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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Kollegen jagen Kollegen

    Kollegen jagen Kollegen

    Viktor Babariko war im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2020 der aussichtsreichste mögliche Kandidat der Opposition in Belarus. Doch bereits vor der Registrierung wurde er festgenommen und schließlich zu 14 Jahren Straflager verurteilt, sein Anwalt Maxim Znak zu zehn Jahren. Seit Februar 2023 wird auch sein Verteidiger nicht mehr zu ihm vorgelassen. Über 600 Tage gab es keinerlei Lebenszeichen von Babariko, bis kürzlich immerhin Fotos mit ihm in den sozialen Medien auftauchten. So ergeht es vielen bekannten politischen Gefangenen: Sie werden im sogenannten Incommunicado-Regime gehalten, in Einzelhaft ohne Kontakt zur Außenwelt und zu ihren Anwälten. 

    Derweil stehen auch die Rechtsanwälte selbst im Fadenkreuz der Strafverfolgungsbehörden im Lukaschenko-Staat. Ihnen wird die Zulassung entzogen, sie werden festgenommen und weggesperrt, viele verlassen das Land. Die Journalistin Jana Machowa zeigt die Folgen dieser Verfolgung. 

    Der Anwalt Maxim Znak bei seiner Gerichtsverhandlung im Jahr 2021 (zusammen mit Maria Kolesnikowa) / Foto © Viktor Tolochko/ SNA/ Imago
    Der Anwalt Maxim Znak bei seiner Gerichtsverhandlung im Jahr 2021 (zusammen mit Maria Kolesnikowa) / Foto © Viktor Tolochko/ SNA/ Imago

    Lebt Maxim Znak? Keiner seiner Nächsten kann das mit Sicherheit sagen. 

    In Belarus wurde eine Repressionsspirale gegen Juristen losgetreten: Der Gründer der Rechtsanwaltskanzlei Braginez und Partner, Witali Braginez, wurde im Mai 2022 festgenommen, kurz vor dem Gerichtsprozess seines Mandanten Andrej Motschalow. Im Januar des folgenden Jahres wurde Braginez in einer nichtöffentlichen Verhandlung wegen vier Paragraphen des Strafgesetzbuches zu acht Jahren Freiheitsentzug im Straflager mit verschärften Bedingungen verurteilt. Sein ehemaliger Mandant Motschalow war übrigens auch Anwalt. Die Strafverteidiger von Viktor Babariko, Sergej Tichanowski, Maria Kolesnikowa, Sofia Sapega und vielen anderen mussten überstürzt das Land verlassen. 

    Insgesamt verloren von 2020 bis Anfang 2024 mehr als 140 belarussische Anwälte ihre Zulassung, mindestens 23 Anwälte wurden verhaftet, nachdem sie Menschen verteidigt hatten, die aus politischen Motiven festgenommen worden waren. Diese Angaben stammen aus dem Projekt Recht auf Verteidigung (russ. Prawo na saschtschitu). Gegen sechs Juristen wurden Strafverfahren eröffnet. Ende Februar 2024 startete der KGB eine erneute Razzia gegen Anwälte politischer Gefangener und ihre Familien, bei der mindestens zwölf Verteidiger festgenommen wurden, die juristisch Hilfe leisten. Ein Ende der Repressionen ist nicht absehbar. 

    Immer mehr unabhängige Verteidiger verlassen den Beruf 

    Mit der Änderung des Rechtsanwaltsgesetzes 2021 zerstörte die politische Führung die unabhängige Anwaltschaft, indem Einzelanwälte und unabhängige Anwaltskanzleien abgeschafft wurden. Jetzt kann man nur in juristischen Kanzleien arbeiten, die von Anwaltskollegien mit Zustimmung des Justizministeriums eröffnet werden. Anwälte mussten sich diesen Kanzleien anschließen – oder ihren Beruf aufgeben. 

    „Dadurch sollten die belarussischen Rechtsanwälte unter die Kontrolle der Staatsführung gebracht werden“, ist sich Maria Kolessowa-Gudilina sicher, die 2020 Dutzende politisch verfolgte Belarussen verteidigte. Dann wurde ihr die Lizenz entzogen, sie verließ das Land, ihre Social-Media-Accounts wurden als „extremistisch“ eingestuft. Früher hat sich das Ministerium mit der Widerrufung der Zulassungen befasst. Jetzt wurde diese Verantwortung an die Kollegien delegiert – denen kann aber nur eine Person vorsitzen, die vom Ministerium bestätigt wurde. 

    Silowiki, Staatsanwälte und Richter wechseln zunehmend in den Beruf des Rechtsanwalts 

    „Kollegen verfolgen jetzt Kollegen. Man findet praktisch keine Anwälte für politische Strafsachen mehr – wer einen Fall übernimmt, geht ein Risiko ein. Das ist ein großes Problem. 2023 wurden Anwälte festgenommen, die als Kontaktpersonen agierten [also als Empfänger und Übermittler von Informationen – dek]. Sechs Anwälte sitzen im Gefängnis, weil sie professionell ihre Arbeit ausgeführt haben. Und trotz alledem gibt es noch Menschen, die politische Fälle übernehmen und ihre Arbeit sorgfältig erledigen“, berichtet Kolessowa-Gudilina. 

    In Belarus nehmen die Anwälte derweil wahr: Während immer mehr unabhängige Verteidiger den Beruf verlassen, wechseln ehemalige Silowiki, Staatsanwälte und Richter zunehmend in den Beruf des Rechtsanwalts. Dafür gibt es eindeutig grünes Licht: Für den Quereinstieg reichen ein Empfehlungsschreiben vom Fachamt, ein verkürztes Praktikum und statt der regulären schriftlichen Prüfung im Justizministerium ein Vorstellungsgespräch.  

    Mehr als nur ein „teurer Briefträger“ 

    Viele Anwälte, denen die Zulassung entzogen wurde, sind in Belarus geblieben. Manche haben sich einen neuen Tätigkeitsbereich gesucht, aber einige arbeiten weiterhin im juristischen Geschäft. Ein belarussischer Anwalt, der seine Lizenz wegen der Verteidigung politischer Häftlinge verloren hat und daher anonym bleiben muss, berichtet: „Anwälte, die ihren Beruf weiterhin ausüben, sind quasi Staatsbeamte, von Unabhängigkeit kann keine Rede sein. Vereinzelt gibt es noch Anwälte, die in Ordnung sind. In vier Jahren Arbeit unter völlig wahnsinnigen, stressigen Bedingungen haben sie die neuen Regeln verstanden und sich angepasst. Es klingt vielleicht seltsam, aber es ist gut, dass sie sich angepasst haben und so weiterhin helfen können.“ 

    Viele Menschen in Belarus glauben gar nicht mehr an den Nutzen von Anwälten, insbesondere bei politischen Prozessen, und bezeichnen sie als „teure Briefträger“. Maria Kolessowa-Gudilina ist überzeugt, dass das nicht richtig ist: Die Arbeit eines Anwalts ist für die Öffentlichkeit oft nicht sichtbar, aber dank ihm kann ein Fall in völlig anderer Form vor Gericht kommen, mit weniger Anklagepunkten und entsprechend einer geringeren Haftdauer im Urteil.  

    Dem stimmt ein weiterer belarussischer Anwalt zu, dem die Lizenz entzogen wurde, er erinnert im Gespräch mit dekoder daran, dass seit 2020 viele politische Fälle verhandelt wurden, von denen die Öffentlichkeit gar nichts weiß. „Viele erhielten statt einer Lagerhaft nur Arrest mit Zwangsarbeit oder sogar nur Hausarrest, viele Anklagepunkte konnten abgewendet werden!“, sagt er unter der Bedingung, anonym zu bleiben.  

    „Es war nicht leicht, aber wir fanden einen Anwalt für unsere Mutter, die für einen Kommentar in den sozialen Netzwerken angeklagt war. Wir erwarteten nicht viel von ihm, und er erfüllte unsere „Nichterwartungen“. Aber wir sind froh, dass Mutter einen relativ unabhängigen Verteidiger hatte, der am Prozess teilnahm, uns zu juristischen Feinheiten beriet und uns Informationen über ihren Zustand überbrachte“, berichten die Angehörigen der Angeklagten, die letztlich zu einem Jahr Straflager verurteilt wurde. 

    Ein Anwalt kann eine riesige moralische Stütze für einen Menschen sein, der dem System sonst ganz allein gegenüberstünde. Er leistet Hilfe, die hier und jetzt gebraucht wird. „Dem Gefangenen, der sich in unmenschlichen Bedingungen befindet, zuhören, helfen, Rat geben“, zählt Kolessowa-Gudilina auf. „Manch einer sagt: Wozu einen Anwalt bezahlen, man bekommt ja doch Hausarrest nach Artikel 342? Aber man weiß ja nicht, ob sie nicht noch etwas finden. Manchmal belasten sich die Menschen vor Schreck selbst noch zusätzlich. Damit das nicht passiert, braucht man qualifizierte juristische Hilfe. Ja, die Rechtsanwaltskammer liegt in Trümmern, aber einzelne Anwälte gibt es noch, die Hilfe leisten.“ Ihr anonymer Kollege verweist zudem darauf, dass es – wenngleich selten – vorkommt, dass Verfahren eingestellt werden. Darüber wird aber nicht laut gesprochen, da es sich ansonsten schnell wieder ändern könnte. 

    „Schutz vor Maßlosigkeit“ 

    Außer Zweifel steht für die Juristen: Haben Ermittlungsbehörde und Staatsanwalt schon einen Plan bezüglich des Festgenommenen, dann hilft auch kein Anwalt, vor allem bei öffentlichkeitswirksamen Fällen. 

    „Aber der Anwalt kann vor Maßlosigkeit schützen und eine mildere Strafe erstreiten“, sagt ein belarussischer Anwalt und führt als Beispiel Personen an, die für die Teilnahme an einer der Minsker Großdemonstrationen auf Grundlage des Artikels 342 (Landfriedensbruch) bestraft wurden. „Das Verkehrsunternehmen Minsktrans forderte eine Entschädigungszahlung in Höhe von mehreren Millionen Rubeln. Die Richter erhoben auf dieser Grundlage bei jedem Verurteilten Geldstrafen, ohne zu beachten, wie viel von der Gesamtsumme bereits bezahlt wurde. Ich kenne Beispiele, wo Anwälte Dokumente vorlegen konnten, die belegten, dass die Gesamtsumme längst von zuvor Verurteilten beglichen worden war. Ohne Anwalt hätte man also nicht nur eine Haftstrafe, sondern auch noch eine maßlose Geldstrafe bekommen.“ 

    Die Repressionen gegen die Anwälte wirken sich nicht nur auf die politischen Gefangenen aus. „Die Einschüchterung hat sich auf alle Fälle ausgeweitet, die staatlichen Organe haben verstanden, dass sie grünes Licht haben“, konstatiert Maria Kolessowa-Gudilina. Verteidiger, die noch in Belarus sind, bestätigten gegenüber dekoder, dass seit 2020 für das Regime insgesamt und die Silowiki insbesondere alles „viel einfacher“ geworden sei: Was auch immer wir brauchen – kriegen wir. Gerichtsprozesse sind nur eine Formalität. 

    Es gibt aber auch eine andere Ansicht. 

    „Bei den nichtpolitischen Fällen war die Rechtsprechung auch vorher schon bedingt abhängig“, erzählt ein anderer anonym bleibender belarussischer Anwalt. „Es gab da aus meiner Sicht sehr seltsame Fälle, wo jemand, der bereits zum fünften Mal wegen Diebstahls angeklagt wird, einfach frei aus dem Gerichtssaal spaziert. Das ist das Wesen des belarussischen Gerichtssystems, so war es vor 2020, und so ist es auch jetzt noch.“ Allerdings stimmt der Anwalt zu, dass früher ein gerechtes Urteil möglich war, wenn der politische Apparat kein besonderes Interesse an einem Fall hatte. Betrachtet man Fälle nach 2020, bei denen ein solches Interesse vorlag, so wurden sie zwar nicht gesondert behandelt, aber man erkennt sehr deutlich die „Annahme der Rechtmäßigkeit staatlicher Interessen“. 

    „Wenn jemand auf dem Balkon eine rote Unterhose zwischen zwei weiße Socken gehängt hat, dann geht er auf jeden Fall ins Gefängnis“, fasst unser Gesprächspartner zusammen.  

    Aus der Kanzlei in die Backstube 

    Wie viele Anwälte genau Belarus verlassen haben, ist nicht bekannt, aber laut Kolessowa-Gudilina sind es definitiv mehr als 100. Oft sind es hochqualifizierte Fachleute, die im Durchschnitt 13,5 Jahre Berufspraxis haben. 

    „Die juristische Ausbildung ist sehr kompliziert und spezifisch. In Belarus und den EU-Staaten unterscheiden sich die Rechtssysteme stark“, berichtet einer der Verteidiger, der Belarus nach dem Entzug der Zulassung verlassen hat. Das belarussische Jurastudium wird in der Regel nicht anerkannt, man muss entweder neu studieren oder den Abschluss anerkennen lassen. Das ist teuer, langwierig und kompliziert. Die Psyche spielt dabei eine wichtige Rolle: Mit einem Mal die über Jahrzehnte hinweg erarbeitete berufliche Reputation zu verlieren und sich in einem Zustand wiederzufinden, als wäre man wieder 18 – das ist sehr schwer. Einige der Anwälte verdienen ihren Lebensunterhalt im Ausland in Arbeiterberufen.  

    „Ich weiß, dass einige Anwälte bei Lieferdiensten arbeiten, in Bäckereien oder in Geschäften“, bestätigt Kolessowa-Gudilina. „Es gibt keine schlechte Arbeit, aber das sind unsere Köpfe, alle Leute, die im Ausland sind, sollten sie nutzen können.“ 

    Ein Jurist, der Belarus verlassen hat, erzählt dekoder unter der Bedingung der Anonymität, dass einige seiner Kollegen sich mit dem polnischen Migrationsrecht beschäftigt haben und jetzt den nach Polen eingewanderten Belarussen bei Fragen zu Migration und Familie beraten. 

    „Ich hoffe, in Belarus wird die Rechtshoheit wiederhergestellt“  

    Die in Vilnius registrierte belarussische Organisation Anwälte der Menschenrechte befasst sich mit der Lösung des Hauptproblems, der Frage des Berufszugangs im Aufnahmeland für Juristen, die zur Emigration aus Belarus gezwungen wurden.  

    „Es ist das erste Beispiel für Selbstorganisation unabhängiger Rechtsanwälte“, sagt Maria Kolessowa-Gudilina, die die Vorsitzende der Organisation war, bis sie den Posten im Oktober 2024 aufgab. „Es gibt ein Leben nach dem Zulassungsentzug in Belarus, es gibt Möglichkeiten, weiterhin zu praktizieren. Unsere Anwälte wurden aus dem Beruf verbannt, weil sie sich den Machthabern nicht unterwerfen wollten, jetzt helfen sie ihren Mandanten vom Ausland aus.“ 

    Ich hoffe, dass die Rechtshoheit in Belarus wiederhergestellt wird und ich wieder als Anwalt arbeiten kann 

    Eine wichtige Kategorie von Fällen, mit denen die Anwälte im Ausland befasst sind, betreffen die Rechte von Belarussen im Land und im Exil. Die Anwälte können die Rechte ihrer Landsleute insbesondere vor internationalen Strukturen vertreten. Einige Mitglieder der Vereinigung bereiten auch die notwendigen Dokumente für ein zukünftiges Ermittlungsverfahren gegen das Lukaschenko-Regime vor. Dank der Bemühungen der Organisation und der Zusammenarbeit mit den litauischen Kollegen können die Belarussen seit März 2024 im Anwaltsverzeichnis Litauens als ausländische Verteidiger, „Anwälte aus Drittstaaten“, geführt werden, diese Möglichkeit gibt es nicht in vielen Staaten. 

    Als ihre wichtigste Mission nennen die Anwälte der Menschenrechte die Wiedererrichtung der Rechtsanwaltskammer im zukünftigen Belarus. „Ich arbeite in Westeuropa in einem Bereich, der dem Rechtswesen nahesteht, verdiene wenig, aber zum Leben ist es genug“, erzählt ein Anwalt, dem die Lizenz entzogen wurde. Er betont, dass das Problem für ihn nicht so sehr das Geld sei. „Ich kann nicht das tun, was ich am liebsten tue: Seinerzeit bin ich aus Liebe zum Fach Rechtsanwalt in Belarus geworden. Ich verstehe das jetzt als temporären Lebensabschnitt und hoffe, dass die Rechtshoheit in Belarus wiederhergestellt wird und ich wieder als Anwalt arbeiten kann.“ 

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  • „Die belarussische Opposition braucht einen Freund, aber die Ukraine keinen weiteren Feind “

    „Die belarussische Opposition braucht einen Freund, aber die Ukraine keinen weiteren Feind “

    „Wir sind nicht nur durch ein gemeinsames Schicksal und eine verwandtschaftliche Bande verbunden, sondern auch durch den Wunsch, Freunde zu sein und mit unseren Nachbarn auszukommen.” Mit diesen Worten gratulierte Alexander Lukaschenko der Ukraine am 24. August 2024 zum Unabhängigkeitstag. Eine Antwort von ukrainischer Seite gab es nicht. Denn im dritten Jahr muss sich das Land dem russischen Angriffskrieg erwehren. Einem Krieg, in den auch der belarussische Machthaber unheilvoll verstrickt ist.   

    Bis zum Beginn der großen russischen Invasion im Februar 2022 haben die belarussische und die ukrainische Regierung ein sehr pragmatisches Verhältnis gepflegt. Dieser Pragmatismus scheint jedoch trotz der Kriegsbeteiligung Lukaschenkos für die ukrainische Regierung weiterhin nützlich zu sein. Warum das so ist, erklärt Olga Loiko, Chefredakteurin des belarussischen Online-Mediums Plan B., in ihrer Analyse. 

    Die Journalistin Olga Loiko musste ihre Heimat Belarus verlassen / Foto © Siarhei Balai
    Die Journalistin Olga Loiko musste ihre Heimat Belarus verlassen / Foto © Siarhei Balai

    Belarus braucht keinen Krieg. Erstens, weil Lukaschenko klar ist, dass er diesen Krieg nicht gewinnen kann. „Wir wollen nicht gegen euch kämpfen. Nicht, weil wir euch so liebhaben, sondern weil dann die Front um 1200 km länger wäre. So lang ist nämlich die ganze Grenze: 1200 km.“ So gab Lukaschenko im Interview mit einem russischen TV-Sender seinen imaginären Dialog mit der Ukraine wieder, wobei er die belarussisch-ukrainische Grenze meinte. Russlands zunächst lasche Reaktion auf den Vorstoß der Ukraine in der Oblast Kursk beweist: Die Ressourcen reichen nicht einmal für die Verteidigung des eigenen Territoriums. Schon früher hatte Lukaschenko auf Vorwürfe, er würde den Bündnispartner nicht tatkräftig genug unterstützen, erwidert, er würde ja gern, aber seine Vertikale würde nicht noch eine Front schaffen. Seit 2020 sind alle Kräfte auf die Bekämpfung des inneren Feindes konzentriert. Das Aufwenden von Ressourcen auf einen Feind im Außen könnte die innere Stabilität des belarussischen Regimes ernsthaft gefährden.  

    Der zweite Grund dafür, sich aus dem Krieg herauszuhalten, ist, dass die belarussische Bevölkerung von diesem Konflikt nicht persönlich betroffen sein will. Umfragen von Chatham House zufolge unterstützte im Dezember 2023 nur rund ein Drittel der Belarussen Russlands Aggression gegen die Ukraine. Und nicht einmal die wollten, dass sich Belarus direkt beteiligt. Eine aktive Teilnahme an den Kampfhandlungen auf russischer Seite zogen nur zwei Prozent der Befragten in Betracht, ein Prozent gab an, auf ukrainischer Seite kämpfen zu wollen. Das sollte man jedoch nicht als antimilitaristischen Konsens missverstehen. Nur 29 Prozent der Befragten waren bereit, eine absolute Neutralität auszurufen, die russischen Truppen aus Belarus abzuziehen und sich auf keine der beiden Seiten zu stellen. Weitere 27 Prozent meinten, Belarus sollte Russland unterstützen und die Ukraine verurteilen, sich jedoch nicht aktiv am Krieg beteiligen.     

    Russland greift zu einer simplen Methode, um seine Staatsbürger in den Krieg zu treiben: Geld. Würde Lukaschenko so wie Putin den Kämpfern einen anständigen Sold anbieten, würde sich womöglich so mancher freiwillig melden. Indessen gibt es genug Bewerber für die Fabrik bei Orscha, in der im Schichtbetrieb Projektile für die russische Rüstungsindustrie hergestellt werden. Nichts Persönliches. Rein geschäftlich.  

    Zeiten blühender Freundschaft 

    Apropos Geschäfte. An Lukaschenkos Friedfertigkeit gegenüber seinen Nachbarn im Süden könnte man zweifeln, wären da nicht seine langjährigen und durchaus lukrativen geschäftlichen Interessen in der Ukraine – sowohl seitens des Staates als auch einzelner belarussischer Staatsbürger, darunter Geschäftsleute aus Lukaschenkos engstem Kreis. Der Krieg hat ihnen Sanktionen, gesperrte Konten und sonstige Unannehmlichkeiten beschert. Natürlich werden auch am Krieg Milliarden verdient, doch dubiose Gewinne aus der Schattenwirtschaft lassen sich nun mal schlecht mit legal erworbenen und in geordneten Bahnen ausbezahlten Einkünften vergleichen. 

    Die Ukraine war vor dem Krieg zweitstärkster Handelspartner des Landes und lag damit zum Beispiel vor China. 2021 machten die Exporte in die Ukraine 5,4 Milliarden US-Dollar aus – das sind 13,6 Prozent des gesamten belarussischen Exportvolumens.      

    Etwa die Hälfte des Gesamtexports bildeten Erdölerzeugnisse. Für Belarus war das ein äußerst lukrativer Markt: Billige Rohstoffe aus Russland und kurze Lieferstrecken schufen optimale Bedingungen für satte Gewinne. In und durch die Ukraine wurden belarussische Düngemittel, Pkw und Busse, Lebensmittel und Strom exportiert. Soweit zu den guten Handelsbeziehungen. Doch die Freundschaft ging tiefer. Wie tief, das kann man an den Lieferungen von Bitumen aus der Raffinerie des Belarussen Nikolaj Worobej sehen, der Lukaschenko und Viktor Medwedtschuk, „Putins Mann in der Ukraine“, nahestehen soll.

    Außer Bitumen lieferten Worobejs Raffinerie und andere Firmen russisches Dieselöl und Kohle in die Ukraine. 2019 segnete das Antimonopolkomitee der Ukraine den Verkauf eines 51-Prozent-Anteils aus dem Grundkapital von PrikarpatSapadtrans an Worobej ab. Dabei handelt es sich um eine Pipeline für den Transport von Dieselöl aus Russland und Belarus über die Ukraine nach Europa. Allerdings beschloss der Sicherheits- und Verteidigungsrat der Ukraine schon im Februar 2021, also ein Jahr vor der großen Invasion, diese Leitung wieder zu Staatseigentum zu machen.  

    Verbrannte Erde? Nicht unbedingt 

    Der Sanktionsdruck auf belarussische Unternehmen in der Ukraine begann im Oktober 2022, als Wolodymyr Selensky den ersten Erlass über die Anwendung „persönlicher spezieller ökonomischer und anderer Beschränkungsmaßnahmen“ unterzeichnete. So wurden gegen 118 Unternehmen und Organisationen aus Belarus Sanktionen verhängt. Ihre Vermögen in der Ukraine wurden eingefroren, die Handelsverträge aufgelöst, die Lizenzen entzogen.         

    Jetzt spielen sich die ökonomischen Beziehungen im Bereich der Schattenwirtschaft ab. Aus den besetzten ukrainischen Gebieten werden Produkte aus der Landwirtschaft ausgeführt, in Belarus verarbeitet und weltweit verkauft. Umgekehrt wird Glas über eine polnische Handelsvertretung der belarussischen Firma Gomelsteklo in die Ukraine geliefert, weil dort durch die Kriegsschäden ein dringender Bedarf an Fensterglas besteht. 

    Außerdem ist die Ukraine auf Ersatzteile für technische Geräte angewiesen, die sie massenhaft in Belarus eingekauft hat und jetzt für militärische Zwecke nutzt. Auch wenn es vorkommt, dass man wegen des Kaufs eines belarussischen Traktors auf Staatskosten vor Gericht steht. Ein Spiel ohne klare Regeln, dafür mit eindeutigen Interessen und hohen Risiken.  

    Keine Lust auf demokratische Kräfte 

    Das andere, neue Belarus, das von Lukaschenkos Regime ins Ausland vertrieben wurde, pflegt währenddessen aktiv gute Beziehungen zu den USA, der EU und anderen Ländern. Doch weder 2020 noch nach Beginn des großangelegten Krieges gelang es den demokratischen Kräften von Belarus, den Dialog mit der ukrainischen Regierung in Schwung zu bringen. Zuerst waren die Belarussen mit den stürmischen Ereignissen von 2020 beschäftigt, als auf die Präsidentenwahlen ein Massenenthusiasmus folgte, der in nicht minder massenhafte Proteste und Repressionen mündete. Dann stand Selensky angesichts des russischen Einmarsches vor unzähligen Herausforderungen, die für den Fortbestand seines Landes von zentraler Bedeutung waren.   

    Ein ernstzunehmendes Thema für ein Treffen mit der belarussischen Exilregierung bot sich ohnehin nicht an. Spenden an die ukrainischen Streitkräfte und Kämpfer für das Kalinouski-Regiment sind natürlich gern gesehen, aber für Meetings, Bündnisse und Allianzen hat Kyjiw genug andere Kandidaten. Ein beinahe zufälliger Handschlag zwischen Selensky und Tichanowskaja auf einer Veranstaltung in Deutschland im Frühjahr 2023, ein fernmündlicher Austausch von Beistandsbekundungen für die europäische Zukunft – mehr ist da nicht.   

    Was die Ukraine wirklich interessiert, ist bislang nach wie vor fest in Lukaschenkos Hand. Mit ihm scheint die ukrainische Staatsführung Kontakt zu halten und Gespräche zu führen. Im Juni 2024 konnte Kyjiw fünf Personen aus belarussischer Gefangenschaft befreien. Einer davon war Nikolai Schwez, ein Ukrainer, dem Minsk einen Sabotageakt gegen ein russisches A-50-Kampfflugzeug in Matschulischtschi vorwarf. Die Gefangenen wurden gegen Metropolit Jonathan eingetauscht, der in der Ukraine wegen prorussischer Aktivitäten verurteilt war. Lukaschenko plauderte aus Versehen aus, dass dieser Austausch auf die Bitte des russischen Präsidenten hin erfolgt sei. 

    Übrigens wartete der Tag, an dem der Austausch bekannt wurde, mit einer weiteren Überraschung auf. Am Kyjiwer Berufungsgericht wurde die Beschlagnahme eines Teils des Vermögens einer Tochterfirma des belarussischen Staatsunternehmens Belarusneft aufgehoben. Insofern ist das Verhältnis Kyjiws zu Lukaschenko zwar nicht unbedingt besser als zu Tichanowskaja, aber effektiver. Und daran wird sich in nächster Zukunft wohl auch nicht viel ändern.                     

    Angespannte Grenze 

    Sämtliche Kontakte, Übereinkünfte und Andeutungen zwischen Minsk und Kyjiw sind momentan instabil. Nach der vollumfänglichen Invasion in der Ukraine im Februar 2022, die unter anderem von belarussischem Staatsgebiet aus erfolgte, war das Risiko sehr hoch, dass auch die belarussische Armee in die Kampfhandlungen einbezogen würde. Seitdem kam es im Grenzgebiet immer wieder zu Spannungen. Sowohl Belarus als auch die Ukraine positionierten zusätzliche Kampfeinheiten, um sie dann teilweise wieder abzuziehen. 

    „Ich musste fast ein Drittel meiner Armee zusätzlich einsetzen, um das, was da war, zu verstärken. Dann haben wir über unsere Kontakte zu den ukrainischen Geheimdiensten gefragt: Wozu macht ihr denn das? Sie sagten ehrlich: Ihr wollt uns mit den Russen zusammen von Homel aus beschießen. Aber das hatten wir gar nicht vor“, beteuerte Lukaschenko im August 2024. 

    Ein Konflikt zwischen Minsk und Kyjiw ließe sich heute ohne Weiteres provozieren. Allein die Kamikaze-Drohnen, die ständig über belarussisches Territorium fliegen, bieten dazu allen Anlass. Darüber hinaus finden routinemäßige Manöver statt, zu denen sich das ukrainische Außenministerium bereits geäußert hat: „Wir warnen die Amtsträger der Republik Belarus davor, unter dem Druck aus Moskau katastrophale Fehler zu begehen. Wir rufen ihre Streitkräfte dazu auf, die feindlichen Manöver zu unterlassen und die Truppen abzuziehen.“   

    Die Angst vor einer potenziellen Eskalation bringt Lukaschenko anscheinend dazu, an seinem Bündnispartner vorbeizuverkünden, dieser habe seine Ziele bereits erreicht: „Ihr redet manchmal von Nazis. Die gibt es da gar nicht mehr. Die Ukraine ist entnazifiziert. Ein paar Randalierer laufen vielleicht noch rum, aber die interessieren keinen mehr“, behauptete er unlängst.                             

    Aber Lukaschenko widerspricht sich so oft selbst, dass man lieber auf das schauen sollte, was er tut. Manchmal spricht auch sein Schweigen Bände. Im August 2024 zum Beispiel vermied Lukaschenko es vier Tage lang tunlichst, den ukrainischen Vorstoß in der russischen Oblast Kursk zu bemerken. Von offizieller Seite tat man weder Besorgnis kund noch reagierte man auf die Unterstellungen einiger Z-Blogger, es gebe bei der Vorbereitung des Angriffs eine belarussische Spur. Man analysierte offenbar die Schwachpunkte des Bündnispartners und überlegte, wie sich die Dinge wohl weiterentwickeln mochten. Etliche dieser Szenarien wären für Lukaschenkos Regime alles andere als günstig gewesen. 

    Dieses Rechenbeispiel zum Verhältnis zwischen Kyjiw und Minsk enthält vorerst noch zu viele Variablen. Die belarussischen demokratischen Kräfte brauchen einen Freund, aber Selensky nicht noch einen Feind. Und solange Lukaschenko so viel Macht hat, wird sich Kyjiw auf keine Eskalation einlassen. Wenn man einen Krieg gegen überlegene Gegner führt, ist es wohl am klügsten, auf Pragmatismus zu setzen. Es liegt bei den Gegnern von Lukaschenkos Regime, die Ukraine in ihrem Kampf aufrichtig und konsequent zu unterstützen, ohne beleidigt zu sein, Ansprüche zu stellen oder Gegenleistungen zu erwarten.

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  • „Der Belarusse im Exil befindet sich in einem Kokon der Vieldeutigkeit“

    „Der Belarusse im Exil befindet sich in einem Kokon der Vieldeutigkeit“

     

    Viele Belarussen, die mittlerweile im Exil in Polen, Litauen oder Georgien leben, engagieren sich für die Demokratiebewegung. Im Belarus selbst ist Engagement gefährlich und öffentlicher Protest nicht mehr möglich. Lukaschenko hat seinen Machtapparat vor allem auf eines eingeschworen: auf politische Verfolgung. Verlässliche Informationen darüber, wie es sich unter derart hochrepressiven Bedingungen lebt, wie sich die Sichtweisen der Belarussen seit 2020 entwickelt haben, gibt es kaum. 

    Im Interview erklärt der Soziologe Andrei Wardomazki vom Belarusian Analytical Workroom die Tücken seiner Arbeit: Wie lassen sich die Einstellungen und Stimmungen der Belarussen ermitteln? Tut sich tatsächlich eine Kluft zwischen den Belarussen im Exil und denen im Land auf? 

    Der belarussische Soziologe Andrei Wardomazki im Gespräch / Foto © GasetaBY
    Der belarussische Soziologe Andrei Wardomazki im Gespräch / Foto © GasetaBY

    dekoder: Die Belarussen in ihrem Land und außerhalb ihres Landes nehmen die Situation in Belarus unterschiedlich wahr, einige Experten nennen die Differenz zwischen den Sichtweisen sogar „katastrophal“. Woher kommt das? 

    Andrei Wardomazki: Der Begriff „Katastrophe“ hat eine subjektive emotionale Aufladung. Ich sage lieber „bedeutender“ oder „wesentlicher Unterschied“.  

    Unterschiedliche Meinungen gibt es immer. In den USA zwischen Republikanern und Demokraten, in Großbritannien zwischen Tories und Whigs … Das gilt auch für Belarus. Seit wann es diesen bedeutenden Unterschied in der Wahrnehmung der Belarussen gibt – es ist schwierig, hier einen Anfangspunkt zu markieren. Ein Faktor war bestimmt die zunehmende Emigration nach 2020. Damals tauchten einige Merkmale auf, die auf eine erhebliche Differenz zwischen der Sichtweise der Belarussen im und außerhalb des Landes hindeuteten. Erhebliche Unterschiede, die sich vielleicht irgendwann zu wesentlichen entwickeln.  

    Der nächste Meilenstein war der Beginn des großangelegten russischen Angriffs auf die Ukraine. Ab da prägten sich zwei unübersehbare Informations- und Weltanschauungskokons heraus. 

    Wie kann man diese Kokons beschreiben? 

    Ich nenne sie „Nein zum Krieg“ und „Es gibt keinen Krieg“. Es gibt auch Kokons zu anderen weltanschaulichen Positionen. Zum Beispiel zur geopolitischen Ausrichtung, zur Einstellung zu Europa. Die Menschen sehen verschiedene Realitäten. Während ein Belarusse im Exil das Lächeln der westlichen Politiker vor Augen hat, sieht man von Belarus aus den Gesichtsausdruck eines EU-Grenzbeamten beim Grenzübertritt. 

    Der nächste Kokon betrifft das Thema Wirtschaft. Jenseits von Expertenkreisen (die die Situation nüchtern beurteilen) besteht unter den Durschnittsbelarussen im Ausland die Vorstellung vom wirtschaftlichen Niedergang in Belarus, dass es immer schlimmer wird. Die Bevölkerung im Land bewertet die wirtschaftliche Lage anders, sie nimmt keine Verschlechterung wahr. Die Statistik gibt ihnen übrigens recht. 

     

    Der nächste Unterschied ist, dass die Exil-Belarussen von extremen Repressionen und der totalen Entbelarussifizierung in Belarus ausgehen. Aus dem Land selbst hingegen gibt hört man immer wieder, dass Gras darüber gewachsen sei. Aus verständlichen Gründen führe ich keine Beispiele an. 

    Die Auswanderer sind im Jahr 2020 steckengeblieben, in Belarus herrscht schon eine „neue Normalität“ 

    Worin liegt der Unterschied im Denken der Belarussen innerhalb und außerhalb des Landes, wie und warum bilden sich diese Kokons? 

    Es gibt den Parameter der sozialen Zeit. In vielerlei Hinsicht kann man die Diaspora charakterisieren als erstarrt im Jahr 2020. Alles blieb dort und damals stehen – die Menschen, das Weltbild, die Psychologie. Aber innerhalb von Belarus passieren Veränderungen, die zu einer Art „neuen Normalität” führen. Der Belarusse im Exil befindet sich in einem Kokon der Vieldeutigkeit, mit vielen Interpretationsmöglichkeiten. Er bewegt sich in einem Informationsstrom, der ihm vielfältige Interpretationen anbietet, verschiedene Perspektiven auf ein und dasselbe Phänomen.  

     

    Der Belarusse in Belarus bewegt sich im Strom der Zensur und Begrenzung. Putin soll man nicht kritisieren, über Selensky lieber nichts Gutes sagen. Das Jahr 2020 darf man nicht positiv bewerten, und zu manchen Persönlichkeiten sollte man sich gleich gar nicht äußern. Das ist Zensur, vermischt mit Selbstzensur. 

    Generell sind der Grund für solche Kokons einerseits diese verschiedenen, manchmal diametral entgegengesetzten Informationsströme, andererseits gehen die persönlichen Erfahrungen auseinander. Die Kombination aus beiden erzeugt eine Kluft. Ein wichtiger Grund hat mit Sicherheit damit zu tun: mit dem Überleben. In Belarus ist es schlicht gefährlich, blockierte ausländische Medien und nichtstaatliche belarussische Auslandsmedien zu lesen oder zu konsumieren, die Mehrheit ist als „extremistisch“ gelistet. Man richtet daher seine Aufmerksamkeit auf andere Quellen, wechselt den Kokon. 

    Sie sprechen über die Belarussen im In- und Ausland, erwähnen aber diejenigen nicht, die in Belarus geblieben sind und dennoch dasselbe lesen und schauen wie die Emigrierten. 

    VPN-Dienste verringern das Problem der Blockierungen erheblich, aber die Gefahr bleibt bestehen. Ich denke, den Anteil derer, die dieselben Medien konsumieren wie die Emigranten, kann man bei 30 Prozent verorten. Übrigens ist das Vertrauen in die unabhängigen belarussischen Medien genauso hoch wie das in die russischen Medien. Trotz aller Einschränkungen bleibt das Interesse also bestehen. Das ist ein wichtiger Indikator.  

     

    Es wirken aber auch psychische Schutzmechanismen. Manche Menschen sind nicht in der Lage, Fotos aus Butscha anzusehen oder viel negative Information aufzunehmen. Hält ein Mensch das nicht aus, zieht er sich zurück in einen ruhigeren, positiveren Kokon. Beim Entstehen dieser Kokons wirken also zwei Arten von Selbstschutz. Erstens das existenzielle, lebensnotwendige Sicherheitsbedürfnis – sich die Freiheit zu bewahren, die man verlieren kann, wenn man Medien nutzt, die in Belarus blockiert sind oder als extremistisch gelten. Zweitens der psychische Selbstschutz – die Unfähigkeit, das Negative in den Medien auszuhalten. 

    So bewegt man sich in einer Art Korridor zwischen dem gerade noch Erträglichen und dem Interesse daran, informiert zu bleiben. In diesem Korridor zwischen Unerträglichkeit und Neugier wird alles genutzt, was an Medien zugänglich ist.  

    Welche Gründe gibt es noch, dass Leute aus einem Kokon in einen anderen wechseln? 

    Wenn die Interessen auseinandergehen und die Probleme, die die Menschen beschäftigen, nicht den Themen entsprechen, die die nichtstaatlichen Medien anbieten. Zum Beispiel interessiert man sich für Wirtschaft, aber hört nur von politischen Gefangenen. Dann entfernt man sich von dieser Information und landet in einem anderen Kokon. 

    Kann man einen Point of no Return prognostizieren, an dem die Belarussen im In- und Ausland einander endgültig nicht mehr verstehen werden? 

    Bei sozialen Phänomenen gibt es keine „hundert Prozent“, kein „absolut schlecht“ und „absolut gut“, kein „endgültig”. 

    Gab es bei den Deutschen einen Point of no Return? Gibt es ihn in Nordkorea? Dort sind die Menschen überzeugt, dass sie besser als der Rest der Welt leben, das habe ich mit eigenen Augen gesehen. Aber das heißt nicht, dass sich die Situation nicht irgendwann, in einer langen Zeitspanne, ändern kann. Über die russische öffentliche Meinung sagt man heute: „Das ist der Point of no Return, du kannst sie nicht mehr ändern.“ Aber das gibt es nicht. Was es gibt, sind Punkte, die eine Annäherung schwieriger oder leichter machen, die Veränderungen wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher machen. 

     

    Hier muss man noch die gegenseitigen Vorbehalte zwischen Emigranten und Gebliebenen erwähnen. Beide Seiten beschuldigen die jeweils andere, konform mit dem Regime zu sein, meinen damit aber unterschiedliche Dinge. Die Emigrierten sagen, ihr seid geblieben und zahlt Steuern, ihr unterstützt das Regime. Die Gebliebenen wiederum sagen, ihr Konformisten seid abgehauen, wer wird dann unser Land erhalten oder sogar kämpfen? Nach demselben – sozialpsychologischen und logischen – Prinzip haben sich die gegenseitigen Anschuldigungen schon 2020 eingebürgert, damals zwischen den Unterstützern des Wandels und den systemtreuen Jabatki. Heute beschuldigen einander Inlandsbelarussen und Auslandsbelarussen. 

    Es ist ein einzigartiges Phänomen: Dass die einen Belarussen die anderen Belarussen zu erforschen beginnen. Darin liegt die Besonderheit dieser Untersuchung, sowohl für die Wissenschaft als auch insgesamt für die belarussische Gesellschaft. Ich wiederhole, es gibt keinen Point of no Return. Es gibt eine Verweildauer in einem Zustand, die länger oder kürzer sein kann. Aber dass eine Situation für immer festfriert, das gibt es nicht. Dasselbe gilt für Konformismus- und Kollaborationsvorwürfe. 

    Erzeugen die Informationskokons die Trennlinie oder verstärken sie sie nur? Zum Beispiel Präferenzen bei der außenpolitischen Orientierung oder bei ökonomischen Veränderungen. 

    Das sind so Stimmungen, die schwanken und sich nicht stabil in eine Richtung bewegen. Einmal reagiert Europa anders auf die Situation in Belarus – schon ändert sich die Einstellung in Belarus. Grafiken, die diese Schwankungen der geopolitischen Präferenzen illustrieren, zeigen keine kontinuierliche, lineare Ausrichtung, es gibt ein Auf und Ab. 

    Nur ein Parameter bleibt konstant: Belarus und seine Armee sollen nicht direkt am Krieg in der Ukraine teilnehmen. Die Haltung zur Nutzung belarussischer Infrastruktur oder zur Stationierung russischer Truppen kann sich hingegen ändern. Sie kann sich auch verschlechtern. 

    Welche Stereotype über die Sichtweisen von Emigrierten und in Belarus Gebliebenen wurden im Verlauf der Studie aufgebrochen? 

    Jede Forschung ist in gewisser Weise ein Brechen mit Stereotypen. Ich habe schon das Beispiel der Repressionen angesprochen. Von außen besteht die stereotype Ansicht, dass die Situation in Belarus maximal schlimm ist und sich noch weiter verschlimmert. Aber die Befragten in Belarus geben nicht nur negative Einschätzungen ab. Und trotz der zahlreichen katastrophalen Wirtschaftsprognosen empfinden die Einwohner die Lage nicht als absoluten Zusammenbruch. 

    Alles ist vielfältiger und komplexer als die Stereotype polarisierter Meinungen 

    Was die geopolitische Ausrichtung angeht, so nehmen die Belarussen beispielsweise Europa ganz unterschiedlich wahr, meist je nach persönlichen Erfahrungen und je nach Informationsquellen. Ich möchte hier keine Antworten zitieren, aber es gibt viele Details abseits von Stereotypen. 

    Über Russland sagen die einen, dass davon die Kriegsgefahr ausgehe, die anderen, dass die Freundschaft mit Russland Garant dafür sei, dass das belarussische Territorium von den Kämpfen verschont bleibe. 

    Im Rahmen unserer Forschungen, unter anderem zum Thema „Informationskokons in Belarus und im Ausland“, tragen wir Berge von detaillierten Informationen zusammen und denken bereits über die Entwicklung einer Kokontheorie nach. Alles ist vielfältiger und komplexer als die Stereotype polarisierter Meinungen. 

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  • Die Identitätskrise der belarussischen Opposition

    Die Identitätskrise der belarussischen Opposition

    Die belarussische Demokratiebewegung kämpft im Exil dafür, dass belarussische Themen von der internationalen Staatenwelt gehört werden und nicht unter den Tisch fallen. Zudem ist sie bemüht, sich zu ordnen und ihre eigenen Strukturen zu demokratisieren. Zu diesem Prozess gehörten beispielsweise auch die Wahlen zum Koordinationsrat, die Ende Mai 2024 stattfanden. Der Koordinationsrat sollte eine Art parlamentarische Vertretung von Oppositionsgruppierungen aus Politik oder Zivilgesellschaft werden. Allerdings zeigte die extrem niedrige Wahlbeteiligung, dass viele Belarussen sowohl im Exil als auch im Land selbst offensichtlich andere Probleme haben, auf die die Opposition aber kaum Einflussmöglichkeiten hat. Zudem positionieren sich Belarussen in vielfacher Hinsicht anders als die Demokratiebewegung um Swetlana Tichanowskaja.

    An wen richtet sich die belarussische Opposition also mit ihren Forderungen, wen will und kann sie vertreten und was bedeutet der schwierige Spagat zwischen den Interessen der Belarussen im Land und derjenigen im Exil, die als besonders progressiv gelten, für die Zukunft der Demokratiebewegung? Diesen Fragen widmet sich Artyom Shraibman in seiner Analyse.

    Russisches Original
     

    Belarussen positionieren sich in vielfacher Hinsicht anders als die Demokratiebewegung um Swetlana Tichanowskaja / © Fredrik Sandberg/TT Anna Lind-Priset/Imago

    Gleich vorweg: Verschiedene Gruppierungen innerhalb der belarussischen Opposition geben unterschiedliche Antworten auf die Frage, wessen Meinung sie vertritt. Sie haben zuweilen den Anspruch, je nach Thema unterschiedliche Zielgruppen zu repräsentieren. Wenn es etwa um die Forderung fairer Wahlen, die Befreiung politischer Gefangener und das Ende der Repressionen geht, dann wollen die demokratischen Kräfte immer noch jene Mehrheit repräsentieren, die offensichtlich im Jahr 2020 für Tichanowskaja gestimmt hat.

    Geht es um den Krieg in der Ukraine, so versuchen die demokratischen Kräfte, im Namen der überwiegenden Mehrheit der belarussischen Gesellschaft zu sprechen, die – im Unterschied zu den Russen – gegen den Krieg sei. Aus analytischer Distanz betrachtet ist das jedoch manipulativ. Tatsächlich vertritt zugänglichen Umfrageergebnissen zufolge nur ein geringer Prozentsatz der Belarussen die Meinung, belarussische Truppen sollten im Krieg eingesetzt werden. Doch ist die Zahl jener Belarussen, die Russland unterstützen, ebenfalls hoch: Zwischen 30 und 40 Prozent der Belarussen (je nach Formulierung der Frage) finden es gut, wie die russische Armee in der Ukraine vorgeht und dass sie belarussisches Territorium als Aufmarschgebiet nutzt. Einerseits ist das nicht sehr viel, wenn man die Vernichtung der Meinungsfreiheit in Belarus und den enormen Einfluss der russischen Propaganda bedenkt. Aber von einem „antimilitaristischen Konsens“ kann man in dieser Situation nur sehr bedingt sprechen, und zwar, was den Einsatz belarussischer Soldaten im Krieg betrifft. In vielen Aspekten dieses Themas sind die Belarussen gespalten und alles andere als einig.

    Wen die demokratischen Kräfte adressieren  

    Wenn man der Frage genauer nachgeht, wie ein Ende des Kriegs aussehen könnte, dann vertreten die Tichanowskaja nahen Demokraten mit ihrer Meinung nur eine Minderheit der Belarussen. Mehr als die Hälfte der Befragten wünscht sich ein sofortiges Einfrieren des Konflikts an den aktuellen Frontlinien, und ein weiteres Viertel wünscht sich einen Sieg Russlands. Weniger als 15 Prozent der Städter (die Umfragen werden in der urbanen Bevölkerung durchgeführt) sagen offen, dass der Krieg mit einem klaren Sieg der Ukraine enden soll. Und sogar wenn man den häufig zitierten Faktor Angst ausklammert, bleiben die eindeutig proukrainischen Ansichten der Opposition trotzdem klar in der Minderheit1.

    Auch in anderen Fragen können die demokratischen Kräfte im Exil nicht behaupten, die Mehrheit der Belarussen zu repräsentieren, sondern eher nur die aktive prowestliche Minderheit. Hierzu gehören die europäische Integration, der Ausstieg aus allen Bündnissen mit Russland, der Status des Belarussischen als einziger Amtssprache und schließlich die Ausweitung der Sanktionen gegen Belarus bis hin zu einem Handelsembargo – wohl die unbeliebteste aller hier aufgezählten Ideen. Manchmal sieht es aus, als würde die Demokratiebewegung in manchen dieser Fragen zwar nicht unbedingt absichtlich die gesellschaftlich unbeliebtesten Lösungen bevorzugen, aber durchaus eine historische Mission verfolgen: heute strategische Ziele zu formulieren, um sie in Zukunft zur mehrheitsfähigen Meinung zu machen. Darin zeigt sich der Wille, eine ganz besondere soziale Gruppe zu vertreten – die „Belarussen der Zukunft“, die „nachziehen“, sich also der heutigen prowestlichen Minderheit und ihren Standpunkten annähern werden. Und zum Teil zielen die Aktivitäten der Opposition auch darauf ab, die Diaspora zu vertreten – sei es mit der Idee zu einem „Pass des neuen Belarus“, mit dem Aufbau alternativer staatlicher Organe im Exil oder dem Kampf für bessere Aufenthaltsbestimmungen der Belarussen im Westen.

    Der Faktor Westen

    Hinter diesem komplizierten Gespinst aus Positionen verbirgt sich ein weiteres Element, ein delikateres, über das man nicht laut spricht — die Interessen westlicher Länder, die der Opposition entweder Asyl gewähren oder über internationale Stiftungen ihre Arbeit finanzieren. Es gibt keine überzeugenden Beweise, dass westliche Akteure den demokratischen Kräften irgendwelche Positionen aufzwingen würden. Doch die belarussischen Exilpolitiker müssen die Interessen ihrer Partner durchaus berücksichtigen. Manchmal stehen diese Interessen den Vorstellungen der überwiegenden Mehrheit der Belarussen entgegen – zum Beispiel beim Thema Mobilität. Die Belarussen, die vor der Covid-Pandemie die Nation mit den meisten Schengen-Visa pro Kopf waren, wollen möglichst offene Grenzen zur EU. Aber die westlichen Nachbarn von Belarus reagieren auf die Provokationen, die Minsk an den Grenzen veranstaltet hat, und auf die Rolle von Belarus im Krieg mit Schließung von Grenzübergängen. Litauen versucht sogar, den Zustrom der Belarussen zu stoppen, indem es den Busverkehr teilweise einstellt.

    Für die demokratischen Kräfte ergibt sich daraus ein Interessenkonflikt. Swetlana Tichanowskaja und ihre Anhänger müssen sich einerseits loyal verhalten gegenüber jenen Belarussen, die in die EU reisen möchten, und gleichzeitig rechtfertigen, dass ihre Nachbarländer die Grenzen zu Belarus schließen. Dieser Spagat führt dazu, dass innerhalb der Opposition Gruppen entstehen, die Tichanowskajas Mannschaft vorwerfen, sich zu wenig gegen den „eisernen Vorhang“ an der Westgrenze von Belarus einzusetzen. Gleich mehrere solche Koalitionen („Listen“) traten bei den Wahlen zum Koordinationsrat der Opposition am 25. bis 27. Mai mit dem Versprechen an, den internationalen Lobbyismus in Fragen der Mobilität zur obersten Priorität zu machen.       

    Das Ende der Ad-hoc-Koalition 

    In der Demokratie werden solche Probleme im Zuge von Wahlen gelöst: Parteien, die mit sich selbst beschäftigt sind und den Kontakt zur Masse der Wählerschaft verlieren, bekommen weniger Stimmen und büßen ihre Macht ein. Ein solcher Rotationsmechanismus fehlt bei den belarussischen Demokraten. Es ist schwierig, sich auf Wahlen zu verlassen, die nur im Ausland stattfinden können. Repräsentanten, die vom politisch aktivsten Teil der Diaspora gewählt wurden, sind möglicherweise noch weiter von den Interessen des Durchschnittsbelarussen entfernt als die derzeitige Regierung in Belarus. Insofern sucht sich jede politische Kraft selbst ihre Zielgruppe aus, deren Interessen sie vertreten will. Ob sie auf das richtige Pferd setzt, wird die Geschichte zeigen. Diese kennt sehr wohl Beispiele für eine triumphale Rückkehr politischer Emigranten aus dem Exil, die sich auf die Arbeit mit einem aktivistischen Kern konzentriert und die Verbindung zur Mehrheit ihres Volkes scheinbar schon verloren hatten. Solche Beispiele sind jedoch eher die Ausnahme von der Regel, die nahelegt, dass der Wandel in Belarus eher von neuen Kräften angetrieben werden wird, die innerhalb des Landes entstehen werden, sobald sich das nächste Fenster historischer Volatilität auftut.

    Doch dieses Dilemma wirft noch eine andere Frage aus der politischen Philosophie auf: Wie weit soll sich die Exil-Opposition überhaupt von den Schwankungen der öffentlichen Meinung in ihrem Heimatland beeindrucken lassen? Die Koalition jener, die 2020 Tichanowskaja unterstützt haben, ergab sich in vielerlei Hinsicht aus der Situation. Das war keine Revolte einer konkreten Gesellschaftsschicht, einer demografischen Gruppe oder von Anhängern einer bestimmten Ideologie. Vielmehr war es ein Ausbruch allgemeiner Empörung angesichts Gewalt, Lügen und Wahlfälschung vonseiten des Staates. Das angestaute Verlangen nach respektvoller Behandlung hatte sich mit dem Überdruss an Lukaschenko gepaart. Doch es war eine Koalition völlig unterschiedlicher Menschen, die sich zu einem konkreten Zeitpunkt als Reaktion auf konkrete Handlungen des Regimes gebildet hatte.  

    Es wäre naiv anzunehmen, man könne diese bunte und spontane Koalition einer belarussischen Mehrheit ewig aufrechterhalten. Sogar in einem Land mit normalem politischem Wettbewerb müssen bei neuen Wahlen die Sieger der vorangehenden Wahlen wiederum versuchen, eine Mehrheit zu überzeugen, und den Menschen neue Gründe anbieten, warum sie ihnen auch in der aktuellen Situation ihre Stimme geben sollen. Doch in Belarus gibt es jetzt und wohl auch in nächster Zukunft keine politische Konkurrenz, keinen Kampf um die Macht durch Überzeugung von Mehrheiten. Das heißt, dass die Opposition allein schon aus technischen Gründen keine neue „Siegerkoalition“ bilden kann. Man kann zu jeder beliebigen Frage – von Sanktionen über Neutralität bis hin zur Wirtschaftspolitik – so populäre oder gar populistische Positionen einnehmen, wie man will – solange es im Land keinen politischen Wettbewerb gibt, wird die Opposition nichts davon haben.   

    Deswegen werden die Belarussen keine neuen Möglichkeiten zum politischen Handeln bekommen. Und das Fenster zu diesen Möglichkeiten wird nicht aufgehen, nur weil die Oppositionsführer im Exil anfangen, in ihren Reden beliebtere Thesen zu verkünden.                      

    Das Dilemma unterschiedlicher Meinungen innen und außen 

    Wie paradox das auch klingen mag: Es ist unklar, welchen politischen Nutzen die Opposition daraus zieht, wenn sie den Ansichten der heutigen belarussischen Mehrheit folgt. Welche Risiken eine solche Herangehensweise für die Exilstrukturen darstellen würden, ist hingegen nicht schwer zu erahnen. 

    Erstens: Der Versuch, sich im Einklang mit der Mehrheit der Belarussen im russisch-ukrainischen Krieg neutral zu verhalten, zum sofortigen Waffenstillstand aufzurufen oder gegen die Sanktionen einzutreten, würde die Verbindung der Opposition zum proukrainischen und proeuropäischen Kern der demokratisch gesinnten Belarussen schädigen, die zu all diesen Fragen ganz klar Position beziehen. Genau jene oppositionell gesinnten Menschen arbeiten in politischen und zivilgesellschaftlichen Organisationen im Exil und in Redaktionen unabhängiger Medien und bilden die Diaspora, die von der Opposition eine Vertretung ihrer Interessen fordert. Anders gesagt, das Bemühen, dem durchschnittlichen Belarussen zu gefallen, würde beim prodemokratischen oppositionellen Kern auf Frustration und Ablehnung stoßen. 

    Zweitens würde eine Übernahme der in Belarus populärsten Ansichten in einer Situation des Kriegs und der scharfen Trennung in „Unsere“ und „Fremde“ eine effektive internationale Politik der Demokraten in Europa verunmöglichen. Eine Swetlana Tichanowskaja, die eine Aufhebung der sektoralen Sanktionen fordert, oder ein Pawel Latuschko, der zu Neutralität und einem sofortigen Waffenstillstand in der Ukraine aufruft, könnten nicht nur mit den ukrainischen, sondern auch mit den meisten westeuropäischen Beamten und Diplomaten nicht mehr normal reden. Sogar ihr Aufenthaltsrecht in Vilnius und Warschau könnte dann in Zweifel gezogen werden.      

    Ehrliche Abkehr von der Idee einer Exilregierung

    Wahrscheinlich wird es mit der Zeit die organischste Entscheidung für die Opposition im Exil sein, sich in die Nische der moralischen Autoritäten zurückzuziehen, der Meinungsführer und internationalen Anwälte von Belarus, die nicht von der Konjunktur der aktuellen öffentlichen Meinung im Heimatland abhängig sind. Das würde ihnen erlauben, ungeschminkt ihre Überzeugungen zu verfechten, die Interessen ihrer heutigen Anhänger und der Diaspora zu vertreten und nicht mehr so tun zu müssen, als würde die historisch präzedenzlose Mehrheit von 2020 noch immer in allen Fragen den demokratischen Kräften folgen. Natürlich würde dies eine bescheidenere Positionierung bedeuten und eine Abkehr von der Idee einer „Exilregierung“ mit dem Anspruch, die Interessen aller oder der meisten Belarussen zu verteidigen. Doch eine solche Positionierung wäre wenigstens ehrlich – sowohl den internationalen Gesprächspartnern als auch ihren heutigen tatsächlichen Anhängern gegenüber.  


    1.Forschungen schätzen die Verminderung der Zahl der proeuropäischen und proukrainischen Antworten auf 3 bis 16 Prozentpunkte ein. 

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  • Die weiße Emigration: Warum Ärzte Belarus verlassen

    Die weiße Emigration: Warum Ärzte Belarus verlassen

    Auch Ärzte, Pflegekräfte und anderes medizinisches Personal hatten sich 2020 massenhaft den Protesten in Belarus angeschlossen. Trotz des eklatanten Personalmangels im Land gingen die Machthaber danach massiv gegen Augenärzte, Chirurgen, Psychologen oder Krankenpfleger vor. Bis heute kommt es zu gezielten Repressionen und Strafverfahren gegen medizinisches Personal. Ärzte werden entlassen, kommen hinter Gitter, werden zu Extremisten oder Terroristen erklärt, viele der Fachkräfte haben Belarus verlassen. In der Oblast Witebsk ist die Anzahl der Ärzte innerhalb eines Jahres um 700 zurückgegangen

    Die Journalistin Jana Machowa berichtet, was im belarussischen Gesundheitswesen vor sich geht, wohin und wovor die dringend gebrauchten Fachkräfte fliehen und welche Folgen dies für Patienten und Kranke hat.

    Russisches Original

    Tausende medizinische Fachkräfte fehlen 

    2023 ist das Einsetzen von Gelenkprothesen in Belarus eine Operation, die für den Durchschnittsbürger fast utopisch ist. „Schön realistisch bleiben! Vom Orthopäden-Prozess haben Sie gehört?“ So beschreibt eine Patientin, die ein neues Kniegelenk braucht, die Reaktion von Ärzten auf ihre Anfrage. Im Frühjahr 2023 rollte eine Verhaftungswelle durch die Orthopädischen Abteilungen des Landes, dutzende erfahrene Fachärzte landeten hinter Gittern – so wie kurz davor Psychologen und Psychotherapeuten, die die Silowiki in der Hoffnung, an Informationen zu „problematischen“ Patienten zu kommen, ebenfalls zahlreich festnahmen. Das zu Jahresbeginn geänderte Gesetz Über psychotherapeutische Hilfeleistung erlaubt es nun den Geheimdiensten, ohne Angabe von Gründen die Bereitstellung von Informationen über Klienten zu verlangen. 

    Den Orthopäden werden offiziell Bestechlichkeit und illegale Absprachen vorgeworfen. Inoffiziell spricht man in Medizinerkreisen über eine mögliche Umgestaltung des Marktes sowie die Vermutung, alle diese „Prozesse“ könnten den Zweck haben, die Privatmedizin sowie Mediziner, die 2020 mitsamt ihrer ganzen Abteilung protestierten, dem Staat zu unterwerfen.

    Die Massenverhaftungen haben die Wartezeit für Gelenkimplantate, die ohnehin bereits Jahre betrug, noch zusätzlich verlängert. Sogar den Daten des Gesundheitsministeriums zufolge warten an die 14.000 Menschen auf ein künstliches Hüftgelenk. Die Empörungswelle ist bis zu Lukaschenko durchgedrungen, der ganz typisch reagierte: „Bis Jahresende macht ihr mir all diese Gelenke!“, forderte er vom Gesundheitsminister, ohne sich für Details zu interessieren. „Aber zackig! Einer steht, zwei nähen. Los, organisieren Sie das.“ Das Gebrüll in der Sitzung verkürzte die Wartezeit für Operationen natürlich nicht.

    Ein Ärztemangel aufgrund von niedrigen Gehältern und jenseitigen Anforderungen, was den Umfang der zu leistenden Arbeit betrifft, bestand in Belarus auch schon vor 2020. Mit dem Beginn der Massenrepressionen nach den Präsidentschaftswahlen verschärfte sich die Situation. Im Herbst 2022 meldete die polnische Gesundheitsministerin Katarzyna Sojka, dass im Laufe des letzten Jahres rund tausend belarussische Ärzte eingereist seien. 

    Die Belarusian Medical Solidarity Foundation ByMedSol führte eine Studie zur Zahl der medizinischen Fachkräfte in Belarus durch. Als Grundlage dienten offen zugängliche Quellen und offizielle Statistiken. Die Ergebnisse sind ernüchternd. „Wenn das Gesundheitsministerium Ende 2022 von 48.000 praktizierenden Medizinern spricht, dann ist das gelogen. In Wirklichkeit sind es mindestens 10.000 weniger“, erklärt der Gründer der Stiftung, Andrej Tkatschow, und fügt hinzu, dass seit 2020 die Lügen in den staatlichen Strukturen immer größere Dimensionen annehmen und man, statt Probleme zu lösen, lieber die Statistiken manipuliere. 

    Seinen Daten zufolge haben in den letzten drei Jahren tausend bis mehrere tausend medizinische Fachkräfte Belarus verlassen. Indirekt bestätigen das die Daten der landesweiten Jobbörse: Der Suchbegriff „Arzt“ bringt rund 6500 Stellenangebote, für Krankenschwestern gibt es über 4000 freie Arbeitsplätze. „Äußerst vorsichtig geschätzt sind auf jeden Fall mehr als 1000 Mediziner ausgewandert. Es können auch bis zu 5000 sein. Man kann sie nur indirekt zählen, weil viele medizinische Fachkräfte den Job gewechselt, aber keine Möglichkeit zur Emigration haben“, erklärt ein Vertreter von ByMedSol.

    Medizinisches Personal bei einer Protestkundgebung in Minsk im Jahr 2020 / Foto © Natalia Fedosenko/ITAR-TASS/imago-images 

    26 Mediziner sind als politische Häftlinge anerkannt

    Slawomir Gadomski, stellvertretender Gesundheitsminister, sieht den Ausweg aus der personellen Not in einem größeren Angebot an staatlich finanzierten Studienplätzen, als „Zuckerl“ verspricht er eine soziale Förderung in Form von Wohnungen. Lukaschenko hat den Ärztemangel kommentiert, indem er Polen, wohin seine wertvollen Fachkräfte verschwinden, mit der Faust drohte. Im November 2020 erklärte er: „Wir haben keine überschüssigen Ärzte. Wir brauchen sie selber, für unsere Leute. Zurückhalten werden wir aber keinen … Wer abhaut, braucht nicht mehr wiederzukommen.“ Wiederkommen, das haben die Ärzte allerdings ohnehin nicht vor. Die meisten, die seit 2020 abgewandert sind, sind vor Repressionen geflüchtet.

    Die Mediziner stachen während der Proteste sehr ins Auge. Sie demonstrierten mit Plakaten direkt vor den Krankenhäusern. Wie sonst niemand wussten sie über das Ausmaß der Gewalt Bescheid, immerhin waren sie es, die die Opfer medizinisch versorgen mussten.

    „Es war unmöglich zu schweigen. Jeden Tag [im August 2020 – dek] kamen Verprügelte und Verletzte herein. Blaugeschlagen, mit Platzwunden und Schussverletzungen. Ich arbeite schon lange im OP, habe schon vieles gesehen, aber sowas … Vor der Arbeit stellte sich unsere Belegschaft vor den Haupteingang der Klinik, manche hatten Plakate gemalt: Nein zur Gewalt. Was hätten wir denn sonst tun können?“, erzählt ein Chirurg aus einer Minsker Klinik, der anonym bleiben will. Manche Kollegen, fügt er hinzu, hätten nach kurzer Haft gekündigt und das Land verlassen, andere hätten den Beruf gewechselt, und manche säßen noch immer hinter Gittern. 

    Andrej Ljubezki, eine Koryphäe im Bereich Kinder-Kiefer- und Gesichts-Chirurgie, rief dazu auf, die Verfolgung und Misshandlung der Menschen einzustellen. Woraufhin er zu fünf Jahren Strafkolonie verurteilt und zum Terroristen erklärt wurde. „Jeder von uns hat einen oder auch mehrere Bekannte, Freunde oder Nachbarn, die festgenommen wurden, die erniedrigt und geprügelt wurden“, schrieb Ljubezki, der inzwischen als politischer Gefangener gilt, auf Facebook noch vor seiner Verhaftung.

    Wegen Kleidung in den „falschen“ weiß-rot-weißen Farben wurde eine 71-jährige Fachärztin für Onkologie und Mammalogie mit einer Geldstrafe von 3770 Rubel (damals rund 1100 Euro) belegt. Die 51-jährige Psychiaterin Natalja Nikitina wurde an ihrem Arbeitsplatz im Minsker Psychiatrie- und Psychotherapiezentrum für Kinder festgenommen. Ein paar Stunden zuvor hatte sie eine Mitteilung über ihre Entlassung erhalten. Wegen Kommentaren im Internet wurde die Ärztin zu einem Jahr und zehn Monaten Strafkolonie und einer Geldstrafe in Höhe von 6400 Rubel (damals rund 1900 Euro) verurteilt. Das sind nur einige Beispiele.

    Im Oktober 2023 betrug die Zahl der aus politischen Gründen inhaftierten Ärzte rund 26. Vertreter von ByMedSol gehen davon aus, dass die Dunkelziffer höher ist. Aber Menschen, die einmal durch den Fleischwolf der Repressionen gedreht wurden, wollen oder trauen sich oft nicht, offen zu sprechen.

    Ich behandle meine belarussischen Klienten jetzt von Polen aus

    „Morgens um halb sieben kamen KGB-Bedienstete zu mir nach Hause, stemmten die Türen auf. Fünf Stunden Hausdurchsuchung, fünf Stunden Verhör. Ich wurde gegen Unterschrift entlassen, mit dem Zusatz: nicht für lange“, erzählt Jelena Gribanowa, Psychologin mit 20 Dienstjahren. 

    Nicht einmal nach diesem Vorfall wollte Jelena das Land verlassen, doch 2021 wurde ihr klar, dass man sie nicht in Ruhe lassen würde – und sie ergriff die Flucht: „Im Staatsfernsehen war ein Beitrag, in dem aufgrund meiner ehrenamtlichen Tätigkeit ein ‚psychologisches Zentrum der Protestbewegung‘ und eine ‚Koordinatorin des Litauer Puppenspielers‘ aus mir gemacht wurde. Und dann kam absoluter Nonsens von wegen, wir würden ‚von Europa finanziert‘.” 

    Die Psychologin lebt seit nunmehr zwei Jahren in Polen, hat belarussische und ukrainische Klienten, arbeitet als Psychologin und Supervisorin für eine Menschenrechtsorganisation in Charkiw. 

    Bevor sein Diplom in Polen anerkannt wurde, arbeitete ein ebenfalls lieber anonym bleibender Onkologe ein Jahr lang als Lieferant in Warschau. „Bis zur Anerkennung meines Abschlusses durfte ich arbeiten, was ich wollte, nur nicht als Arzt. Die medizinische Prüfung ist hier sehr schwer, beim letzten Mal haben von 800 Ärzten (großteils aus Belarus und der Ukraine) nur sechs sie geschafft. Daher kommt es oft vor, dass belarussische Ärzte bereits im Vorfeld, während sie noch in Belarus leben und arbeiten und ihre Migration planen, die Nostrifizierung in Polen beginnen. Die größte Herausforderung ist es, Wohnraum zu finden; ich hatte Glück, ich hatte schon zu Hause auf eine Wohnung gespart. Denn auch wenn das Diplom anerkannt wird, müssen alle im ersten Jahr ein Praktikum machen und verdienen nicht viel“, erzählte der Arzt.

    Private Ärztezentren wurden zur Entlassung von Ärzten gezwungen

    Die Repressionen betreffen medizinisches Personal auf allen Ebenen. Weil er nichts gegen Mitarbeiter unternahm, die Gewalt ablehnen, wurde einer der landesweit besten Herzchirurgen entlassen, Alexander Mrotschek, Direktor des RNPZ (Republikanisches Zentrum für Forschung und Praxis) für Kardiologie. Der Gründerin des RNPZ für pädiatrische Onkologie und Hämatologie, Olga Aleinikowa, sowie dem Direktor des RNPZ für Onkologie in Borowljany, Oleg Sukonko – das sind die beiden wichtigsten Onkologiezentren für Kinder und Erwachsene in Belarus – wurde erstmal die staatliche Prämie für 2020 gestrichen. Ihre Mitarbeiter wurden wegen Illoyalität und Kritik am Regime in Handschellen direkt aus ihren Dienstzimmern geführt. Bald musste auch die Leitung aus diversen Gründen ihren Platz räumen. Sogar private medizinische Einrichtungen wurden unter Druck gesetzt. 2022 wurde das beliebte Ärztezentrum Lode geschlossen. Nach umfassender Prüfung wurde der Verwaltung eine Liste zugestellt, anhand welcher umgehend eineinhalb Dutzend illoyale Ärzte gekündigt wurden. 

    Als Lode seinen Betrieb wieder aufnahm, gab der Gründer kurz darauf die Summe bekannt, die er an die Staatskasse berappen musste – 236.000 Rubel (damals rund 68.000 Euro). Hinter vorgehaltener Hand wurde diese Summe um ein Vielfaches vergrößert und vermutet, dass das wohl die Rache für 2020 sei, als die Verletzten, die aus der U-Haft in Okrestina kamen, im Lode kostenlos behandelt wurden. 

    Ebenfalls 2022 unterbrach das Gesundheitsministerium für sechs Wochen die Lizenz des Ärztezentrums Nordin, über zwei Monate standen auch Merci und Krawira still. Das Augenärztezentrum Nowoje srenije (dt. Neue Sehkraft) traf es am härtesten – ihm wurde die Lizenz entzogen. „Neugestaltung des Marktes? Oder feindliche Übernahme?“, fragten sich die Mediziner. Parallel dazu tauchten in Minsk Filialen einer neuen Privatklinik auf. In Medizinerkreisen wird gemunkelt, dass sie von „familiennahen“, also aus Lukaschenkos Umfeld stammenden, Personen betrieben werden. 

    „Betrachtet man die Situation als Versuch, die feudale Ordnung wiederherzustellen, dann passt alles zusammen. Es gibt einen Feudalherren und seine Vasallen. Diese verteilen die verfügbaren Ressourcen mithilfe von Zwang, Selbstbehauptung auf Kosten anderer und Sadismus. Alle anderen sind Bauern, sozusagen Verbrauchsmaterial. Wieso also nicht eine eigene Klinik bauen und den Gewinn untereinander aufteilen? So entstehen neue, regierungstreue Privatkliniken“, sagt Lidija Tarassenko, Koordinatorin von ByMedSol; als ausgebildete Gastroenterologin leitete sie die Endoskopie-Abteilung im Alexandrow-RNPZ für Onkologie und Radiologie (dem wichtigsten onkologischen Gesundheitszentrum in Belarus) und arbeitete in einer Privatklinik. „Die Ärzte werden eingesperrt, die Gesundheitszentren aus denselben Gründen ‚gemolken‘. Früher schrieben sie verschämt die Summe auf ein Zettelchen, heute sagen sie einem direkt ins Gesicht, wie viel man zahlen muss, um ‚einstweilen‘ seine Ruhe zu haben.“ 

    Absolventen werden an Arbeitsplätze verpflichtet

    „Die Fremdsprachenkurse sind voller Medizinstudenten, die nach dem Abschluss sofort auswandern wollen – der eine nach Polen, die andere nach Deutschland. Deswegen entscheiden sich viele für eine kostenpflichtige Ausbildung“, berichtet anonym ein Professor an einer medizinischen Universität.

    Doch auch die Behörden haben die ungünstige Tendenz bemerkt und versuchen, zukünftige Spezialisten zu verpflichten. Bildungsminister Andrej Iwanez hat bereits angekündigt, dass nun alle Studenten, egal ob sie auf eigene oder auf Staatskosten studiert haben, verpflichtet werden, eine gewisse Zeit an einer ihnen zugewiesenen Stelle zu arbeiten. Auch davon, dass diese Zeit fünf und nicht mehr wie bisher zwei Jahre betragen soll, war schon die Rede. Vor ein paar Jahren schlug Lukaschenko vor, die verpflichtende Arbeitszeit für Absolventen medizinischer Hochschulen auf zehn Jahre zu verlängern. Wer der Zuweisung nicht folgt, wird gerichtlich dazu gezwungen, eine Riesensumme zu bezahlen, die der Staat angeblich in seine Ausbildung investiert hat.

    Der Personalmangel besteht überall, vor allem bei hochspezialisierten Fachkräften; am drastischsten ist die Situation in den Regionen. „Die Ausbildung zum hochspezialisierten Facharzt dauerte früher Jahre. Heute genügt es, sich zu einem viermonatigen Kurs anzumelden und im Namen des Chefs einen Antrag zu stellen. So wird versucht, mit einer schnellen Umschulung die personellen Lücken zu stopfen“, erzählt eine anonyme Fachärztin aus einer Minsker Klinik. Bisher ist nur ein steigender Bedarf an Ärzten zu beobachten, während die Zahl der Einstellungen sinkt. Die Statistik wird manipuliert, indem unbesetzte freie Stellen aus den Personalplänen verschwinden. So wird die Kurve des steigenden Personalmangels optisch begradigt. 

    Gleichzeitig gibt es weiterhin immer mal wieder Nachrichten über einzigartige chirurgische Eingriffe, die in Belarus durchgeführt werden, zum Beispiel Herzoperationen an Kindern. Die finden auch tatsächlich statt. Nur sind solche Operationen punktuelle, einzelne Beispiele für die Arbeit hochqualifizierter Fachärzte, die noch im Land und nicht von Repressionen betroffen sind und an die der Durchschnittsbürger nur sehr schwer herankommt. 

    Den Patienten bleibt nichts anderes übrig, als sich selbst zu helfen

    Die abwandernden Ärzte stehen am Höhepunkt ihrer Karriere und hätten gerade ihr Wissen weitergeben und ihre Ablöse vorbereiten können. „Mit einer ordentlichen medizinischen Versorgung kann man in Belarus auch deswegen nicht rechnen, weil die Nachfolge fehlt. Die Ärzte verlassen ihre Posten, verlassen das Land. Und zwar im arbeitsfähigsten Alter von 30 bis 45 Jahren“, erklärt Lidija Tarassenko. 

    Für die verbleibenden Ärzte, sagt sie, wird es aufgrund der Überlastung immer schwieriger. Sie müssen alle Funktionen erfüllen: die Patienten untersuchen, die Instrumente bereitstellen und sterilisieren, die Dokumentation erstellen. „Noch dazu wird der Beruf gern heroisiert, und das ist ungünstig. Es führt zu überzogenen Erwartungen: ‚Ihr seid Ärzte, ihr müsst das machen!‘ Der menschliche Organismus ist aber nicht dafür gemacht, 24 Stunden am Stück zu arbeiten, und das für drei“, meint Tarassenko.

    „Ich sehe, wie die Kluft zwischen der zivilisierten Welt, der fortschrittlichen Technik und dem, wie unser Gesundheitssystem aufgebaut ist, immer größer wird. Die Situation von Krebspatienten ist ungeheuerlich. Zur Linderung brauchen sie opioide Schmerzmittel. Zu solchen Patienten kommt dreimal am Tag ein Krankenwagen, angeblich zur Beobachtung, als wären sie drogensüchtig.“ Aber das sei nur ein Beispiel für eine maßlose Herangehensweise, dafür, wie das Gesundheitssystem nicht aussehen soll, erklärt sie. 

    „Es fehlen ganze Fachgebiete. Wir haben und hatten nie ausgebildete Experten für Ernährung oder Schmerztherapie. Und kaum jemand versteht, dass wir sie brauchen würden – es war ja nie anders. Alles wird schlechter, aber das versuchen sie zu ignorieren. Solange die Junta an der Macht ist, kann man nicht viel machen. Denen ist egal, was mit den Menschen passiert. Wir haben ja gesehen, wie das bei Covid lief. Jetzt sind dieselben Leute an der Macht, und von ihren Fehlern haben sie sich eines gemerkt: Sie sind damit durchgekommen. Selbst wenn Leute ins Gesundheitswesen kommen, die etwas verändern wollen – die sind dem System fremd und werden hinausgedrängt. Den Patienten bleibt nichts anderes übrig, als sich selbst zu helfen“, zieht Lidija Tarassenko ihre unerfreuliche Bilanz. 

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  • Lukaschenko auf dem Weg zum Totalitarismus: Was kann ihn stoppen?

    Lukaschenko auf dem Weg zum Totalitarismus: Was kann ihn stoppen?

    Im letzten Jahr hat sich die Entwicklung des autoritären Regimes von Alexander Lukaschenko in Richtung Totalitarismus zusätzlich beschleunigt. Die Regierung sieht keinen Grund, diese Entwicklung zu stoppen, und dringt in alle möglichen Bereiche vor, einschließlich des Privatlebens der Menschen, ihrer Arbeitsbeschäftigung, ihrer Auslandsreisen, ihrer Bildung oder ihres historischen Gedächtnisses.

    Der belarussische Politologe Artyom Shraibman analysiert, wie die Elemente des klassischen Totalitarismus durch die einer Diktatur im digitalen Zeitalter erweitert werden und ob dieser Prozess überhaupt gestoppt werden kann.

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    Lukaschenko predigt Einheit, spaltet sein Land aber weiter / Foto © president.gov.by
    Lukaschenko predigt Einheit, spaltet sein Land aber weiter / Foto © president.gov.by

    Ende 2022 beschrieb ich in einem dekoder-Artikel detailliert die zahlreichen Merkmale des totalitären Systems, die auf das Regime Alexander Lukaschenkos damals zutrafen. Dabei ging es nicht nur um das Ausmaß von tiefgreifenden Repressionen, wie Belarus sie seit der Stalin-Ära nicht mehr erlebt hatte, sondern auch um andere, weniger offensichtliche Merkmale. Regierungsnahe Aktivisten und professionelle Denunzianten beteiligten sich nun an den Repressionen und unterrichteten die Machthaber, auf wen sie ein Auge haben sollten.

    Lukaschenko verankerte in der Verfassung ein neues, ohne Wahlen bestelltes Machtorgan, die Allbelarussische Volksversammlung – eine Art Hybrid aus dem sowjetischen Plenum des ZK der KPdSU und dem chinesischen Nationalen Volkskongress. Außerdem wurde landesweit ein System zur Überprüfung der politischen Unbedenklichkeit bei Neueinstellungen eingeführt. Mit einem Vermerk über Illoyalität oder Teilnahme an Protesten bekommt man nun keine Stelle im staatlichen Sektor mehr.

    Im Verlauf des Jahres 2023 vermehrten sich die Anzeichen für eine Bewegung Richtung Totalitarismus. Dieser Trend war als Reaktion des autoritären Organismus auf die Erschütterungen von 2020 auszumachen, hatte sich dann aber nach einer ganz eigenen Logik weiterentwickelt. Der Prozess funktioniert exakt nach der Orwell’schen Formel „der Zweck der Macht ist die Macht“. Angesiedelt in einem Raum ohne Grenzen sieht die autoritäre Macht keinen Grund innezuhalten und dringt in Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ein, die sie vorher nicht berührte. Hier findet der belarussische Staat neue Nischen, um Verbote einzuführen, auch im Privatleben der Menschen, in der Bildung der Kinder, dem historischen Gedächtnis sowie der Berufs- und Reisefreiheit.

    Digitale Diktatur und Ausreisehindernisse

    Bereits seit drei Jahren erweitern die belarussischen Geheimdienste ihren Zugriff auf alle nur möglichen Datenbanken, die persönliche Informationen enthalten. Direkt nach den Protesten 2020 ließ die Regierung die Informationen aller Videoüberwachungskameras des Landes in ein System einfließen, mit dem gesuchte Personen mithilfe von Gesichtserkennungssoftware schnell identifiziert werden können. Ende 2022 erhielten die Geheimdienste das Recht des dauerhaften Zugriffs auf faktisch jede beliebige elektronische Datenbank. Theoretisch gab dieser Erlass Lukaschenkos den Silowiki die Möglichkeit, nicht nur auf Anfrage, sondern ständig Zugriff auf die Datenbanken von Krankenhäusern, Banken, Mobilfunkanbietern, Kurier- und Speditionsdiensten zu haben – mit anderen Worten also die volle Kontrolle über den digitalen Fußabdruck jedes Einwohners von Belarus. Im August 2023 unterzeichnete Lukaschenko einen Erlass, der den Sicherheitskräften Zugriff auf das Verwaltungssystem aller Banktransaktionen im Land gewährt. Die Geheimdienste erhalten die Möglichkeit, jede Zahlung bis zu zehn Tage lang zu blockieren, wenn der Verdacht auf einen Gesetzesverstoß vorliegt. 

    Ein weiteres klassisches Merkmal totalitärer Systeme ist die Ausreisebeschränkung der Bürger. Das belarussische System hat bislang keine Auslandsreisepässe und Ausreisevisa, wie es sie beispielsweise in der UdSSR gab. Dennoch werden die Auslandsreisen der Belarussen sehr viel gewissenhafter kontrolliert. Seit Frühjahr 2023 nach einer Drohnenattacke auf ein russisches Flugzeug auf dem belarussischen Flugplatz Matschulischtschi überprüfen die Silowiki stichprobenartig die Mobiltelefone einreisender und ausreisender Menschen an den Grenzübergängen. Finden sie etwas Verbotenes, verhaften sie die Person. Vorrangig unterliegen diesen verstärkten Kontrolle diejenigen, die bereits einmal aus politischen Gründen verhaftet wurden, sowie Bürger, die eine Verbindung zur Ukraine haben: die häufig  dorthin reisen, einen ukrainischen Pass oder eine Aufenthaltserlaubnis haben. 

    Im Mai 2023 wurde ein Gesetz beschlossen, das den KGB berechtigt, die Ausreise einer Person „im Interesse der nationalen Sicherheit“ für die Dauer eines halben Jahres einzuschränken. Seit November dürfen einige Staatsbedienstete, Leiter staatlicher Betriebe und alle Silowiki Belarus nur mit dem Einverständnis ihres Vorgesetzten verlassen. 

    Geschichtsrevision als Teil der ideologischen Doktrin

    Vor einem Jahr noch schrieben wir, dass die Entwicklung des belarussischen Regimes zum Totalitarismus unvollständig bleibt, da eine Schlüsselkomponente fehlt: eine mobilisierende Ideologie, die den gesamten öffentlichen Raum, den Bildungssektor und die Propaganda durchdringt. Diese Einschätzung ist weiterhin aktuell. Doch werden einzelne Komponenten eines vollwertigen ideologischen Fundaments immer deutlicher, zumindest in der Schaffung eines offiziellen historischen Narrativs und, mit dessen Hilfe, in der Indoktrinierung der Schüler. 

    In dieser Mischung aus sowjetischem und prorussischem Geschichtsbild wurde die belarussische Staatlichkeit nur dank des antiwestlichen Bündnisses mit Moskau möglich. Die Helden der belarussischen Geschichte, die gegen das Russische Imperium kämpften und die bis vor Kurzem noch offiziell geehrt wurden, wurden nun zu Feinden erklärt. Dazu gehören zum Beispiel die Anführer der antirussischen Aufstände im 18. und 19. Jahrhundert, Tadeusz Kościuszko und Kastus Kalinouski. Im Mai 2023 schlug der Chef der Präsidialadministration Igor Sergejenko vor, diese Personen aus dem Pantheon der Nationalhelden zu streichen, ebenso die Magnaten aus dem Geschlecht der Radsiwill, unter denen die belarussischen Gebiete im Großfürstentum Litauen vom 15.–17. Jahrhundert eine kulturelle und wirtschaftliche Blüte erlebten. Igor Sergejenko verglich Kalinouski mit Stepan Bandera, dem zentralen Antihelden des historischen Narrativs des Kreml. 

    Jeder historische Diskurs, der an politischen Notwendigkeiten ausgerichtet ist, braucht einen äußeren Feind

    Seit September 2023 finden diese Ansichten Niederschlag in den neuen Instruktionen des Bildungsministeriums für Geschichtslehrer an belarussischen Schulen. Literarische Werke belarussischer Klassiker, die den Kampf gegen den russischen Imperialismus preisen, werden als „extremistisch“ bezeichnet und verboten. Romane, die ein positives Bild von Kalinouski zeichnen, werden aus dem Lehrplan verbannt. Die Regierung änderte auch die Regelungen für Touristenführer und die Organisation von Ausstellungen in Museen. Museumsmitarbeiter geraten unter anderem bei Führungen in Konflikt mit dem Gesetz, wenn sie vom offiziellen Geschichtsnarrativ abweichen. 

    Jeder historische Diskurs, der an politischen Notwendigkeiten ausgerichtet ist, braucht einen äußeren Feind. Für Lukaschenkos Regime ist Polen ein solcher Feind, ein ewiger Kolonisierer belarussischer Erde und Unterdrücker der belarussischen Kultur. Die Regierung ließ sogar einen Spielfilm produzieren, Auf der anderen Seite des Flusses (russ. Na drugom beregu) – über das Leiden der Bewohner von Westbelarus unter polnischer Herrschaft in der Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Im Herbst 2023 wurde dieser Film als Pflichtveranstaltung Schülern und Studenten im ganzen Land vorgeführt. 

    Der Mensch ist Ressource, Wünsche zählen nicht

    Durch das demografische Tief – also die geringe Anzahl junger Menschen im arbeitsfähigen Alter – und die massenhafte Abwanderung von Fachkräften ins Ausland in den letzten Jahren steht die belarussische Regierung vor dem Problem eines ernstzunehmenden Arbeitskräftemangels, vor allem im medizinischen Bereich. Die totalitäre Logik der Weiterentwicklung des Regimes diktiert ein Verhältnis zum Menschen als ökonomische Ressource, für deren Lenkung nicht unbedingt die Berücksichtigung persönlicher Prioritäten der Bürger nötig ist. 

    Ein weiterer Teil im Kampf gegen das demografische Problem ist die konservative Wende im Umgang mit Familie, LGBT und Gender

    Im September 2023 wies Lukaschenko an, den Universitätsabsolventen verstärkt Arbeitsplätze zuzuweisen. Bis heute müssen belarussische Studenten, die auf Staatskosten studiert haben, nach dem Abschluss zwei Jahre lang an einem vom Staat zugewiesenen Ort ihr Studium abarbeiten (sog. raspredelenije). Häufig werden die Absolventen an Orte auf dem Land verteilt, um dort das Problem des Fachkräftemangels zu lösen. Es ist möglich, sich von dieser Zuweisung zu befreien, indem man eine hohe Ausgleichssumme an den Staat zahlt, die die Kosten des Studiums übersteigt.

    Nun hat Lukaschenko festgelegt, dass die Dauer der Pflichtzuweisung verlängert wird und die Regel für alle Absolventen gilt, unabhängig davon, ob sie auf eigene oder auf Staatskosten studiert haben. Junge Ärzte müssen seit Oktober 2023 nun nach Abschluss der Facharztausbildung fünf Jahre lang ihr Studium abarbeiten. 

    Ein weiterer Teil im Kampf gegen das demografische Problem ist die konservative Wende im Umgang mit Familie, LGBT und Gender. Die belarussische Regierung hatte, im Unterschied zum Kreml, diesen Themen nie große Bedeutung beigemessen, nun aber beschäftigt sie sich damit. An Schulen soll ein Kurs zu traditionellen Familienwerten eingeführt werden, den die Generalstaatsanwaltschaft ausarbeitet. Das Regime teilte zudem mit, dass bald „Propaganda“ für LGBT und Kinderlosigkeit verboten werden soll. Die Silowiki haben begonnen, Ausprägungen „nichttraditioneller“ Werte in den Medien aufzuspüren und zu verfolgen – es traf eine Reklame mit einem Mann im Kleid, oder einen Blogger und Sänger, der rosafarbene Kleidung trägt. Belarussische Staatsbeamtinnen rufen eine nach der anderen die Frauen dazu auf, mehr Kinder zu gebären und früher damit zu beginnen. 

    Ist ein Rückgang der Repressionen vorstellbar?

    Es gibt keine eindeutige Antwort auf die Frage, in welche Richtung sich ein Regime wie das belarussische in Zukunft entwickeln wird. Personalistische Regime sind stark vom Schicksal ihres Herrschers abhängig. Und auch wenn die Geschichte erfolgreiche Fälle kennt, in denen sich das Regimes unter einem Nachfolger repliziert hat (Venezuela, Nordkorea, Iran, Syrien), gibt es auch zahlreiche Gegenbeispiele, wie Stalins UdSSR oder das maoistische China. Der institutionelle Rahmen dieser Regime blieb nach dem Tod des Führers erhalten, aber die Brutalität der Repressionen und die Totalität der staatlichen Kontrolle ließen entscheidend nach. Der belarussische Fall sticht zudem noch dadurch heraus, dass die Stabilität des Minsker Regimes von der Unterstützung des Moskauer Schutzherren abhängt. Der Krieg und Putins Alter erhöhen hier den Grad der Unberechenbarkeit. 

    Dabei ist durchaus ein Rückgang der Repressionen auch unter Lukaschenkos Führung  vorstellbar. Immerhin hat er das in der Vergangenheit bereits getan, um die Beziehungen zum Westen zu reaktivieren. Heute allerdings wäre eine Freilassung der politischen Gefangenen wohl kaum ausreichend für eine vollständige Normalisierung, berücksichtigt man den Nachgang von 2020, die künstlich hervorgerufene Migrationskrise an den EU-Außengrenzen, die Zwangslandung der Ryanair-Maschine 2021 und die Beteiligung am russischen Krieg. Im Falle eines für Russland ungünstigen Kriegsausgangs in der Ukraine oder einer Krise im belarussisch-russischen Verhältnis könnte Lukaschenko durchaus wieder eine Bereitschaft zum Dialog mit dem Westen signalisieren, und dafür auch die Repressionen im Land reduzieren.  

    Die Silowiki könnten an einem gewissen Punkt außer Kontrolle geraten und wichtige Interessen der zivilen Bürokratie antasten

    Ein zweiter Weg zum selben Ergebnis könnte sein, dass die Repressionen die für das System tragbaren Grenzen überschreiten. Ende der 1930er Jahre endete Stalins Großer Terror in der UdSSR nicht, weil Stalin den Dialog mit dem Westen suchte, sondern weil es für die Parteinomenklatura unerträglich geworden war, in Angst zu leben; die Repressionen hatten zu viele der eigenen Leute vernichtet. Dieses Szenario ist für Belarus nicht ausgeschlossen, die Silowiki könnten an einem gewissen Punkt außer Kontrolle geraten und wichtige Interessen der zivilen Bürokratie antasten.

    Allerdings ist der Grad der Repressionen, der aus taktischen Gründen reguliert werden kann, bei Weitem nicht die einzige Komponente dieses Systems. Stalins Regime blieb auch nach dem Großen Terror eine totalitäre Diktatur. Sie blieb erhalten, weil sie maximal auf die Psychologie des kommunistischen Führers ausgerichtet war und ihm die verständlichste Art der Regierung war. Leider kann man dasselbe über die Elemente des Totalitarismus sagen, die Lukaschenko wiedererweckt hat. Für ihn ist es bequem, genau solch einen Staat zu regieren, der immer mehr an das sowjetische System erinnert, in dem er aufgewachsen ist.   

    Es ist schwierig, sich einen Anreiz vorzustellen, der Lukaschenko dazu bringen würde, diesen Prozess umzukehren: die von niemandem gewählte Allbelarussische Volksversammlung aufzulösen, den Geheimdiensten die Vollmachten zur totalitären Überwachung der Gesellschaft zu entziehen, das prorussische historische Narrativ aufzugeben, die Pflichtzuweisung der Absolventen oder die Überprüfung der politischen Loyalität bei der Arbeitsaufnahme abzuschaffen. All diese Attribute des Regimes zu demontieren, wird wohl die Aufgabe der nächsten belarussischen Regierung sein.

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  • Die Paradoxien des belarussischen Nationalismus

    Die Paradoxien des belarussischen Nationalismus

    Warum konnte die Belarussische Volksfront (BNF) ab 1988 entstehen und sich zu einer wichtigen politischen Kraft entwickeln, obwohl das Nationalbewusstsein der Belarussen im Vergleich zu den Bevölkerungen in anderen Sowjetrepubliken eher schwach ausgebildet war? In seinem Stück geht der Journalist Yury Drakakhrust, einer der Mitgründer der BNF, dieser Frage auf den Grund. 

    Warum war Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre die Belarussische Volksfront (BNF) die stärkste Oppositionskraft in Belarus? Ideologisch folgte diese Organisation einem kulturell-ethnischen Nationalismus. Ähnliche Bewegungen formierten sich, oft ebenfalls unter dem Namen „Volksfront“, Ende der 1980er in zahlreichen Republiken der UdSSR – von Aserbaidschan bis Estland (allerdings nicht in der RSFSR). Und sie waren die treibende Kraft, die sowohl demokratische Entwicklungen als auch schließlich die Unabhängigkeit von der Sowjetunion herbeiführte. 

    Wer spricht in Belarus Belarussisch?

    Auf den ersten Blick hatte dieser kulturell-ethnische Nationalismus im Vergleich zu allen anderen Sowjetrepubliken in Belarus den schlechtesten Stand. In der letzten sowjetischen Volkszählung von 1989 betrug der Anteil jener Einwohner der BSSR, die die Sprache der Titularnation (hier also Belarussisch) als Muttersprache angaben, nur 65 Prozent – einer der niedrigsten Werte im Vergleich zu anderen Sowjetrepubliken. Viele Soziologen und Personen des öffentlichen Lebens, darunter Funktionäre der BNF, sprachen immer wieder von einem schwach ausgeprägten Nationalbewusstsein der Belarussen. Im Hinblick auf die Sprachpräferenzen der Bevölkerung wurde diese These durch spätere, nunmehr im unabhängigen Belarus durchgeführte Volkszählungen nur bekräftigt. 1999, 2009 und 2019 wurde dabei folgende Frage gestellt: Welche Sprache sprechen Sie normalerweise zu Hause? 1999 war nur bei 36,7 Prozent der Bevölkerung die Antwort Belarussisch, 2019 waren es sogar nur noch 26 Prozent.  
    Bemerkenswert ist auch eine weitere Besonderheit, die die Volkszählungen zum Vorschein brachten, nämlich der Zusammenhang zwischen Mutter- bzw. Alltagssprache und sozial-demografischen Faktoren: Der höchste Anteil des Belarussischen als Mutter- und Alltagssprache ist bei älteren Menschen, Menschen mit niedrigem Bildungsstand sowie der Dorfbevölkerung zu verzeichnen. Überträgt man diese Daten rückwirkend auf die 1980er Jahre, so kann man davon ausgehen, dass die BNF bei ihrer Gründung keine besonders breite und erfolgversprechende Ausgangsbasis hatte.    

    Die Wurzeln des belarussischen Nationalismus

    Dennoch waren Ende der 1980er Jahre einige Voraussetzungen für die Entwicklung eines Nationalismus in Belarus erfüllt. Eine davon war die relativ hohe ethnische Homogenität. In der Volkszählung von 1989 betrug der Anteil der Belarussen in der Bevölkerung 77 Prozent, die ethnischen Russen machten 13,2 Prozent aus. Bereits in den 1970er Jahren bildeten sich die ersten Kreise von Anhängern des nationalen Diskurses. Das waren keine offiziellen Organisationen (die in der UdSSR nur unter Aufsicht der KPdSU gestattet waren), sondern ein informelles Netzwerk von Menschen mit ähnlichen Ansichten und Überzeugungen. In den späten 1980er Jahren, mit dem Beginn der Perestroika, weitete sich dieses Netzwerk aus und nahm immer mehr organisierte Formen an. Aus diesem Netzwerk gingen auch die Gründer der BNF hervor – Juras Chodyko, Michail Tkatschow, Viktor Iwaschkewitsch, Winzuk Wjatschorka, Ales Bjaljazki (Friedensnobelpreisträger 2022) und natürlich ihr Vorsitzender, Sjanon Pasnjak.
    Gleichzeitig erwiesen sich die Befürworter demokratischer Entwicklungen, die jedoch keinen Akzent auf nationale Werte legten, als viel weniger fähig zur Selbstorganisation. Im Wettbewerb um die politische Führung war die BNF ihren ideologisch anders gesinnten Konkurrenten damals ein gutes Stück voraus. Dieser Vorsprung war unter anderem der Tatsache zu verdanken, dass die Ideologie der BNF sowohl nationalistische als auch demokratische Komponenten umfasste. Die nationalistische Komponente sorgte für einen, wenn auch kleinen, aber umso treueren harten Kern als Basis, während die demokratische Komponente eine breite gesellschaftliche Unterstützung ermöglichte. Ein weiterer wichtiger Faktor war die Vorbildwirkung anderer Sowjetrepubliken. 
     

    Yury Drakakhrust (links mit Megaphon) und BNF-Boss Sjanon Pasnjak bei einer Kundgebung in Minsk im Februar 1990 / Foto © privat

    Wie der nationalistische David den kommunistischen Goliath besiegte

    Ich kannte einige Mitbegründer der Estnischen Volksfront persönlich und war von der Energie und Größe dieser Bewegung zutiefst beeindruckt. Unter diesem Eindruck rief ich 1988 anlässlich einer Kundgebung in Kurapaty zur Gründung einer Belarussischen Volksfront auf, die wenige Monate später tatsächlich erfolgte. Ich will meinen Beitrag nicht überbewerten, der Verweis auf meine persönliche Erfahrung soll nur zeigen, dass die Impulse zur Gründung und zum Erfolg der BNF nicht ausschließlich aus dem national-demokratischen Netzwerk der 1970er und 1980er Jahre kamen. Andererseits waren hier aber auch nicht nur Antikommunisten am Werk, wie ich 1988 einer war. Die Unabhängigkeitserklärung, ihre Aufnahme in die Verfassung sowie schließlich die Auflösung der UdSSR und Gründung der Republik Belarus – all diese Entscheidungen traf das gesetzgebende Organ der Sowjetrepublik, in dem die Kommunisten die überwiegende Mehrheit stellten, während nur ein paar Dutzend von insgesamt 360 Abgeordneten die BNF vertraten. Aber es war die BNF, die diese Themen erst auf die Tagesordnung gesetzt hatte. Das lässt sich einerseits auf das politische Können der führenden BNF-Politiker zurückführen, andererseits ist auch eine andere Erklärung denkbar, in der das Narrativ vom „nationalistischen David“, der den „kommunistischen Goliath“ besiegt, nicht ganz treffend erscheint. 
    Ein erheblicher Teil der kommunistischen Elite der BSSR war keineswegs gegen die Ausweitung der Rechte der Republik und, in einer bestimmten Phase, auch nicht gegen ihre Unabhängigkeit. Goliath machte David schöne Augen, überließ ihm nach außen hin die Führungsrolle, ging jedoch fest davon aus, auch unter den neuen geopolitischen Bedingungen an der Macht zu bleiben. 
    Paradoxerweise gab es Situationen, in denen der nationalistische Impuls aus Moskau kam. Von Abgeordneten des Obersten Sowjets in Belarus wissen wir, dass 1990 die Initiative zum Beschluss der Souveränität der Republik vom Präsidenten der UdSSR Michail Gorbatschow ausging. Er sah, dass viele Republiken solche Deklarationen bereits verabschiedet hatten, und bevorzugte es, diesen Prozess auf Initiative der Kommunistischen Partei und unter ihrer Aufsicht einzuleiten, als es dem unkontrollierbaren Zufall zu überlassen, welchen Weg Belarus in seinem Streben nach Unabhängigkeit einschlägt. Aber wie es die Geschichte manchmal so will, war der Versuch, dieses Ereignis abzuwenden, erst recht ein Katalysator dafür.
    Nichtsdestoweniger war es die BNF, die das Thema Unabhängigkeit in Belarus aufgebracht hatte. 

    Wurde der Kommunismus vom Nationalismus gestürzt?

    Der Nationalismus war überall [in der späten UdSSR] die treibende Kraft zum Sturz des Kommunismus – so auch in Belarus. Die gesellschaftliche Basis war hier jedoch schwächer ausgeprägt als in anderen Sowjetrepubliken. Das stand zwar der Erlangung der Unabhängigkeit schließlich nicht im Weg – auch Länder wie Turkmenistan (wo in den Jahren der Perestroika keine Spur einer Bewegung für nationale Unabhängigkeit und Demokratie zu sehen war) wurden unabhängig –, bestimmte aber den weiteren Verlauf der Ereignisse im nunmehr souveränen Belarus.
    Hier sehen wir ein weiteres Paradox: Während das sowjetische Imperium noch existierte, fuhr die BNF im Widerstand gegen die fünf-Millionen-köpfige KPdSU und das mächtige totalitäre System, vor dem die ganze Welt Angst hatte, einen Sieg nach dem anderen ein und gestaltete die Geschichte mit. Als der wichtigste Sieg errungen war, sah sich die BNF einem provinziellen Fragment des imperialen Systems gegenüber. Dieses Fragment, dieser Überrest, hatte weder Struktur (die belarussische kommunistische Partei war liquidiert worden) noch Ideologie (der Kommunismus war auf der Müllhalde der Geschichte gelandet). Die belarussische kommunistische Elite hatte auch zu Sowjetzeiten nicht mit besonderen politischen Talenten oder politischem Willen geglänzt.

    Und trotzdem war es genau in diesem Moment – als die BNF im nun unabhängigen Belarus mit diesen Anti-Bismarcks allein dastand – vorbei mit ihren Siegen. 1992 legalisierte das belarussische Parlament die kommunistische Partei und blockierte ein Referendum über vorgezogene Parlamentswahlen, für das die BNF fast eine halbe Million Unterschriften gesammelt hatte.  
    So blieben ungefähr jene Kreise an der Macht, die auch schon vor der Unabhängigkeit regiert hatten. Eine Weile spielte die BNF noch die Rolle der Partei, die den politischen Stil vorgab und die Idee der Unabhängigkeit vorantrieb. Aber bei den Präsidentschaftswahlen 1994 schlug das Pendel in die ideologische Gegenrichtung aus, als mit Alexander Lukaschenko ein UdSSR-Romantiker und konzeptioneller Gegenspieler der BNF an die Macht kam. Bei den Parlamentswahlen 1995 musste die BNF eine bittere Niederlage einstecken, und noch im selben Jahr ließ Lukaschenko auf Basis einer Volksabstimmung die Staatssymbolik ändern. Die weiß-rot-weiße Flagge und das Pahonja-Wappen, die mit der BNF assoziiert wurden, mussten weichen. 

    „Der belarussische Nationalismus spricht Russisch“

    Übrigens ist Belarus kein Einzelfall – die sogenannten Volksfronten und ähnliche Bewegungen haben nirgendwo lange über die Unabhängigkeit ihrer jeweiligen Länder hinaus existiert. Das Schicksal des belarussischen Nationalismus erwies sich jedoch als komplexer und weitreichender. 1998 veröffentlichte ich den Artikel Der belarussische Nationalismus spricht Russisch, der sich auf Umfrageergebnisse des Unabhängigen Instituts für sozial-ökonomische und politische Studien bezog. Diese hatten gezeigt, dass die Unabhängigkeit Belarus’ mehr Zuspruch unter der russischsprachigen Bevölkerung des Landes erfahre als unter der belarussischsprachigen. In meinem Artikel erklärte ich diesen Umstand mit sozial-demografischen Faktoren: Der Anteil der Belarussischsprachigen war, wie wir bereits gesehen haben, unter Dorfbewohnern, älteren und weniger gebildeten Menschen höher. Und genau das waren die Schichten, die eher dazu tendierten, den Sowjetzeiten nachzutrauern. 
    Hier sollten wir uns die Entwicklung der öffentlichen Meinung zur Sowjetunion ansehen: Umfragen zufolge war in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit die Mehrheit der Belarussen für die Wiedererrichtung der UdSSR (siehe Tabelle 10). Doch bereits 2002, in den frühen Jahren von Lukaschenkos Regierung, verschob sich dieses Verhältnis: Der Anteil derer, die nicht mehr in der UdSSR leben wollten, überwog und wurde im weiteren Verlauf von Jahr zu Jahr höher.   

    „Nation als Schicksalsgemeinschaft“

    Sehr anschaulich wurden die Metamorphosen des belarussischen Nationalismus bei den Protesten 2020 illustriert. Die Leitfiguren des Widerstands waren Viktor Babariko, langjähriger Manager einer Gazprom-Bank, und die russischsprachige Lehrerin Swetlana Tichanowskaja. Doch schon bald nach Beginn der Proteste wählte das kollektive Bewusstsein der Belarussen die weiß-rot-weiße Flagge als Symbol – das Markenzeichen der längst vergessenen und zu diesem Zeitpunkt wenig populären BNF. Die Proteste von 2020 hatten einen explizit nationalen Charakter im Sinne von Ernest Renans „Nation als Schicksalsgemeinschaft“. Die Sprache, die die Mehrheit der protestierenden Belarussen 2020 sprach, untermauerte übrigens meine These aus dem Jahr 1998. 


    Und noch ein Paradox verdient Aufmerksamkeit: 1993 forderte Lukaschenko, damals noch Parlamentsabgeordneter, die Einheit von Belarus und Russland. Als Präsident traf er nach 1994 mehrere Integrationsvereinbarungen mit der Russischen Föderation; eine neue Sowjetunion, und sei es nur aus zwei Republiken, konnte jedoch nicht einmal ein solch großer Fan der UdSSR wie er erzielen. Die Unabhängigkeit, so zeigte sich, wird man gar nicht so leicht wieder los. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass dieser glühende Opponent der BNF, der Belarus nun schon beinahe 30 Jahre lang regiert, gewissermaßen die Ideen seiner Gegner umsetzt. 


    Hier lassen sich wiederum Parallelen zur deutschen Geschichte ziehen: 1848 kämpfte der „aggressive Junker“ Otto von Bismarck mit dem Säbel gegen die deutschen Demokraten, doch später als Kanzler war ausgerechnet er es, der jenes geeinte Deutschland schuf, von dem das Frankfurter Parlament 1848 geträumt hatte. Zwar nicht der Form nach, aber immerhin ein geeintes.
    So hat sich die „List der Vernunft“, von der einst Hegel schrieb, sowohl in der deutschen als auch in der neusten belarussischen Geschichte manifestiert – hier zu sehen am Beispiel der erstaunlichen Metamorphosen des ideellen Erbes der Belarussischen Volksfront. 

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  • Verbannt und verboten

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    Der freie Geist und das geschriebene Wort sind seit jeher Feinde von autoritären Systemen und Diktaturen. Auch das System Alexander Lukaschenko ist in den Jahren seiner Existenz immer wieder gegen die unabhängige Literatur vorgegangen. Es gab zwar keine offizielle Zensur wie in der Sowjetunion, dennoch übten die Machthaber eine gewisse Kontrolle über unabhängige Verlage aus, die beispielsweise eine offizielle Herausgeberlizenz brauchten, um ihrer Arbeit nachgehen zu können. Auch wurden Bücher nicht genehmer Autoren nicht in den staatlichen Buchhandlungen verkauft, die lange Zeit den Markt im unabhängigen Belarus dominierten. Die Existenz eines unabhängigen Schriftstellerverbandes, unabhängiger Verlage und Buchhandlungen wurde lange geduldet, auch wenn sie von Zeit zu Zeit mit Repressionen attackiert wurden, wie im Fall des Verlags Lohvinau. All das ist vorbei, seitdem der Staat nach den Protesten von 2020 die Gesellschaft, Medien, Kultur und Zivilgesellschaft massiv bekämpft. Seitdem gehen die Machthaber auch gezielter gegen Literatur, Verlage und Autoren vor.

    Die belarussische Journalistin Anna Wolynez erzählt die Geschichte des Verlags Januškevič, der in seiner Heimat liquidiert wurde und der ins Exil nach Polen ging, um dort weiterarbeiten zu können.

    Русская версия

    Der britische Botschafter verkleidet als Professor für Zauberkunst, Andrang beim Butterbierausschank, Aufteilung der Gäste nach den Hogwarts-Häusern – so sah Anfang 2020 die Harry-Potter-Nacht in Minsk aus. Zu den Organisatoren gehörte neben der Britischen Botschaft auch der unabhängige belarussische Verlag Januškevič

    Anlass für das Fest war die Veröffentlichung der belarussischen Übersetzung von Harry Potter und der Stein der Weisen. Die erste Auflage, 2000 Exemplare, verkaufte sich innerhalb von drei Monaten. Die zweite Auflage wurde ein halbes Jahr später an der litauischen Grenze vom Zoll beschlagnahmt. Die belarussischen Zöllner hätten sich davon überzeugen wollen, dass das Buch keinen Aufruf zum Sturz der Regierung enthält, erklärte der Verlag Januškevič in den sozialen Netzwerken. 

    Von allen anderen Harry-Potter-Bänden, die in Belarus verkauft wurden, unterschied sich dieser nur dadurch, dass er auf Belarussisch anstatt auf Russisch erschienen war. Schließlich durfte das Buch doch ins Land. Doch schon im Frühjahr 2021 konfiszierte der Zoll einen weiteren Titel des Verlags – den Roman Die Hunde Europas von Alhierd Bacharevič. Der Verkauf des Buchs wurde verhindert, ein Jahr später kam es auf die sogenannte republikanische Liste extremistischer Materialien
     

    Der Verleger Andrej Januschkewitsch / Foto © Andrej Radoman

    Die Eintagsbuchhandlung von Minsk

    Die Regierung hatte den Verlag Januškevič schon lange im Visier. Im Januar 2021 fand eine Durchsuchung in den Büroräumen statt, der Verlagsgründer Andrej Januschkewitsch wurde festgenommen. Nach der Befragung kam er wieder frei, doch die Technik des Verlags wurde konfisziert und die Konten gesperrt. Erst ein halbes Jahr später wurden sie wieder freigegeben. Im März 2022 musste der Verlag sein Büro räumen. Als die Bücher abverkauft wurden, standen die Leute stundenlang danach an.

    „Wir dachten, die Räumung wäre auf Initiative der Stadtverwaltung erfolgt, aber tatsächlich hatten viel höhere Stellen ihre Hände im Spiel“, erinnert sich Andrej Januschkewitsch. „Wir nahmen das nicht ernst und wussten nichts Genaues über die Hintergründe.“

    Der kleine unabhängige Verlag ließ sich nicht unterkriegen. Am 17. Mai 2022 eröffnete im Minsker Stadtzentrum die Buchhandlung Knihauka mit Büchern des Verlags Januškevič, seinen Freunden und Partnern. Der Name bedeutet „Kiebitz“ [doch auch das Wort kniha – „Buch“ – steckt darin – Anm. dekoder]. „Uns war nicht bewusst, dass es sich um eine systematische Attacke auf den belarussischen Buchdruck handelte“, räumt Januschkewitsch ein. 

    Die Buchhandlung Knihauka existierte genau einen Tag. Zuerst kamen Propagandisten vom staatlichen Fernsehen zur Eröffnung, kommentierten die Bücher und versuchten, darin Fotos der SS oder Texte über Nazismus zu finden. Dann kam die Antikorruptionsbehörde GUBOPiK mit einem Durchsuchungsbeschluss – Silowiki aus der Unterabteilung des Innenministeriums, die seit 2020 mit politischer Verfolgung befasst sind. Sie teilten mit, dass die Buchhandlung unter dem Verdacht stehe, „extremistische Literatur“ zu verbreiten, und konfiszierten zweihundert Bücher.

    „Ich hatte damals ein interessantes Gespräch mit dem Offizier. Er teilte Bücher offenbar in ‚richtige‘ und ‚falsche‘ ein. Wir befassten uns, seiner Ansicht nach, mit ‚falschen‘ Büchern. Tja, so ist das … Dem belarussischen Leser genügt Harry Potter auf Russisch, und wer braucht schon das [belarussischsprachige] Kupala-Theater, wenn es Gastspiele aus Moskau gibt“, bemerkt der Verleger sarkastisch. 

    Was in Belarus vier Jahre dauerte, gelang in Polen in weniger als einem Jahr

    Der Verlag Januškevič existierte von 2014 bis 2021 und gab in dieser Zeit etwa 150 Bücher von Autorinnen und Autoren aus verschiedenen Ländern in belarussischer Sprache heraus. Es war ein privatwirtschaftliches Unternehmen, auch wenn der Verlag Fördermittel für einzelne Bücher bekam, etwa vom deutschen Goethe-Institut, der Stiftung Ireland Literature, dem polnischen Buchinstitut oder dem tschechischen Kulturministerium. Der Übergriff der Silowiki 2022 brachte die Arbeit zum Erliegen. Weitere Festnahmen folgten: Diesmal verbrachten eine Mitarbeiterin der Buchhandlung 23 Tage und der Verleger 28 Tage in Haft. Im Juni 2022 emigrierte Andrej Januschkewitsch nach Polen. 

    „Alles passierte plötzlich und war nicht geplant. Aber ich kenne Polen schon lange und spreche Polnisch. Ich habe hier Bekannte, Kollegen und Freunde“, erzählt er. Nach dem Umzug musste er praktisch bei Null beginnen. Das Team war in Belarus geblieben, so dass der Verlagsinhaber die Arbeit gemeinsam mit Lektoren, Korrektoren, Übersetzern und Designern aus verschiedenen Ländern nun selbst übernahm.

    Auch die Leserschaft half dabei, den Verlag wieder aufzubauen. Ein halbes Jahr nach dem Umzug initiierte der Belarusian Council for Culture eine Spendensammlung zur Unterstützung des Verlags, und zwar in der für Belarus neuen Form des Magistrats, einer Art Genossenschaft, die über einen definierten Zeitraum hinweg ein Projekt unterstützt. Im Rahmen des Magistrats Knihauka spendeten 325 Personen innerhalb eines halben Jahres 23.000 Euro. Der Verlag hat keine eigene Buchhandlung, die Bücher werden über das Internet vertrieben, zum Beispiel über die Online-Plattform allegro. Geplant sind auch der Verkauf über Amazon und die Eröffnung eines Büros mit Direktvertrieb. Im August 2023 ging der eigene Webshop an den Start, der wie die ehemalige Buchhandlung in Minsk heißt – knihauka.com. „Ein Haufen Probleme musste und muss noch immer gelöst werden, verbunden mit der Legalisierung, der Geschäftseröffnung und dem Geschäftsbetrieb. Aber Schritt für Schritt findet sich alles“, so Januschkewitsch. 

    Im Vergleich zu Belarus sind die Arbeitsbedingungen in Polen günstiger, findet der Verleger: kostenlose ISBN-Nummern, einfache Unternehmensregistrierung, eine große Auswahl an Druckereien, günstige Preise, viele Optionen für den Buchvertrieb. „So konnten wir gleich effizient an die Arbeit gehen. In Belarus haben wir drei bis vier Jahre gebraucht, um eine Webseite aufzubauen und bekannt zu werden oder Kontakte mit ausländischen Druckereien aufzubauen, weil die belarussischen nicht die gewünschte Qualität liefern konnten“, erzählt Januschkewitsch. 

    In Belarus müssen sich Verleger zudem beim Informationsministerium registrieren und eine Prüfung ablegen, um eine spezielle Zulassung zu erhalten. Im Januar 2023 wurde Andrej Januschkewitsch diese Zulassung entzogen – als erstem privaten Verleger in Belarus. „Diese Prüfung ist absoluter Schwachsinn und dient als ideologischer Filter, um unerwünschte Verleger aussortieren zu können“, meint er. 

    Bücher sind kein Brot – wer kein Geld hat, kommt auch ohne sie aus

    Während der Zeit in Polen sind bereits an die 20 Titel erschienen, darunter George Orwells Farm der Tiere und eine Neuauflage des legendären Romans Die Hunde Europas von Alhierd Bacharevič (in Zusammenarbeit mit dem Verlag Vesna). Die Auflage im Umfang von 1000 Exemplaren verkaufte sich innerhalb von sieben Monaten. 

    In Belarus hätte der Verlag diese Menge etwa in einem Jahr verkauft. Januschkewitsch erklärt das damit, dass die Leserschaft in Polen „konzentrierter“ sei: „In Belarus verlor sich der belarussische Leser in einem Meer aus russischsprachigen Büchern. Die Menschen wussten nicht, dass es uns gab. Hier aber gibt es kein russisches Monopol, zudem wächst das Bewusstsein dafür, Belarusse zu sein, nicht Russe. Diese Identität will gefördert werden, dadurch wächst das natürliche Interesse an der belarussischen Kultur.“
     
    Im Angebot sind nicht nur Bücher für Erwachsene. Eine Auflage von 200 Stück des Jugend-Fantasy-Romans Wolnery [dt. Die Freiwilligen] von Waler Hapejeu verkaufte sich innerhalb von zwei Monaten. Ebenso der Jugendroman Kasik s kamennaj horki i Wjadsmak Schawanaha Horada [dt. Kasik aus Kamennaja Horka und der Zauberer der Verborgenen Stadt] von Ales Kudryzki. 

    „Das ist etwas ganz Neues. Wir haben nicht viel in die Werbung investiert und hatten Angst, auf einer Auflage von 700 oder 1000 Stück sitzenzubleiben. Deshalb haben wir mit einer Probeauflage von 250 Exemplaren begonnen, und in weniger als zwei Monaten waren alle verkauft“, sagt der Verleger. Für 2023 und 2024 stehen Der Herr der Ringe und der nächste Band von Harry Potter auf dem Programm. Ein weiterer Erfolg des Verlags ist die Vertragsunterzeichnung mit dem „King of Horror“ Stephen King, dessen Bücher nun in belarussischer Übersetzung erscheinen werden. King hatte im Februar 2022 untersagt, dass seine Bücher ins Russische übersetzt werden.
     
    Januschkewitsch ist überzeugt: Die aktuell hohe Nachfrage nach belarussischsprachigen Titeln darf man nicht ungenutzt vorbeiziehen lassen. „Das Publikum ist da, es verlangt nach neuen Büchern, es hungert richtiggehend danach. Dabei erreichen wir noch gar nicht die großen Länder, wie Großbritannien, die USA und Frankreich, in denen viele Belarussen leben“, sagt er. 

    Es sei also höchste Zeit, die kulturelle Produktion intensiv anzukurbeln, um den günstigen Moment nicht verstreichen zu lassen. „Bücher sind kein Brot und keine Wurst, wer kein Geld hat, der kommt auch ohne sie aus … Aber die Belarussen wollen das Eigene und sind bereit, dafür Geld auszugeben“, meint Januschkewitsch. 

    Das belarussische Regime ist antibelarussisch

    Eines der jüngsten Bücher des Verlags ist Chloptschyk i sneh [dt. Der kleine Junge und der Schnee] von Alhierd Bacharevič. Es sollte ursprünglich bereits im Frühjahrsprogramm 2021 erscheinen, doch dann dauerte es bis zum Sommer 2023. Damals, erklärt der Verleger, habe er mit dem Autor lange über einige scharfe Formulierungen diskutiert. „Der Autor sagte offen, dass im Land Faschismus herrsche und die Situation schrecklich sei. Ich wusste, dass man das unmöglich drucken konnte, die Selbstzensur setzte ein, und ich konnte den Autor, dessen Bücher bereits aus den Bibliotheken und Buchhandlungen verschwanden, überzeugen. Aber dann wurde klar, dass das Problem nicht einzelne Formulierungen waren, sondern dass Bacharevič insgesamt in Belarus verboten werden sollte“, sagt Januschkewitsch. „Ich bin froh, dass wir das Buch jetzt unzensiert herausgeben konnten.“

    Die aktuelle Situation in Belarus, den Einfluss von Ideologie und Kulturpolitik auf den Buchmarkt, sieht der Verleger kritisch. Seiner Meinung nach waren der Besuch des GUBOPiK, die Schließung seiner Buchhandlung und die Ermittlungen gegen seinen Verlag damit verbunden, dass er belarussische Bücher vertreibt. „Ich werde nicht müde zu wiederholen, dass das belarussische Regime antibelarussisch ist. Sie brauchen das Belarussische nur als Vorwand, wie die Fassaden der potemkinschen Dörfer“, sagt Januschkewitsch. Nach diesem Prinzip arbeiten alle staatlichen Verlage. 

    „Ich muss lachen, wenn ich höre, dass auf der Bestsellerliste ein Buch mit dem Titel Der Genozid am belarussischen Volk während des Großen Vaterländischen Krieges steht. Was für ein Unsinn! Ich stelle mir vor, wie die Belarussen an einem ruhigen Familienabend gemütlich im Sessel sitzen und diesen trockenen, vom Generalstaatsanwalt redigierten Text lesen“, sagt der Verleger ironisch. In Belarus könne man sich entweder mit ideologischer Dienstleistung beschäftigen oder neutrale Bücher und Kinderbücher herausgeben. Den Finger am Puls der Zeit haben, sozialkritische oder tagesaktuelle Bücher bringen, das sei verboten. 

    „Es würde mich nicht wundern, wenn sie das Werk von Erich Maria Remarque für unerwünscht erklären. Seine Bücher haben einen stark pazifistischen Anklang, und warum sollte der belarussische Bürger unnötig an den Krieg in der Ukraine erinnert werden?“, sagt Januschkewitsch. Unerwünschte Autoren würden aus den Buchhandelsketten und den Bibliotheken verbannt, die unabhängigen belarussischen Verlage könnten zum großen Teil nicht mehr im Land selbst arbeiten. Gegen sie werde ein systematischer Feldzug geführt, erklärt der Verleger. Dadurch mussten 2022 mehrere Verlage ihre Tätigkeit einstellen: Knihasbor, Halijafy, Medysont und Limaryjus.

    Das ist Putins Rückkehr ins 19. Jahrhundert

    Könnte der Verleger heute nach Belarus zurückkehren? Bislang gebe es keinen Grund dafür, sagt Januschkewitsch. Bücher im Untergrund zu drucken, wie es die Bolschewiki und andere Revolutionäre vor 120 Jahren taten, werde heute nicht gelingen. Und auf offiziellem Weg könne man es aufgrund der Politik nicht tun, die darauf abzielt, alles Belarussische zu vernichten. In kultureller Hinsicht entwickelt sich Belarus zu einer russischen Provinz, resümiert der Verleger. 

    „Das ist Putins Rückkehr ins 19. Jahrhundert … Das Russische Imperium nannte man ‚Völkergefängnis‘, und in dieses Gefängnis kehren wir nun zurück, bloß in neuer Form“, sagt Januschkewitsch. „Das muss sich ändern: Das Nationale sollte für die belarussische Regierung Priorität haben. Um sich von Moskau loszureißen, müssen dieselben Schritte unternommen werden, die die Ukraine in den letzten fünfzehn Jahren gegangen ist. Unter anderem wurde dort ein eigener Buchmarkt auf die Beine gestellt.“

    Bis es soweit sei, würde eine Rückkehr bedeuten, sich in einem Dorf zu verstecken und die verlegerische Tätigkeit einzustellen. „Aber ich bin emigriert, um weiterhin frei arbeiten zu können“, sagt der Verleger. „In Polen kann ich herausgeben, was ich möchte. In Belarus ist das momentan unmöglich.“

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  • Unter dem Einfluss der russischen Welt

    Unter dem Einfluss der russischen Welt

    In seiner Amtszeit seit 1994 hat Alexander Lukaschenko mit dem Einfluss Russlands in Belarus geschickt gespielt, den Kreml auch teilweise immer wieder ausgespielt, wenn er zumindest zeitweise der EU entgegengekommen ist. Der russischen Führung ist es nie gelungen, eine wirkliche Kontrolle über den Machtapparat Lukaschenkos aufzubauen. Im Zuge der Niederschlagung der Proteste im Jahr 2020, der Radikalisierung des politischen Systems in Belarus oder der Rolle der belarussischen Führung im russischen Krieg gegen die Ukraine hat Russland potentielle außenpolitische Ausweichmanöver für den belarussischen Machthaber aber deutlich eingeschränkt. 

    Kann Russland diese Situation soweit nutzen, um seinen ideologischen Einfluss in Belarus zu stärken? Mit dieser zentralen Frage beschäftigt sich der belarussische Journalist Alexander Klaskowski in seiner Analyse für dekoder.

    Das russische private Militärunternehmen Wagner hat eine finstere Reputation. Es ist in einer Reihe von Staaten als verbrecherische oder terroristische Organisation eingestuft. Seine Söldner sind jetzt in der Ukraine am Werk. Der Vorschlaghammer ist zu einem Symbol der Abrechnung mit jenen geworden, die die Wagner-Leute für „Verräter“ halten.

    Diese spezifische Reliquie der Russki Mir wird nun – signiert von einem der Wagner-Männer – in einem belarussischen Museum als Exponat ausgestellt. Dabei empören sich nur jene Belarussen laut, die sich in der politischen Emigration befinden. Wer vor Ort ist, schweigt lieber. Es wird gemunkelt, dass Wladimir Gabrows Initiativen unter der Schirmherrschaft des belarussischen KGB stehen.

    Der ehemalige Angehörige der Fallschirmjäger steht jedenfalls in der Gunst der Regierung und taucht regelmäßig im Staatsfernsehen auf. Ende vergangenen Jahres überreichte Bildungsminister Andrej Iwanez ihm die Urkunde Für die aktive Beteiligung an der militärisch-patriotischen Erziehung der jungen Generation. Gabrow kann sich auch mit der Dankbarkeit von Alexander Lukaschenkos Präsidialadministration brüsten.

    Das Experiment einer „sanften Belarussifizierung“ ist gescheitert

    Dabei hatten sich glühende Verfechter der Russki Mir in Belarus vor wenigen Jahren noch längst nicht so wohl gefühlt. Lukaschenko hatte zwar dem Kreml die Treue geschworen, war aber auch auf der Hut geblieben. Er widersetzte sich nach Kräften dem Vormarsch der russischen Soft Power, die er zu Recht als Bedrohung für seine Herrschaft ansah.

    Unter anderem bemühten sich die belarussischen Behörden, die Märsche am Tag des Sieges, die Moskau im Rahmen des Unsterblichen Regiments im gesamten nahen Ausland initiierte, wenn nicht zu verbieten, so doch möglichst klein zu halten. So verweigerte die Minsker Stadtverwaltung einem Verein mit diesem Namen die Registrierung. Lukaschenko erklärte, dass es in Belarus seit langem schon die Aktion Belarus gedenkt gebe und die Russen die Idee „einfach geklaut“ hätten.

    Die Geheimdienste des Regimes erstickten im Keim Kosakeninitiativen, mit denen belarussische Jugendliche geködert werden sollten. Lukaschenko erklärte klipp und klar: „Das sind gar keine Kosaken. Es gibt Menschen, denen ist völlig egal, wie sie ihr Geld verdienen. Die werden von jemandem in Russland bezahlt. Wir sehen das …“ Ende 2017 verurteilte ein Gericht in Minsk drei belarussische Autoren der russischen Nachrichtenagentur Regnum zu fünf Jahren Freiheitsentzug auf Bewährung. Sie wurden der Volksverhetzung angeklagt, weil sie – so die Gutachter – in ihren Beiträgen die Souveränität von Belarus in Frage gestellt und beleidigende Aussagen über das belarussische Volk sowie dessen Geschichte, Sprache und Kultur gemacht hätten.

    Eine Weile liebäugelte Lukaschenko sogar mit einer „sanften Belarussifizierung“. Dabei bemühte er nationale Narrative, um ein Gegengewicht zum Druck aus dem Kreml zu bilden. Die Regierung ließ etwas mehr Freiheit für Kultur- und Bildungsinitiativen des nationalbewussten Teils der Gesellschaft. 2018 wurden im Zentrum von Minsk sogar eine Demonstration und ein Gedenkkonzert anlässlich des hundertsten Jahrestages der Belarussischen Volksrepublik genehmigt. Zehntausende versammelten sich mit den historischen weiß-rot-weißen Flaggen.

    Als dann aber 2020 gleich Hunderttausende mit diesen Flaggen auf die Straße gingen, um gegen die gefälschten Präsidentschaftswahlen zu protestieren, verstand Lukaschenko, dass er einen Geist aus der Flasche gelassen hatte. Er griff zu brutalen Repressionen, und die historische Flagge wurde zu einem Symbol des Faschismus erklärt. Bis heute werden Teilnehmer der friedlichen Demonstrationen ausfindig gemacht und hinter Gitter gebracht.

    Aktivistin Bondarewa gegen Socken, Lateinisches und Denkmäler 

    Dafür sahen einige Adepten der Russki Mir ihre Zeit als gekommen. Ein Beispiel hierfür ist die unermüdliche Aktivität von Olga Bondarewa aus Hrodna. Unabhängigen Medien zufolge ist Bondarewa in Polen wegen Zigarettenschmuggels vorbestraft. 2020 jedoch kamen ihre Hasstiraden gegen Protestierende der Regierung ganz gelegen.

    Nachdem Bondarewa ein „aufrührerisches“ Gemälde in einer Ausstellung von Ales Puschkin, einem dezidiert nationalbewussten Künstler, gemeldet hatte, wurde der Künstler angeklagt und zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Bondarewa erreichte auch, dass von dem Gelände des Privatmuseums von Anatoli Bely in der Stadt Staryja Darohi die Skulpturen einer Reihe belarussischer historischer Persönlichkeiten entfernt wurden.

    Sie führte einen leidenschaftlichen Feldzug gegen Socken mit belarussischen Aufschriften; gegen nicht genehme Bücher; gegen Exkursionsleiter, die Belarussisch sprachen und deren Auslegung der belarussischen Geschichte, die angeblich von der offiziellen abwich; gegen einen Priester, der eine Andacht „für die Krieger und Verteidiger der Ukraine“ abgehalten hatte. Die rastlose Aktivistin machte auch vor der lateinischen Schrift nicht Halt, die unter anderem für das Belarussische verwendet wird und die sie als Instrument der Polonisierung anprangerte.

    Irgendwann ging die übereifrige Aktivistin selbst den Bürokraten und Propagandisten des Regimes auf die Nerven. Umso mehr, als sie begann, führende Repräsentanten und Mitarbeiter staatlicher Medien, die ihren Kriterien nicht genügten, grob zu beschimpfen. „Was geht in ihrem kranken Hirn vor?“, empörte sich über Bondarewas Ausfälle Swetlana Warjaniza, stellvertretende Vorsitzende der Gebietsorganisation Hrodna der regimetreuen Bewegung Belaja Rus.

    Nicht, dass die Funktionäre unbedingt gegen Bondarewa wären. Aber sie wollen wegen ihrer Aufrufe auch nicht von ihren Vorgesetzten eins auf die Mütze bekommen. Nach dem Motto: Warum habt ihr sie nicht im Auge gehabt? Warum habt ihr den Aufruhr zugelassen? Also haben wohl einige von ihnen damit begonnen, diese Aktivistin dezent in die Schranken zu weisen.

    Im Februar verweigerte die Miliz Bondarewa die Einleitung eines Strafverfahrens, nachdem sie angeblich in einem Telegram-Kanal beleidigt worden sei. Auch könnte ihr Rechtsstreit mit dem Parlamentsabgeordneten Igor Marsaljuk in einem Fiasko enden. Der hatte ihre Ausfälle nicht länger ertragen und sich an den Generalstaatsanwalt gewandt, damit dieser eine rechtliche Bewertung der Aktivitäten von „pseudopatriotischen Bloggern“ vornimmt.

    Auf der anderen Seite scheinen sich lokale Behörden wohl doch ein wenig vor Bondarewa zu fürchten und ihren „Signalen“ lieber Folge zu leisten. So wurde kürzlich bekannt, dass in der Ortschaft Selwa auf geheimnisvolle Weise das Denkmal der Dichterin Laryssa Henijusch verschwand, die unter Stalin zu 25 Jahren Gulag verurteilt worden war.

    Die Propaganda des Kreml hat zusätzliche Freiräume bekommen

    Allerdings gibt es in Belarus nur wenige Verfechter der Russki Mir, die so besessen sind wie Bondarewa. Man kann sich denken, dass diese Leute in den Augen der meisten Belarussen wie skurrile Freaks wirken. Der Soziologe Filipp Bikanow, der im vergangenen Jahr eine Studie zur nationalen Identität durchführte, stufte lediglich vier Prozent der Befragten als „Russifizierte“ ein. Zahlreiche weitere Studien haben bereits festgestellt, dass die Wenigsten für einen Beitritt von Belarus zu Russland sind. Die erklärten Anhänger der Russki Mir bilden in Belarus also keine kritische Masse. Ganz anders als 2014 auf der Krim und im Donbass.

    Bikanows Kategorisierung zufolge gibt es im Land jedoch nicht wenige „sowjetische“ Belarussen (nach seinen Berechnungen rund 29 Prozent), die ebenfalls für russische Propaganda empfänglich sein könnten. Und für die gibt es seit 2020 mehr Freiräume. 

    Lukaschenkos Medien wiederholen zahlreiche Narrative des Kreml. Unabhängige belarussische Medien werden systematisch als extremistisch eingestuft und aus dem Land vertrieben; wer sie innerhalb des Landes liest, wird bestraft. Die Miliz überprüft bei ihren Opfern, welche Telegram-Kanäle sie abonniert haben, um „Aufrührer“ aufzuspüren. Es ist jedenfalls sicherer, nur konforme Inhalte zu konsumieren. Umfragen zufolge gewinnen die kremltreuen und die staatlichen belarussischen Medien, die ihnen nach dem Mund reden, infolge durchaus an Einfluss.

    Der Führer schaufelt der Unabhängigkeit des Landes ein Grab

    Nach 2020 haben die Verfechter der Russischen Welt ihre Position auch im Verwaltungsapparat merklich gefestigt, sowohl in Lukaschenkos unmittelbarer Umgebung als auch – und insbesondere – in den Sicherheitsbehörden.

    Der ehemalige politische Gefangene Konstantin Wyssotschin erinnert sich an seinen Aufenthalt in der GUBOPiK, der Hauptverwaltung zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität und Korruption, einer Abteilung des Innenministeriums, die sich zur politischen Polizei gemausert hat: „Was mich verblüffte: An allen Bürotüren hängen Flaggen mit dem Z, und in den Räumen hängen zwei Portraits – eins von Lukaschenko und eins von Putin.“ Das Z nutzen die russischen Militärs zur Markierung ihres Geräts beim Einmarsch in die Ukraine. Es wurde auch zu einem propagandistischen Symbol der Aggressoren.

    Viele belarussische Offiziere erhielten ihre Ausbildung in Russland und haben dort noch Freunde. Manch einer, so wird gemunkelt, ist neidisch auf die Bezahlung der russischen Offiziere und Generäle. Verteidigungsminister Viktor Chrenin bezeichnete Lukaschenko und Putin öffentlich als „unsere Präsidenten“. Es stellt sich also die Frage, auf welcher Seite die Befehlshaber der belarussischen Armee und anderer Sicherheitsstrukturen (und nicht nur dort) im kritischen Moment stehen werden, wenn ihre Hirne von der Propaganda des Kreml gewaschen sind und sie praktisch in imperialen Kategorien denken.

    Als prorussisch gelten unter anderem der stellvertretende Innenminister Nikolaj Karpenkow (der früher die erwähnte GUBOPiK leitete), Oleg Romanow, der Chef der vor kurzem gegründeten Partei Belaja Rus, der Staatssekretär des belarussischen Sicherheitsrates Alexander Wolfowitsch sowie die Vorsitzende des Rates der Republik Natalja Kotschanowa. Letztere genießt das uneingeschränkte Vertrauen Lukaschenkos, der ihr verantwortungsvolle und heikle Aufgaben überträgt. Sie gilt sogar als mögliche Nachfolgerin des alternden Führers.

    Zum orthodoxen Weihnachtsfest entzündete Lukaschenko eine Kerze in der Kirche des am Stadtrand von Minsk gelegenen St. Elisabeths-Klosters, das als Hochburg von Anhängern der Russki Mir bekannt ist. Unter anderem wurden hier Spenden(gelder) für die russischen Aggressoren gesammelt, was bei den Opponenten des Regimes für Empörung sorgte. Das Staatsoberhaupt nahm das Kloster jedoch in Schutz: „Ihr macht das richtig. Achtet nicht auf dieses Dutzend gekaufter Leute.“

    Dabei ist offensichtlich, dass Lukaschenko Bauchschmerzen hat, den Aggressor uneingeschränkt zu unterstützen, weil ihm dafür perspektivisch ein Platz auf der Anklagebank im Internationalen Gerichtshof droht. Aber was soll er tun? Die Zeiten, da der belarussische Herrscher, wenn ihn der Kreml zu sehr bedrängte, die Zähne fletschen und sogar Wirtschaftskriege führen konnte, sind vorbei.

    Der Wendepunkt war die gewaltsame Niederschlagung der Proteste 2020. Um sich im Sattel zu halten, bat Lukaschenko Putin um Hilfe. Der bot ihm die starke Schulter und erntete dafür Begeisterung von Lukaschenkos Gefolgsleuten und Silowiki. Doch dann forderte Putin für die Rettung des verbündeten Autokraten einen grausamen Preis: Moskau nutzte Belarus als Aufmarschgebiet für den Überfall auf die Ukraine, beschmutzte das Regime durch die Beteiligung an seinem Eroberungskrieg und will jetzt in Belarus taktische Atomwaffen stationieren, wodurch der Nachbar noch stärker an Russland gefesselt wird.

    Angesichts dieser höheren Gewalt wählte Lukaschenko den Weg der Zugeständnisse an den Kreml – Zugeständnisse an den Westen und die Opposition kamen für ihn grundsätzlich nicht in Frage.

    Der belarussische Herrscher hat sich selbst in eine Zwickmühle gebracht: Obwohl er sich der Gefahr einer schleichenden imperialen Expansion durch Russland sehr wohl bewusst war, ist er jetzt dazu gezwungen, der Russki Mir immer weiter die Tür zu öffnen, damit er sich selbst hier und jetzt an der Macht halten kann. Somit schaufeln nicht die „prorussischen Freaks“ der belarussischen Unabhängigkeit das Grab, sondern der Führer des Regimes selbst.

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  • Proteste, Krieg und Solidarität: Die belarussische Diaspora in der Ukraine

    Proteste, Krieg und Solidarität: Die belarussische Diaspora in der Ukraine

    Seit Jahrhunderten sind Belarussen und Ukrainer Nachbarn. Und Belarussen sind auch immer schon gerne in die Ukraine ausgewandert. Vor allem nach den Protesten im Jahr 2020 in Belarus flohen viele Belarussen vor den Repressionen in die Ukraine. Jedoch änderte sich nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges vieles für sie: Nicht zuletzt weil der Kreml auch von belarussischem Territorium aus den Angriff führte und Alexander Lukaschenko damit in die Rolle des Ko-Aggressors geriet.

    Anna Wolynez hat die Geschichte der belarussischen Diaspora in der Ukraine recherchiert und mit Belarussen gesprochen, die auch während des Krieges dort geblieben sind.

    „Vor dem Krieg waren die Belarussen sehr beliebt, wir wurden sogar beneidet, weil Lukaschenko sehr populär war“, sagt Andrej Kuschnerow, ehemaliger Kämpfer des Kalinouski-Regiments und jetzt Mitglied des Belarussischen Veteranenverbands. Er zog 2005 von Belarus in die Ukraine und blieb dort bis 2012. Danach fuhr er ständig dorthin, und 2022 meldete er sich als Freiwilliger. Nach dem Dienst blieb er in der Ukraine.

    Die Belarussen wurden für die Stabilität in ihrem Land beneidet, für die höheren Durchschnittsgehälter und die sauberen Straßen, erklärt er, außerdem für die besseren Fleisch- und Milchprodukte und die gute Schokolade. „Die Ukrainer hatten ein sehr gutes Verhältnis zu den Belarussen, umso schwerer war der Schlag am 24. Februar. Das wurde als Verrat aufgefasst“, sagt Andrej. Seit Kriegsbeginn, meint er, sei man als Belarusse nicht mehr besonders gern gesehen.

    Trotzdem leben weiterhin Belarussen in der Ukraine. Obwohl es früher viel mehr waren: Zu Beginn der Nullerjahre waren sie in der Ukraine die zweitgrößte nationale Minderheit nach den Russen. 2001 lebten im Land 275.000 Belarussen. Rund ein Drittel davon lebte in der Ostukraine, unter anderem in Regionen, die jetzt unter russischer Besatzung sind. 

    Die Belarussen fuhren in die Ukraine, um ein bisschen Abwechslung zu haben, um Urlaub oder Einkäufe zu machen, aber ungefähr bis in die 2010er Jahre blieben sie gern auch länger. Offiziell durften sie sich zwar höchstens 90 Tage pro Halbjahr im Land aufhalten, aber bis zu einem gewissen Zeitpunkt konnte man diese Auflage leicht umgehen. Und manche Belarussen blieben lange: Sie studierten, arbeiteten, gründeten Familien, oder kamen, um künstlerisch tätig zu sein, oder auf der Suche nach politischer Freiheit. 

    Losgelöste belarussische Gemeinschaften

    Organisierte belarussische Gemeinschaften gibt es in der Ukraine seit Beginn der 1990er-Jahre, zum Beispiel die Belorusskoje kulturno-proswetitelskoje obschtschestwo (dt. Belarussische Kultur- und Bildungsgesellschaft) oder die Sjabry in Tschernihiw. Aber dass sie je eine soziale Bedeutung oder gar politisches Gewicht gehabt hätten, kann man nicht behaupten.

    Bis 2020, meint Andrej Kuschnerow, lebten die Belarussen voneinander losgelöst in der Ukraine, ohne die Zugehörigkeit zueinander zu suchen. „Die Verschlossenheit der Leute war einer der Gründe, und bis 2020 gab es wenige belarussische Communities. Die Leute interessierten sich nicht allzu sehr für belarussische Veranstaltungen, für Konzerte oder Theater“, sagt er.

    Bis 2020 (zum Teil auch später noch) agierten in der Ukraine auch Organisationen der „Pseudodiaspora“, die eng mit Lukaschenkos Regime kooperierten. Ein Beispiel dafür ist die Wseukrainski sojus belorussow (dt. Allukrainische Union der Belarussen), seit vielen Jahren von Pjotr Laischew geleitet, einem ehemaligen Mitarbeiter des sowjetischen und ukrainischen Geheimdienstes. Zu dieser Union gehörten „ein, zwei Dutzend Vereine mit einer Handvoll Mitgliedern“, heißt es in einer Studie zur Diaspora. Das formale Ziel der Organisation war die Zusammenführung von Landsleuten, faktisch ging es darum, regierungstreue Narrative als Position der gesamten Diaspora zu fördern. 

    Nach 2020 flüchteten Belarussen vor den Repressionen

    2020 zogen massenhaft politische Flüchtlinge und Fachkräfte in die Ukraine, um den Repressionen zu entkommen. Die Ukraine hatte die Wahlen in Belarus nicht anerkannt und den Belarussen das Aufenthaltsrecht auf das Doppelte verlängert – 180 Tage. Innerhalb dieser Frist musste man sich eine Aufenthaltserlaubnis besorgen.

    Die Ereignisse von 2020 veränderten die Strukturen der belarussischen Diaspora. Einerseits blieben „alte“ Organisationen wie Sjabry bestehen, deren Leiterin 2020 Lukaschenko lobte und ihre Landsleute bat, den Protesten fernzubleiben. Andererseits gründeten die frisch Zugezogenen neue Initiativen: Free Belarus Center, Belaruski Dom wa Ukraine, Belaruski infarmazyiny zentr. Ihr gemeinsamer Hintergrund ist die Flucht vor Repressionen. Diese Gemeinschaften sind aktiv prodemokratisch, orientieren sich an gegenseitiger Unterstützung. 

    Daten des Free Belarus Center zufolge passierten allein im August 2020 rund 47.000 Menschen die ukrainisch-belarussische Grenze, aber für viele war die Ukraine nur eine Zwischenstation auf dem Weg in die EU. Im Juni 2022 lebten noch 10.000 bis 12.000 Belarussen in der Ukraine. Sie kauften Wohnungen, Häuser und Autos, gründeten Firmen: etwa die Bar Karma oder das Art-Pub Torwald in Kyjiw. 

    Wie Belarussen in der Ukraine leben und sich freiwillig engagieren

    Die 30-jährige Wassilina ist 2021 aus Belarus ausgereist: „Mein Mann hätte jederzeit festgenommen werden können, es war eine Frage von Tagen. Wir schafften es nicht mehr, uns um ein Visum zu kümmern, und fuhren in die Ukraine“, erinnert sie sich.

    Jetzt wohnt das Paar im Süden der Ukraine und hält Kontakt zum aktiven Teil der Diaspora – zu Menschen, die nach 2020 und auch schon nach 2010 in Belarus verfolgt wurden. Sie organisieren Aktionen und unterstützen Belarussen im eigenen Land und in der Ukraine, unter anderem bei der Wohnungs- und Jobsuche. „Das ist eine sozusagen erzwungene, aber nette Gemeinschaft. Die Menschen verbindet die Emigration und die gemeinsame Sorge um Belarus. Sie sind untereinander loyal und hilfsbereit“, sagt Wassilina. 

    Manche von ihnen kennt das Paar aus einem Telegram-Chat, in dem Belarussen Informationen zu Dokumenten und zu Fragen des Alltags austauschen – solche Chats gibt es in jeder größeren Stadt. Offline trifft sich Wassilina zufolge nicht einmal ein Fünftel der Teilnehmer. Aktionen gibt es in ihrer Stadt jetzt keine mehr, aber die gegenseitige Unterstützung besteht nach wie vor. 

    „Wir wollen in der Ukraine bleiben”

    „Ein Teil der Leute hilft der Polizei und der Territorialverteidigung bei Patrouillen in der Stadt. Ein Teil stellt nützliche Dinge für die Front her, zum Beispiel Periskope, Kerzen oder Tarnnetze“, erklärt Wassilina.

    Wem helfen die Belarussen mehr? Physisch und finanziell den Ukrainern, meint unsere Gesprächspartnerin. Obwohl, sie helfen auch anderen Belarussen „praktisch sofort“, auch finanziell. „Aber seit Kriegsbeginn sind so gut wie keine neuen Flüchtlinge aus Belarus mehr zu uns gekommen, die Einreise in die Ukraine ist für sie schwierig geworden.“

    Gelegentlich trifft man aber doch neu zugezogene Belarussen. Der Freund von Maria, einer weiteren Gesprächspartnerin von uns, war ein halbes Jahr vor dem Krieg nach Lwiw gegangen. Sie war gerade dabei, ihre Dokumente für den Umzug vorzubereiten, als der 24. Februar kam. „Mein Freund hatte gesagt, dass er [in der Ukraine – dek] bleiben will. Und ich bin Ärztin, wenn ich irgendwie helfen kann … Die Entscheidung, in die Ukraine zu gehen, lag nahe“, erzählt Maria.

    Anfang April fuhr sie über Warschau in die Ukraine. Sie wurde nicht auf Anhieb über die Grenze gelassen. Eine Zeitlang wohnte Maria in einem Lager für ukrainische Flüchtlinge und kümmerte sich um ihre Dokumente. „Ich druckte meine E-Mails von Organisationen aus, bei denen ich mich freiwillig engagieren wollte, Ausbildungsnachweise, die Daten meiner Gastgeber“, zählt Maria auf. Beim zweiten Mal schaffte sie es bis zur Bahnstation auf der polnischen Seite der Grenze. „Ich habe die falsche Strecke erwischt. Ich stieg aus und stand mitten im Wald, unter einer Laterne, mit dem ganzen Gepäck. Da verstand ich, wieso der Zugbegleiter beim Aussteigen ein Kreuz geschlagen hatte“, erinnert sie sich. Von der Bahnstation ging sie mitten in der Nacht zum nächsten Dorf, wo eine alte Dame sich ihrer erbarmte und ihren Sohn bat, Maria zur polnisch-ukrainischen Grenze zu fahren.

    Dort wurde sie mehrere Stunden vernommen, doch diesmal fiel die Entscheidung positiv aus und die Belarussin konnte weiter nach Lwiw. „Es war eine Riesenfreude, hier anzukommen, nach dieser ganzen Nacht auf den Beinen, von der ich noch meinen Enkeln erzählen werde. Und ich muss dieser Babuschka eine Postkarte schreiben, dass ich gut angekommen bin. Nach so einem Erlebnis begegnet man den Menschen mit mehr Herzenswärme.“

    Abschied von einem gefallenen Soldaten des Kastus Kalinouski-Regiments / Foto © Pressedienst des Kastus Kalinouski-Regiments
    Abschied von einem gefallenen Soldaten des Kastus Kalinouski-Regiments / Foto © Pressedienst des Kastus Kalinouski-Regiments

    Die Freiwilligen-Bataillone sind nicht Teil der Diaspora

    Belarussen kämpfen auch auf Seiten der Ukraine. Die Gesamtzahl jener, die derzeit in Einheiten der ukrainischen Streitkräfte dienen, bereits aus der Armee entlassen oder gefallen sind, beträgt höchstens eintausend, erzählt Andrej Kuschnerow vom Belarussischen Veteranenverband.

    Während sie unter Vertrag stehen, gehören diese Leute nicht zur Diaspora, und danach bleiben sie selten im Land, sagt er: „Mein Planungshorizont betrug an der Front aus objektiven Gründen 15 Minuten. Aus denselben Gründen sind die Kämpfer nicht [in die Gesellschaft] integriert.“      

    Andrej selbst ist nach seinem Dienst in der Ukraine geblieben, kennt aber ansonsten nur wenige, die das auch so gemacht haben. Viele wollten gern, sagt Andrej, bekamen aber keine Aufenthaltserlaubnis. „Wer seinen Dienst beendet hat, muss einen Grund für seinen Aufenthalt im Land haben: Arbeit, Familie und dergleichen. Ohne Aufenthaltserlaubnis darf man sich maximal 180 Tage am Stück grundlos in der Ukraine befinden, die Zeit vor und nach dem Dienst inklusive“, sagt Andrej. „Normalerweise bleiben einem nach Vertragsende ein paar Monate, dann muss man ausreisen.“ 

    Was bringt es den Belarussen, für die Ukraine zu kämpfen? Kriegserfahrung, Blutsbrüder, Kontakte, Respekt in den Augen der Ukrainer. Aber teilweise gesellt sich zu alldem eine ernsthafte posttraumatische Belastungsstörung hinzu, und manchmal auch eine Behinderung durch eine schwere Verletzung.  

    Privilegien genießt man allerdings nicht unbedingt, erklärt Andrej. Mitte Januar 2023 war ihm kein einziger Belarusse bekannt, dem es gelungen wäre, das dafür nötige Dokument zu erhalten – einen Nachweis der Teilnahme an Kampfhandlungen. Die militärischen Strukturen der Belarussen in der Ukraine kümmern sich laut unserem Gesprächspartner nicht um dieses Thema, und der Veteranenverband hat bisher keine Lösung gefunden. 

    Mit Beginn des Krieges haben viele die Ukraine verlassen

    Mittlerweile unterstützen die Belarussen die Ukrainer auf jede erdenkliche Weise, meint die Belarussin Olga, die sich in der Ukraine in der Stiftung Rajon nomer 1 freiwillig engagiert. Nach ungefährer Schätzung des Belarussischen Informationszentrums haben seit Kriegsbeginn 80 Prozent der Belarussen die Ukraine verlassen. Olga meint, ein Großteil habe sich in anderen Ländern in Sicherheit gebracht oder habe keinen Aufenthaltsstatus erhalten.

    Die verbliebenen Belarussen sind oft sehr aktiv: Sie dokumentieren Kriegsverbrechen, bauen Häuser wieder auf, evakuieren Menschen aus gefährlichen Gebieten, organisieren Crowdfundings – zum Beispiel auf dem Dokumentarfilmfestival Na mjashy [An der Grenze – dek] im Dezember 2022. Es gab Vorführungen in Kyjiw, Odessa und Lwiw, und mit dem gesammelten Geld wurden Wundheilungsapparate gekauft. 

    Olga lebt seit Anfang 2021 in der Ukraine, und abgesehen von ihrer Freiwilligenarbeit dort dokumentiert sie Menschenrechtsverletzungen in Belarus. 2022 organisierte sie in Butscha eine Ausstellung über kriegsgefangene Belarussen, die für ihre Unterstützung der Ukraine zu Schaden kamen. 

    Olga hat Ukrainisch gelernt und versucht, es im Alltag zu sprechen. Ihr Umfeld besteht größtenteils aus Ukrainern. Und obwohl sich das Verhältnis der Ukrainer zu den Belarussen mit dem Beginn des Krieges und der Rolle Lukaschenkos deutlich verschlechtert hat, bemerkt unsere Gesprächspartnerin in persönlichen Interaktionen keine Veränderung. 

    Die aktuelle Situation der Belarussen in der Ukraine   

    „Die Belarussen sind sehr schutzlos. Hier in der Ukraine arbeiten Freiwillige, Wirtschaft und Staat gemeinsam an der Lösung eines großen Problems. Aber die Belarussen bekommen keine Unterstützung vom Staat, nur von anderen Belarussen“, meint Olga.

    Mit Beginn des Krieges wurden Belarussen ohne ständigen Wohnsitz die Bankkonten gesperrt, nur Einzelne bekamen später die Möglichkeit, sie wieder zu nutzen. „Die Entscheidung, die Konten zu entsperren, trifft die Bank auf Empfehlung des Sicherheitsdienstes der Ukraine“, erklärt Olga. Um ihr eigenes Konto hat sie sich bisher nicht gekümmert.     

    Die Belarussen leben während des Kriegs in der Ukraine, weil sie dieses Land lieben und weil sie helfen möchten. Von den vielen Schwierigkeiten lassen sie sich nicht abschrecken, ob es um gesperrte Konten oder die Suche nach Arbeit geht. Arbeitsplätze gibt es in der Ukraine wenig, erst recht für Belarussen, und Geld von einem ausländischen Arbeitgeber zu beziehen, ist komplizierter geworden. Dokumente aller Art, darunter Aufenthaltsbewilligungen, werden Belarussen ungern ausgestellt, und sie können ihre Pässe nicht im Land verlängern, weil die belarussische Botschaft geschlossen ist.

    Warum andere in der Ukraine geblieben sind

    Wassilina erklärt, sie bleibe zum Teil deswegen, weil sie sich dem Land gegenüber verpflichtet fühle, das sie aufgenommen hat, und zum Teil, weil von ihr und ihrem Mann die Arbeit anderer Freiwilliger abhängt. Aber irgendwann wollen sie die Ukraine verlassen. 

    Maria bleibt in Lwiw, weil es ihr dort gut geht: Familie, Haus und Zukunftspläne. Aber ob sie weiterhin bleiben kann, hängt von ihrem Aufenthaltsstatus ab. Seit April bemüht sich Maria um die Anerkennung ihres Diploms durch das Bildungs- und Wissenschaftsministerium, ohne die sie nicht arbeiten darf und keine Aufenthaltserlaubnis bekommt. „Ich möchte nicht gehen, trotz des Krieges. Das ist eine feine Stadt, ich fühle mich hier nicht fremd“, sagt sie.


    * Die Personen haben um Anonymität gebeten, alle Namen sind erfunden.

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