher, dass alle eingewebten gesellschaftspolitischen und filmhistorischen Anspielungen weder für die Pljuk-Bewohner noch die beiden Erdlinge von Relevanz zu sein scheinen. So lässt sich Kin-dsa-dsa! zum Beispiel auch als Parodie von Andrej Tarkowskis apokalyptischer Filmästhetik lesen.4 Die Tatsache, dass es auf dem Planeten keine Vegetation oder andere Lebewesen mehr gibt und einzig verrostete Raumgleiter, brüchige Blechbuden und unterirdische Bunkerkatakomben als Behausungen geblieben sind, deutet auf eine subtile Ökokritik hin. Doch scheint die zerstörte Umwelt die Helden keineswegs zu betrüben, im Gegenteil: Für ihre skurrilen Fortbewegungsmaschinen opfern sie lustvoll noch den letzten Rohstoff.

    Gleichzeitig werden bei der Darstellung dieser hochintelligenten Zivilisation sämtliche kolonialen Klischees über primitive Kulturen in abgelegenen Weltgegenden aufgerufen, die durch hierarchische Strukturen und diskriminierende Ausgrenzungen gekennzeichnet sind. Entsprechend werden Verstöße mit drakonischen Strafen belegt, und Onkel Wowa und der Geiger müssen als Migranten kleine, silberne Glöckchen in der Nase tragen. Die Begrüßungsrituale wirken zudem lächerlich, und es existieren gerade einmal ein paar Worte im Sprachgebrauch: Neben Ku als Universalwort und Kju als einzig zugelassenem Schimpfwort sind das noch einige technische Bezeichnungen, wie Pepelaz für Raumgleiter, Katse für Streichholz oder Grawizappa für ein zentrales Motorenteil in den Raumgleitern.

    Zelebrierte Desillusion

    So verlegt Danelias Film zwar viele aktuelle politische Themen und gesellschaftliche Konflikte in grotesk-verzerrter Form auf den Planeten Pljuk, doch von dem Reformwillen von Glasnost und Perestroika ist hier nichts zu spüren.  Die Dialoge und Konflikte sind meist belanglos, eine tiefere Figurenpsychologie oder kompliziertere Intrige gibt es nicht. Stattdessen bewegt sich der Film von einer trivialen Wüstenepisode zur nächsten, nur zum Ende gibt es etwas mehr Tempo. „Warum ist zum Beispiel den beiden einsamen Repräsentanten der dortigen ‚Fauna‘ – Bi und Uef – so viel Zeit gewidmet“, fragte seinerzeit der prominente Kritiker und Literaturhistoriker Wsewolod Rewitsch entrüstet: „Die Hauptcharakterzüge dieser kleinen Judasse werden bei ihrem ersten Auftritt deutlich und es kommen keinerlei weitere Schwierigkeiten oder Seelenwinkel hinzu. Ein Kunstwerk lässt sich nicht aus nichts bauen.“5

    Der tänzelnd-verführerische Gestus, der sich durch den Film zieht, macht ihn einzigartig
    Der tänzelnd-verführerische Gestus, der sich durch den Film zieht, macht ihn einzigartig

    Doch genau von dieser kunstlosen Zeitverschwendung handelt der Film, und sie lässt ihn nicht erst aus heutiger Sicht so irritierend wirken. Er appelliert an nichts, sondern bringt einfach die desillusionierte Welt des Moskauer und Leningrader Undergrounds auf die fantastisch verfremdete Bühne des Wüstenplaneten. Jener Subkultur, für die das große Säuferepos Die Reise nach Petuschki aus dem Jahr 1969 genauso steht wie das legendäre Café Saigon der 1980er Jahre auf dem Leningrader Newski-Prospekt, in dem die junge Bohème und Untergrund-Künstler wie die Jugend-Ikone Boris Grebenschtschikow ein- und ausgingen. 

    „Mama, was werde ich tun? Ku“

    In Danelias Film sind den stilsicher verwahrlost gekleideten Bewohnern von Pljuk die großen Versprechungen der Politik schlicht völlig egal. Schon bald sehen sich die unbedarften Weltraumreisenden Onkel Wowa und der Geiger genötigt, sich auf die Weltauffassung der Pljukschen Bewohner einzulassen. Begegnen sie den chaotisch-egoistischen Einheimischen Uef und Bi anfangs noch mit sowjetischem Hochmut, süffisantem Spott und auffahrender Geste, lässt Danelia sie schließlich gemeinsam hupend und fiedelnd mit ihren Begleitern auftreten. Der Inbegriff dieses Lebensstils findet sich in jenen Liedzeilen, die die beiden gleich mehrmals zum Besten geben und die ihnen gewissermaßen das Sesam-Öffne-Dich zum Verständnis dieser anderen Welt sind. „Mama, Mama, was werde ich tun? Ku./ Mama, Mama, wie werde ich leben? Yyyyy! Y-ku, y-ku, y-ku, y-ku, y-ku, yyyyy.“

    Die befremdliche Albernheit ließ den Film vor allem unter alternativen Subkulturen zum Kult werden
    Die befremdliche Albernheit ließ den Film vor allem unter alternativen Subkulturen zum Kult werden

    In durchgeschwitzten, dreckigen Hemden krächzen die beiden Männer ihr schrulliges Liedchen und begleiten es mit einer quietschenden Geige und einer Rassel in monotoner Tonlage ohne jede Harmonie. Das Infantile und Stupide wird in diesen Zeilen lustvoll zur Schau gestellt, die sich in ihrer Verknüpfung von kindlichen Grundsatzfragen („wie werde ich leben?“) an die Mutter mit banalem Nonsens („… y-ku, y-ku …“) um keinen Sinn, keine Moral, keine Gesellschaftskritik scheren. Und gerade dadurch begeistern sie jene Wüstenbewohner, die eine Art subkulturelle Gemeinschaft der Aussteiger im extraterrestrischen Sand darstellen und in einer Welt leben, deren gesellschaftspolitisches System sogar noch öder und diktatorischer ist als die sowjetische Gegenwart der 1980er Jahre.

    Kult und Refugium

    Fast wie in einem Road Movie entdecken Onkel Wowa und der Geiger zum Ende des Films in der amoralischen und spielerischen Unbedarftheit ihrer Pljuk-Gefährten ein eigenes Ideal von nonkonformer Freiheit für sich9:  Dass diese Lust am Anderssein damals nicht dem Mainstream entsprach und mit 15,7 Millionen Kinozuschauern eher mager besucht war, verwundert nicht, dürstete man doch eher nach politischen Visionen, skandalösen Enthüllungen oder den verbotenen Früchten aus dem Westen. Die befremdliche Albernheit von Kin-dsa-dsa! ließ den Film vor allem unter alternativen Subkulturen zum Kult werden – und mit seinen Zitaten und Gesten als Refugium für abweichendes Verhalten bis heute weiterleben.

    Text: Matthias Schwartz
    Veröffentlicht am 03.08.2017


    1.Ursprünglich war hier im Filmskript Selbstgebrannter vorgesehen, was die Zensur aber verhinderte. Dass die Glasflasche jedoch eher hochprozentigen Alkohol als Essig enthielt, war seinerzeit auch so für jeden Zuschauer erkennbar. Die Anspielung ist im Kontext der Anti-Alkohol-Kampagne zu verstehen, die Staatschef Michail Gorbatschow 1985 initiiert hatte und im Zuge derer er in Georgien massenweise uralte Weinreben abholzen ließ.
    2.Zunächst war Alexei Petrenko für die Rolle des Bi vorgesehen, der in seiner Exzentrik vielleicht noch stärker das Grotesk-Faszinierende des ungleichen Männerpaares zum Ausdruck gebracht hätte, der aber nach Lektüre des Drehbuchs auf eine Teilnahme am Film verzichtete.
    3.vgl. beispielsweise Kušnirov, M. (1987): Na tretjem dychanii, in: Iskusstwo kino 7 (1987), S. 48-59; Smith, Michael Thomas (2017): Kyu, A Semantic Analysis of Kin-Dza-Dza!, in: Quarterly Review of Film and Video (21.07.2017), S. 1-10
    4.Genauso sind beispielsweise Verweise auf Pier Paolo Pasolini offensichtlich, vgl. hierzu Braguinski, Nikita (2012): Kin-dsa-dsa!, in: Vassilieva, Ekaterina; Braguinski, Nikita (Hrsg.): Noev kovčeg russkogo kino: Ot ‚Sten’ki Razina‘ do ‚Stiljag‘, Vinnytsia, S. 393-397
    5.Rewitsch, Wsewolod (1987): Ku-ku! (Dva mnenija o filme Kin-dsa-dsa!), in: Sovetskaja kul’tura, 07.04.1987, S. 5
    6.Im selben Jahr wie Kin-dsa-dsa! kam der Dokumentarfilm Vai viegli būt jaunam? (Ist es leicht jung zu sein?, 1987) des lettisch-sowjetischen Regisseurs Juris Podnieks in die Kinos, der zum ersten Mal überhaupt nonkonformistische Jugendkulturen in der Sowjetunion für ein größeres Publikum medial sichtbar machte; zur urbanen Poetik des Underground, vgl. Kliems, Alfrun (2017): Der Underground, die Wende und die Stadt: Poetiken des Urbanen in Ostmitteleuropa, Bielefeld
    7.Bei dem Liedchen handelt es sich um ein bekanntes russisches Couplet aus den 1920er Jahren, das hier sowohl von der Melodie als auch vom Text her in stark verstümmelter Form wiedergegeben wird.
    8.Inbegriff dieser Sinnlosigkeit des Films war für viele Kritiker der Filmtitel, der sich einer klaren Herleitung – manche verwiesen auf georgische Anklänge – entzieht und nicht nur darin an den postutopischen Film O-bi, o-ba. Koniec cywilizacji (dt. O-bi, o-ba: Das Ende der Zivilisation) des polnischen Regisseurs Piotr Szulkin aus dem Jahr 1984 erinnert.
    9.Schließlich wird ihrer Begegnung auch ein homoerotisches Begehren eingeschrieben, wobei das in der vor allem von körperbetonten Männern bevölkerten Welt des Kin-dsa-dsa! an vielen Stellen offensichtlich ist, aber lediglich in einer – gleich zweimal gezeigten – Szene zweier in einer Wanne an einem verschlossenen Ort gemeinsam Badenden explizit gemacht wird. Alexander Sokurow wird ein Jahr später in seinem Film Tage der Finsternis dieses Begehren noch sehr viel expliziter auf die Leinwand bringen, dessen Handlung vielleicht nicht ganz zufällig ebenfalls in einem Wüstengebiet in Zentralasien spielt, dort, wo auch Kin-dsa-dsa! gedreht worden ist.

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    Kino #2: Aelita

    Im September 1924 tauchten in den größten sowjetischen Zeitungen vermeintliche Agenturmeldungen auf: „Anta … Odeli … Uta“, so war zu lesen, laute das Kryptogramm seltsamer Radiobotschaften aus dem Weltall. Funkstationen auf dem gesamten Globus hätten diese empfangen.

    Diese Meldungen hatten insofern eine gewisse Glaubwürdigkeit, als es schon zuvor Spekulationen gegeben hatte, dass es vielleicht außerirdisches, intelligentes Leben auf dem roten Planeten oder anderswo geben könnte. Seit der Entdeckung der sogenannten Marskanäle durch den Astronomen Giovanni Virginio Schiaparelli im Jahr 1877 waren solche Mutmaßungen in der populärwissenschaftlichen Presse immer wieder aufgetaucht. Diese und auch Meldungen über Weltraum-Enthusiasten, die von baldigen interplanetaren Reisen zu anderen Himmelskörpern und Zivilisationen träumten, waren auch dem sowjetischen Zeitungsleser bekannt.

    Was der Leser zunächst nicht wusste: Bei dieser „Agenturmeldung“ handelte es sich um eine Anzeigenkampagne, die Neugierde auf den Stummfilm Aelita1 schüren sollte. Der Film eröffnet dementsprechend mit Aufnahmen von Funkstationen aus allen Erdteilen und dem Zwischentitel: „Am 4. Dezember 1921 um 18 Uhr und 27 Minuten mitteleuropäischer Zeit haben alle Radiostationen der Erde ein seltsames Radiogramm empfangen.“ Es lautet: “Anta… Odeli… Uta“.

    Fotos © Kinostudija im. M. Gorkogo
    Fotos © Kinostudija im. M. Gorkogo

    Ende September 1924 kam Aelita in die Moskauer Kinotheater. Die Premiere war nicht nur wegen der einzigartigen Werbekampagne mit großer Spannung erwartet worden. Es war auch die erste Filmproduktion der neu gegründeten deutsch-sowjetischen Filmgesellschaft Meshrabpom-Rus. Als staatlich-private Aktiengesellschaft sollte sie ausländisches Kapital für das sowjetische Kino akquirieren und gleichzeitig die Revolution auch im Ausland propagieren.2

    Zudem war mit Jakow Protasanow (1881–1945) einer der prominentesten Filmregisseure der Vorkriegszeit aus dem Exil zurückgekehrt – und Aelita war sein erster Film seit seiner Rückkehr 1923.

    Schließlich heizte sowohl in der Parteiführung als auch beim breiten Publikum ein aktueller Beschluss des 13. Parteitags die Erwartungen an: Das Kino sollte, entsprechend stark gefördert, zum bedeutendsten Propagandainstrument werden. So wurde Protasanows Film als der „erste russische Streifen“ angepriesen, „der nicht hinter den besten ausländischen Inszenierungen“3 zurückbleibe.

    Der „erste Blockbuster in Russland“

    Aelita erzählt die Geschichte des frisch verheirateten Ingenieurs und Hobbyraketenbauers Los (gespielt von Nikola Zeretelli). Er wird schon bald von Eifersucht auf seine Ehefrau Natascha (Walentina Kuindshi) geplagt und beginnt davon zu träumen, geheime Botschaften von einer „Herrscherin des Mars“ mit Namen Aelita zu erhalten. Anstatt sich auf die Wirklichkeit einzulassen, verzweifelt Los über seine Ehe und träumt von einem Flug auf den Mars, wo er sich der Liebe zur Marskönigin hingeben kann, während der Bürgerkriegsveteran Gusew (Nikolaj Balatow) die Marsianer zur Revolution antreibt. Doch dann verwandelt sich die von der Sehnsucht nach Liebe verzehrte Herrscherin Aelita (Julia Solnzewa) selbst in eine Diktatorin: Den von dem irdischen Revoluzzer angezettelten Aufstand lässt sie blutig niederschießen. So erweisen sich die Marsträume als illusorische Trugbilder, während Los sich am Filmende mit seiner Ehefrau versöhnt. Gemeinsam sitzen sie vorm häuslichen Kamin und verbrennen Los’ Raketenpläne mit den Worten: „Genug geträumt – auf uns alle wartet eine andere, wirkliche Arbeit.“

    Operntheater ganz alter Schule

    Der nach dem antiken Kriegsgott benannte rote Planet – der Mars – hatte seit Alexander Bogdanows sozialistischer Zukunftsutopie Der rote Stern (1908) in Parteikreisen eine gewisse symbolische Bedeutung: Er stand für das bolschewistische Versprechen einer neuen Menschheit. Auch beim breiten Publikum erfreuten sich die Abenteuerfilme und Groschenhefte über außergewöhnliche Reisen in abgelegene Weltgegenden, mit spannenden Intrigen und viel Action und Exotik ungebrochener Beliebtheit.4 Der Roman von Alexej Tolstoi Aelita. Der Untergang des Mars, der ein Jahr zuvor erschienen war und zur Vorlage für den Film Aelita wurde, wurde von der Kritik jedoch nur verhalten aufgenommen.5 Auch die Verfilmung von Protasanow konnte die großen Erwartungen, die man vor der Premiere des „ersten Blockbusters in Russland“6 geschürt hatte, nicht erfüllen. Weder was die Handlung noch was die filmische Umsetzung betraf.

    Los ist in Protasanows Film eher ein tragikomischer Romantiker als ein draufgängerischer Abenteurer. Und eine vom bolschewistischen Zuschauer erwartete siegreiche interplanetare Revolution bietet der Film auch nicht. Entsprechend vernichtend fiel die Filmkritik seinerzeit aus. Die Partei erwog sogar ein Exportverbot. Als Aelita 1926 dann doch in die Kinos der Weimarer Republik kam, war die Enttäuschung ebenfalls groß: „Operntheater, oft nur Ausstattungsballett ganz alter Schule“ sei hier entstanden.7 Der Film verschwand für Jahrzehnte in den Kinoarchiven. Der „erste sowjetische Science-Fiction-Film“, so scheint es, war seiner Zeit voraus. Er sollte erst in der Zukunft neu entdeckt werden.

    Realitäten und Sehnsüchte

    Tatsächlich holte man Aelita in den 1960er Jahren, im Zuge der Kosmosbegeisterung der sowjetischen Tauwetterzeit wieder aus der Versenkung. Das staatliche Filmarchiv in Moskau brachte eine restaurierte Fassung dieses „ersten sowjetischen Science Fiction-Films“ auf die Leinwand, warnte aber in einem Vorspann vor dem „geringen künstlerischen Niveau“ dieses Frühwerks des sowjetischen Stummfilms.

    Es dauerte noch bis in die 1990er Jahren, ehe Aelitas Wiederentdeckung als „Schlüsselfilm der frühen NÖP-Periode“ begann, der die „Realitäten und auch […] Sehnsüchte“ dieser Zeit „in einer komplexen und originellen Form“ reflektiert.8

    Die vielen Straßenszenen zeigen die schwierige Situation nach dem Ende des Bürgerkriegs in der Sowjetunion Anfang der 1920er Jahre: Einerseits herrschten Wohnungs- und  Lebensmittelknappheit, andererseits vergnügten sich die alten Oberschichten wieder in Kaffeehäusern, Restaurants, bei Theateraufführungen und auf Bällen. Diese Szenen ließen nun ein „avantgardistisches Prinzip“ erkennen, das die „Präsenz vom Alten im Neuen, vom Westen im Osten, vom Dekadenten im Proletarischen, und vor allen Dingen vom Falschen im Wahren“ bloßlege.9

    Imaginäre Revolutionshelden versus spießbürgerliche Romantik

    Und auch wenn Protasanows Film (nicht nur) in seinem melodramatischen Filmschluss ein recht konservatives Ideal des häuslichen Ehelebens propagiert: Aus heutiger Sicht fällt gerade der kritische Kamerablick auf die patriarchalen Rollenbilder ins Auge.10 So entfaltet Aelita in Gestalt von Los und weiteren männlichen Protagonisten eine detaillierte psychologische Studie über Männer, die sich als geniale Erfinder, Revolutionshelden, Gentleman-Gauner oder Meisterdetektive sehen, aber unfähig sind, ihre „erotischen Eskapaden“ in ein postrevolutionäres Alltagsleben zu integrieren.

    Vor allem aber sind es die Marsszenen, die den Film zum Klassiker machen. Sie stehen deutlich unter dem Eindruck des frühen expressionistischen Films aus Deutschland, umgekehrt wird ihnen aber auch ein Einfluss auf Fritz Langs Metropolis (1927) nachgesagt. Diese Fantasiewelt besticht durch die geometrischen Bühnenaufbauten und Innenräume von Viktor Simow und Isaak Rabinowitsch. Zwischen Kuben, Dreiecken und Zylindern bewegen sich die handelnden Figuren in konstruktivistischen Kostümen von Alexandra Exter mit expressionistischen Gesten. Allerdings zeigen diese kontrastreich ausgeleuchteten Bilder keine kubo-futuristische Utopie. Sondern sie sind der Schauplatz einer brachialen Militärdiktatur, die mit Hilfe einer Roboterarmee die Arbeiter in unterirdischen Katakomben versklavt und vernichtet.

    Dieses Scheitern der futuristischen Marsträume erscheint angesichts der späteren Unterdrückung der künstlerischen Avantgarde im Stalinismus geradezu prophetisch. 1924 jedoch war dies keine Botschaft, die im Land der proletarischen Diktatur auf großen Zuspruch gestoßen wäre. „Verschimmelte, spießbürgerliche Romantik, gemischt mit einer äußerst ungezügelten Fantastik“ bescheinigte die damalige Kritik dem Werk. Ein Diktum, das den Zukunfts-Film aus der Vergangenheit heute nur noch interessanter macht.

    Text: Matthias Schwartz
    Veröffentlicht am 02.02.2017


    Hier gibt es das Original ohne Vertonung:


    1.Aelita (Meshrabpom-Rus, UdSSR 1924, Regie: Jakow Protasanow, Drehbuch: Fjodor Ozep, Alexej Fajko)
    2.Vgl. Agde, Günter / Schwarz, Alexander (Hrsg.) (2012): Die rote Traumfabrik: Meschrabpom-Film und Prometheus (1921-1936), Berlin
    3.Anfangs gab es auch Überlegungen, die avantgardistischen Züge des Films noch durch Zeichentrickszenen zu unterstreichen, was Protasanow aber ablehnte. Aus den Skizzen ist dann der erste sowjetische Science-Fiction-Zeichentrickkurzfilm Die Interplanetare Revolution (Mežplanetnaja revoljucija, 1924) entstanden, der nur einen Monat vor Aelita seine Premiere hatte.
    4.Seit 1923 erschienen erstmals die ersten drei Bände einer polulären Barsoom-Serie vom Bestsellerautor jener Zeit Edgar Rice Burroughs auf Russisch, die von dem amerikanischen Bürgerkriegshelden John Carter handeln, der auf dem Planeten Mars in einen dortigen Krieg der Welten verwickelt wird. Diese Serie ist gewissermaßen eine frühe literarische Version von Star Wars.
    5.Juri Tynjanow hatte seinerzeit lakonisch festgestellt: „Der Mars ist langweilig wie das Marsfeld … Es lohnt nicht, Marsromane zu schreiben.“ Siehe Schwartz, Matthias (2014): Expeditionen in andere Welten: Sowjetische Abenteuerliteratur und Science-Fiction von der Oktoberrevolution bis zum Ende der Stalinzeit, Wien, S. 168
    6.Ignatenko, Aleksandr (2007): «Aelita»: Pervyj opyt sozdanija blokbastera v Rossii, Sankt Petersburg
    7.Schlotthauer, Lora (2009): Rezeption des russischen Stummfilms in den deutschen Medien am Beispiel von Film-Kurier 1920-1930, in: KakanienRevisited. Ich danke Karsten Greve für den Hinweis.
    8.Christie, Ian (1991): Down to Earth: Aelita relocated, in: Taylor, Richard / Christie, Ian (Hrsg.): Inside the Film Factory: New Approaches to Russian and Soviet Cinema, London, New York
    9.Huber, Katja (1998): „Aėlita“ – als morgen gestern heute war: Die Zukunftsmodellierung in Jakov Protazanovs Film, München
    10.Horton, Andrew J. (2000): Science Fiction of the Domestic: Iakov Protazanov’s Aelita, in: Central Europe Review Nr. 1:2/2000; Christensen, Peter G (2000): Women as Princesses or Comrades: Ambivalence in Yakov Protazanov’s „Aelita“ (1924), in: New Zealand Slavonic Journal (2000), S. 107-122

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    Juri Gagarin

    Am Morgen des 12. April 1961 um 9.07 Uhr Moskauer Zeit startete der 27-jährige Jagdflieger und Oberleutnant der Luftwaffe Juri Gagarin (1934–1968) im Raumschiff Wostok als erster Mensch in den Weltraum. Nach 108 Minuten landete er wohlbehalten in der Nähe von Saratow. Nach diesem Triumph feierte Parteichef Nikita Chruschtschow ihn als „Kolumbus unserer Tage“.

    Die Sowjetunion versprach sich von diesem „Beginn einer kosmischen Ära“ nicht nur einen globalen Prestigegewinn im „Space Race“ gegenüber dem nordamerikanischen Konkurrenten. Zum Höhepunkt des Kalten Krieges – im August desselben Jahres folgten der Bau der Berliner Mauer und ein Jahr später die Kubakrise – dienten Gagarin und der zweite Kosmonaut, German Titow, als Symbolfiguren, die die russischen Worte Mir (dt. Frieden) und Drushba (dt. Freundschaft) bis in den letzten Winkel der Welt verbreiteten.

    Auch innenpolitisch verkörperte Gagarin wenige Jahre nach dem Ende der Stalinzeit mit seinem bald zur Ikone gewordenen Lächeln das Versprechen auf einen gesellschaftspolitischen Neuanfang, der mehr Freiheit und Wohlstand für alle verhieß.

    Doch dieses utopische Zukunftsversprechen verblasste bald. Chruschtschow wurde 1964 gestürzt, verstärkte kulturpolitische Repressionen folgten, und die Amerikaner landeten 1969 auf dem Mond. Als Gagarin am 27. März 1968 im Alter von nur 34 Jahren bei einem Übungsflug mit einem Jagdflugzeug tödlich verunglückte, wurde aus dem utopischen Himmelssohn schon bald eine nostalgische Erinnerungsfigur.

    Symbol für eine vergangene Aufbruchszeit

    Unser Gagarin wurde zum Symbol für eine vergangene Aufbruchszeit, die unter Breshnew in Filmen, populären Liedern und auf Briefmarken stark verklärt wurde. In der Kinderliteratur oder im Schulunterricht diente der erste Kosmonaut als ein omnipräsentes Jugendidol, auf das sich jede und jeder einen eigenen Reim machen konnte.

    Später nahm sein Bild vermehrt nationale und religiöse Züge an und machte ihn zu einer überzeitlichen, Russlands Größe und Schicksal symbolisierenden, Erlöserfigur.

    Gagarin ist jedoch nicht nur ein Produkt der staatlichen Propaganda. Er war gleichzeitig auch eine Projektionsfigur für jede Art von eskapistischen Wunschträumen. Der Mensch, der aus seiner Wohnung in den Weltraum flog, wie eine bekannte Installation des Künstlers Ilja Kabakow heißt, stand auch in der dissidenten Subkultur für den Ausbruch aus der dogmatischen Enge des irdischen Alltags.

    Globale Popikone

    Selbst das Science-Fiction-Genre in der Sowjetunion profitierte noch von seinem Image und konnte auf fremden Planeten und in fernen Jahrhunderten all jene gesellschaftlichen Wunschträume und totalitären Angstphantasien literarische Wirklichkeit werden lassen, die in der „realistischen“ Prosa jener Jahre undenkbar waren.

    So ist aus Gagarin heute eine beliebig adaptierbare globale Popikone geworden, deren utopisch-exotischer Charme als nationaler Kulturheros gegen die Verwerfungen globaler Marktwirtschaft, als Patron von Partyveranstaltungen im Kampf gegen die Klimaerwärmung genauso wie als tragischer Papiersoldat des kommunistischen Gesellschaftsprojekts (siehe den gleichnamigen Film von Aleksej German jun.) in Stellung gebracht werden kann.

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