Für die einen war Gorbatschow der „Totengräber der Sowjetunion“. Für die anderen haben die USA den Sargnagel eingeschlagen: Während des Kalten Krieges hätten sie alles daran gesetzt, die Sowjetunion zu vernichten.
Steile These, meint Wirtschaftswissenschaftler Dimitri Trawin, die keiner Prüfung standhalte. In der Serie Mythen in Russland unter Putin in der Novaya Gazeta argumentiert er auch gegen diesen Mythos.
Kurz vor Silvester 1991 ist Michail Gorbatschow zurückgetreten, und damit war der Schlusspunkt unter die Geschichte der UdSSR gesetzt. Viele sind der Ansicht, dass es Amerika war, das unser Land damals zugrunde richtete. Es sind zwar bis heute keine Belege aufgetaucht, dass die CIA oder das US-Außenministerium Gorbatschow und Jelzin bezahlt hätten, doch das stört die Anhänger dieser Verschwörungstheorie nicht. Der Untergang der Sowjetunion aufgrund der Konfrontation der Großmächte erscheint ihnen vollauf logisch. Schließlich weiß ja jeder, dass wir uns mit Washington im Kalten Krieg befanden. Dass der wichtigste und gefährlichste Gegner die USA waren. Dass die Amerikaner daran interessiert waren, den Gegner zu schwächen. Und wenn es darum geht, ihn zu schwächen, dann heißt das nach Möglichkeit auch: ihn zu zerstören. Wenn nun die UdSSR zerfallen ist, bedeutet das also: Die in Übersee gesponnenen Intrigen haben schließlich gefruchtet.
Es sind bis heute keine Belege aufgetaucht, dass die CIA Gorbatschow und Jelzin bezahlt hätte, doch das stört die Anhänger dieser Verschwörungstheorie nicht
Einen überzeugten Verschwörungstheoretiker kann man nicht umstimmen. Aber mit vernünftig denkenden Menschen kann man über die Logik solcher Gedankengänge sprechen, weil ja das Bestreben, den Gegner zu schwächen, in der Tat kein Mythos ist. Das Vorhaben jedoch, die UdSSR vollständig zu Grunde zu richten, ist Mythos par excellence. Ein Zusammenbruch der UdSSR war nicht das Bestreben der USA. Gorbatschow war der amerikanischen Führung sympathisch. Sie hätte es lieber gesehen, dass er unser Land weiter regiert anstatt dass da, wo einst die Sowjetunion war, eine große Anzahl selbständiger Staaten mit unberechenbaren Herrschern entsteht. Natürlich gab es in den USA unverbesserliche Hardliner, die unser Land derart hassten, dass sie bereit waren, selbst dann dagegen vorzugehen, wenn es zum Schaden ihres eigenen Landes ist. Diese Leute haben aber keine Entscheidungen auf staatlicher Ebene getroffen und keinen Einfluss auf die praktische Politik gehabt.
Es hat womöglich einen Moment gegeben, an dem die USA tatsächlich einen Zerfall der UdSSR gewollt haben könnten, nämlich 1962, während der Kubakrise. Damals hatte Washington etliche Gründe anzunehmen, dass die Regierung in Moskau unberechenbar und die Wahrscheinlichkeit eines Atomkrieges sehr groß ist.
Danach allerdings gestaltete sich die Lage besser und besser. Für sie wie auch für uns. Zuerst gelang es, die Kubakrise zu bewältigen. Die UdSSR stationierte keine Raketen auf Kuba. Danach beseitigte die Parteiführung der UdSSR Nikita Chruschtschow, der unglaublich impulsiv war und imstande, mit dem Schuh auf das Rednerpult der UNO zu schlagen und zu verkünden, dass wir Amerika erledigen. An der Spitze des Sowjetregimes stand nun Leonid Breshnew, der den Zweiten Weltkrieg durchlebt hatte und daher dem Frieden zugeneigt war. 1972 setzten ernsthafte Kontakte zwischen Washington und Moskau ein. 1975 haben wir die Schlussakte von Helsinki unterzeichnet, in der die Unverletzlichkeit der Nachkriegsgrenzen in Europa anerkannt wurde. Es gab intensive Gespräche über Rüstungsbeschränkung für bestimmte Waffentypen.
Wir können also sagen: Wenn die Amerikaner Anfang der 1960er Jahre noch wirklich an die Möglichkeit eines Atomkrieges geglaubt und Luftschutzräume eingerichtet hatten, so war in den 1980er Jahren beiden Seiten bewusst, dass es keinen globalen Krieg geben wird.
In den 1980er Jahren war beiden Seiten bewusst, dass es keinen globalen Krieg geben wird
Die Führer der beiden Staaten beschimpften einander, und die Propagandisten verbreiteten ideologische Klischees, die einen Teil der Normalbürger beunruhigen sollten, die meisten ließen sich aber keine Angst mehr machen.
Und als Gorbatschow mit seinem Konzept des neuen Denkens kam und dann in ein Ende der sowjetischen Kontrolle über die Länder Mittel- und Osteuropas einwilligte, sank die Wahrscheinlichkeit eines Atomkrieges nahezu gegen null. Es sei denn, jemand hätte versehentlich den Roten Knopf gedrückt.
Eben jener Knopf führt uns vor Augen, dass die USA 1991 keineswegs einen Untergang der UdSSR wollten. Jeder noch so antiamerikanisch eingestellte Mensch wird nach einigem Nachdenken zugeben, dass die Wahrscheinlichkeit, dass jemand versehentlich den Knopf drückt, größer wurde, nachdem der zugängliche und berechenbare Gorbatschow abgetreten war. Außerdem stieg die Wahrscheinlichkeit eines ungewollten Krieges gar nicht so sehr wegen der Führungswechsel, sondern aufgrund des Zerfalls des Staatsapparates, der mit dem Untergang der Sowjetunion einher ging. Es kamen in den unterschiedlichen Republiken unterschiedliche neue Leute an die Macht. Mitunter ganz zufällig. Und die Atomwaffen hätten schlicht außer Kontrolle geraten, für Geld in die Hände von Terroristen oder Banditen gelangen können. Es gibt übrigens eine ganze Reihe amerikanischer Filme, die so anfangen, dass Privatleute in den Besitz von Massenvernichtungswaffen kommen wollen, um die ganze Welt zu erpressen. Hier werden in der Kunst recht genau tatsächlich bestehende Ängste abgebildet.
Die USA wollten allein wegen ihrer eigenen Sicherheit keinen Zerfall der UdSSR
Die USA wollten also allein wegen ihrer eigenen Sicherheit keinen Zerfall der UdSSR. Und nachdem dieser dennoch eingetreten war, wollten sie ein starkes, verlässliches Russland, das die Atomwaffen aus den anderen postsowjetischen Staaten übernimmt. Die verbreitete Vorstellung, dass der Kalte Krieg unbedingt auf einen Zweikampf der Kontrahenten hinauslaufen müsse, und zwar bis zur Vernichtung des Gegners, hält keiner Prüfung stand, weder der Fakten noch der Logik.
Es ist wichtig, dass uns das klar wird. Nicht, um Amerika zu rechtfertigen. Amerika kratzt das sowieso kein bisschen. Wichtig ist es, damit wir die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen. Wenn nämlich die Massen meinen, Amerika habe die UdSSR zugrunde gerichtet, dann wird die Gesellschaft nicht in der Lage sein, die wirklichen Gründe dafür zu verstehen, wie diese Großmacht tatsächlich in den völligen Niedergang glitt. Und diese Massen sind leicht zu manipulieren. Wenn wir uns die Köpfe nicht mit lauter Quatsch vollstopfen, werden wir bald verstehen, wie viele Probleme es in der sowjetischen Politik und Wirtschaft gegeben hat. Und genau sie waren es, die die UdSSR in den Untergang getrieben haben.
Nationale Trikoloren, brennende Kerzen, hunderttausende von Menschen, die sich an den Händen halten, Lieder singen und über das Radio Ansprachen hören. Am 23. August 1989 bilden circa eine Million Menschen eine Kette, die auf einer Strecke von über 670 Kilometern von Tallinn über Riga nach Vilnius reicht. Als es dunkel wird, zünden sie Kerzen an als Erinnerung an die Opfer der Sowjetherrschaft. Es heißt, diese Lichterkette sei sogar aus dem All zu sehen gewesen.
Der Sommer 1989 war reich an politischen Symbolen. Erst wenige Tage zuvor hatte das Paneuropäische Picknick an der Grenze von Ungarn zu Österreich buchstäblich ein erstes Schlupfloch im Eisernen Vorhang geschaffen. Der Ostblock schien sich von der Umklammerung Moskaus zu lösen, mit Einverständnis des Generalsekretärs der KPdSU Michail Gorbatschow.
Und nun, am 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes, der die Aufteilung Europas zwischen den beiden Diktatoren bewirkt hatte und Hitler den Zweiten Weltkrieg entfesseln ließ, kommt ein Thema auf die Tagesordnung zurück, das im Westen nahezu vergessen war: Die 1940 erfolgte sowjetische Annexion der drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen.
Zwar hatte es einige Westmächte gegeben, darunter die USA, welche diese gewaltsame Gebietserweiterung Stalins nie anerkannt haben. De facto aber wollte niemand an der sowjetischen Oberherrschaft an der Ostsee rütteln. Das war spätestens 1956 auch im nun sowjetischen Baltikum verstanden worden. Seither begann eine Zeit, in der man sich unter den Bedingungen der Fremdherrschaft einrichtete. Als schließlich die Perestroika einsetzte, begann eine ungeahnte politische Mobilisierung: Erst gegen die Ausbeutung der Umwelt durch zentrale Ministerien (Phosphatabbau in Estland, Ausbau der Hydroenergie an der Düna in Lettland), dann für historische Gerechtigkeit. Moskau sollte gezwungen werden, die Existenz der Geheimen Zusatzprotokolle zum Hitler-Stalin-Pakt zu bestätigen und diesen dann als illegal zu verurteilen – und damit auch die Annexion der drei Staaten.
Reaktionen des Westens
Der Westen, inklusive der Bundesrepublik Deutschland, verhielt sich distanziert gegenüber den Forderungen der Balten. Um Gorbatschow an der Macht zu halten, versuchte er besänftigend auf Tallinn, Riga und Vilnius einzuwirken. Im Sommer 1989 war jedem Beobachter klar, dass Gorbatschow eine Sezession der drei Staaten politisch wohl nicht überleben würde. Den Bestand der Union, zu der die drei baltischen Republiken gehörten, konnte Gorbatschow auf keinen Fall preisgeben.
Singende Revolution
Die Volksfronten, die mittlerweile innenpolitisch in den drei baltischen Sowjetrepubliken dominierten, sahen das anders. Sie waren im Laufe des Jahres 1988 zur Unterstützung der Reformen gegründet worden und hatten bei den Wahlen zum Moskauer Volksdeputiertenkongress im Frühjahr 1989 große Erfolge erzielen können. Sie hatten die Kommunistischen Parteien in die Defensive gezwungen, welche nun zum Teil ihr Heil in der Kooperation mit ihnen suchten.
Das Jahr 1988 war das Jahr der „Singenden Revolution“ gewesen, vor allem in Estland. Hier war auch dieser Begriff geprägt worden. Im September des Jahres kamen zu einem Liederfest in Tallinn wohl an die 300.000 Menschen aus der ganzen Republik zusammen – bei gut 1,5 Millionen Einwohnern (1989). Die Erfahrung einer derartigen Massenmobilisierung wurde im folgenden Jahr von den Organisatoren der Menschenkette immer wieder als Beispiel bemüht.
Menschenkette 1989
Es ist heute kaum vorstellbar, wie eine solche grenzüberschreitende Aktion ohne Mobiltelefon und Internet organisiert werden konnte – und das im Laufe von gerade einmal einem Monat. Denn erst im Mai 1989 waren in Tallinn die Führungen der drei baltischen Volksfronten zusammengekommen, um über gemeinsame Ziele und Aktionen zu beraten. Von einer Menschenkette war in den offiziellen Deklarationen noch nicht die Rede. Erst am 15. Juli kam es zum trilateralen Beschluss: Wir machen es.
Wer die Idee erstmals aussprach, ist schwer zu rekonstruieren. Menschenketten hatte es in den USA, in Schweden, aber auch bereits in der Litauischen SSR gegeben. Daher beanspruchen die Litauer die Idee für sich, doch wird in lettischen Quellen wie auch in den Erinnerungen vieler Mitglieder der estnischen Volksfront immer wieder der Name Edgar Savisaar genannt, einer der prägenden Figuren der estnischen Unabhängigkeitsbewegung. Savisaar trieb die Ausführung der Idee nun aktiv voran.
Die organisatorischen Probleme schienen indes unüberwindbar zu sein. Schlechtes Wetter allein drohte alles zunichte zu machen. Würden überhaupt genug Menschen kommen? Wie sollte man die Bereitwilligen transportieren, es gab ja noch keine universelle private Mobilität, die ja auch nur zu noch mehr Staus geführt hätte? Wie sollte man sich auf medizinische Notfälle vorbereiten, wie die Ordnung garantieren? Es gab in allen drei Ländern mahnende Stimmen, die den Plan für undurchführbar hielten und das Risiko des Scheiterns für zu groß. Erst Anfang August, so scheint es, waren alle Zweifel ausgeräumt. Es blieben drei Wochen Zeit.
Nun wurden die regionalen Organisationen der Volksfronten mobilisiert. Jede von ihnen sollte einen bestimmten Abschnitt der Strecke übernehmen. Dabei machte sich auch die streng vertikale Hierarchie der drei Sowjetrepubliken bemerkbar, denn es genügte, dass ein Minister den 23. August, einen Mittwoch, für arbeitsfrei erklärte, um zumindest dieses Hindernis aus dem Weg zu räumen. Mit jedem einzelnen privaten Betrieb verhandeln zu müssen, hätte den Zeitplan mit Sicherheit torpediert.
Zudem konnte man sich der Kooperation der Miliz versichern. Ihr Einsatz war nicht nur aus Gründen der Sicherheit notwendig, sondern auch, weil ihre Einsatzfahrzeuge über Telefone verfügten, über die im Notfall zum Beispiel medizinische Hilfe herbeigerufen werden konnte. Fabriksleiter stellten (auf gut sowjetische Weise) nicht nur ihre Belegschaft für diese Demonstration zur Verfügung, sondern auch die notwendigen Busse. Drei Sowjetrepubliken mobilisierten mit Unterstützung der republikanischen Strukturen alle Kräfte für eine Machtdemonstration. Gegen Moskau.
Jahrestag des Hitler-Stalin-Pakts
Für alle drei Volksfronten war die Bindung an den Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes wesentlich. Im neu gewählten Moskauer Volksdeputiertenkongress sollte eine Kommission über die historische Rolle des Paktes urteilen. Während die baltischen Delegierten darauf drängten, den Pakt möglichst bis zum 23. August zu verurteilen, mahlten die Mühlen des neuen Parlaments viel langsamer als erhofft. Am 18. August gab der Kommissionsleiter Alexander Jakowlew, ein einflussreicher und reformorientierter Berater Gorbatschows, der Prawda ein Interview. Dabei stellte er fest, dass der Pakt für die sowjetische Führung 1939 alternativlos gewesen sei. Er bestätigte zwar die Existenz der Geheimen Zusatzprotokolle, was an sich schon eine Sensation war, und verurteilte sie auch; allerdings bestritt er jeglichen Zusammenhang mit der Annexion der baltischen Staaten im Jahr darauf. Die Enttäuschung in den baltischen Republiken, deren Parlamente den Pakt schon verurteilt hatten, war spürbar.
Innenpolitischer Druck
Innenpolitisch spitzte sich im Sommer 1989 die Lage zu. In Estland zum Beispiel zählte auch die sogenannte Interfront zu den Gegnern der Volksfront. Sie bestand in erster Linie aus russischsprachigen Arbeitern und Angestellten der Industriebetriebe, die Moskauer Ministerien unterstellt waren, und wurde zum Sprachrohr des „internationalistischen“ und pro-sowjetischen Teils der Bevölkerung. Im Sommer wurde neben symbolischen de-sowjetisierenden Aktionen wie der offiziellen Nutzung der alten Trikolore unter anderem ein Wahlgesetz für die anstehenden Wahlen zum Obersten Sowjet der Republik diskutiert. Erstmals in der sowjetischen Geschichte sah dieser Entwurf vor, das aktive und passive Wahlrecht an bestimmte Aufenthaltszeiten auf dem Boden der Republik zu knüpfen. Um ihren Forderungen Nachdruck zu verschaffen, organisierte die Interfront Anfang August recht erfolgreich einen landesweiten Streik. Sowohl die innersowjetische Debatte um den Pakt als auch der Industriearbeiterstreik mobilisierten die Bevölkerung zusätzlich.
Rund 1480 Menschen pro Kilometer
Wie viele Menschen am 23. August 1989 zusammenkamen, um gegen 19 Uhr Tallinn, Riga und Vilnius zu verbinden, ist kaum zu schätzen. Man hat ausgerechnet, dass bei einer Zahl von 1 Million durchschnittlich 1480 Menschen jeden Kilometer bevölkert haben. Manche Schätzungen gehen aber sogar von bis zu zweieinhalb Millionen aus.1 Vor allem in den Städten stand man in bis zu sieben Reihen hintereinander. Mancherorts bildeten sich „Solidaritätsketten“ von Menschen, die wegen der Staus nicht rechtzeitig zur Strecke gelangt waren. Schon am Nachmittag waren die großen Ausfallstraßen der Städte komplett überfüllt gewesen, obwohl an einigen Stellen sogar alle Spuren für eine Richtung geöffnet waren. Allerdings gab es auch entlegene Abschnitte, wo die Kette abriss und die Lücken durch Kerzen oder schwarze Bänder überbrückt werden mussten.
Als die Sozialwissenschaftlerin Marju Lauristin von der estnischen Volksfront um 19 Uhr vom Langen Hermann, einem altem Burgturm auf dem Tallinner Domberg, über das Radio erklärte: „Unser Ziel ist Freiheit“, war der Sinn der Aktion deutlich benannt. Die Reaktion aus Moskau war überraschend drastisch. Am 26. August hieß es, die Veranstalter hätten eine „nationalistische Hysterie“ entfacht und sich gegen die sowjetische Ordnung gestellt. Sollten ihre Ziele durchgesetzt werden, drohte Moskau den baltischen Völkern „katastrophale Folgen“ an und stellte deren „Lebensfähigkeit“ in Frage.2
Die Folgen
Die Lage in den baltischen Sowjetrepubliken veränderte sich durch diese Aktion genauso wenig wie das Verhältnis zu Moskau. Auch die Verurteilung des Hitler-Stalin-Paktes durch den Volksdeputiertenkongress Ende 1989 hatte keine Folgen. Es bedurfte eines historischen Zufalls, des Moskauer Putsches vom August 1991, dass die drei Staaten ihre Unabhängigkeit friedlich wiederherstellen konnten. Unschätzbar aber dürfte der Sympathiebonus gewesen sein, den sich die drei Länder am 23. August 1989 vor allem im Westen verdient haben. Umso stärker wurde der Druck auf die Regierungen, als im Januar 1991 auf den Straßen von Vilnius und Riga sowjetische Organe Gewalt gegen friedliche Demonstranten ausübten.
Die Menschenkette vom 23. August 1989 ist mittlerweile in die UNESCO-Liste des Weltkulturerbes der Menschheit aufgenommen worden. Sie war ein nahezu perfekter Akt des gewaltlosen Widerstands und hat Menschen in vielen anderen Ländern zur Nachahmung inspiriert, darunter zum Beispiel in Katalonien. Dass an diesem Tag keine ernsthafte Provokation von sowjetischer Seite erfolgte, lag nicht zuletzt daran, dass westliche Journalisten von den Organisatoren extra angefordert worden waren, um zu berichten. So waren am nächsten Tag die Bilder der Fahnen, Kerzen und Menschen in vielen großen westlichen Tageszeitungen der Aufmacher. Die Menschenkette war eben auch ein extrem wertvoller Schachzug im Spiel um mediale Aufmerksamkeit.
Zum Weiterlesen:
Arjakas, Küllo (2014): Kui väikesed olid suured: Balti Kett 25 [Als die Kleinen die Großen waren: 25 Jahre Baltische Kette], Tallinn
Brüggemann, Karsten (2016): Menschenkette durch das Baltikum, in: Horch und Guck: Zeitschrift der Gedenkstätte Museum in der Runden Ecke Leipzig 25 (2016), Heft 1–2 (82–83), S. 43–47
Koik, Lembit (2004): Balti Kett [Baltische Kette], Tallinn
Spohr-Readman, Kristina (2006): Between Political Rhetoric and ‚Realpolitik‘ Calculations: Western Diplomacy and the Baltic Independence in the Cold War Endgame, in: Cold War History 6 (2006), Nr. 1, S. 1–42
Gennady Bodrov wurde 1957 nahe Kursk geboren. Und in Kursk hat er auch fotografiert, bis ans Ende seines Lebens 1999. In der Anthologie der russischen Fotografie im 20. Jahrhundert, an der das Zentrum für Fotografie Brüder Lumiere in Moskau arbeitet, ist Bodrov der Künstler, der die 1980er und 1990er Jahre repräsentiert. Dabei wird er erst posthum allmählich entdeckt. Er arbeitete als Pressefotograf, seine Kunst brachte ihm dennoch zu Lebzeiten zahlreiche Auszeichnungen bei internationalen Wettbewerben und vier Einzelausstellungen auch im Ausland ein. Es war vor allem der befreundete Moskauer Fotograf und Kurator Alexander Lapin, der Bodrov mit der inoffiziellen Szene der russischen Fotografie vernetzte.
Einfache Motive, der Titel der aktuellen Ausstellung im Zentrum für Fotografie Brüder Lumiere in Moskau, könnte über fast jeder der Alltagsszenen stehen, die Bodrov fotografierte. In schwarz-weiß wirken sie wie aus der Zeit gefallen. Das Jahr und der Ort (meist war es Kursk) der Szenerie sind schwer auszumachen, ja, unwichtig. Bodrov fängt Stimmungen und Atmosphäre ein. In der Tradition von Henri Cartier-Bresson sucht er nach dem decisive moment, dem entscheidenden Augenblick. Und so wird er doch zum fotografischen Chronisten der 1980er und 1990er Jahre, er, der sich immer als „sozialer Fotograf“ verstand.
Serien wie 1000-letije kreschtschenije Rusi (dt. Tausendjährige Taufe der Rus) zeigen, wie religiöse Traditionen während der Perestroika in den 1980er Jahren allmählich wiederbelebt werden, ein Karkassen-Haufen erzählt vom aufreibenden Alltag in Zeiten wirtschaftlicher Krisen und des gesellschaftlichen und ideologischen Umbruchs.
Gennady Bodrov zeigt in seinen Fotografien, dass die Perestroika auch, aber nicht nur von Aufbruch und Chaos geprägt war. Und fiel den Auswüchsen der Zeit in den sogenannten Wilden 1990ern selbst zum Opfer: Vor 20 Jahren, am 14. Februar 1999, wurde er bei einem Raubüberfall erschossen. Die Moskauer Ausstellung im Zentrum für Fotografie Brüder Lumiere, die seinem Werk gewidmet ist, läuft noch bis zum 22. September 2019.
Fotos: Gennady Bodrov, mit freundlicher Genehmigung desThe Lumiere Brothers Center for Photography Bildredaktion: Andy Heller Text: dekoder-Redaktion veröffentlicht am 13.08.2019
Im Westen verehren ihn viele – in Russland selbst ist das anders: Im März 2016 räumten in einer WZIOM-Umfrage zwar 46 Prozent der Befragten ein, Michail Gorbatschow habe zum Wohl des Landes handeln wollen, aber 47 Prozent waren der Ansicht, er habe nichts Gutes für den Staat getan. Ganze 24 Prozent meinten sogar, Gorbatschow sei ein Verbrecher gewesen, der die Großmacht Sowjetunion bewusst zu Fall gebracht habe.
Sicher ist die Bilanz von Gorbatschows Regierungsjahren eine gemischte, und die Begeisterung, die ihm speziell in Deutschland entgegengebracht wird, lässt sich nicht einfach verallgemeinern. Oft zum Beispiel wird vergessen, dass Gorbatschow zwar beim Zerfall des Warschauer Pakts (und so auch bei den Ereignissen, die zum Fall der Berliner Mauer führten) auf jede Gewaltausübung verzichtete, in der damaligen Sowjetunion aber durchaus für Militäreinsätze gegen die sich verselbständigenden Republiken verantwortlich war, wie etwa beim Vilniusser Blutsonntag.
In den letzten Jahren gibt der heute 88-jährige Michail Gorbatschow nur noch wenige Interviews. Meduza hat im März 2018 mit ihm gesprochen, natürlich auch über die Perestroika und seine Sicht der Dinge.
Ilja Scheguljow: Sie waren sechs Jahre an der Macht, das entspricht nach heutiger Gesetzeslage einer Amtszeit des Präsidenten. Haben Sie nie daran gedacht, dass Sie, wenn Sie nicht die Reformen angestoßen hätten, vielleicht heute noch Generalsekretär sein könnten? Dann hätten Sie doppelt so lang regiert wie Breshnew.
Michail Gorbatschow: Dann wäre das schon nicht mehr Gorbatschow. Das wäre dann ein Jelzin oder irgendein anderer Kerl.
Wie auch immer Ihre Haltung zu Jelzin sein mag, Sie haben etwas mit ihm gemein. So sind weder Sie noch er gegen die Meinungsfreiheit vorgegangen, auch wenn die Ihnen beiden riesige Probleme bereitete.
Solschenizyn hat irgendwo gesagt: Gorbatschows Glasnost hat alles zugrunde gerichtet. Ich fand eine Gelegenheit, ihm darauf zu antworten: Das ist ein tiefgreifender Irrtum eines Menschen, den ich sehr achte. Und schließlich die Frage: Wie kann das sein, dass Menschen mit verschlossenem Mund [leben], dass sie nicht einmal einen Witz erzählen können, dass sie sofort irgendwohin verschickt werden, zur Umerziehung, oder zum Holzfällen? Aber genau so war das ja bei uns. Wenn es keine Glasnost gegeben hätte, hätten bei uns keine Veränderungen zum Besseren eingesetzt.
Wenn es keine Glasnost gegeben hätte, hätten bei uns keine Veränderungen zum Besseren eingesetzt
Und es hätte keinerlei Freiheit gegeben. Freiheit, das bedeutet vor allem Glasnost. Die Freiheit, mit den Menschen über seine Sorgen zu reden, darüber, was man [rundum] wahrnimmt, und wie man sich dazu verhält. Und wenn sich jemand täuscht, wird man ihm qua Freiheit helfen, das zu korrigieren. Sowohl die Presse wie auch die Gesellschaft …
Die ganzen 1990er Jahre und die erste Hälfte der 2000er Jahre haben Sie von Vorträgen gelebt. Worum ging es in diesen Vorträgen?
Ich bin zum Beispiel kurz vor der Wahl Obamas in den Mittleren Westen [der USA] gefahren, nach St. Louis. Dort kamen 13.000 Menschen zu dem Vortrag, im Stadion der Universität. Das Thema meines Vortrags lautete „Perestroika“.
Da stand ein junger Mensch auf, so in deinem Alter, und fragte: „Herr Präsident, dürfte ich Sie etwas fragen: Sie sehen, dass sich die Lage in Amerika immer mehr verschlechtert, was raten Sie uns?“ Ich antwortete: „Wissen Sie, ich werde Ihnen jetzt keinen Fahrplan, kein Menü vorschlagen. Ich kann Ihnen nur eines sagen: Meiner Meinung nach braucht Amerika eine eigene Perestroika.“ Der ganze Saal erhob sich. Nun, und zwei Jahre später haben sie Obama gewählt.
Also selbst Mitte der 2000er Jahre waren alle interessiert, von der Perestroika zu erfahren?
Die Perestroika lebt. Auch wenn man sie jetzt beerdigen will. Aber man kann Gorbatschow und die Perestroika nicht begraben. Das geht nicht. Wem sonst ist es schon gelungen, einfach so die ganze Welt zu verändern? Und gleichzeitig will man mich erschossen sehen. Ich bekomme Briefe, in denen ich gefragt werde, warum ich mich nicht erschossen habe. Weil ich angeblich schuld sei. „Sie hätten sich umbringen sollen, Herr Gorbatschow. Und wenn Ihnen das schwerfällt, rufen Sie mich, ich erledige das.“ Solche Briefe kriege ich. Es gibt da aber auch andere.
Ich bekomme Briefe, in denen ich gefragt werde, warum ich mich nicht erschossen habe
Woran soll ich schuld sein? Die einen werfen mir vor, dass ich Ungarn weggegeben habe. Andere sagen, ich hätte Polen weggegeben. Weggegeben? Wem denn? Den Polen und den Ungarn. Das ist natürlich wirres Zeug. Andere geben nichts weg, stimmt.
Ihre Vorträge haben Ihnen gutes Geld eingebracht …
Ja, auf unserer ersten Reise 1992 haben wir eine Million [Dollar] verdient. Wir haben sie für unsere Sache eingesetzt. Übrigens, zum Thema, wie ich das Geld, was ich bekommen habe, verwendete. [1990] erhielt ich den Nobelpreis: 1,1 Millionen Dollar. Von der Million wurden sechs Kliniken gebaut, zur Hilfe für die Opfer von Tschernobyl, am Aralsee in Asien und in Russland.
Erzählen Sie von ihrer Tätigkeit im Umweltbereich. Schließlich sind Sie der Gründer und Präsident des [Internationalen –dek] Grünen Kreuzes, einer großen zivilgesellschaftlichen Umweltschutzorganisation.
Ja, das Grüne Kreuz, das ist tatsächlich mein Kind. Da waren alle möglichen Leute versammelt: Angehörige der Intelligenzija, Politiker, Vertreter der Religionen, Frauen, junge Menschen, und natürlich die Presse. In 31 Ländern wurden Grüne Kreuze gegründet! Das Ansehen [der Organisation] ist riesig. Zu einem gewissen Grad hatte mich damals Pitirim ins Boot geholt. Er ist auch sonst zu einem guten Freund geworden.
Nach Ihrem Rücktritt haben Sie versucht, Politik zu machen. Sie haben beispielsweise 2001 die Sozialdemokratische Partei organisiert, gemeinsam mit dem damaligen Gouverneur der Oblast Samara, Konstantin Titow. Warum? Wer ist Titow, aus Ihrer Sicht?
Ein Dreckskerl.
Warum?
Er hat fürchterlich getrickst. Aber dann hat er mit der Regierungspartei angebandelt, und sie haben einen Deal gemacht. Die Hauptsache war, dass wir bei den Wahlen außen vor bleiben sollten. Sie hatten Angst vor uns, deshalb haben sie alles unternommen, um [uns] kleinzukriegen.
Aber wozu hatten Sie Titow überhaupt gebraucht?
Ich habe vieles verziehen. Übrigens, wenn ich gefragt werde, was ich bedauere, antworte ich: Ich habe zu viel verziehen.
Ich habe zu viel verziehen
Aber stell dir mal vor, was gewesen wäre, wenn ich aus ähnlichem Holz geschnitzt wäre wie Josef [Stalin]? So kann man einem Land auch den Rest geben.
Warum war es überhaupt nötig, dass Sie in die Politik zurückkehrten?
Es musste etwas geschaffen werden, was unverdorben ist.
Und warum?
Die Menschen verlangen nach einer Organisation, nach einer Bündelung der Kräfte; allein kann man nichts bewegen. Zusammen werden wir siegen!
Aber warum mussten Sie sich da persönlich hineinziehen lassen?
Ungefähr diese Frage hat mir auch mal ein junger Mann gestellt, der war in der Regierungspartei mit der Innenpolitik befasst …
Ja. Ein talentierter Kerl. Aber mit starkem Beigeschmack.
Er hat Sie angerufen?
Nein. Wir hatten 82 Regionalverbände gegründet, die Partei hatte schon 35.000 Mitglieder. Danach bin ich zu eben diesem Freund Surkow gegangen. Ich musste mich registrieren lassen, und alle haben die [Partei]Unterlagen angeschaut. Und Surkow sagte: „Michail Sergejewitsch, was wollen Sie denn? Sie haben doch erreicht, was noch niemandem in der Geschichte gelungen ist. Was wollen Sie also?! Das haben Sie doch nicht nötig.“ Ich habe ihm gesagt: „Das ist eine dumme Frage. Wenn jemand sein ganzes Leben so mit der Politik verbunden war, dann ist er schon … Das ist mein Wesenskern.“
Surkow sagte: ,Michail Sergejewitsch, was wollen Sie denn? Sie haben doch erreicht, was noch niemandem in der Geschichte gelungen ist. Das haben Sie doch nicht nötig.‘
Letztendlich kamen sie dann mit Beanstandungen, sie hätten da irgendwelche Unterschriften gefunden, die nicht korrekt wären [die Sozialdemokratische Partei Russlands wurde 2007 vom Obersten Gericht aufgelöst, wobei Gorbatschow sie bereits 2004 – nach einem Konflikt mit Konstantin Titow – verlassen hatte – Anm. Meduza].
Ich habe mich vor einigen Jahren mit Boris Beresowski unterhalten, wenn Sie sich an den erinnern.
Natürlich erinnere ich mich.
Und er hat mir damals gesagt, dass er es bedauert, immer eine schlechte Menschenkenntnis gehabt zu haben, dass er die menschlichen Qualitäten der Leute nicht erkannte. Von sich können Sie so etwas nicht behaupten?
Ja, das würde ich auch sagen. Ich war zum Beispiel der Meinung, dass man nicht auf alle möglichen Angriffe und Ausfälle reagieren sollte. Wenn sich mal was zuspitzte, haben wir Mittel gefunden, nicht etwa Druck zu machen, sondern die Dinge intellektuell klarzustellen.
Wie jene Geschichte [mit dem Putsch] 1991. Ich dachte: Wieviel Versuche hatte es da gegeben! Mal wollte jemand dem Präsidenten Rechte entziehen, sie jemandem anderen übertragen, mal dies, mal das. Das war eine Sitzung in Ogarjowo unter meiner Leitung, wir wollten den neuen [Unions-] Vertrag vorbereiten, und die veranstalten da sowas hinter meinem Rücken. Ich kam am zweiten Tag und habe sie zusammengestaucht. Da dachte ich, dass ich alle Fragen geklärt hätte, und diese Überzeugtheit wurde dann fast zu einer Überheblichkeit.
Ich habe auch Putin gewarnt [, dass zu große Selbstsicherheit schädlich ist]. Als ich sagte, dass er sich für den Vertreter Gottes hält. Das machte ihn natürlich wütend: Er hat ja mal gesagt, dass man Gorbatschow das Maul stopfen sollte. Einem Präsidenten! Das Maul stopfen!
Gefällt Ihnen Putin?
Ich denke, er ist da recht am Platz. Durch Zutun aller sind dort die Dinge bis ins Letzte verkommen – aber es musste bewahrt werden, damit es nicht zerfällt.
Sie meinen Russland?
Ja, ja. Wir müssen das in Betracht ziehen, trotz aller Verstöße und Fehler. Ich erinnere mich natürlich, wie er sagte, dass er mich – angeblich – bei den Feiern zum Sieg [am 9. Mai 2016] nicht gesehen habe. Als Putin [vom Regisseur Oliver Stone in dessen Film] gefragt wurde, warum er mich nicht gegrüßt hat, sagte er, dass er mich nicht bemerkt habe.
Sie haben ihn einige Male unter vier Augen getroffen, soviel ich weiß.
Ja.
Hat er sich mit Ihnen beraten?
Nein.
Aber wozu haben Sie sich getroffen? Welchen Sinn sollte das haben?
Gar keinen: Händeschütteln. Die letzte Begegnung war am 12. Juni 2017, am Tag Russlands.
Nur Sie zwei?
Nein, nein. Absolut zufällig. Wir kamen gerade aus diesen Zelten, die da im Kreml stehen, wo der Tag Russlands gefeiert wurde. Wir gingen draußen zum Kremlpalast hinüber. Und plötzlich schau ich, irgendwie hatte es bei denen, die mich begleiteten, einen Ruck gegeben, und sie hatten angehalten. Was war los? „Da läuft Putin.“ „Na und?! Und was heißt das jetzt, Leute? Was habt ihr denn bloß? Lasst uns weitergehen!“ Und ich ging ihm direkt entgegen, gerade so, wie es passiert, wissen Sie, dass man sich auf einem Pfad begegnet, zwischen Feldern, und nicht ausweichen kann. Wir grüßten uns. Ich sagte: „Wir haben uns lange nicht gesehen!“ Und er darauf hin: „Mur, mur, mur“ – er brummelt jetzt ganz viel.
Brummelt?
Damit es unklar ist. Ich sagte: Sie haben für mich dreimal einen Termin angesetzt, Wladimir Wladimirowitsch, und dreimal hat der nicht stattgefunden. Danach bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ich mich nicht aufdrängen werde. Und das war’s dann auch.
Putin brummelt jetzt ganz viel
Vergnügung hat er genug. Er trinkt, tanzt, fliegt, fährt Schiff und macht, weiß der Teufel, was man alles so machen kann. Nur in den Weltraum traut er sich nicht. Dann würden ja alle schreiben: „Herr Putin, bleiben Sie dort, tun Sie dem Volk einen Gefallen!“
Wir unterhalten uns hier in den Büroräumen der Gorbatschow-Stiftung. Die Stiftung ist bereits 26 Jahre tätig, und Sie haben sie die ganze Zeit unterstützt. Wie zufrieden sind Sie mit der Arbeit der Stiftung?
Sie hält, was sie verspricht.
Was wurde erreicht? Welche Ziele hatten Sie sich gesetzt?
Das Ziel war erstens, die Geschichte der Perestroika zu erforschen. Und überhaupt war das Ziel ein kulturelles, politisches und gesellschaftliches Zentrum.
Gaidar oder Kudrin zum Beispiel haben ähnliche Stiftungen. Sie schreiben Entwicklungskonzepte für Russland.
Das sind Wirtschaftsfachleute. Uns geht es eher um ein neues Modell. Und dieses Modell muss gesucht werden. Wenn Einiges Russland [weiter so] arbeitet [wie jetzt], dann wird diese Partei das gleiche Schicksal erleiden wie die Kommunistische Partei.
Uns geht es um ein neues Modell
Wir werfen diese Fragen in Artikeln auf, in allen möglichen Denkschriften, in Reden und so weiter. Und weißt du, man spürt jetzt, dass ein Bedarf an Sozialdemokratie entsteht. Und dass die Suche nach einer neuen Plattform vonnöten ist. Wir haben ein Buch herausgegeben, das heißt Ein sozialdemokratisches Projekt für Russland. Wie es so schön heißt: Alles, was wir geschaffen oder noch nicht ganz geschaffen haben, es steht alles da drin …
In meiner Familie sagen sie: „Wann gibst du endlich Ruhe?“.
Die gleiche Frage hätte ich auch.
Dazu muss man ein Leben in der Politik gelebt haben, so wie ich es getan habe. Ehrlich gesagt, habe ich mir die Frage auch schon gestellt. Ich denke aber, dass es für mich schlimmer wäre, wenn ich mich aus der Politik zurückziehen würde.
Sie halten sich also für einen Politiker?
Vor allem werde ich als Politiker wahrgenommen. Es gibt bei uns viele, die sich für Politiker halten, obwohl sie gar keine sind.
Wie kam es dazu, dass ein großer Teil Ihrer Familie jetzt nicht mehr bei Ihnen lebt?
Die haben alle hier gelebt, in Moskau. Dann hat Irina [die Tochter Gorbatschows – dek] zum zweiten Mal geheiratet. Andrej Truchatschow. Und der arbeitet [in Deutschland] in der Wirtschaft: Logistik, Transporte. Er gefällt mir, er ist ein guter Kerl. Aber er muss vor Ort sein. Und als sie [Irina und er] umzogen, zog es alle anderen hinterher, ihre Töchter. Wir haben fast das ganze Geld zusammengekratzt; wir haben ja nur ganz bescheidene Reserven. Aber wir konnten ihnen allen dort, in Berlin, Wohnungen kaufen.
Und Sie wollen nicht dorthin umsiedeln?
Nein, ich ziehe da nicht hin.
Warum? Sie meinen, dass Sie als ehemaliger Präsident nicht einfach übersiedeln können? Dass das unpatriotisch wäre?
Ich will einfach nicht mit Russland brechen!
Ihre Familie aber hat mit Russland gebrochen?
Nein. Sie und mich zu vergleichen … das wär‘ wie Äpfel mit Birnen oder Spatzen mit Stuten.
Ende März 2019 hat die britische Trip-Hop-Band Massive Attack beim sowjetischen Musik-Underground „abgekupfert“: Die Briten gaben bekannt, einzelne Lieder auf Röntgenbildern herauszubringen und so an einer Aktion gegen Zensur teilzunehmen. Tatsächlich war benutzter Röntgenfilm für die Musikliebhaber der Sowjetunion ein beliebtes Material gewesen, auf dem sie dem verbotenen Sound des kapitalistischen Westens lauschen konnten. Vinyl war nicht zu bekommen, Röntgenbilder aber schon – also kopierten die Melomany die wenigen ins Land geschmuggelten Platten darauf: Rock auf Knochen hieß der Tonträger, oder schlicht Knochen. Der Sound war schlecht, dafür konnte man die Röntgenfolien aber zusammenrollen. Dies war beispielsweise bei Miliz-Kontrollen ganz nützlich, denn Hören und Pressen „ideologisch untragbarer“ Musik hatte Strafen zufolge: vom Schulrauswurf bis zum Gefängnis. Noch 1982 startete der Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU Juri Andropow eine Anti-Rock-Kampagne. Rock schien für den ehemaligen KGB-Chef offensichtlich etwas, das sein wichtigstes Ziel gefährdete – den Erhalt der Stabilität.
Der 2018 herausgekommene Film Leto (dt. Sommer) veranschaulicht den staatlichen Umgang mit der Rockszene der frühen 1980er Jahre. Der seit August 2017 unter Hausarrest stehende Regisseur Kirill Serebrennikow drehte eine Art Biopic über die Kultfiguren der damaligen Rockszene: Viktor Zoi und Mike Naumenko. Einige Filmkritiker und Zeitgenossen von Zoi warfen dem Regisseur vor, die musikalische Protestkultur der 1980er Jahre nicht authentisch darzustellen. Wie aber war die Musik der Perestroika?
Repertoire, Aussehen, Bühnenverhalten – alles an der offiziellen sowjetischen Musik Estrada musste von Behörden gebilligt werden. Der Underground lehnte sich schon in den 1960er Jahren gegen diese Orchestrierung auf. Ab den späten 1970er Jahren ging es der musikalischen Protestkultur aber auch darum, mit Rock und Pop das Fundament des Regimes zu erschüttern und Voraussetzungen für politische Veränderungen zu schaffen.
Wenn man Wladimir Rekschanan glaubt, dann hat sie das geschafft: Der Rockmusiker behauptet nämlich, dass Rock der sowjetischen Ordnung ab 1985 am meisten zusetzte – viel mehr noch als etwa Solschenizyns Archipel GULAG.1 Auch der Musikkritiker und Rockpionier Artemi Troizki strich in seinem frühen Standardwerk Rock und Subkultur in der UdSSR die Bedeutung von Rock für die Perestroika heraus.2 Die Musik und der Lebensstil, den sie transportierte, wurden im Lauf der Perestroika von der Gegen- zur Massenkultur.
Kanalisierung des Rock
Bevor es jedoch dazu kam, wurde die „ideologisch untragbare“ Musik verboten und gejagt. Underground aufzuspüren und zu zerstören war offenbar nicht leicht, also versuchten die Behörden auch, ihn in staatliche Bahnen zu lenken. 1980 durften sowjetische Rockmusiker zum ersten Mal bei einer offiziellen Veranstaltung auftreten. Auf einem Festival in Tbilissi trafen sowohl bereits bekannte Bands wie Maschina Wremeni und Aquarium aufeinander als auch solche Exoten wie Sipoli aus der lettischen Stadt Jurmala und Gunesch aus dem turkmenischen Aschhabat.3
Im Jahr darauf gründete man den Leningrader Rockclub. Auch diese Institution war vom KGB kontrolliert und reglementiert. Zu den bedeutendsten Künstlern des Clubs zählten Boris Grebenschtschikow und Mike Naumenko. Kultstatus genossen Viktor Zoi und seine legendäre Band Kino. Auch in Moskau, Swerdlowsk, Ufa und anderen Städten entstanden in den folgenden Jahren Rockclubs.
Doch trotz systematischer Kanalisierungs- und Umerziehungsversuche wurde die dynamische Szene für den KGB gewissermaßen zum Geist, den er rief: Die teilweise Legalisierung führte zur Popularisierung des Rock; schon über das Festival in Tbilissi berichteten sowjetische Medien, was viele wohl als eine Wende empfanden. Außerdem konsolidierten die Behörden gewissermaßen die Szene: Die aus dem Underground geholten Musiker konnten sich zum ersten Mal miteinander vernetzen, was die Entwicklung des Rock vorantrieb. Der einstmals verbotene Sound schien gezähmt, doch fanden viele Musiker auch Schlupflöcher, durch die sie Andeutungen verbreiten konnten.
Aus der Grauzone
Schlupflöcher taten sich auch durch Blat auf: 1987 gründete der Musiker und Produzent Stas Namin im Moskauer Gorki-Park ein Zentrum, in dem er junge Musiktalente betreute. Namin ist ein Enkel des prominenten Parteifunktionärs und stalinschen Ministers für Außenhandel Anastas Mikojan. Mit diesem Status und seinen Beziehungen zur Parteiführung konnte er eine alternative Art der Organisation von Rockmusikern anrollen: Namins halb offizielles Studio im Grünen Theater des Gorki-Parks brachte solche Rockbands hervor wie Brigada S und Kalinow Most. Die bekannteste von allen war Gorky Park – die erste sowjetische Rockband, die im Ausland auftrat.
1989 organisierte Namin das legendäre Peace Music Festival, das oft mit Woodstock verglichen wurde und zu dem solche westlichen Stars wie Ozzy Osbourne, Bon Jovi, Scorpions oder Cinderella kamen. Es fand im Moskauer Olympiastadion vor zehntausenden Zuschauern statt und gilt heute als eine Veranstaltung, die den Eisernen Vorhang erst richtig öffnete. In dieser Atmosphäre und infolge Klaus Meines Besuchen in Namins Zentrum entstand der legendäre Hit der Scorpions Wind of Change, der 1990 veröffentlicht wurde und im Westen als die Hymne der Perestroika gilt.
Hymnen der Perestroika
Die Frage nach der Hymne der Perestroika ist auch im heutigen Russland umstritten. Viele halten Viktor Zois Chotschu Peremen! (dt. „Ich will Veränderungen!“) dafür. 1986 erklang es zum ersten Mal: im Leningrader Rockclub schlug es mit seiner Wut wie eine Bombe ein. Im April 1989 kam es mit dem Album Posledni geroi (dt. „Der letzte Held“) auf den Markt.
Demgegenüber ging das 1986 entstandene Aerobika der 1983 gegründeten Band Alisa einen Schritt weiter: Es forderte keine Veränderungen, es stellte sie fest, „aber nur fast“. Das erste Rock-Video, das im sowjetischen Fernsehen gezeigt wurde, drehte der heutige Generaldirektor des russischen Zentralfernsehens Konstantin Ernst. Er zeichnete eine Atmosphäre der Underground-Ästhetik: Das Video beginnt in einer ranzigen Kommunalwohnung, an der Wand hängt ein Poster von Pink Floyd und aus dem Fernseher ist der Slogan „Es lebe unsere ruhmreiche sozialistische Heimat“ zu hören. Der punkige Protagonist und Bandleader Konstantin Kintschew kommt in Jeans und zerrissenem T-Shirt aus dem Bett, schaut sich im Spiegel an, spuckt auf sein Spiegelbild und verlässt die Wohnung. Lange geht er durch dunkle Kellerräume, bis er auf einer großen Konzertbühne vor zahlreichem Publikum erscheint. Der Text dazu lautet: „Wir können schon fast aufrecht stehen, wir haben schon fast alle Türen geöffnet, wir schreien schon fast nicht mehr SOS, wir hören schon fast auf keine Befehle mehr, es ist fast unmöglich uns [wie Vieh – dek] zu hüten … aber nur fast“. Sein Auftritt wird durch Bilder von Sportparaden der totalitären 1930er Jahre auf dem Roten Platz begleitet, die dann in Aerobic-Übungen umschlagen: Diese liefen zum ersten Mal 1984 im sowjetischen Fernsehen und avancierten alsbald zum begehrenswerten Symbol des US-amerikanischen Lifestyles.
Kurz nachdem Jegor Letow aus der Zwangspsychiatrie entlassen wurde, schrieb er ebenfalls 1986 seinen bekanntesten Hit: Wsjo idjot po planu (dt. Alles läuft nach Plan). Das Lied besteht aus einem psychedelischen Mix aus einander abwechselnden Bildern, entlehnt dem Fernsehprogramm und sowjetischen Losungen. Der Autor bringt darin sarkastisch und voller Stjob seine Unzufriedenheit darüber zum Ausdruck, dass die Veränderungen nur sehr langsam passierten. Ähnlich wie Zoi war Letow eine Legende seiner Zeit. Er dichtete eine Mischung aus Alltagssprache und feingeistiger Philosophie, angereichert mit Mat. Dies, so einige Musikkritiker, sei die eigentliche Sprache des Undergrounds gewesen.
Popsound der Perestroika
Rock mit seinem Freiheitswillen galt als cool, davon wollten auch Popmusiker profitieren. Einige versuchten, die existenzielle Subversions-Ästhetik und die anarchischen Gesten zu übernehmen. Die Grande Dame der Estrada Alla Pugatschowa etwa griff für ihre Liedtexte auf die offiziell verbotenen Autoren wie Marina Zwetajewa und Boris Pasternak zurück. Mit dem Beginn von Glasnost verstieß sie regelmäßig gegen sprachliche Normen, stellte die gewohnten Geschlechterrollen in Frage und machte aus ihrem exzentrischen Privatleben eine öffentliche Performance. Mit dem Lied Ei, Wy tam nawerchu! (dt. Hey, ihr da oben!) appellierte sie schon 1984 an die Machtinstanzen und legte damit einen Grundstein für ihre eigene Subversions-Ästhetik, mit der sie gegen Konventionen des Regimes rebellierte. 1986 trat Pugatschowa mit dem Rockmusiker Wladimir Kusmin bei dem ältesten Popmusik-Wettbewerb Europas in San Remo auf. Die Zusammenarbeit wurde vor allem deshalb als Skandal aufgenommen, weil Pugatschowa eine Affäre mit dem deutlich jüngeren Kusmin hatte.
Alltag und Sexualität
1986 war auch für den sowjetischen Pop eine Zäsur. Die alten Stars der Estrada wurden von der jungen Generation verdrängt. Richtige Furore machten dabei Igor Korneljuk und Igor Skljar. Sie befreiten sich von ideologischen Fesseln und besangen alltägliche Lebenssituationen. So machte sich Korneljuk einen Namen, indem er vom Schwarzfahren in der Tram sang (Bilet na balet, dt. Ticket für Ballett).
Skljar ging noch weiter und kündigte an, dass er einfach so mitten in der Arbeitswoche für ein paar Tage wegfährt (Na nedelku do wtorogo, dt. Für eine Woche bis zum Zweiten). Tunejadstwo (dt. etwa: Müßiggang, Arbeitsscheu und Sozialschmarotzertum) wurde in der Sowjetunion von 1961 bis offiziell noch 1991 strafrechtlich verfolgt, und Freizeit war vor allem dazu da, um sich für die Arbeit zu regenerieren. Mit seinem demonstrativen Hedonismus versuchte Skljar, dieses Konzept zu sprengen – und spielte dabei für die Sowjetunion eine ähnliche Rolle wie es die Gammler der frühen 1960er Jahre für Westdeutschland taten.4
Der Rocksänger Kris Kelmi brach ein anderes Tabu: Sex. Sein Video Notschnoje randewu (dt. Nächtliches Rendezvous) von 1989 schilderte eine Beziehung zu einer Prostituierten und enthielt sehr freizügige Bettszenen. Im Gegensatz zum Video war der Text allerdings eher zurückhaltend und abstrakt.
Die lettische Sängerin Laima Vaikule schlug in dieselbe Kerbe. Sie fiel durch ihren betont maskulinen Kleidungsstil auf und brachte damit eine besondere Note in die Popszene mit ein. Das Duett mit dem homosexuellen Sänger Waleri Leontjew brachte sie für lange Zeit in die Charts.
Nachdem Kelmi, Vaikule und Leontjew das Sex-Thema salonfähig gemacht hatten, griffen es auch zahlreiche Girl- und Boybands auf. Damit explodierte das enge Korsett der sowjetischen Zensur endgültig, und die musikalische Revolution entlud sich in knalligen Musikvideos. So trällerte etwa die sexy gekleidete Solistin der Band Kombinazija darüber, dass russische Frauen vom Sex mit US-amerikanischen Männern träumten und bereit seien, ihr Glück außerhalb der Sowjetunion zu versuchen.
Boybands wie Laskowy mai und die gayfriendly Na-Na brachen bei ihren Konzerten alle Besucherrekorde. Nicht orchestrierte Banner, Interaktionen mit den Zuschauern und emotionale Reaktionen waren bei sowjetischen Konzerten streng verboten. Das Aufheben der Verbote war eine markante Wende und gilt heute als Anfang des Showbusiness.
Freiheit der Liebe und Liebe zur Freiheit
Während ab Mitte der 1980er Jahre Zensur und Konzertverbote allmählich nachließen, etablierten sich neue politische und marktwirtschaftliche Selektionsmechanismen. Es fing die Epoche der „wilden 1990er“ an. Als symbolisches Ende der Perestroika kann vor diesem Hintergrund die Ermordung des Sängers Igor Talkow im Jahr 1991 betrachtet werden. Talkow wurde auf der Bühne wegen krimineller Auseinandersetzungen im Showbusiness erschossen.5 Im gleichen Jahr starb auch der Leader der Band Zoopark Mike Naumenko.
Sowohl Naumenko als auch Zoi besangen in ihren Liedern vor allem die Freiheit der Liebe und die Liebe zur Freiheit. Genau darüber drehte Serebrennikow seinen Film Leto. Diese künstlerische Freiheit sollte man dem Regisseur gewähren. Genauso wie die Freiheit des Standpunkts über die Zeit, in der die sowjetische Musik lernte, „aufrecht zu stehen“. Serebrennikow kündigte kürzlich an, sein nächstes Projekt Alla Pugatschowa zu widmen.
Sowohl an sowjetischen Kinokassen als auch auf dem internationalen Markt war er ein Kassenschlager: Malenkaja Vera, zu dt. Kleine Vera. Gedreht vor 30 Jahren auf dem Höhepunkt der Perestroika – im Sommer 1987 in der ukrainischen Industrie- und Hafenstadt Mariupol – zeigt der Film eine freche, autoritätsverweigernde junge Generation kurz vor dem Zusammenbruch eines ganzen Gesellschaftssystems. Spürbar ist die neu aufgekommene Ästhetik des Kinos seinerzeit, die tschernucha, eine Schwarzmalerei, die der trostlosen sowjetischen Provinz ihren Akzent verleiht. Die rebellische Vera, die versucht dort auszubrechen, um ihren Platz zu finden, war auch deshalb ein Kinoereignis, weil erstmals in einem sowjetischen Film eine Sexszene offen gezeigt wurde. Die Hauptdarstellerin posierte sogar unter dem Titel From Russia with Love: The Soviets’ First Sex Star Natalya Negoda für den US-amerikanischen Playboy.1
Das Ehepaar Wassili Pitschul (Regie) und Maria Chmelik (Drehbuch) hat mit seinem Debütfilm die Zeichen der Zeit auf paradigmatische Weise konserviert. Und dabei eine Alltagstragödie zwischen keimender Hoffnung und erdrückender Enge geschaffen.
https://www.youtube.com/watch?v=ojJzBYrIM9I
Begleitet von Synthesizer-Musik schwenkt die Kamera über ein Meer von Plattenbauten, hinter denen Fabrikschlote in den verwaschen-graublauen Himmel ragen. Wohnhäuser und Industrieanlagen verschmelzen zu einer spezifisch sowjetischen beziehungsweise sozialistischen Landschaft. Man kennt dieses Setting aus Filmen der 1950er Jahre, nur war es damals positiv konnotiert. Es stand für Arbeit, Leben, Glück und Zukunft.
Die Kamera zoomt an einen dieser Plattenbauten heran und das Bild, das wir uns von diesem urbanen Leben hier machen sollen, konkretisiert sich ganz anders: Vom Balkon fällt der Blick auf einen langsam vorbeifahrenden Güterzug und einen begrünten Innenhof mit einer Kinderschaukel. Die dazugehörigen Geräusche des Ratterns und Quietschens werden leitmotivisch wiederkehren – genauso wie der etablierte Sprachgestus. Der Familienalltag ist durch Brüllen und Heulen gekennzeichnet. Grob und derb geht es zu: „Bekomm’ ich endlich was zu fressen?“ („Ty poshrat-to dasch, net?“), fragt der Vater die Mutter, oder „Ich hätte dich besser abgetrieben!“ („Lutschsche by ja abort sdelala!“) schleudert die Mutter der Tochter zum Ende des Films entgegen.
Malenkaja Vera ist das Porträt einer sowjetischen Arbeiterfamilie, die als der gesellschaftliche Durchschnitt zu verstehen war. Ihr Leben in der Provinz ist voller Frust: Der Vater, ein LKW-Fahrer, betrinkt sich täglich nach der Arbeit mit Selbstgebranntem; die Mutter, eine Textilarbeiterin, ernährt ihre Familie wie eine Besessene; der Sohn Witja hat als in Moskau arbeitender Arzt den Bildungsaufstieg geschafft und wird immer dann gerufen, wenn zu Hause die Situation aus dem Ruder läuft. Dafür verantwortlich ist die 17-jährige Tochter Vera, die aus der Enge der sowjetischen Wohnverhältnisse und Denkstrukturen ausbrechen will und gegen ein vorbestimmtes Leben aus Heirat, Kinder und einem wenig fordernden Beruf rebelliert. Auf der Suche nach Identität und von zwei Männern begehrt, wählt sie den Schurken und stürzt sich dadurch ins Unglück.
Neues ästhetisches Programm
Bei aller Sozial- und Gesellschaftskritik verfolgt der Film vor allem auch ein neues ästhetisches Programm, das für das Perestroika-Kino der späten 1980er und frühen 1990er Jahre kennzeichnend war. Es steht für eine ins Negative und Hässliche gekippte Ästhetik, die alsbald mit dem Schlagwort der tschernucha, auf Deutsch in etwa Schwarzmalerei, bedacht wurde. Die russische Filmkritikerin Natalja Siriwlja verglich diese Ästhetik, die durch die Lockerung der Zensur unter dem Zeichen von Glasnost überhaupt erst möglich wurde, treffend mit der „Entdeckung der Rückseite des Mondes“2. In den Vordergrund wurde gerückt, was bis dahin verborgen gehalten wurde: Dunkelheit dominierte über Licht, Abfall und Schmutz über Reinheit, Marginalität über Norm, Kriminalität über Rechtschaffenheit, Wollust und Körperlichkeit über hehre Gefühle.
Der Vater, gespielt von Juri Nasarow
In diesem Licht steht allein schon die bemerkenswerte Darbietung der Eltern in Malenkaja Vera: Die sonst in anderen Filmen ebenmäßig-schönen Gesichter von Ludmila Saizewa und Juri Nasarow erscheinen hier fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt – er mit seinen „boshaften, scharfen Augen“ und seinem „knittrigen Gesicht“, sie mit strengen Dauerwellenlöckchen und einem „permanenten, stumpfsinnigen Ziegenblick“3.
Es ist ein inszeniertes und dennoch realitätsgetreu dargestelltes Leben, und die Kamera tastet Innenräume und Alltagsgegenstände regelrecht ab: von den grün gestrichenen fleckigen Wänden des Studentenheims bis hin zur sowjetischen Küche, die bei aller Beengtheit der Ort des Essens, Trinkens und Kommunizierens dieser Familie wie des sowjetischen Privatlebens insgesamt ist.
Gedreht wurde entsprechend an Originalschauplätzen und nicht im Studio – in einer gewöhnlichen, vom Filmteam angemieteten Wohnung in einer Chruschtschowka am Stadtrand von Mariupol, der Geburtsstadt des Regisseurs in der Ukraine.
Melodrama mit durchschlagendem Erfolg
Was sich anfänglich noch zwischen Komödie und Satire bewegt, wird immer mehr zu einer Alltagstragödie – die insgesamt alle Register eines klassischen Melodramas zieht und damit mainstream-taugliche Kinounterhaltung bietet. Dafür spricht jedenfalls der Erfolg des Films im In- wie im Ausland. In der Sowjetunion sahen den Film, der dort im Oktober 1988 in die Kinos kam, mehr als 50 Millionen Menschen. Damit war der damals 27-jährige Wassili Pitschul der letzte sowjetische Regisseur, der einen derartigen Erfolg für sich verbuchen konnte.
Von zwei Männern begehrt, wählt Vera den Schurken Sergej und stürzt sich ins Unglück
Dazu beigetragen hat zweifelsohne die skandalträchtige einminütige Sexszene, die wie eine Antwort auf den 1986 in Umlauf gebrachten und zum geflügelten Wort gewordenen Ausspruch „In der Sowjetunion gibt es keinen Sex“ („W SSSR sexa net“) wirkte. Für Kino und Fernsehen stimmte diese Aussage jedenfalls, denn Sex- wie auch Gewaltdarstellungen waren bis zur Perestroika-Zeit nicht zugelassen – eine Zensurvorschrift, die für sowjetische wie zum Import zugelassene Filme gleichermaßen galt.
Als Melodrama zeigt sich der Film zudem im „Modus des Exzesses“, wie es Peter Brooks beschrieben hat. Dabei meint „Exzess“ ein Hervortreten der aufgestauten dramatischen Konflikte nicht nur innerhalb der Handlung, sondern auch auf formaler Ebene, also bei Dekor oder Musik.4 Dies trifft besonders auf die Besäufnisse des Vaters zu, aber auch auf die innerfamiliären Schreiduelle sowie auf das ekstatische Lachen der jungen Vera und ihr freches Auftreten – mit ihren Netzstrümpfen, ihrem knallengen Mini, toupierten Haar, schnippischen Benehmen und Spaß am Sex.
Rebellen ohne Perspektive?
Die aufbegehrende Vera ist mit ihrem Erwachsenwerden von einem Klima der Gewalt umgeben. Die Jugendlichen haben zwar Fluchtpunkte wie die Freiluft-Disko in der Stadt, doch unterscheidet sich ihr aggressives Sozialverhalten nicht grundlegend von dem der Erwachsenen. Veras Eltern wie auch ihr Bruder stehen paradigmatisch für den Verlust von gesellschaftlichen Vorbildern und Wertvorstellungen.
Vater und Bruder beanspruchen zwar die traditionellen Rollen von Autoritäten, doch sie erscheinen wie Karikaturen. Die Mutter schwankt zwischen rigider Moral und sozialem Kalkül (wissend, wer der richtige Mann für die Tochter ist) und füllt gleichzeitig die Rolle einer unterwürfigen Ernährerin aus, die allen permanent das Selbstgekochte und Eingemachte aufzwingt. Eine Flucht aus den innerfamiliären und gesellschaftlichen Zwängen erscheint illusorisch, weil das Individuum nicht losgelöst von der Gesellschaft existiert.
Filme mit unangepassten Helden, die jugendliche Rebellion, das war einmal eines der großen Themen des US-amerikanischen und europäischen Kinos der 1960er Jahre. Filme mit James Dean oder Jean-Paul Belmondo erlangten Kultstatus. Für diese Rebellion gab es im sowjetischen Kino der Tauwetterzeit keine Entsprechung – bei aller Innovation und den ästhetischen Impulsen, die auch vom sowjetischen Film in dieser Zeit kamen. Das Aufbegehren der Jungen wurde erst zwei Jahrzehnte später medial realisiert.
Die Rebellion in Malenkaja Vera wirkt auch heute noch erfrischend. Damals signalisierte sie Hoffnung auf Veränderung und Freiheit – eine Hoffnung, die in den Folgejahren vielleicht konsequenter eingelöst wurde, als uns das heute scheinen mag.
2.Sirivlja, Natal’ja (2002): Die langen Schatten des Perestrojka-Films, in: Eisensteins Erben. Der sowjetische Film vom Tauwetter zur Perestrojka (1953–1991), Innsbruck, S. 39-45, hier S. 39
In den 1980ern verschlechterte sich die Lage der sowjetischen Planwirtschaft Jahr für Jahr. Aufgrund von Fehlanreizen des Wirtschaftssystems und äußerer Faktoren wie dem Ölpreisverfall waren Konsumgüter oft rar.Als Gorbatschow die Krise ab 1985 durch punktuelle marktwirtschaftliche Reformen überwinden wollte, kam die sozialistische Ökonomie erst recht ins Straucheln.
Die Reformen der Perestroika unter Michail Gorbatschow gingen mit einer ökonomischen Krise einher, allerdings war der Politikwechsel nicht alleine für sie verantwortlich. Der wirtschaftliche Niedergang der Sowjetunion begann bereits unter der Führung Leonid Breshnews in der sogenannten Ära der Stagnation. Das extensive Wachstum der Nachkriegsjahre (mehr Rohstoffe und mehr Arbeitskräfte führen zu gesteigerter Produktion) kam ab Mitte der 1970er Jahre schrittweise zum Erliegen. Dabei wurden die strukturellen Probleme des zentral geplanten Wirtschaftssystems immer deutlicher.
Problematische Entwicklungen der Planwirtschaft
Eines davon war die mangelnde Innovationsfähigkeit. So konnten die USA bspw. ab den 1970ern große Produktivitätsfortschritte durch den Einsatz von Computern erzielen – eine Entwicklung, die in der Sowjetunion kaum Fuß fasste. Die unternehmerische Energie, die die Digitalisierung in den USA bei Pionieren wie Steve Jobs und Bill Gates freisetzte, konnte in der Sowjetunion systembedingt nicht zur Geltung kommen. Intensives Wachstum (gleiche Produktionsfaktoren führen zu mehr oder besserem Output) blieb aufgrund der Fehlanreize der Planwirtschaft aus1.
Außerdem setzte das System der zentralen Planung starke Anreize für die sowjetischen Betriebe und regionalen Parteikader, ihre Statistiken zu schönen und die Bilanzen zu frisieren. So wurden Produktionsmengen in schlechten Jahren aufgebauscht (pripiski) um nicht den zentralen Plan zu verfehlen, und in guten Jahren niedriger ausgewiesen, um eine höhere Zielvorgabe im nächsten Jahr zu vermeiden.
Die Unzuverlässigkeit der wirtschaftlichen Daten veranlassten Gorbatschows Vorgänger Juri Andropow während seiner Zeit als KGB-Chef sogar dazu, eine Art Wirtschaftsgeheimdienst einzurichten, um ein realistischeres Bild der tatsächlichen Lage der Unternehmen zu bekommen. Die staatlich festgelegten Preise hatten gleichzeitig zur Folge, dass die Signale der Nachfrage – welches Gut wie dringend und wo benötigt wird – nicht bis zu den Planern durchdrangen. Die Produktion wich daher von den Wünschen und Bedürfnissen der Bürger ab. Die Wirtschaft wurde vor allem auf die Herstellung von Maschinen und Rüstung und zu wenig auf die Bereitstellung von Konsumgütern ausgerichtet2.
Daneben ist indirekt auch die Ölkrise für die wirtschaftlichen Probleme der Sowjetunion in den 1980ern verantwortlich: In der Zeit der hohen Ölpreise in den späten 1970ern hatte sich die sowjetische Wirtschaft von Ölexporten abhängig gemacht. Die Deviseneinnahmen wurden verwendet, um Maschinen und Nahrungsmittel aus dem Ausland zu importieren. Als der Ölpreis in den frühen 1980ern deutlich fiel, fehlten diese Devisen. Die Sowjetunion häufte Auslandsschulden an und musste ihre Importe reduzieren3. Schließlich belastete den sowjetischen Haushalt, dass die lukrative Alkoholproduktion im Rahmen einer drastischen Anti-Alkoholismus-Kampagne stark zurückgefahren wurde. Gleichzeitig zehrte der Afghanistan-Krieg am Budget.
Gorbatschows Eingreifen
Es war Michail Gorbatschow, der die wirtschaftlichen Probleme der Sowjetunion in einer Rede im Mai 1985 als erster Generalsekretär in der Geschichte der Sowjetunion offen ansprach. Gorbatschows zentrale Forderung führte den Begriff der Perestroika ein und wurde gleichzeitig das berühmteste Zitat des Politikers: „Offensichtlich, Genossen, müssen wir uns alle umstellen [„perestraiwatsja“]. Alle.“
In der Folge versuchte die sowjetische Führung, die staatliche Wirtschaft zu flexibilisieren und durch privatwirtschaftliche Elemente zu ergänzen. Unter der Losung der Beschleunigung (Uskorenije) plante man parallel eine grundlegende Modernisierung aller Produktionsanlagen. Im Juli 1987 wurde es den Unternehmen erlaubt, ihre Produktion dem Bedarf der Abnehmer anzupassen und in der Beschaffung freie Preise auszuhandeln. Den Arbeitern wurde eine stärkere Selbstverwaltung der Unternehmen eingeräumt. Außerdem ermöglichte ein neues Gesetz zu Genossenschaften ab Mai 1988 zum ersten Mal seit den 1920ern in kleinem Umfang private Wirtschaftsorganisationen. Diese konnten durch die Abschaffung des staatlichen Außenhandelsmonopols auch im Ausland Geschäfte machen.
Die Perestroika-Krise
Obgleich zur Stärkung der Wirtschaft eingeführt, brachten diese späten Neuerungen die angeschlagene Wirtschaft nur zusätzlich aus dem Gleichgewicht. Die staatseigenen Betriebe konnten nun über vieles selbst entscheiden, ohne aber die finanzielle Verantwortung für ihre Entscheidungen zu tragen. Die Arbeiter bestimmten de facto ihre eigenen Gehälter, die 1989 und 1990 viermal schneller stiegen als die Produktivität. Um zu wachsen, vergaben viele Banken Kredite ohne eigene Reserven vorzuhalten, da auch ihre Risiken vom Staat getragen wurden. Das Ergebnis waren rapide steigende Verluste bei den Unternehmen, ein schnell wachsendes Haushaltsdefizit4 und galoppierende Inflation in den Jahren 1990 (19 %) und 1991 (200 %).5 Das sowjetische BIP schrumpfte alleine 1991 um 17 %6.
In den letzten beiden Jahren der Sowjetunion wurden zusätzlich Konsumgüter knapp. Das System der Warenverteilung war 1990 zum Erliegen gekommen, da Städte und Regionen aus Sorge vor einer Hungersnot ihre Produktion zurückhielten7. Selbst in den vergleichsweise gut versorgten Großstädten wurden Lebensmittelmarken für einige Produkte wie Seife oder Butter eingeführt. Bis Anfang 1992 die Preise freigegeben wurden, blieben die Regale der Läden oft leer und für Rubel war – außer auf dem Schwarzmarkt – wenig zu bekommen. Die eigentliche Währung dieser Zeit waren Beziehungen, das Wissen, wo es etwas zu kaufen gab, sowie die Ausdauer beim stundenlangen Anstehen.
Gorbatschows Reformen wurden nach dem Zerfall der Sowjetunion häufig mit den Erfahrungen von Goethes Zauberlehrling verglichen. Letztlich war der sowjetische Staat nicht in der Lage, die neu entfesselten Marktkräfte in geordnete Bahnen zu lenken. Trotzdem kann die Perestroika nicht als wirtschaftspolitischer Fehler gesehen werden. Die Planwirtschaft hatte die Sowjetunion über Jahrzehnte in eine ökonomische Sackgasse geführt, die keinen einfachen Ausweg mehr offenließ.
Götz, Roland (1994): Die Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur der UdSSR als Determinante der Perestroika, Köln ↩︎
Inflationsbereinigt fielen die Importe von 45 Mrd. Dollar im Jahr 1980 auf 30 Mrd. Dollar im Jahr 1987: Gaĭdar, E.T. (2007): Collapse of an empire: lessons for modern Russia, Washington, D.C, S. 111 ↩︎
Auch bei staatlich festgelegten Preisen kann es zur Inflation kommen, bspw. wenn billige Güter nicht verfügbar sind und durch teure Alternativen ersetzt werden müssen, oder neue Versionen von Gütern ohne Mehrwert zu einem höheren Preis verkauft werden: Filatochev, I. and Bradshaw, R. (1992): The Soviet hyperinflation: Its origins and impact throughout the former republics, in: Soviet Studies, 44 (5), S. 739–759 ↩︎
Michail Gorbatschow hat in Russland einen denkbar schlechten Ruf. In breiten Kreisen der Bevölkerung gilt er als verantwortlich für den Untergang des sowjetischen Imperiums, eine Einschätzung, die von der derzeitigen Staatsführung durchaus bewusst weiter kultiviert wird.
Anlässlich von Gorbatschows 85. Geburtstag im März 2016 führte das staatliche Meinungsforschungsinstituts WZIOM eine Umfrage durch. Sie ergab, dass zwar 46 Prozent der Befragten einräumten, Gorbatschow habe zum Wohl des Landes handeln wollen, aber auch 47 Prozent der Ansicht sind, er habe nichts Gutes für den Staat getan. Ganze 24 Prozent meinen sogar, Gorbatschow sei ein Verbrecher gewesen, der die Großmacht Sowjetunion bewusst zu Fall gebracht habe.
Sicher ist die Bilanz von Gorbatschows Regierungsjahren eine gemischte, und die Begeisterung, die ihm speziell in Deutschland entgegengebracht wird, lässt sich nicht einfach verallgemeinern. Oft zum Beispiel wird vergessen, dass Gorbatschow zwar beim Zerfall des Warschauer Pakts (und so auch bei den Ereignissen, die zum Fall der Berliner Mauer führten) auf jede Gewaltausübung verzichtete, in der damaligen Sowjetunion aber durchaus für Militäreinsätze gegen die sich verselbständigenden Republiken verantwortlich war, wie etwa beim Vilniusser Blutsonntag.
Vor dem Hintergrund der allgemeinen Stimmung in Russland sind diejenigen Stimmen umso bemerkenswerter, die entgegen dem Mainstream auch die positiven Aspekte seiner liberalisierenden und auf Rechtsstaatlichkeit zielenden Politik würdigen. Zu ihnen gehört der langjährige Kulturredakteur der Zeitschrift Ogonjok (seit 2009: Kommersant-Ogonjok), Andrej Archangelski, dessen letzte Woche auf Slonerschienenen Artikel wir hier wiedergeben. Archangelski, geboren 1974, ist selbst in den Gorbatschow-Jahren in Moskau aufgewachsen und liefert hier ein sehr leidenschaftliches, sehr persönliches Statement zu einem Politiker, der, wie er sagt, seine „Seele gerettet“ hat.
Wenn es um Gorbatschow geht, sagen Leute, die ihn ablehnen, meist: „Was hat er uns denn schon gegeben, euer Gorbatschow?“ Die Frage ist rhetorisch, gemeint ist – dass nichts.
Als Äußerung ist das sehr aufschlussreich, das wichtigste Wort hier lautet: „gegeben“. In der durch und durch materialistischen Konstruktion der Frage „Was hast du mir gegeben?“ wird die Liebe zum Staatsoberhaupt als Menge der von ihm gebotenen materiellen Güter gemessen: Er hat den Menschen separate Wohnungen gegeben, zum Beispiel, oder hat uns billigen Wodka gegeben. Und mag diese Frage auch rhetorisch sein, zum Jubiläum Gorbatschows, der 85 geworden ist, kann man versuchen, sie zu beantworten.
Das Erste und Wichtigste: Gorbatschow hat die Menschen befreit von der Notwendigkeit, zu lügen. Ich bin ein typisches Produkt der Perestroika; als sie begann, war ich in der vierten Klasse. In Mathematik war ich schlecht, die Regeln des Lebens in der Sowjetunion beherrschte ich aber schon gut. Zum Beispiel, dass man nicht nur für Wissen gute Noten bekam, sondern auch dafür, der Lehrerin brav nach dem Mund zu reden. Die vierte, fünfte sowjetische Generation hatte die Fähigkeit „sich im Leben einzurichten“ bereits im Blut, das war ein Instinkt, alle sagten von klein auf ja, waren einverstanden, nickten. In all dem lag eine unerklärliche Trostlosigkeit, doch grundsätzlich war klar: So ist es eben. Punkt.
Gorbatschow hat die Menschen befreit von der Notwendigkeit, zu lügen.
Man musste lernen, seine Gedanken zu verbergen, sich zu verstellen, nicht aufzufallen, Loyalität zu demonstrieren. Auf der Straße das eine sagen, in der Schule was anderes, zu Hause was Drittes – kurz, ein Doppelleben zu führen, wie jedermann. Und da kam Gorbatschow und rettete mich (und viele andere) vor diesem Zwang zur permanenten Heuchelei. Man konnte natürlich weiterhin lügen, doch ab jetzt hatte man die Wahl: Jetzt konnte man auch NICHT lügen. Lügen war nicht mehr lebensnotwendig. Und mehr noch, die Wahrheit zu sagen lohnte sich nun, wenn man das so zynisch ausdrücken will: Nicht die Ähnlichkeit mit anderen, sondern die Andersartigkeit wurde zur Erfolgsgarantie.
Heutzutage ist es schwierig, das zu erklären, aber die Perestroika hat eine enorme menschliche Energie freigesetzt, Millionen verschiedener Talente entfesselt und die Entwicklung von Stärken möglich gemacht. Die fünf Jahre Perestroika waren wie ein ewiger Frühling der Gedanken und Gefühle, fast ein Karneval, in der Tat eine glückliche Zeit: Wenn der Wunsch, nicht zu lügen, nicht nur nicht bestraft, sondern sogar – im Gegenteil – vom Staat gefördert wird.
In Russland ist der Staat überall, alles ist von ihm durchdrungen, er ist und bleibt der Haupterzieher.
Auch der soziale Erfolg hatte zu tun mit der Möglichkeit, die Wahrheit zu sagen, beziehungsweise einfach das, was man dachte. Deswegen bin ich Gorbatschow verbunden was meine Fähigkeiten, meine Berufswahl und meine Karriere angeht. Vor allem aber hat er mich und Millionen anderer vor einer doppelten inneren Buchhaltung bewahrt, vor moralischer Zersplitterung und Zerstörung. Er hat meine Seele gerettet – das scheint mir keine Übertreibung zu sein. Man kann lang und breit darüber reden, dass solche Dinge nicht vom Staat abhängen, aber das stimmt nicht: In Russland ist der Staat überall, alles ist von ihm durchdrungen, er ist und bleibt der Haupterzieher. Auch jetzt spüren die Kinder ganz genau, wie man sich verhalten muss, um Erfolg zu haben. Die Kinder der Perestroika hatten mit dem Staat Glück wie keine andere Generation – im Grunde verlief ihr gesamtes bewusstes Leben „in Freiheit“, damit war in Russland selten eine Generation gesegnet.
In Freiheit, die in Russland gern präzisiert wird: „Freiheit wozu?“, „Freiheit wovon?“ – die aber einfach nur bedeutet: die Möglichkeit zu haben, nicht zu lügen.
In einer totalitären Gesellschaft dient die Sprache nicht zum Reden, sondern dazu, Gedanken zu verbergen.
Noch etwas, was Gorbatschow uns gegeben hat: Er hat den Menschen die Sprache zurückgegeben. Hat den Menschen die Kommunikation wiedergegeben, die Möglichkeit, sich frei zu unterhalten. In einer totalitären Gesellschaft dient die Sprache nicht zum Reden, sondern dazu, Gedanken zu verbergen. Die Sprache des Verschweigens, die Kultur des Verheimlichens war bis zum Jahr 1980 so weit gekommen, dass man mit der offiziellen Sprache, mit der Sprache der Zeitung Prawda nicht einmal die einfachsten Gedanken ausdrücken konnte. Die sowjetische Sprache hatte einen gigantischen Zerfallsprozess erlebt. Das, was bis 1985 gesprochen wurde, war kein Gedankenaustausch, sondern ein Ritual, eine Wiederholung, eine Tautologie, die völlig sinnlos wurde.
Es ist eine erstaunliche Leistung des Totalitarismus, wenn das einzige, was den Menschen vom Tier unterscheidet, nämlich die Sprache, den Menschen stört, anstatt ihm zu helfen. „Schweigen ist Gold“, bekam man bei uns auf Schritt und Tritt zu hören, und das Schweigen wurde zur einzigen ehrlichen Form der Kommunikation. Genau dasselbe geschieht mit der Sprache jetzt wieder. Der Ausdruck „ich habe dich gehört“ ist ein deutliches Indiz dafür, dass diese Stummheit zurückkehrt – Schweigen als Form der Kommunikation.
Bei Hannah Arendt findet sich folgende Beobachtung über Menschen in Deutschland in den 1930ern, die gegen den Totalitarismus immun geblieben waren. Arendt stellt die Frage: Worin unterschieden sich diese Menschen von der Mehrheit? Sie kommt zu dem Schluss, dass etwa hohe Kultiviertheit oder Bildung dabei überhaupt keine Rolle spielen. Die Fähigkeit zum Widerstand haben sich nur Menschen einer bestimmten psychischen Wesensart bewahrt, stellt Arendt fest, jene, die es gewohnt waren, einen ständigen inneren Dialog mit ihrem zweiten Ich zu führen, oder, vereinfacht gesagt, mit ihrem Gewissen. Menschen, die es gewohnt sind, jede ihrer Handlungen mit ihrem inneren Kammerton abzustimmen, können nicht gegen ihn agieren – einfach weil sie damit nicht weiter leben könnten, ihr Gewissen würde sie quälen. Der Jammer ist, so Arendt, dass für die meisten Menschen dieser innere Dialog nichts Unumgängliches ist, beziehungsweise dass sie diese zur Notwendigkeit gewordene Gewohnheit einfach nicht besitzen.
Den Wert der Freiheit erkennen die meisten Menschen ganz offensichtlich nicht.
Die Perestroika – das waren Gespräche, klar, aber das Wichtigste war, dass Gorbatschow das innere Gespräch des Menschen mit sich selbst in Schwung brachte. Gorbatschow gab also den Leuten ihr inneres zweites Ich zurück, ihr Gewissen – beziehungsweise nicht das Gewissen selbst, sondern die Möglichkeit, nach dem Gewissen zu entscheiden.
Den Wert der Freiheit erkennen die meisten Menschen ganz offensichtlich nicht; dabei genießen ausnahmslos alle heutzutage ihre materiellen Vorteile, ihre wirtschaftlichen Folgeerscheinungen: den freien Markt, den Austausch von Waren, die Reisefreiheit. Nein, etwas Materielles hat uns Gorbatschow wirklich nicht gegeben, keine Lebensmittelprämien oder Wohnungen. Aber so ein „Geben“ ist selbst eine zwiespältige Sache: Denn Materielles, das gegeben wird, kann auch weggenommen werden. Der Herr hats gegeben, der Herr hats genommen, das ist ungefähr das Schema, nach dem das Leben heute in Russland wieder läuft. Doch was Gorbatschow uns gegeben hat, kann uns niemand nehmen. Weil es eben keine Sache ist.
Man kann nicht mal sagen, dass er uns „die Freiheit gab“ – das wäre geradezu beleidigend, Freiheit kann man jemandem nicht geben wie einen Rubel, wir haben sie selbst errungen. Doch Gorbatschow hat die Bedingungen dafür geschaffen, vom Leben das Beste zu nehmen und nicht das Schlechteste. Er hat uns die Möglichkeit gegeben, in einem volleren Sinne zu Menschen zu werden, und jeder machte daraus, was seinen Fähigkeiten und Wünschen entsprach. Dass wir dieses offene Fenster zur Freiheit nicht umfassend genutzt haben (wann wird es wohl das nächste Mal offenstehen?), ist wahr. Aber dennoch haben die Menschen, die die neuen Regeln angenommen haben, das Verhältnis zwischen Freiheit und Unfreiheit in Russland grundlegend verändert. Freiheit, das sind jetzt nicht mehr zwei Dutzend in Küchen sitzende Dissidenten, Freiheit ist das Gut von Millionen Menschen geworden. Und diese Menschen nehmen an scheinbar zwecklosen Protestmärschen teil, gehen als Wahlbeobachter in Stimmlokale und wechseln auf der Brücke, auf der Nemzow ermordet wurde, täglich das Wasser in den Blumenvasen.
Gorbatschow hat die Sozialstruktur Russlands verändert, 15 Prozent des Landes (jene, die nicht zu den 85 Prozent1 gehören) – das ist trotz allem schon näher an einem Normalzustand als die sieben Personen, die 1968 auf dem Roten Platz waren. Gorbatschow ist es gelungen, eine Art fragile Balance zu erzeugen, mehr solche Menschen hervorzubringen, denen der innere Dialog mit ihrem zweiten Ich wichtiger ist als der Monolog der Propaganda. Und dank der Energie von vor 30 Jahren sind sie weiterhin da, und möglicherweise hat auch Gorbatschow es dieser Energie zu verdanken, dass er in seinem 86. Lebensjahr steht. Großartige Sache, kann ich nur empfehlen.
1.Gemeint ist die in Umfragen erhobene Zustimmung zur Tätigkeit des Präsidenten oder der Regierung. Wladimir Putin verzeichnet durchgängig Zustimmungswerte von über 60 %, seit Beginn der Ukraine-Krise liegt diese Zahl um 85 %.
Im engeren Sinne bezeichnet Perestroika die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Umgestaltung, die auf Initiative von Michail Gorbatschow ab 1987 in der Sowjetunion durchgeführt wurde. Politische Öffnung und größere Medienfreiheit führten bald dazu, dass sich die Forderungen nach Veränderung verselbständigten – obwohl die Reformen neben viel Hoffnung auch viel Enttäuschung brachten. Die Perestroika läutete einen unaufhaltsamen Prozess des Wandels ein und mündete im Ende der Sowjetunion.
Brot oder Freiheit? Um was ging es den Menschen in der Sowjetunion, als sie die Reformpolitik Gorbatschows begrüßten? Und warum wurde aus dem „Wind of Change“ letztlich ein Hurrikan, der eine Großmacht hinwegfegte?
Es hat sich eingebürgert, von der Zeit der Perestroika (deutsch: Umbau, Umgestaltung) zu sprechen und damit die gesamte Umbruchphase vom sowjetischen System zum neuen russischen Staat zu meinen. Enger gefasst handelte es sich um die Reformpolitik des letzten Generalsekretärs der KPdSU Michail Gorbatschow, die 1986/87 begann und mit der offiziellen Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991 endete.
Michail Gorbatschow wurde am 11. März 1985 im Alter von 54 Jahren zum Generalsekretär gewählt und erlöste das Land von der Herrschaft der alten Männer. Er gehörte zu jenem Teil der sowjetischen Parteiführung, der deutlich erkannte, dass das Land sich in einer schwierigen innen- und außenpolitischen Situation befand. Besonders im Bereich der Wirtschaft waren Reformen nötig. Durch die Beschleunigung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts (uskorenie) und eine verschärfte Disziplin sollte die Produktivität gesteigert werden. Dies griff zu kurz. Im Januar 1987 kündigte Gorbatschow mit den Schlagworten Perestroika und Glasnost (Offenheit, Transparenz, Öffentlichkeit) eine deutlich entschlossenere Umgestaltung an. Die Mitsprache der Bürger sollte erhöht, die Rechtsordnung gestärkt und die Gesetzgebung verbessert werden. Neue Gesetze erlaubten privatwirtschaftliche Unternehmungen, um Impulse für einen wirtschaftlichen Aufschwung zu geben und die Bevölkerung besser mit Lebensmitteln und Verbrauchsgütern versorgen zu können. Im Frühjahr 1989 fanden die Wahlen zu einem Kongress der Volksdeputierten statt, die den Durchbruch für eine demokratische Entwicklung bedeuteten.
Briefmarke zu Glasnost und Perestroika aus dem Jahr 1988
Zunächst noch „von oben“ gesteuerte Medienkampagnen gegen Missstände schufen Raum, immer offener über Probleme des politischen Systems zu sprechen. Dieser Prozess entfaltete eine ungeheure Dynamik und konnte bald nicht mehr kontrolliert oder gebremst werden. Umweltprobleme und ihr verantwortungsloser Umgang damit – die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 war nur ein Beispiel dafür – konnten nun ebenso diskutiert werden wie die Verbrechen der Stalinzeit, Misswirtschaft, Amtsmissbrauch, Korruption und Schwarzmarkt. In den Mittelpunkt der Kritik gerieten zunehmend die Parteiherrschaft und das Machtmonopol der Kommunistischen Partei.
Besonders in den kaukasischen und baltischen Republiken setzten sich Gruppen durch, die stärkere Autonomie oder sogar die Unabhängigkeit von der UdSSR anstrebten. Es kam zu Unruhen und gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Nationalitäten, wie zwischen Armeniern und Aserbaidschanern im Konflikt um die Enklave Nagorny Karabach. Die Balten forderten die Veröffentlichung des geheimen Zusatzprotokolls des Hitler-Stalin-Pakts von 1939 und eine Erklärung über dessen Unrechtmäßigkeit. Schnell stellten die nationalen Unabhängigkeitsbewegungen die Staatlichkeit der UdSSR insgesamt in Frage.
Zu Beginn der Reformen herrschte Euphorie und die Illusion, die Zukunft brächte bürgerliche Freiheiten und westlichen Wohlstand und bewahre gleichzeitig die gewohnten Sicherheiten des Lebens im Sozialismus. Schon 1990 machte sich Enttäuschung breit. Die Versorgungslage verschlechterte sich dramatisch und die Kriminalität stieg spürbar an. Die Popularität Gorbatschows in der Bevölkerung sank. Konservative Kräfte in der Kommunistischen Partei versuchten, den Reformprozess zu bremsen und entschieden sich im August 1991 zu einem Putsch. Dieser scheiterte am Unvermögen der Putschisten, vor allem aber am Widerstand der demokratischen Kräfte und der russischen Regierung unter der Führung von Boris Jelzin.
In den letzten Monaten seiner Präsidentschaft bemühte sich Gorbatschow um die Erneuerung des Unionsvertrages. Die Unabhängigkeitserklärungen eines Teils der sowjetischen Republiken und die Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) kamen dem allerdings zuvor. Am 25. Dezember wurde die rote Fahne der Sowjetunion im Kreml eingeholt und stattdessen die Trikolore des Nachfolgestaates Russland gehisst. Die Sowjetunion existierte nicht mehr. Das Gesellschaftsprojekt Kommunismus fand damit in Osteuropa ein Ende.