Nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland machten sich ab Oktober 1990 viele westdeutsche Fotografen auf, die neuen Bundesländer fotografisch zu entdecken. Michael Kerstgens, 1960 geborener Dokumentarfotograf aus dem Ruhrgebiet und Absolvent der Folkwang-Hochschule (GHS) in Essen, zog es jedoch noch weiter in den Osten. Denn im nationalen Hochgefühl der Wiedervereinigung schien ihm aus dem Blick zu geraten, dass zeitgleich die Sowjetunion im Zerfall begriffen war. Kaum jemand in Deutschland verstand zu diesem Zeitpunkt, was für Spannungen sich tatsächlich hinter Begriffen wie Glasnost und Perestroika verbargen.
Die Fotografien von Michael Kerstgens Serie The Final Winter entstanden im Dezember 1990 – ein Jahr vor der Auflösung der Sowjetunion. Litauen hatte bereits seine Unabhängigkeit erklärt, der Rubel an Kaufkraft verloren und ein Großteil des Wirtschaftsgeschehens hatte sich bereits in den informellen Sektor verlagert, in dem Mafiosi und Oligarchen den Ton angaben.
Eingereist mit einem Touristenvisum und ausgestattet mit einer kleinen Leica-Kamera, zog Kerstgens hauptsächlich zu Fuß durch Moskau. Schwarz/Weiß-Filme, die ohne das Blitzen der Kamera auskommen, erlaubten ihm beiläufige, teilnehmende Aufnahmen.
Die Bildauswahl besteht aus erzählenden wie ästhetischen Bildern. Straßenfotografie trifft auf Porträtaufnahmen. Sie zeigen die Hauptstadt einer Weltmacht im ökonomischen und sozialen Niedergang – Warenmangel, Proteste von Soldatenmüttern und Heime der Miliz, in denen Kinder und Jugendliche festgehalten werden, die beim Stehlen aufgegriffen wurden.
Die Bilder stehen für sich, ohne Titel oder Ortsangaben. Als BetrachterIn findet man sich so in der Position des westlichen Fotografen wieder, der – zum ersten Mal in der Sowjetunion – ohne Sprach- und Ortskenntnisse durch die Stadt flaniert. Geleitet sind die Aufnahmen von Interesse sowohl für den politischen und gesellschaftlichen Wandel als auch für das alltägliche Leben im öffentlichen Raum. Sie fangen eine Stimmung des Nicht-Mehr und Noch-Nicht ein, ein Land in Transformation, kurz vor dem Zerfall – einem Zerfall, der in den sogenannten wilden 1990er Jahren viele der in Kerstgens Bildern angedeuteten Entwicklungen noch beschleunigen sollte.
Imperium, das waren immer die anderen, vor allem die USA: Der Begriff war in der Sowjetunion stets dem „kapitalistischen Westen“ vorbehalten. Unter anderem durch zahlreiche Marketingmaßnahmen russischer Unternehmen bekam der Ausdruck nach dem Zerfall der Sowjetunion eine andere Färbung. So konnte man schon Mitte der 1990er Jahre in der Zeitschrift Imperium des Geschmacks blättern, eine Schönheitssalon-Kette verpasste sich den Namen Imperium des Stils, es gab einen Imperium-Vodka und die Reisebüro-Kette Imperium des Tourismus.
Auf diesen fruchtbaren Boden fiel in den frühen 2000er Jahren auch die Idee von der Wiederherstellung des Imperiums. Nach dem Ende des Kalten Krieges, so hieß es darin, hat sich der Westen als arroganter Sieger aufgeführt: In seinem eitlen Stolz habe er alles darangesetzt, Russland zu demütigen. Russland sei jedoch „von den Knien auferstanden“ und zum alten Glanz des Sowjetimperiums zurückgekehrt.
Der Politikwissenschaftler Sergej Medwedew ist überzeugt, dass diese Erzählung den Menschen in Russland von oben aufgesetzt worden ist. Der Ökonom Sergej Gurijew hat den Preisträger des diesjährigen Pushkin House Prize in seiner Interview-Reihe auf Doshd-TV befragt, die einer der ewigen russischen Fragen gewidmet ist: „Was (soll man denn) tun?“ Was muss man tun, um ein freies und wohlhabendes Russland aufzubauen, und was muss man als Erstes tun, wenn sich eine Gelegenheit für den Wandel bietet? VTimes hat das Interview verschriftlicht, darin erklärt Medwedew, warum er davon überzeugt ist, dass der Aufbau eines normalen und modernen Nationalstaates zum Greifen nahe ist. Und das Rezept dafür, so der Politologe, ist denkbar einfach.
Sergej Gurijew: Sergej, heute wird überall auf der Welt von der Verschiebung globaler Werte hin zu nationalen Identitäten gesprochen. Hat Russland eine besondere Identität, einen Sonderweg?
Sergej Medwedew: Ich bin Konstruktivist, und ich glaube, dass jede soziale Wirklichkeit erfunden ist. Jede nationale Idee, jede Ideologie ist vollständig konstruiert, von einer Elite erdacht und über die Massenmedien verbreitet – und sie lässt sich innerhalb von ein paar, sagen wir zehn, Jahren durchaus verändern.
Sicher, einige Mythen inspirieren die Menschen. Doch das sind keine ewigen Werte, kein Sonderweg – es sind durchsichtige Folien, die Medienleute, PR-Manager, Polittechnologen und Leute aus der Präsidialadministration vor uns drapieren. Bis dieses Tableau wieder abgenommen und durch ein anderes ersetzt wird.
Das Tableau lässt sich also innerhalb von zwei oder zehn Jahren vollständig austauschen? Werden denn die Werte und Identitäten von der Präsidialadministration und von Medienleuten gezielt entworfen? Oder geschieht das als Reaktion auf eine Nachfrage der Gesellschaft?
Das geht von beiden Seiten aus. Sehen Sie sich an, wie sich das Tableau in den letzten 30 Jahren verändert hat: Das Ende der 1980er und der Anfang der 1990er waren geprägt von einer Ideologie der Normalität: „Hinter uns liegen 70 Jahre kommunistischer Finsternis, doch jetzt tritt Russland in die Gesellschaft der zivilisierten Nationen ein, öffnet sich der Welt.“ Das war eine natürliche Reaktion der Gesellschaft, in Kombination mit der wirkmächtigen Publizistik der Perestroika.
Es ist kein Sonderweg – es sind durchsichtige Folien, die Medienleute, PR-Manager, Polittechnologen vor uns drapieren
Auch Putin war ein Produkt dieser Ideologie. Ich kann Putins Worte bei einem Treffen mit Vertrauten nur unterschreiben: Er wurde gefragt, ob Russland eine nationale Idee haben solle. Woraufhin er gereizt erwiderte, offenbar konnte er diese Frage nicht mehr hören, Russlands einzige nationale Idee sei die Wettbewerbsfähigkeit. Das war damals das vorherrschende Paradigma der gesamten Elite und der Bevölkerung.
Später wurden uns allmählich neue Folien drübergelegt: die Idee der Autarkie, der Souveränität, einer souveränen Demokratie. Und dann fällt endgültig der Vorhang – 2014, mit der Annexion der Krim: „Russland muss die imperiale Vergangenheit wiederherstellen, Russland geht einen Sonderweg“, hieß es dann. Das alles geschah innerhalb von 15 Jahren.
2014 zeigte, dass einige Veränderungen im Narrativ auf sehr große Zustimmung in der Gesellschaft stießen. Durchaus möglich, dass nicht einmal Putin mit so einer positiven Reaktion auf die Ereignisse mit der Krim gerechnet hatte. Womit hängt das zusammen? Gibt es gewisse Stereotype im russischen kollektiven Bewusstsein, die vielleicht mit nostalgischen Gefühlen für das Imperium, das Russische Reich, mit den Schulbüchern im Geschichtsunterricht zusammenhängen?
Ich würde das [mit Nietzsche – dek] als Ressentiment bezeichnen, als ein postimperiales Trauma. Alle postimperialen Nationen mussten es durchleben – Großbritannien, Frankreich. Auch Russland hat es während des Ersten und des Zweiten Tschetschenienkrieges durchlebt; bis heute prägt das postkoloniale Erbe das gesamte Denkschema in Bezug auf Tschetschenien.
Die Krim hat unerwartet einen wunden Punkt des kollektiven Bewusstseins berührt und die fortdauernde imperiale Gestalt aufgezeigt.
Gab es ein solches Kränkungsgefühl in den 1990ern? Ich erinnere mich nicht daran
Ich hatte ja gesagt, jede Ideologie sei konstruiert, doch es gibt einige langwährende Modelle, die mindestens zwei, wenn nicht drei Jahrhunderte halten: Nämlich das imperiale Selbstbewusstsein, die imperiale Selbstwahrnehmung: Die Elite und die Massen betrachten sich als Teil eines riesigen territorialen Projekts.
In dieser Hinsicht hinkt Russland furchtbar hinterher. Alle haben sich mehr oder weniger an die postimperiale Weltordnung angepasst, doch Russland will zurück ins 19. Jahrhundert, zurück zum „europäischen Konzert der Großmächte“, zu Gortschakow und zu den großen Erzählungen, als Stalin sich in seiner weißen Jacke mit Churchill und Roosevelt über die Karte beugte, um Europa und die Welt aufzuteilen.
Dieses Gefühl des Ressentiments und der Kränkung wurde von der politischen Elite kreiert. Gab es ein solches Kränkungsgefühl in den 1990ern? Ich erinnere mich nicht daran. Aber nachdem Putin an die Macht kam, etwa Mitte der 2000er Jahre, begann man uns zu erzählen, Russland sei zu kurz gekommen. Die Elite erklärte die Russen zu armen Leuten: „Ihr Lieben seid zu kurz gekommen, die ganze Welt hat euch gelinkt. Wir schotten uns ab und rächen uns an der Welt, die uns missverstanden und nicht akzeptiert hat.“ Das ist eine Ideologie, die von Null auf konstruiert wurde und aus der das Verhältnis zur Krim und dem Rest der Welt erwächst.
Aber das postimperiale Ressentiment ist nicht nur ein russisches Problem. Wie Sie richtig gesagt haben, mussten es viele europäische Länder überwinden, als sie den Nationalstaat errichtet haben. Es gibt auch weniger moderne Staaten wie den Iran, der ein Imperium in seiner Region sein will. Oder die Türkei, deren Präsident die hundertjährige Geschichte leugnet, in der eine säkulare Republik geschaffen wurde, und der eine Variante des Osmanischen Reichs wiedererrichten möchte.
Als Konstruktivist denken Sie sicher darüber nach, wie sich dieses Ressentiment überwinden ließe, wie sich die Debatte hinlenken ließe zum Aufbau eines Nationalstaates ohne imperiale Ambitionen?
Ich denke, der Lauf der Geschichte wird das Ressentiment aufheben. Ein harter Schlag, ein Schlag in die Magengrube, war der Verlust der Ukraine. Diesen Schlag wird Russland wohl nicht so schnell verkraften – vielleicht auch nie. Brzeziński hatte Recht, als er sagte, dass der russische Imperialismus in der Ukraine beginnt und endet, dass Russland aufhört ein Imperium zu sein, sobald es die Ukraine verliert.
Die russische Politik hat zwei Referenzpunkte. Der erste ist Washington, alles, was gesagt oder getan wird, die gesamte Ideologie und alle Auftritte von Sacharowa sind vor allem auf Washington ausgerichtet. Russland misst sich an Amerika.
Die russische Politik hat zwei Referenzpunkte. Der erste ist Washington, der zweite die Ukraine
Der zweite Referenzpunkt ist die Ukraine. Ich sehe das als eine Art Exorzismus, wenn die Dämonen heulend hervorkommen, jedes Mal, wenn die Rede auf die Ukraine, den Donbass oder die Krim kommt. Das sind die Krämpfe eines postimperialen Ressentiments. Dieses Ressentiment wird von den Wellen der Geschichte weggespült. Aber um den hohen Preis des Blutvergießens in der Ukraine, unzähliger vertriebener Menschen, der Bombenangriffe in Aleppo – alles Dinge, die zweifellos als Kriegsverbrechen eingestuft werden müssen.
Gibt es eine zweite Krim? Würden sich die Russen genauso über eine nicht nur symbolische, sondern tatsächliche Angliederung von Belarus freuen? Gibt es noch mehr Hebel wie damals 2014, an denen die russischen Eliten ansetzen könnten?
Ich hoffe nicht. Der Krimsekt ist schal geworden. Belarus ist noch ein Joker, den man aus dem Ärmel ziehen könnte, aber der Effekt wäre deutlich kleiner als nach der Krim.
Heute scheint mir die Geschichte das wesentliche Schlachtfeld zu sein. Nicht nur in Russland, sondern auch im Ausland.
Belarus ist noch ein Joker, den man aus dem Ärmel ziehen könnte, aber der Effekt wäre deutlich kleiner als nach der Krim
Putin hat sich plötzlich zum Historiker Nummer eins erklärt, veröffentlicht Fachartikel und das russische kollektive Bewusstsein empört sich wöchentlich über irgendein Denkmal.
Der Präsident veröffentlicht Fachartikel mit unverkennbaren imperialen Tendenzen, propagiert einen stalinistischen Blick auf die Welt. Das Fernsehen trieft vor Propaganda. Unsere Schulbücher widersprechen dem, was man in den Nachbarstaaten in Geschichte lernt.
Es gibt also zwei Felder. Das erste ist das Fernsehen. Wir konnten wunderbar beobachten, wie die Hass- und Propaganda-Maschine vorübergehend gestoppt wurde, um die Fußballweltmeisterschaft abzuhalten. Plötzlich verwandelten sich die Russen in freundliche Gastgeber.
Das zweite ist eher ein lang angelegtes Projekt: die Geschichtsbücher. Was müsste dort stehen, damit sich die Schüler von heute zivilisiert verhalten, wenn sie in zehn, 20 oder 30 Jahren die Elite der russischen Gesellschaft bilden?
Bei der Fußballweltmeisterschaft haben Sie Recht. Sogar die Russen haben es geglaubt. Viele meiner Freunde schrieben auf Facebook: „Sieh einer an, wir sind normale Menschen, die Polizisten lächeln.“ Doch dann kam der heiße Sommer von 2019.
Geschichte kann nicht aus einem einzigen Narrativ bestehen. Wir sollten uns auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen und die Tatsache anerkennen, dass Russland viele Geschichten hat. Jede Ethnie innerhalb der Russischen Föderation hat ihre eigene Geschichte.
Wir sollten uns auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen und die Tatsache anerkennen, dass Russland viele Geschichten hat
Damit werden wir immer wieder konfrontiert. Wenn beispielsweise die Tataren gegen die Verherrlichung von Iwan dem Schrecklichen protestieren. Für sie ist er ein Aggressor, der den tatarischen Staat zerstört hat.
Ich denke, wir sollten uns darauf einigen, dass mehrere Perspektiven auf die Geschichte im Unterricht behandelt werden müssen.
Es gibt ein Ensemble, eine Sinfonie verschiedener historischer Stimmen, unsere Vergangenheit ist diese hochkomplexe, polyphone Partitur
Geschichte muss in Russland auch die Geschichten der kleinen Völker einschließen, die Geschichten der besiegten Völker, beispielsweise die Geschichte aus Sicht der Tschetschenen. In russischen Schulen muss über die Deportation der Tschetschenen gesprochen werden, über den 200-jährigen Tschetschenienkrieg, über den Imam Schamil.
Die eine Geschichte gibt es nicht – es gibt ein Ensemble, ein Orchester, eine Sinfonie verschiedener historischer Stimmen, unsere Vergangenheit ist diese hochkomplexe, polyphone Partitur.
Wir haben die jahrhundertelange Erfahrung einer erfolgreichen Koexistenz verschiedener Ethnien und Religionen
Außerdem müssen wir das Triumphale aus der Geschichte tilgen, uns von der Idee verabschieden, dass da einst das große Russische Reich war, dessen Nachfolger wir sind. Wir leben in der Vergangenheit, wir gehen vorwärts, doch unser Blick ist nach hinten gewandt. Wir werden ständig stolpern, weil niemand vorwärts gehen kann, wenn er nicht nach vorn schaut. Aber wir schielen auf das Russische Reich und begreifen nicht, dass Russland ein schon fast zerfallenes Imperium ist.
Das Russische Reich erlebte seinen Zerfall in zwei Akten: 1917 und 1991, und jetzt befinden wir uns in der Mitte des komödiantischen dritten Aktes. Im Gegensatz zu anderen großen Imperien ist das Russische Reich immer noch nicht ganz zerfallen. Russland begreift sich bis heute im großen territorialen Paradigma der letzten Jahrhunderte. Ich glaube, Witte sagte einmal: „Ich weiß nicht, was Russland ist, aber ich weiß, was das Russische Reich ist.“ Wir meinen auch heute noch dieses Imperium, wenn wir „Russland“ sagen. Wir schaffen es nicht, Russland als einen Nationalstaat zu denken.
Gerade deswegen ist ein kleinster gemeinsamer Nenner notwendig. Aber welcher könnte das sein? Ist Russland ein europäisches Land? Sind die klassische russische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, das Streben nach Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und Wertschätzung der Bildung ein gemeinsames Fundament, um Russland als einen Teil der europäischen Kultur betrachten zu können? Oder wird auch das von einem Teil der Gesellschaft angenommen und von einem anderen abgelehnt werden?
Letzteres, denke ich. Ich würde mir natürlich wünschen, dass die Bewohner des Fernen Ostens und alle Völker des Kaukasus sagen: Russland ist eine europäische Kultur. Aber ich möchte diese Position niemandem als die einzig richtige aufdrängen. Für mich ist die Multikulturalität der kleinste gemeinsame Nenner – der Dialog der Kulturen, der Ethnien, der Religionen und der gegenseitige Respekt. Wir respektieren die Geschichte des tschetschenischen Volkes und das tschetschenische Volk respektiert die russische Geschichte.
Genau das ist nämlich Russlands Stärke, weil wir die jahrhundertelange Erfahrung einer erfolgreichen Koexistenz verschiedener Ethnien und Religionen haben, die beispielsweise Frankreich fehlt. Wir sehen ja, was in den Banlieues passiert. In russischen Großstädten sind die Vertreter des Islam integriert und bilden keine ethnischen Enklaven. Das ist eine einzigartige Erfahrung, die Russland kultivieren, fördern und in den Rest der Welt tragen sollte.
In russischen Großstädten sind die Vertreter des Islam integriert und bilden keine ethnischen Enklaven. Das ist eine einzigartige Erfahrung, die Russland kultivieren, fördern und in den Rest der Welt tragen sollte
Außerdem braucht die russische Nation für ihren Aufbau ein antistaatliches Pathos. Denn der starke Staat, der Leviathan, war immer Russlands Rettung und Russlands Verhängnis zugleich. Russland war nicht nur ein Imperium, Russland war auch ein riesiger halbmilitaristischer Staat, der während der Putin-Ära in all seiner mittelalterlichen Pracht wieder zum Leben erwacht ist.
Es gibt zwei Hürden, die Russland den Weg in die Moderne versperren: das Imperium und der Staat. Und gerade das sind die beiden wesentlichen Klammern des Putinismus.
Wir haben Angst vor dem Staat, vor diesem ehernen Reiter, der über die gefluteten Weiten unserer Heimatstadt galoppiert. Überall wittern wir staatliche Interessen und fühlen uns ihnen unterworfen.
Sie haben Recht, wir haben Angst vor dem Staat. Wir vertrauen ihm nicht. Auch unsere Lust, gegen das Gesetz zu verstoßen, rührt daher, dass der russische Bürger im letzten Jahrhundert eines mit Sicherheit wusste: Das Gesetz ist nicht gerecht. Weil es von oben kommt und nicht aus einem demokratischen Konsens hervorgeht. Aber es kann keine moderne Gesellschaft ohne Rechtsstaatlichkeit, ohne Vertrauen in die staatlichen Institutionen geben. Wie können wir dieses Vertrauen schaffen?
Dieses Vertrauen entsteht über funktionierende Institutionen. Die gab es in Russland bereits. Wir haben gesehen, wie Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre allmählich eine Infrastruktur des Rechts entstand und auch funktionierte, bis die Rechtsinstitute von der administrativen Vertikale und all der politischen Bürokratie entmachtet wurden.
Ich würde gern über Vertrauen sprechen, nicht nur das Vertrauen zum Staat, sondern auch zueinander. Das fehlende Vertrauen, so scheint mir, versperrt der russischen Gesellschaft den Weg in eine erfolgreiche Zukunft. Zynismus ist heute ein wesentliches Instrument, mit dem die russische Elite das Volk manipuliert. Deswegen sagen die Menschen Dinge wie: „In unserem Land wird es nie etwas Gutes geben, weil wir schlechte Menschen sind und einander nicht vertrauen. Die Hoffnung, dass wir eine erfolgreiche, prosperierende Gesellschaft werden, können wir gleich vergessen.“ Was kann man diesem Zynismus entgegensetzen? Wie bringt man die Menschen dazu, einander zu vertrauen?
Sie haben Recht … In seinem Buch Trust bezeichnet Francis Fukuyama das Vertrauen als Grundlage des Humankapitals. Die Kapitalisierung eines Landes bemisst sich nicht am Bruttosozialprodukt, sondern am Vertrauen, das einen viel größeren Wert hat als die Wirtschaftsgüter. Auch der amerikanische Kapitalismus basiert, wie auch jedes erfolgreiche Unternehmen, auf Vertrauen, wie es das zum Beispiel zwischen den Protestanten oder den russischen Altgläubigen gab.
Dass bei uns das Vertrauen fehlt, beweisen die Zäune: Russland ist kein Land der gemeinschaftlichen Sobornost, sondern ein Land der massiven Sabornost, ein Land der Zäune [Sabornost]. Eine Fahrt über die Rubljowka ist eine Fahrt durch einen Tunnel aus massiven Zäunen.
Dass bei uns das Vertrauen fehlt, beweisen die Zäune: Russland ist ein Land der Zäune
Vertrauen beginnt mit den Institutionen, genauer gesagt mit der Transparenz von gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen, mit ihrer Auskunftsbereitschaft, Rechenschaft und Verantwortung. Mit einer fairen, unbestechlichen, transparenten Justiz, mit Rechtsinstituten. Damit, dass der FSB seine Archive öffnet, dass Finanzströme transparent gemacht werden, die derzeit alle unter Verschluss sind. Damit beginnt Vertrauen – es geht nicht darum, dass wir einander lächelnd in der Metro grüßen, obwohl das natürlich auch schön wäre. Die Institutionen schaffen oder vernichten das Vertrauen, sie erzeugen diese Muster des Zynismus, des Misstrauens und des Hobbschen Kampfes aller gegen alle.
Wir haben viel über das Imperium gesprochen, vielleicht wäre es noch wichtig, über die Dekolonisation zu sprechen. Was müssen wir tun, damit Russland aufhört, Teile seines Landes oder die Nachbarstaaten als Kolonien zu betrachten?
Lernen und die Welt mit offenen Augen betrachten, das müssen wir tun. Es ist doch befremdlich, wenn Leute, die deine Ansichten zur Ukraine und der Krim teilen, plötzlich explodieren, wenn es um Black lives matter, Greta Thunberg oder um Me too geht. Ich möchte das alles auf einen Nenner bringen, denn das alles sind Anzeichen der Dekolonisation.
Es ist doch befremdlich, wenn Leute deine Ansichten zur Krim teilen, aber explodieren, wenn es um Black lives matter, Greta Thunberg oder um Me too geht
Wir leben in einem durch und durch kolonialen Diskurs. Er besteht nicht nur darin, dass Russland den Kaukasus erobert und Sibirien kolonisiert hat. Sondern auch darin, dass die Macht in den letzten Jahrhunderten bei den Männern, den Weißen, den Bewaffneten, den Erwachsenen lag. Diese Machtverhältnisse geraten jetzt ins Wanken. Und das passt vielen nicht.
Die Lösung wäre also eine Anerkennung der Pluralität und die Dekolonisation. Die moderne Demokratie ist genau das Instrument, das den Menschen dabei hilft, sich zu einigen. Wenn wir vernünftige, moderne, politische Institutionen schaffen, schaffen wir auch die Grundlage dafür, dass Russland ein normaler Nationalstaat wird und von seinen imperialen Eskapaden Abstand nimmt. Es gibt keine besondere Politik der Dekolonisation, es braucht nur den Aufbau eines normalen, modernen Staates.
Genauso ist es. Dafür müssen die Institutionen gut funktionieren. Sobald sie es tun, lösen sich die Probleme zwischen Russland und Tschetschenien, zwischen Männern und Frauen, die Frage nach dem tatarischen Sprachunterricht in den Schulen und vieles mehr.
Die Dekolonisation ist kein Import aus dem Westen, der der eigenständigen russischen Kultur aufgedrängt wird, sondern ein weltumspannender Prozess des 21. Jahrhunderts, bei dem Russland, wie so oft, hinterherhinkt.
Die Dekolonisation ist kein Import aus dem Westen, der der eigenständigen russischen Kultur aufgedrängt wird, sondern ein weltumspannender Prozess
Gaidar sprach in seinen Büchern von einer 40- bis 50-jährigen Verspätung, mit der Russland bei den wesentlichen kulturellen Errungenschaften ankommt. So ist es auch jetzt: Russland steht jetzt da, wo der Westen in den 1960ern war, und versucht nun mit denselben Herausforderungen fertigzuwerden.
Bleibt nur zu hoffen, dass Russland aus der Erfahrung der anderen Länder lernt und diesen Weg schneller zurücklegt.
Ja, die Normalität ist viel näher, als wir glauben, wir müssen nur das Denken in Stereotypen ablegen und die Hand nach der Normalität ausstrecken – und nach den Menschen, mit denen wir leben.
In Deutschland wurde Regisseur Ilja Chrshanowski bekannt, als er 2018 für die Premiere seines Filmprojekts Dau die Berliner Mauer temporär wieder errichten wollte. Das Projekt scheiterte, zwei Dau-Filme wurden in Deutschland schließlich im Februar 2020 auf der Berlinale gezeigt, ohne wiedererrichtete Mauer. Aber auch in Russland und in der Ukraine polarisiert der international erfolgreiche Künstler und Filmemacher, der derzeit an einem Konzept für das Museum von Babyn Jar arbeitet, wo 1941 knapp 33.000 Jüdinnen und Juden von den Nationalsozialisten ermordet wurden. Im Interview mit Meduza spricht Ilja Chrshanowski über seine Kindheit unter Künstlern und Dissidenten, über „sowjetischen Geruch”, den die russische Gesellschaft bis heute ausströme, und das Museum als Ort einer emotionalen Erfahrung.
Meduza: Erzählen Sie von Ihrer Familie und der Umgebung, in der Sie aufgewachsen sind.
Ilja Chrshanowski: Geboren bin ich in der Familie des Filmregisseurs Andrej Chrshanowski und der Philologin Maria Nejman. Ich war ein spätes Kind, für sowjetische Verhältnisse sogar extrem spät – meine Eltern waren 35 und 36 Jahre alt. Und offenbar hatten sie so lange auf mich gewartet, dass sie sich dann nicht mehr von mir trennen wollten und mich überallhin mitnahmen – was für mich natürlich ein absolutes Glück war. Das war mir schon damals klar, aber jetzt schätze ich das noch mehr. Weil ich die ganze Zeit mit meinen Eltern verbrachte, hatte ich bis 13 praktisch keine eigenen Freunde, sondern war vor allem mit den Freunden meiner Eltern befreundet. Wenn ich heute auf diese Situation zurückblicke, verstehe ich es als riesiges Geschenk, von diesen wunderbaren Menschen umgeben zu sein, etliche von ihnen wahre Größen ihrer Zeit, und dadurch habe ich eine andere Beziehung zu Zeit.
Ich war vor allem mit den wunderbaren Freunden meiner Eltern befreundet
Mein Taufpate, der Schriftsteller Sergej Alexandrowitsch Jermolinski, wurde 1900 geboren. Schon als Kind wollte er Schriftsteller werden und schrieb einen Brief an Lew Tolstoi, der, wie Sie wissen, ziemlich viele Briefe bekam. Doch Tolstoi antwortete ihm und erklärte dem 10-Jährigen lang und breit, warum er doch besser kein Schriftsteller werden solle, was das für eine schwere und schwierige Arbeit sei. Trotzdem wurde Sergej Alexandrowitsch Schriftsteller und einer der ersten sowjetischen Drehbuchautoren. Viele Jahre lang war er eng mit Bulgakow befreundet. Das alles wurde ihm zum Verhängnis: Er wurde verhaftet, man verlangte von ihm, Bulgakow zu denunzieren, gegen seine Freunde auszusagen, doch er unterschrieb nichts und lebte noch sehr lange. Er und seine Frau Tatjana Alexandrowna Lugowskaja, die Schwester des Dichters Wladimir Lugowski, waren mit meinen Eltern befreundet. Im Haus von Jermolinski und Lugowskaja wurden gern Feste gefeiert – Namenstage und Geburtstage, dort fanden sich immer illustre Gäste ein: die Kulturszene und die echte Intelligenzija jener Zeit.
Ihre Begegnung mit dem Millionär Sergej Adonjew – ist das die Fortsetzung einer Reihe von nützlichen und wichtigen Bekanntschaften, die in Ihrer Kindheit begonnen hat, oder ist das eine eigene Geschichte?
Na ja, das Leben nahm seinen Lauf, und man begegnet verschiedenen Menschen unter unterschiedlichen Umständen. Sergej Adonjew lernte ich zufällig kennen. Mein Freund, der Restaurantbetreiber Iljuscha Demitschew, der seit ein paar Jahren in London lebt und dort fabelhafte Restaurantprojekte vorantreibt, hat im Wissen, dass es bei dem Film Dau Finanzierungsschwierigkeiten gab, einer gemeinsamen Bekannten davon erzählt – Uljana Zejtlina. Und die wiederum hat Sergej Adonjew getroffen, und als im Gespräch der beiden das Thema Kunstförderung, Kulturförderung aufkam, erzählte sie ihm von Dau. Sergej sagte, er habe den Film 4 gesehen, der habe ihm gut gefallen und er wolle mich kennenlernen.
Sergej Adonjew unterstützt einzigartige Projekte – und die Leute, die mit ihm arbeiten, gewinnen obendrein Inspiration aus dieser Beziehung
Sergej ist ein außergewöhnlicher, geradezu genialer Mensch, dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Denn ich habe in meinem Leben schon viele Genies gesehen, Gott sei Dank, als Kind, aber auch als Erwachsener. Sergej hat eine enorme persönliche Gabe, diese Welt zu sehen und zu spüren. Er ist ein einflussreicher Mann und hat einen besonderen Einfluss. Er wirkt auf das Bewusstsein der Menschen, die in seine Nähe kommen. Das Leben dieser Menschen verwandelt sich dann irgendwie, verändert sich. Dass Sergej über Geldsummen verfügt, ohne die Dau und viele andere Kulturprojekte in Russland undenkbar wären, ist gar nicht das Entscheidende. Er unterstützt einzigartige Projekte – und die Leute, die mit ihm arbeiten, gewinnen obendrein Inspiration aus dieser Beziehung. Ich bin überzeugt, dass wir uns der Bedeutung von Sergejs Einfluss auf die heimische Kultur in Zukunft noch bewusst werden.
Führen Sie Ihre Zusammenarbeit mit Adonjew also auf einen Zufall zurück und nicht auf die Tatsache, dass Sie in bestimmten Kreisen reicher Menschen verkehrten?
Natürlich, weil ja die Intelligenzija, wie Sie wissen, nie Berührungspunkte mit der Welt der sogenannten Reichen hatte. Schon zu Tschechows Zeiten wurden Geschäftsleute von der Intelligenzija verachtet, und in der Sowjetunion wuchs sich der Spalt zwischen Intelligenzija und Geschäftswelt zu einem Abgrund aus.
Was hat Sie an der Persönlichkeit Lew Landaus so beeindruckt, dass Sie beschlossen, ihm einen Film und in weiterer Folge ein ganzes Projekt zu widmen? Kann man sagen, dass die Zeit, in der die Handlung von Dau angesiedelt ist, 1938 bis 1968, gewissermaßen eine wichtigere Rolle spielt als die Figur Landaus?
Es fügte sich alles ineinander: Mich hat schon immer das Phänomen des sowjetischen Bewusstseins interessiert, des sowjetischen Menschen, des sowjetischen Genotyps. Nach der Katastrophe des Jahres 1917 wurde ein bestimmter Genotyp des Sowjetmenschen entwickelt, dem wir alle mehr oder weniger angehören. Wenn man sich dessen nicht bewusst ist, ist es schwer, damit umzugehen und – wie ein berühmter Schriftsteller es nannte – Tropfen für Tropfen diesen Sklaven aus sich herauszupressen. Anders schafft man es nicht, ihn aus sich herauszupressen. Man darf nicht so tun, als hätte man ihn nicht in sich. Ich finde das Thema des sowjetischen mentalen Sklaventums sehr interessant.
Man darf nicht so tun, als hätte man man den sowjetischen Sklaven nicht in sich
Hinzu kommt der Eindruck, den Landau bei mir als Kind hinterlassen hat, als ich ein Buch über ihn las, und später als Jugendlicher die Memoiren seiner Frau Kora. An alldem faszinierte mich in erster Linie dieser absolut freie und interessierte Mensch, der sein Leben abgesehen von der Wissenschaft der Frage widmete, was Glück ist und wie das Glück des Einen das Unglück des Anderen sein kann. Landau war ein Mensch, der alles hatte, von Kind an wusste er, dass er ein Genie war, und auch alle anderen wussten, dass er ein Genie war. Er war immer sehr erfolgreich – bis auf eine dramatische Episode, wo er ein Jahr im Gefängnis saß, aber auch daraus wurde er befreit, konnte sich retten. Er wurde von den Frauen geliebt und von allen bewundert. Was ist Glück für so einen Menschen? Was ist Freiheit für so einen Menschen, für so einen Persönlichkeitstyp? Das war der Ausgangspunkt. Doch dann kamen wir davon ab, Landaus Biografie zu verfilmen, weil es unmöglich ist, einen historischen Film zu machen, ohne ihn sich auszudenken, und wir wollten ihn uns nicht ausdenken, wir wollten ihn gewissermaßen herausbilden. Deswegen gibt es in diesem Projekt zwar einige Motive aus dem Leben Landaus und anderer Physiker, doch hat das alles nichts zu tun mit ihnen.
War Ihre Familie vom Stalinistischen Terror betroffen?
Natürlich. Es gibt keine Familie, die nicht betroffen war.
Das passierte auf verschiedene Arten. Wurde Ihre Wahrnehmung der damaligen Zeit innerhalb der Familie geprägt oder waren es die unzähligen Freunde Ihrer Eltern, die Ihnen ihre Erinnerungen mitgeteilt haben?
Ich habe bereits meinen Taufpaten erwähnt, der inhaftiert gewesen war und sein Leben lang Angst vor der Polizei hatte. Und mein Vater hat eben jahrelang nicht gearbeitet, weil man ihm das verboten hatte. 1968 machte er den Film Die Glasharmonika und fuhr damit just an dem Tag, an dem unsere heldenhaften Truppen in der Tschechoslowakei einmarschierten, zu Goskino. Mit dem Ergebnis, dass der Film verboten wurde. Sie stellten ihn ins Regal, die erste Version vernichteten sie einfach, indem sie sie im Hinterhof des Filmstudios mit einer Axt in Stücke schlugen. Und Papa schickten sie, „damit er das Volk näher kennenlerne“, für zwei Jahre zur Marineinfanterie an Kampfschauplätze. Und das waren schon eher vegetarische Zeiten. Die Brüder meiner Großmutter, der Mutter meines Vaters, saßen an die 20 Jahre in sowjetischen Gefängnissen.
Die Angst vor dem KGB war immer Teil des Lebens der Intelligenzija
Meine Großeltern sind in der Kommunalka gestorben, in der nebenan Spitzel wohnten, Amateurspitzel oder tatsächliche Sicherheitsbedienstete von Stalin. Mein Großvater ist niemals irgendwelchen Vereinigungen von Künstlern, Schauspielern oder Theaterleuten beigetreten, zu denen er eingeladen wurde, weil er mit dem sowjetischen System nichts zu tun haben wollte. Er hatte bei Filonow, Malewitsch und Petrow-Wodkin gelernt und war ein absolut freier Mensch, aber eben frei auf dem abgesteckten Gebiet seines persönlichen Lebens und seiner Seele. Wir alle sind mit diesem Leben fest verbunden. Ich weiß noch, wie sie mir als Kind auf der Straße den Ermittlungsbeamten Chwat zeigten, der Meyerhold gefoltert hat. Und wir alle kennen Meyerholds berühmten Brief, in dem er beschrieb, was sie im Gefängnis mit ihm machten. Ein sehr enger Freund meines Großvaters war Erast Pawlowitsch Garin, ein Lieblingsschüler von Meyerhold, der sein Leben lang litt und die Tragödie um Meyerhold nicht überwinden konnte. Die Angst vor dem KGB in seinen verschiedenen Ausformungen war immer Teil des Lebens der Intelligenzija.
Wie ist der Genotyp des Sowjetmenschen, den Sie mit Dau erforschen, entstanden und wie hat er sich etabliert?
Er ist über all die Jahre hindurch herangereift. Das ist ein langer Prozess – das ist ja das Entsetzliche. Nazideutschland existierte nur 13 Jahre, und sie sind noch immer damit beschäftigt, es hinter sich zu lassen. Die Sowjetmacht war 70 Jahre am Ruder. Bürgerkrieg, Repressionen, Terror, Emigration, Großer Terror, Zweiter Weltkrieg, wieder Terror, Emigration, Emigration – alles Gute in diesem Land wurde vernichtet, es war ein Genozid am eigenen Volk. Diejenigen, auf die unsere Kultur jetzt stolz ist, wurden in diesem Land vernichtet und misshandelt: Denken Sie nur daran, wie Sacharow gejagt wurde, was mit Solshenizyn passierte, wie Anatoli Efros gehetzt und hereingelegt wurde, wie Pasternak, Achmatowa, Soschtschenko, Sabolozki und viele andere sekkiert wurden, was sie mit Schostakowitsch machten, dass der Arme sogar zum Parteibeitritt gezwungen wurde, in so einer Angst lebte er und freute sich noch, dass sie ihn nicht einsperrten. Und wer hat all diese Schriftsteller und Künstler angeschwärzt? Ihre Kollegen! Und genau das ist der Genotyp. Das haben nicht irgendwelche anderen Leute gemacht, das haben dieselben Leute gemacht, die dann überlebten und stolz waren auf ihre Errungenschaften. Das ist alles ein Teil unserer gemeinsamen Geschichte, des Leids und des Traumas. Und dieser sowjetische Geruch ist noch nicht verschwunden, wir riechen immer noch danach, strömen ihn aus. Und um ihn loszuwerden, müssen wir verstehen, was da war. Dau ist ein Teil der Erforschung dieses Genotyps.
Sie haben die Arbeit an Dau mit 30 Jahren begonnen und waren die nächsten 15 Jahre mit diesem Projekt beschäftigt. Generell ist das eine der aktivsten und produktivsten Phasen im Leben eines Menschen. Hätten Sie diese Jahre besser verbringen können?
Nein, besser hätte ich sie nicht verbringen können. Ich bin absolut glücklich über die Möglichkeit, dieses Projekt zu machen, wie schwierig es auch sein mag, welche Reaktionen es auch immer hervorgerufen hat und welche Schwierigkeiten es mitunter in mein Leben bringt. Es ist ein absolutes Glück, dass mir die Möglichkeit zuteil wurde, dieses Projekt zu machen, dass mir das Glück zufiel, die Menschen zu treffen, mit denen ich dieses Projekt gemeinsam gemacht habe. Zum einen war es eine große Mühe, zum anderen ein großes Glück.
Der sowjetische Geruch ist noch nicht verschwunden, wir riechen immer noch danach, strömen ihn aus
Und ich bin mir sicher, dass es, egal wie es jetzt aufgenommen wird, ein langes Leben haben wird. Es wird eine gewisse Bedeutung haben für jene, die etwas erfahren wollen über das Leben, über die Zivilisation, über die Mechanismen, in denen wir heute leben.
Wer hat Ihnen angeboten, das Projekt des Museums Babyn Jar zu leiten und warum?
Von diesem Projekt hat mir Michail Fridman erzählt. Und ich war eine der Personen, mit denen die Mitglieder des Aufsichtsrats besprachen, wie man diese tragische Geschichte erzählen und emotional vermitteln kann, welche Sprache es dafür braucht. Diese Geschichte ist mir nicht fremd. Im Leben jeder beliebigen zur Intelligenzija gehörigen Familie, erst recht in jeder jüdischen, war Babyn Jar nicht nur eine Tragödie aus Kriegszeiten, sondern auch ein anschließendes Drama – nämlich aufgrund dessen, was mit Leuten passiert ist, die das Gedenken dieser Tragödie aufgreifen wollten. Der Schriftsteller Viktor Nekrassow etwa war einer, der damit begann, sich für dieses Gedenken einzusetzen, und so wie viele andere musste er dafür büßen. Übrigens, der Vorsitzende unseres Aufsichtsrats, [der Bürgerrechtler] Natan Schtscharanski, wurde erstmals auf dem Weg zu einer Kundgebung im Rahmen von Babyn Jar verhaftet.
Meine Mutter wurde in der Ukraine geboren, überlebte durch ein Wunder den Holocaust, und auch ich war einige Zeit in der Ukraine, für mich ist das kein fremdes Land. Deswegen habe ich, wie mir scheint, das Recht, dieses Projekt in Augenschein zu nehmen, mir Gedanken darüber zu machen. Zuerst fuhr ich dort allein hin, dann auf Einladung des Aufsichtsrats zusammen mit einem hervorragenden Schriftsteller, dem Autor des Romans Die Wohlgesinnten, Jonathan Littell, um das Projekt genauer kennenzulernen und zu besprechen, wie es weitergehen soll. So begann mein regelmäßiger Kontakt zu Mitgliedern des Aufsichtsrats.
Und dann begann eine Art freies Gespräch, in welche Richtung sich das Projekt entwickeln könnte: Wie kann man ein Museum gestalten, das die Leute auch in 20, 50 und in 100 Jahren Jahren sehen wollen – wie seltsam das in Bezug auf einen derart tragischen Ort auch klingen mag –, um etwas zu klären und zu entdecken über sich selbst, für sich selbst, sich selbst zu erlauben, durch den Schmerz zu gehen. Schmerz und Leid sind nicht unbedingt ein sadistischer, quälender Akt, wie das in der physischen Welt so ist. Die Bereitschaft, Anteil zu nehmen an fremdem Schmerz und fremdem Leid, ist ein Weg zu seelischer Gesundheit, darauf bauen zumindest die meisten Religionen der Welt auf.
Im Leben jeder beliebigen zur Intelligenzija gehörigen Familie war Babyn Jar nicht nur eine Tragödie aus Kriegszeiten, sondern auch ein anschließendes Drama
Allmählich gab es immer mehr Gespräche, ich redete mit anderen Kulturschaffenden, Künstlern, Philosophen über das Projekt. Dann stellte sich uns noch eine Frage: Was wird das Museum in Zukunft darstellen? Wenn man davon ausgeht, dass es in fünf, sechs Jahren gebaut wird, dann ist es in 30 Jahren immer noch ein neues Museum. Und schon jetzt muss man eine Sprache finden, die in der Zukunft gehört wird und aktuell ist. Unser Ziel war es, ein lebendiges Denkmal zu schaffen, nicht ein Denkmal im sowjetischen Sinn dieses Wortes.
Warum dieses Projekt Sie interessiert und Ihnen wichtig ist, ist klar, aber warum hat Michail Fridman Sie ausgewählt? Kannten Sie ihn schon?
Mich hat nicht Fridman ausgewählt, sondern der Aufsichtsrat. Ja, wir kannten uns. Um genau zu sein, hat Fridman sich an mich gewandt. Und davor hat er, soweit ich weiß, meine Kandidatur mit dem Aufsichtsrat besprochen, von dem ich einige Mitglieder auch schon kannte. Fridman kenne ich aus London, wo ziemlich viele reiche Leute russischer Herkunft leben, während russischsprachige Menschen, die sich wirklich für Kultur interessieren, ja nicht so dicht gesät sind. Fridman ist ein großer Kulturkenner, sehr interessiert. Als gründlicher Mensch verfügt er über ein enzyklopädisches Wissen über Literatur, Musik, Geschichte, und beim Film kennt er sich zum Beispiel viel besser aus als ich. Natürlich war das Projekt Dau einer der Gründe, warum ich dorthin eingeladen wurde – immerhin ist das ein großer Teil meines Lebens. Wobei man hinzufügen muss, dass ich fast nie fremde Projekte gemacht habe, sondern immer nur meine eigenen. Aber hier war klar, dass das nicht einfach irgendein Projekt ist, sondern ein großes, komplexes, öffentliches Projekt, das man wie sein eigenes behandeln muss, während man gleichzeitig eine Riesenmenge Regeln aller Art beachten muss. Im Endeffekt ist der Aufsichtsrat zu dem Schluss gekommen, dass ein solches Projekt eine künstlerische Leitung braucht. Mir wurde angeboten, mir Gedanken über die kreative Umsetzung zu machen.
Hat sich an der umstrittenen Reputation des Projekts Dau keines der Aufsichtsratsmitglieder gestoßen? Gab es welche, die gegen Ihre Kandidatur eintraten? Waren Sie mit irgendeiner Art Widerstand konfrontiert?
Soweit ich weiß, wurde ich einstimmig ernannt. Man muss wissen, dass Dau in Europa, in England, Frankreich, Deutschland, in den USA einen gewissen Ruf als einzigartiges Kunstprojekt hat – bei allen Skandalen, die es rund um das Projekt gab.
Was wird die hauptsächliche interaktive Methode des Museums Babyn Jar sein?
Die grundlegende Methode hängt damit zusammen, dass es für jeden Besucher ein individuelles Erlebnis werden soll. Die Menschen sollen dort etwas spüren und erfahren. Sie sollen ein Gefühl für diese Welt bekommen, die zerstört wurde – das jüdische Leben in der Ukraine, in Osteuropa wurde praktisch komplett vernichtet. Zu Beginn der 1940er Jahre war in Kiew jede vierte Familie jüdisch, somit wurde ein riesiger Teil des Lebens einfach ausgerottet und vernichtet.
Das heißt, die Welt, die jetzt existiert, ist eine andere: Kinder wurden nicht geboren, Wissen wurde nicht generiert, Werke wurden nicht erschaffen, wissenschaftliche Entdeckungen wurden nicht gemacht, es riecht nicht mehr so wie damals, das ganze Ökosystem menschlichen Lebens existiert nicht mehr. Das heißt, diese verlorene Welt muss man wahrnehmen, man muss sie spüren und lieben. Man kann nicht etwas lieben, ohne es wahrzunehmen, und man kann nicht mitfühlen, ohne zu lieben.
Die Menschen sollen im Museum von Babyn Jar etwas spüren und erfahren. Sie sollen ein Gefühl für diese Welt bekommen, die zerstört wurde – das jüdische Leben in der Ukraine
Dafür muss eine Sprache, dahin muss ein Weg gefunden werden. Lieben, fühlen, erleben kann man nur durch Berührung. Und Berührung muss für ein 10-jähriges Kind anders aussehen als für einen 35-jährigen Erwachsenen oder einen 85-jährigen Greis, weil jeder von ihnen mit seiner eigenen Erfahrung ins Museum kommt. Dabei helfen uns moderne Technik und sogar sogenannte Big Data, mithilfe derer wir zu jedem in einer ihm verständlichen Sprache über das sprechen können, wozu er aufnahmebereit ist. Mir schwebt vor, dass es die Aufgabe dieses Museums ist, den Menschen ein Gefühl für die Zerbrechlichkeit der Welt zu vermitteln.
Mit welchen Instrumenten wird das umgesetzt? Wie wollen Sie diese Erfahrung für Erwachsene und Kinder personalisieren? Wie werden die Big Data gesammelt?
Beim Kauf der Eintrittskarte wird der Besucher im System registriert und wählt aus, in welchem Umfang er Zugriff auf seine Daten gewähren möchte. Das erlaubt es uns, seinen Rundgang individueller zu gestalten. Derzeit verfolgen wir die Idee, dass das Auswählen eine wichtige Rolle im Museum spielen wird. Während des Rundgangs dann wird der Besucher immer wieder Entscheidungen treffen und selbst bestimmen, was ihm als Nächstes begegnet. Die Geschichte dieses Museums ist eine Geschichte der Entscheidungen, denn in der ganzen Menschheitsgeschichte geht es um Entscheidungen. Manchmal um sehr kleine, unbedeutende, wo man gar nicht dazu kommt, [seinen Schritt] zu reflektieren, doch genau diese kleinen Entscheidungen ergeben zusammen eine große.
Bei der Präsentation bekommt man den Eindruck, dass die Museumsbesucher nicht nur Zuschauer und Beobachter bleiben, sondern an manchen nachgestellten Ereignissen unmittelbar teilnehmen.
Ja, aber man muss bedenken, dass wir in der Zeit des immersiven Theaters leben, der immersiven Projekte, Installationen, Performances, der Hologramme und Virtual Reality – all das ist eine Sprache der modernen Realität, und, in der Folge, Kultur. Die Wahrnehmung des Menschen hat sich verändert, das muss man sich eingestehen. Damit etwas in der Zukunft funktioniert, darf man es nicht nach den Mustern der Vergangenheit bauen. Sonst werden wir immer Autos der Marken WAS und SAS herstellen, und selbst wenn wir sie Lada oder Tawrija nennen, wird daraus kein Tesla. Stellen Sie sich einfach vor, dass das hier der Tesla der Museumswelt wird.
Ich möchte, dass Sie verstehen: Mein Ziel ist es, dafür zu sorgen, dass ins Museum Babyn Jar Millionen von Menschen kommen. Wenn sie nicht kommen, heißt das, dass das Konzept nicht aufgegangen ist. Millionen Menschen kann man nicht dazu zwingen, irgendwo hinzukommen, sie müssen einen Grund und den Wunsch haben, das zu tun, und sie müssen wiederkommen wollen.
Stellen Sie sich einfach vor, dass Babyn Jar der Tesla der Museumswelt wird
Ich glaube, es gibt solche Momente, solche Gelegenheiten, wo man etwas Originelles machen kann und soll, und nicht irgendetwas nach Schema F, einfach um es abzuhaken. Niemand wird in ein Museum gehen, in dem ihm in verstaubter Sprache erzählt wird, wie viele gute Juden von den bösen Deutschen getötet wurden. Das wird niemanden interessieren. Und das bedeutet, dass diese Lektion der Geschichte nicht verinnerlicht wird.
Es wird aber auch niemand in ein Museum gehen, in dem er ein psychisches Trauma erleiden kann.
Wie können Sie in einem Museum ein psychisches Trauma erleiden?
Wenn Sie von Auswahlmöglichkeiten für die Besucher sprechen, die werden wahrscheinlich wählen müssen, für wen sie den nächsten fiktiven Zug machen: für einen Ordnungspolizisten, ein Opfer oder einen SS-Offizier. Ist das die Wahl, die man treffen muss?
Nein, solche Entscheidungen sind gar nicht gefragt, sondern die Leute können schauen, wie bei ihnen selbst psychologische Mechanismen funktionieren. Ich glaube nicht, dass das traumatisieren kann, sondern das zeigt jedem, wo sich in seiner Seele jene Grenzen befinden, die er nicht überschreiten darf.
In Deutschland passierte der Völkermord nach der Weimarer Republik – nach einer freien, wunderbaren, großartigen Zeit. Auch die Menschen damals waren wunderbar, religiös, gläubig, kulturell gebildet. Was war da mit ihnen geschehen innerhalb weniger Jahre? Wie wurden sie zu jenen deutschen Jungs, die in ein paar Tagen zigtausende Menschen erschossen und ihren Opfern dabei in die Augen sahen? Was waren das für Ausgeburten der Hölle? Wie ist das passiert, wie passiert so etwas? Wie wurden wir zu jenem Volk oder jenen Völkern, die Millionen von Denunziationen schrieben? Wie wurden wir zu denen, die schwiegen? Wie wurden wir zu denen, die das zuließen? Diese Mechanismen muss man vor allem in sich selbst erkennen, damit das nicht wieder passiert.
Andererseits muss man versuchen, in sich selbst die komplizierte Mechanik des Verständnisses für das Andere und des Zugeständnisses der Rechte des Anderen zu entfalten.
Wie wurden wir zu denen, die das zuließen? Diese Mechanismen muss man vor allem in sich selbst erkennen, damit das nicht wieder passiert
Wir sehen, was jetzt in einer großen Anzahl sehr demokratischer europäischer Länder vor sich geht: An die Macht kommen Rechtsradikale. Man darf nicht vergessen dass auch Hitler demokratisch gewählt wurde, und Stalin wurde geliebt, während Sacharow im ganzen Land angefeindet wurde und nur wenige es verweigerten, Briefe gegen ihn zu unterschreiben. Und wieder ein paar Jahre später kamen hunderttausende Menschen zu seinem Begräbnis, und jetzt stellen sie ihm Denkmäler auf.
Wir kennen leider viele solcher Geschichten, aus diesen Geschichten ist auf jenem Territorium, das Sowjetunion hieß, das Leben gewebt. Deswegen glaube ich, dass die Konfrontation mit sich selbst, mit den eigenen Entscheidungen, kein Trauma ist. Ein Trauma ist es, wenn du in einer Situation bist, wo du ein Trauma, das du schon in dir trägst, nicht verarbeiten kannst, wo du ein zukünftiges Trauma nicht abwenden kannst. Darin liegt vor allem die Gefahr, weil dann die nächste Generation mit diesem Trauma zu tun haben wird.
Im Januar 2019 wurde in Paris die Weltpremiere des „Monsterprojekts“ Dau gefeiert. Über 10 Jahre lang kursierte darüber nicht viel mehr als eine Fülle an Gerüchten. Vor allem in den russischen Medien war die Rede von Chaos am Filmset, Machtmissbrauch, Ausbeutung, exzessiven Sex- und Gewaltszenen sowie dubiosen Finanzierungsquellen. Die zentrale Figur hinter all dem ist der Regisseur Ilja Chrshanowski. In seiner vielfältigen künstlerischen Tätigkeit bearbeitet er die gewaltvolle Geschichte des 20. Jahrhunderts und er macht das auf eine unkonventionelle, innovative, gleichzeitig aber höchst polarisierende Weise. Chrshanowski provoziert, inszeniert und seziert menschliches Verhalten in extremen existentiellen Situationen, um die Wirkmechanismen totalitärer Systeme „erlebbar“ zu machen. Dieses Grundprinzip wird er nach Dau im Babyn Yar Holocaust Memorial Center in Kiew weiterverfolgen. Seine Bestellung zum künstlerischen Leiter, die im Herbst 2019 erfolgte, wurde von den Medien ebenso wie Dau äußerst kontrovers wahrgenommen: Die Kritiker befürchten die Errichtung eines „Holocaust-Disneyland“.
Ilja Chrshanowski (geb. 1975 in Moskau) ist im Milieu der sowjetischen künstlerischen Intelligenzija aufgewachsen. Sein Vater ist der bekannte Regisseur, Trickfilmer und Drehbuchautor Andrej Chrshanowski. Sein Großvater war Künstler und Sänger und verlieh ab den 1950er Jahren zahlreichen Animationsfilmen seine Synchronstimme. Das besondere kulturelle und intellektuelle Umfeld seiner Kindheit hebt Chrshanowski in Interviews immer wieder als persönliches Privileg hervor. Gleichzeitig offenbarten sich ihm gerade in diesem Milieu vom Autoritarismus ausgeprägte menschliche Verhaltensweisen. So erinnert er sich in einem Interview mit Meduza an Peredelkino, ein sowjetisches Künstlerdorf in der Nähe von Moskau, wo die Familie Haus an Haus mit bekannten Kulturschaffenden wohnte. Über einen davon, den landesweit berühmten und angesehenen Schriftsteller Valentin Katajew, sagt Chrshanowski in dem Gespräch: „Sobald eine Hetzjagd gegen einen seiner Kollegen losging, [eilte er] nach Moskau, um rechtzeitig seine Unterschrift unter ein Verleumdungsschreiben zu setzen“.
Im Jahr 1992 ging Chrshanowski zum Kunststudium nach Bonn, kehrte aber bereits ein Jahr später wieder nach Moskau zurück: ihm erscheine das Leben in Russland der 1990er Jahre weit interessanter als jenes in Europa.1 Zum gleichen Zeitpunkt stellte der Altmeister des Sowjetfilms Marlen Chuzijew einen Regiekurs an der Moskauer Filmhochschule WGIK zusammen, in den auch Chrshanowski aufgenommen wurde. Zehn Jahre später kam sein erster Spielfilm heraus, der den rätselhaften Titel 4 (2004) trägt. Die konzeptionellen Grundrisse von Chrshanowskis Arbeitsweise, die später in Dau münden, lassen sich bereits in diesem Film erkennen.
Fingerübung und Sprungbrett
Vier Jahre lang arbeitete der junge Regieabsolvent an seinem Debütfilm. Das Drehbuch stammte vom postmodernen Kultautor Vladimir Sorokin, dessen Handschrift und Themen im Filmsujet auch deutlich zu erkennen sind. Zwei Männer und eine Frau kommen eines nachts in einer Bar ins Gespräch und präsentieren ihre scheinbar fiktiven Identitäten, die im weiteren Handlungsverlauf immer realer und realistischer werden. Einer der beiden Männer stellt sich als Wissenschaftler vor, der in einem Geheimlabor Menschen klont. Seit 1947 solle es in der Sowjetunion Experimente gegeben haben und ganze Dörfer seien von geklonten Menschen bevölkert. Wie sich später zeigen wird, ist wohl auch die junge Frau, Marina, gemeinsam mit ihren drei gleich aussehenden Schwestern ein derartiger Klon.
https://www.youtube.com/watch?v=RLaYLv77o9s
Die konzeptionellen Grundrisse von Chrshanowskis Arbeitsweise, die später in Dau münden, lassen sich bereits in seinem Debütfilm 4 erkennen
Im Mittelpunkt der Handlung steht die Rückkehr Marinas in ihr Dorf. In den Dorfszenen, die das inhaltliche und formale Gravitationszentrum des Films bilden, wird das anfängliche Science-Fiction-Sujet durch die Archaik des russischen Dorfes konterkariert. Ungewöhnlich bis skandalös wirken vor allem die dokumentarischen Aufnahmen der erotisch-morbiden, ekstatischen, karnevalesken Dorfgemeinschaft: alte Frauen bei einem Saufgelage, die sich vor laufender Kamera nackt präsentieren und sich gegenseitig an die schlaffen Brüste fassen. Der Literaturwissenschaftler Mark Lipovetsky bietet eine pointierte Beschreibung von Chrshanowskis Szenerie: „Man stelle sich ein Zaubermärchen vor, mit drei russischen Schönen, mehreren Baba Jagas (gespielt von echten Dorfbewohnerinnen), die fluchen, trinken, sich prügeln, lachen und weinen – und all das ist in einem dokumentarischen, fast emotionslosen Stil gedreht“.2
Bereits sein Debütfilm und vor allem die filmische Darstellung des Dorfes stießen im damaligen Russland auf heftige Kritik. Der Film wurde schließlich jedoch für den Verleih freigegeben, was heute allein schon aufgrund der extensiven Verwendung der Vulgärsprache Mat undenkbar wäre (Mat darf laut Gesetz seit 1. Juli 2014 nicht mehr im Kino, Fernsehen, Theater sowie in den Medien verwendet werden). Beachtlich war dagegen die internationale Resonanz. Der Film lief 2004 bei den Filmfestspielen von Venedig außer Konkurrenz und erhielt im darauffolgenden Jahr auf Filmfestivals eine Auszeichnung nach der anderen, unter anderem in Rotterdam, Athen, Seattle oder Buenos Aires.
Dieser Erfolg ebnete Chrshanowski den Weg, ein weit größeres Projekt in Angriff zu nehmen. Dabei entwickelte er seine Konzeption konsequent weiter und verfolgte eine für alle Beteiligten herausfordernde, künstlerisch und philosophisch höchst aktuelle Gratwanderung zwischen Fiktion und Realität, Inszenierung und Beobachtung, Spielfilm und Dokumentarismus, Parawissenschaften und (natur-)wissenschaftlicher Erkenntnis: 2005 beginnt er seine Arbeit an Dau.
Vom Biopic zum Modell des Sowjetsystems
Anfänglich plante Chrshanowski, das Leben des sowjetischen Physikers und Nobelpreisträgers Lew Landau zu verfilmen, und begann mit Sorokin am Drehbuch zu arbeiten. Sehr schnell verwarf er jedoch diese Pläne wie auch die Drehbuchvarianten, die Sorokin vorgelegt hatte.3 Aus dem Biopic über „Dau“, wie man den Physiker im Familien- und Freundeskreis nannte, wurde etwas unvergleichbar Größeres, das den Namen Mammutprojekt verdient – und ohne Drehbuch realisiert wurde.
Chrshanowski ließ, dank der großzügigen finanziellen Unterstützung des russischen Unternehmers Sergej Adonjew, in der ukrainischen Stadt Charkiw an der Stelle eines still gelegten Freibads ein Filmset errichten. Auf 6000 Quadratmetern4 entstand das Modell eines sowjetischen Forschungsinstituts, in dem die sowjetische Gesellschaft als Ganzes simuliert werden sollte: mit realen Menschen von heute, die im „Institut“ bis zu drei Jahre lang wohnten und in die Rollen der Menschen der Jahre 1935 bis 1968 schlüpften – von Physikern über Buffetkräfte und Straßenfeger bis hin zu Miliz und Geheimpolizei. Im „Institut“ wurde mit sowjetischem Geld bezahlt, Gegenstände und Kostüme entsprachen der jeweiligen Zeit, das Essen war sowjetisch und aus den Lautsprechern war ausschließlich sowjetisches Radio zu hören.
Das „Institut“ war für die Jahre 2008 bis 2011 Filmset und Versuchsanordnung zugleich. Diese war auf menschliches Verhalten in bestimmten Situationen fokussiert. Chrshanowski ging dabei konsequent an die Scham- und Tabugrenzen: Sex in hetero- oder homosexueller und sogar inzestuöser Form, Alkohol, Gewalt gegen Mensch und Tier. In Ergänzung dazu zielte die Versuchsanordnung auf menschliches Verhalten unter autoritären bzw. totalitären Bedingungen ab – eine Aufgabenstellung, der sich in den USA der 1960er und 1970er Jahre psychologische Experimente, wie das Milgram-Experiment oder das Stanford-Gefängnis-Experiment, verschrieben hatten.
Unterdrückungs- und Erniedrigungsmechanismen
Chrshanowski konzentrierte sich darauf, sowjetische Macht-, Unterdrückungs- und Erniedrigungsmechanismen emotional und intellektuell zu erschließen und dadurch „erlebbar“ zu machen. Obwohl eine Reduktion des Projekts auf dieses Moment zu kurz greifen würde, geht es doch im Wesentlichen um Vergangenheitsaufarbeitung in einem umfassenden Sinn oder, wie der russische Filmkritiker Anton Dolin es formuliert, um die „komplexen Wechselbeziehungen des postsowjetischen Menschen (insbesondere des Wissenschaftlers und Künstlers) zum totalitären Erbe der Sowjetunion“.5
Die Teilnehmenden erklärten sich bereit, in jeder Situation gefilmt zu werden und sie wussten, wann gefilmt wurde. Mit Ausnahme von Radmila Schtschegolewa in der Rolle von Daus Ehefrau Nora sind die DarstellerInnen allesamt Laien. Aus der beobachtenden Kamera ergibt sich auch die spezifische Ästhetik der entstandenen Filme: lange Einstellungen, wenig Handlung, eine auf Eskalation ausgerichtete Dramaturgie, die serienhafte Wiederkehr der Figuren und Themen. Dabei besteht die mediale und ethische Herausforderung für die ZuschauerInnen darin, dass sie auf eine bisher kaum gekannte Art involviert werden. Unabhängig davon, ob sie den Figuren bei ihren Trinkexzessen, bei ihren intimen Beziehungskrisen oder bei kollektiven Zerstörungsorgien zusehen, werden die ZuschauerInnen durch die zur Schau gestellten Akte der Erniedrigung und Selbsterniedrigung nicht nur in die Rolle von VoyeurInnen versetzt, sondern erleben fast zwangsläufig das Gefühl der Scham. Scham für den Anderen zu evozieren ist eine Form der Empathie, die das konventionelle Kino nicht kennt.
Vom Regisseur zum Ausstellungsmacher
Obwohl die Dreharbeiten Ende des Jahres 2011 abgeschlossen wurden und Chrshanowski das „Institut“ real auseinandernehmen ließ (mit einer Zerstörungsorgie ukrainischer Neonazis endet auch der sechsstündige Film Dau. Degeneratsia), dauerte es noch mehrere Jahre, bis das Projekt öffentlich präsentiert wurde. Die Postproduction-Phase wurde von Charkiw nach London verlegt. Dort, in Chrshanowskis Studio in der Piccadilly Street, wurden nicht nur aus 700 Stunden gedrehtem Material mehrere Filme und Miniserien montiert, sondern auch Screenings für geladene Gäste veranstaltet.6
Als Präsentationsorte waren für Herbst/Winter 2018/19 zuerst Berlin, dann Paris und London vorgesehen. Präsentiert werden sollte das Projekt in Form einer Ausstellung mit Screenings, Performances, Installationen und Konzerten. Die BesucherInnen sollten zu Beginn einen persönlichen Fragebogen ausfüllen, auf Basis dessen ein individualisiertes Programm vorgeschlagen werden sollte – zweifelsohne eine Provokation in Bezug auf Fragen des Datenschutzes. Vorgesehen waren darüber hinaus individuelle Gespräche mit VertreterInnen der Religionen, PsychologInnen und SozialarbeiterInnen in beichtstuhlartigen Kabinen, die gefilmt und auf Wunsch auch wieder gelöscht werden sollten.
Die Weltpremiere von Dau, das nun als interdisziplinäres Kunstprojekt deklariert wurde, war für den 12. Oktober 2018 geplant. Als Veranstaltungsort war das Kronprinzenpalais am Boulevard Unter den Linden in Berlin vorgesehen. Das Areal rund um das Palais sollte von einer Mauer aus Beton umsäumt werden. Die Berlinpremiere scheiterte jedoch an der baulichen Genehmigung für die Mauer. Abgesehen davon skandalisierten deutsche Pressestimmen das Kunstprojekt zu einem „DDR-Disneyland“ und „stalinistischen Retro-Spektakel mit Gruselfaktor“.7
Im Pariser Centre Pompidou und in den beiden Theatern Théâtre de la Ville und Théâtre du Châtelet wurde das Projekt schließlich von 24. Januar bis 17. Februar 2019 öffentlich in der geplanten Form präsentiert. Nach Berlin zurück kehrten ein Jahr später zwei Filme: Der sechsstündige Dau. Degeneratsia wurde im Berlinale Special gezeigt, während Dau. Natasha als Film im Wettbewerb der Berlinale lief und mit einem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde (den Preis erhielt der deutsche Kameramann Jürgen Jürges). Im April 2020 schließlich, mitten in der Corona-Krise, ging die Streaming-Plattform Dau Cinema online, die 15 Spielfilme und 6 Serien verzeichnet, die sukzessive online gestellt werden.
In Russland ist an eine Präsentation des Projekts aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen derzeit nicht zu denken. Vier von insgesamt zehn der beim Kulturministerium eingereichten Dau-Filme erhielten keine Verleihgenehmigung, weil sie Pornografie propagieren würden..Gegen dieses Urteil hat die Produktionsgesellschaft Phenomen Films im Februar 2020 beim Moskauer Schiedsgericht Klage eingereicht.8
Mediales Echo
Betrachtet man den wuchernden medialen Diskurs über Dau,so kann man sich des Eindrucks nur schwer erwehren, dass das mediale Echo als integrativer Bestandteil des Projekts angelegt ist. Wo immer Chrshanowski in Erscheinung tritt, entspinnt sich in den Medien eine Polemik über den Regisseur, über seine Arbeitsmethoden und Finanzierungsquellen. Zu den konstanten Vorwürfen gegen ihn gehört, dass er Menschen manipuliere, ihre Arbeitskraft ausbeute (was gleichermaßen für die Dreharbeiten in Charkiw wie für die Dau-Präsentationen in den europäischen Metropolen gilt),9 dass er sich als männliches Genie und Sektenführer gerieren würde. Im Rahmen der Berlinale 2020, auf der zwei Dau-Filme zu sehen waren, wurde eine #metoo-Debatte losgetreten.
Die moralischen und – konkret in der Ukraine – strafrechtlichen Vorwürfe10 gegen das Projekt wirbeln in der medialen Öffentlichkeit oberflächlich vor allem Staub auf. Indirekt demonstrieren sie dagegen, dass Chrshanowski auf eine Kunst abzielt, die sich nicht einfach konsumieren lässt, sondern die BetrachterInnen treffen will. Dieser Ansatz polarisiert in besonderem Maße. So gibt es neben vehementen KritikerInnen nicht nur eine Fülle an prominenten UnterstützerInnen, sondern auch euphorische Stimmen, wie beispielsweise die des deutschen Filmkritikers und Festivalkurators Jochen Werner, für den es besseres und aufregenderes Kino als Dau derzeit nicht zu sehen gebe.11
Babyn Yar: ein Holocaust-Disneyland?
An das Dau-Projekt, das Chrshanowski über die Jahre entwickelt hat, knüpft er nun konzeptionell in einem Museumsprojekt an. Im Herbst 2019 wurde Chrshanowski zum künstlerischen Leiter des in Entwicklung begriffenen Babyn Yar Holocaust Memorial Center in Kiew bestellt. Für das Museum, das an das Massaker an rund 33.000 jüdischen Bewohnerinnen und Bewohnern der Stadt am 29. und 30. September 1941 erinnern soll, sieht Chrshanowski einen individualisierten, auf Basis neuer Medientechnologien generierten „Weg“ durch die Ausstellung vor. Die Lebensgeschichten der Opfer sollen medial aufbereitetet werden und insgesamt geht es ihm um ein Erlebbarmachen des Holocaust über die emotionale Einwirkung auf die BesucherInnen. Wie Chrshanowski im Interview mit Meduza sagte, könnten Menschen nur über den unmittelbaren Kontakt – über das In-Berührung-Kommen – „lieben, fühlen und erleben“.12
Die Reaktionen auf die Ernennung Chrshanowskis als künstlerischer Leiter waren nicht weniger kontrovers, als die Reaktionen auf das Dau-Projekt. Die bis dahin für die Konzeption Verantwortlichen nahmen den Hut. Die ehemalige geschäftsführende Direktorin Jana Barinowa etwa krisitierte, das Projekt würde sich nun von den internationalen Standards des Holocaust-Gedenkens weg in eine vollkommen andere Richtung bewegen.13 Die kritischen Einwände zielen inhaltlich auf die Infragestellung gewohnter Grenzziehungen ab. So erscheint die Befürchtung durchaus berechtigt, Chrshanowski würde die Grundfeste einer Holocaust-Gedenkstätte, die den historischen Fakten verpflichtet ist und die Würde der Opfer ins Zentrum der Erinnerung stellt, erschüttern. Nicht adäquat erscheint dagegen die Assoziation mit einem „Holocaust-Disneyland“. Auf Unterhaltung, Vergnügung und Zerstreuung zielt Chrshanowski zweifelsohne nicht ab. Vielmehr verspricht er in Bezug auf den Holocaust, uns Nachgeborene auf eine durchdringende Weise mit den unvorstellbaren Gräueln des 20. Jahrhunderts neu zu konfrontieren.
Als am 6. August 2020, kurz vor der Präsidentschaftswahl in Belarus, hunderte Einwohner von Minsk – Familien, Alte und Jugendliche – zu dem Platz kamen, auf dem ein staatlich organisiertes Familienfest stattfand, geschah plötzlich etwas Außergewöhnliches: Ein bekanntes, unverwechselbares Gitarrenriff dröhnte aus den Boxen, viele Menschen streckten die Fäuste gen Himmel und spätestens beim Refrain stimmten fast alle auf dem Platz mit ein: „Peremen, my shdjom peremen“ („Wandel, wir warten auf den Wandel!“). Die Besucher der Veranstaltung waren hauptsächlich Anhänger der Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja, die sonst keinen Platz für eine geplante Kundgebung erhalten haben: All die wenigen Plätze, die in Minsk für politische Aktionen vorgesehen sind, wurden von ähnlichen staatlich organisierten Veranstaltungen besetzt. Die beiden DJs des Familienfestes drückten ihre Solidarität mit den Anhängern Tichanowskajas aus, indem sie dieses Lied auflegten: Chotschu peremen (dt. Ich will den Wandel) von Kino stammt aus dem Jahr 1986 und gilt vielfach als Hymne der Perestroika. Und Viktor Zoi, Sänger der Kultband, galt schon damals als Idol der sowjetischen Jugend. Nachdem er am 15. August 1990 durch einen Verkehrsunfall ums Leben gekommen war, nahmen sich Dutzende Jugendliche das Leben. Sein früher Tod leistete der Legendenbildung Vorschub: Bis heute hält sich um den Sänger ein Erinnerungskult, der von Jugendgeneration zu Jugendgeneration weitergegeben wird. Und seine Lieder sind mehr als nur ein Denkmal ihrer Zeit. Sie sind zum Symbol politischer Veränderungen im postsowjetischen Raum geworden. Die beiden DJs, die das Lied in Minsk im Vorfeld der Präsidentschaftswahl abspielten, wurden jeweils zu zehn Tagen Haft verurteilt.
Heute lassen sich die Lieder Zois als akustisches Symbol für eine Zeit hören, in der Veränderungen möglich schienen. Das gilt vor allem für sein Lied Chotschu peremen, das 1986 im Leningrader Rock-Klub „mit seiner Wut wie eine Bombe“ (Olga Caspers) einschlug. Zwar gibt es vereinzelte Stimmen, die die Bedeutung Zois eher in seiner Beschreibung des Kriegs „als dem natürlichen Zustand der Menschheit“ (Iwan Martynenko) sehen. Dazu passt, dass Zoi als Jugendlicher Bruce Lee bewunderte und asiatischen Kampfsport betrieb. Doch nichtsdestoweniger gilt auch für Popmusik die Feststellung, dass ihre Bedeutung vor allem darin liegt, wie sie vom Publikum wahrgenommen wird – und nicht so sehr darin, was sie vielleicht aussagen wollte. Daher nimmt das Lied Chotschu peremen im überschaubaren, gut 100 Lieder umfassenden Schaffen von Zoi eine Sonderstellung ein. Im übrigen gibt es einige andere Lieder, die aus diesem Themenbecken schöpfen.
Generation der Straßenfeger und Wächter
Viktor Zoi wurde am 21. Juni 1962 in Leningrad als Sohn eines koreanischstämmigen Ingenieurs und einer russischen Sportlehrerin geboren. Künstlerisch inspirierten ihn englische Bands wie die Beatles und die Rolling Stones, aber auch sowjetische Sänger und Schauspieler wie Michail Bojarski und Wladimir Wyssozki. Bereits als Jugendlicher spielte Zoi in einer Schülerband, etwas später auch in einer der ersten sowjetischen Punk-Bands mit. Seine Schullaufbahn verlief entsprechend den Bedingungen im Sowjetstaat: Aufgrund eines Konflikts mit einem Lehrer über die Geschichte der Kommunistischen Partei musste Zoi die Schule verlassen und den Beruf eines Holzschnitzers erlernen. Später übte Zoi lange Jahre den Beruf eines Heizers aus, selbst als er bereits ein Star in der Sowjetunion war. Wie viele andere Rockmusiker der „Generation der Straßenfeger und Wächter“, wie sie Grebenschtschikow in einem Lied nannte, konnte er unter den Bedingungen des Kommunismus von seiner Kunst nicht leben.
Das erste Konzert mit einer neugegründeten Band spielte Viktor Zoi im Sommer 1981 auf der Krim. Im Winter 1981/82 erhielt seine neue Gruppe den Namen Kino, den sie bis zu Zois Tod und der darauf folgenden Auflösung der Gruppe behielt. Kino wurde Teil des legendären Leningrader Rock-Klubs, in dem die Gruppe 1982 ihr erstes Konzert gab. Bei diesem spielte unter anderem Boris Grebenschtschikow mit, der mit seiner Gruppe Aquarium vermutlich wichtigste Protagonist der alternativen Pop- und Rockmusik.
Ausdruck der sowjetischen Jugend
In dieser Zeit nahm Zoi mit Kino sein erstes Kassettenalbum auf. Es erhielt den Titel 45, weil es genau 45 Minuten lang war. Grebenschtschikow und Musiker von Aquarium beteiligten sich an diesem Album. In den Liedern von 45 drückte Zoi ganz unmittelbar und neuartig das Empfinden sowjetischer Jugendlicher aus. Das Stück Elektritschkalässt sich zum Beispiel als Metapher auf den Sowjetkommunismus lesen und ironisiert dabei die eng mit dem Glauben an den technischen Fortschritt verknüpften ideologischen Schablonen des Sowjetkommunismus: „Die Elektritschka bringt dich dorthin, wo du gar nicht hin möchtest.“
Aber auch alltägliche, die Langeweile und zeitweilige Trostlosigkeit der Jugend widerspiegelnde Situationen werden auf dem Album beschrieben:
[bilingbox]Du gehst allein die Straße entlang. Du gehst zu irgendeinem von deinen Freunden. Ohne Grund besuchst du jemanden und fragst nach Neuigkeiten. Du willst einfach nur wissen, wo und was gerade so los ist. ~~~Идешь по улице один. Идешь к кому-то из друзей. Заходишь в гости без причин И просишь свежих новостей.[/bilingbox]
Langeweile und Ziellosigkeit – das waren Kategorien, die im hergebrachten sowjetischen Unterhaltungsgenre Estrada bis dahin keinen Platz hatten.
Auch wenn die musikalische Qualität des mit einfachen Mitteln aufgenommenen Albums etwas zu wünschen übrig lässt: Die Einfachheit der Aufnahme macht ihren Charme und ihre Unmittelbarkeit aus. 45 ist eines der ersten sowjetischen Alben, auf dem ein Drum-Computer eingesetzt wurde, und zwar aus reiner Not: für die Aufnahmen fehlte ein Schlagzeuger. In der Folge wurde die Nutzung des Drum-Computers stilbildend für die Gruppe und machte den besonderen Klang der Band aus, der zwischen Punk, New Wave, Rock’n’Roll und Synthie-Pop schwankt. Prägend für die Songs von Kino war zudem der ganz eigene Charakter des Gesangs von Viktor Zoi, der zugleich melancholisch und klar war.
Auf dem Höhepunkt der Popularität
Die Lieder der Gruppe wurden in der Mitte der 1980er Jahre immer politischer: Beim zweiten Leningrader Rock-Festival 1984 spielte die Gruppe das Antikriegslied Ja objawljaju swoi dom mit der Textzeile „Ich erkläre mein Haus zur atomfreien Zone“. Damit gewann Kino den Preis des Rock-Klubs.
Die Perestroika-Politik der zweiten Hälfte der 1980er Jahre ermöglichte Zoi, sein Schaffen nun auch einer breiteren Öffentlichkeit zu präsentieren: An seinem Album Natschalnik Kamtschatki (dt. Der Kommandeur von Kamtschatka) wirkte erneut Boris Grebenschtschikow mit. Die Lieder wurden politischer, die Texte aber auch komplexer. Die Lieder besangen das einsame Individuum – eine neue Note im sowjetischen Zusammenhang. Rasch erschienen weitere Alben mit Hits wie Mama – anarchija (dt. Mama ist die Anarchie).
Zoi beschränkte sich nicht auf die Musik. Als Schauspieler wirkte er 1988 unter anderem an den Filmen Assa von Sergei Solowjow und Igla (dt. Die Nadel) von Raschid Nugmanow mit. Teil des Soundtracks von Assa war das Lied Chotschu peremen. Der Film Igla und das ebenfalls 1988 erschienene Album Gruppa krowi (dt. Blutgruppe), das auch im Ausland auf den Markt kam, erzeugten in der Sowjetunion eine regelrechte Kinomanie. Die Band trat nun auch in Ländern des Westens auf, in Dänemark, Frankreich und Italien.
Die Auftritte der Gruppe wurden immer größer – Viktor Zoi war zum Star geworden. Am 24. Juni 1990 gaben Kino im Moskauer Stadion Lushniki vor 62.000 Zuschauern ihr bis dahin größtes und zugleich letztes Konzert. Im Anschluss an diesen Triumph machte sich Zoi mit dem Gitarristen Juri Kasparjan auf einer Datscha bei Jurmala (Lettland) an die Arbeit an einem neuen Album.
Früher Tod und Legendenbildung
Am 15. August 1990 kam Viktor Zoi bei einem Autounfall in der Nähe des lettischen Tukums mit nur 28 Jahren ums Leben. Der Unfall bildete unter anderem auch den Anlass für Verschwörungstheorien: Noch heute gibt es Gerüchte, Zoi sei nicht verunglückt, sondern ermordet worden – eine angesichts anderer Operationen östlicher Geheimdienste nicht unwahrscheinlich anmutende Version des Todes. Zur Legende gehört auch die Erzählung, das Band mit der Aufnahme des Gesangs von Zoi habe den Unfall unversehrt überstanden, obgleich das Auto ansonsten völlig zerstört gewesen sei. Der Gitarrist Juri Kasparjan korrigierte diesen Mythos jedoch bereits 2002 in einem Interview.3 Postum erschien das Tschorny Albom (dt. Schwarzes Album), dessen Gesangsspur Zoi bereits eingesungen hatte.
Vielleicht stimmt die Auffassung, gerade der frühe Tod Zois habe bewirkt, dass der Sänger nachhaltig zur Legende wurde – Viktor Zoi also gleichsam als russischer James Dean. Andrej Tropillo, der als Toningenieur unter anderem das erste Album von Kino aufgenommen hatte, meinte im Nachhinein, Zoi sei gerade „rechtzeitig“ gestorben: Der Zenit seines Schaffens sei bereits überschritten gewesen, die letzten Alben seien künstlerisch bereits schwächer geraten als die ersten.4 Ganz gleich, ob diese etwas zynisch anmutende Sicht der Wirklichkeit nahekommt, in einem Punkt hat Tropillo zweifellos recht: Die Legendenbildung um Zoi hat der frühe Tod des Sängers erst ermöglicht.
Erinnerungskult
Noch heute wird Zoi in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion nahezu kultisch verehrt. Symbolhaft steht er für die Zeit der Perestroika, in der Veränderungen nicht nur wünschenswert, sondern auch – anders als vielleicht heute – möglich schienen. Das Gedenken trägt besondere Züge, und es hält bis heute an: Der Regisseur Kirill Serebrennikow verarbeitete das Leben Zois 2018 in dem biographischen Spielfilm Leto(dt. Sommer), der mit einem Europäischen Filmpreis gewürdigt wurde. Die Preisübergabe in Cannes konnte allerdings nicht stattfinden, weil sich Serebrennikow damals in Moskau in Hausarrest befand.
Auf dem Moskauer Arbat etwa gibt es eine inoffizielle Zoi-Gedenkmauer mit Graffitis, die an den Sänger erinnern. Auch in anderen Städten der früheren Sowjetunion sind ähnliche Mauern zu finden. Den Status eines Naturdenkmals erhielt im Februar 2020 eine Zoi-Trauerweide in Kiew. Am Unfallort selbst, aber auch an anderen Plätzen in den Ländern der früheren Sowjetunion, erinnern Denkmale an Viktor Zoi, den sein Tod gleichsam unsterblich machte.
Treffen sich zwei intellektuelle Schwergewichte und treten in den Ring, die Schriftsteller Boris Akunin und Dimitri Bykow: Wie das denn nun sei mit dem heutigen Russland und der Sowjetunion und ob man beide Staaten vergleichen könne. Wie aus einem Interview für die Novaya Gazeta fast ein Streitgespräch wird, in dem für Sowjetnostalgie nicht viel Platz bleibt …
Im Gespräch mit Ihnen möchte ich etwas für mich Wichtiges aussprechen. Ich will nicht sagen, dass ich die UdSSR liebe, vieles an ihr hasse ich, aber jetzt ist es hier schlimmer. Und ich versuche zu verstehen, warum es schlimmer ist. Stimmen Sie mir zu? Und falls es jetzt besser ist, dann inwiefern?
Ich verstehe ja, warum andere Leute nostalgisch sind, wenn sie sich an die Sowjetunion oder einzelne ihrer Aspekte erinnern: Sie waren damals jünger, gesünder, glücklicher, der Himmel war blauer oder sie lebten damals besser als die anderen, und jetzt leben sie schlechter als die anderen, oder sie haben (ich spreche von den ganz jungen Menschen) irgendwelche Filme gesehen und so weiter. Aber für Sie, als freiheitsliebenden Dichter, der damals in der Sowjetzeit gelebt hat und zu dem wurde, der er ist, was ist daran für Sie verlockend? Was vermissen Sie?
Drei Dinge. Erstens, dass Nationalismus verpönt war und Internationalismus zumindest proklamiert wurde, auch wenn er niemals irgendwo ideal umgesetzt wird, auch nicht in den USA, doch man hatte ihn sich immerhin auf die Fahnen geschrieben. Zweitens, die Religion stand an der ihr gebührenden Stelle. Und drittens der Kult der Aufklärung, des Intellekts, der in der UdSSR herrschte. Das heißt, die Sowjetunion orientierte sich mehr oder weniger an Werten des späten 18. Jahrhunderts, an Werten der Aufklärung, und nicht plump an Werten angeborener Gegebenheiten wie Geburtsort, Alter, Geschlecht, Nation et cetera.
Mit einer Blutsaugerin kann man immerhin diskutieren. Aber der [heutige – dek] Räuber wird erstens auch leicht zum Blutsauger, und zweitens hat er überhaupt keine Prinzipien, er bringt dich für seinen eigenen Vorteil einfach um, und Schluss. Die Sowjetunion war kein Monolith, sie bestand aus mindestens vier Teilen: Es gab die Sowjetunion der 1930er, der 1940er, der 1960er und der 1970er Jahre – das sind absolut verschiedene Länder. Mir gefällt die Sowjetunion vom Anfang der 1970er Jahre.
Ich teile die ganze 70-jährige Sowjetzeit in zwei Hälften: die erste, in der der Staat den Menschen fraß, und die zweite, in der er nur auf ihm herumkaute. Ich hatte schon die Befürchtung, Sie sehnen sich in die Zeit zurück, „als das ans Ufer schlagende Wasser klirrte und rauchte“ …
Nein, den Zeiten der Bolschewiki trauert keiner nach.
Gott sei Dank. Das heißt, versuchen wir mal, die zweite Hälfte, die – nennen wir sie, „vegetarischen“ – zweiten 35 Jahre mit dem heutigen Russland zu vergleichen. Ich habe dafür ein Stufensystem, weil ich gern alles in Würfelchen, Quadrate und Skalen einteile, damit fällt es mir leichter, die anders nicht messbare Realität zu begreifen.
Ich teile die ganze 70-jährige Sowjetzeit in zwei Hälften: die erste, in der der Staat den Menschen fraß, und die zweite, in der er nur auf ihm herumkaute
So habe ich ein fixes Kriterium, an dem ich die Qualität einer Gesellschaft oder eines Staates festmache. Es gibt zwei Parameter: Parameter Nummer eins ist die Freiheit, mit der die Menschen, die hier leben, ihren Lebensweg wählen können. Die Freiheit, ein Leben zu leben, das man sich selbst ausgesucht hat und das einem nicht von außen aufgedrückt wurde. Je höher der Grad dieser Freiheit für den Einzelnen in einer Gesellschaft, desto besser ist meiner Ansicht nach die Qualität dieser Gesellschaft. Der zweite Parameter ist auch sehr wichtig, das ist das Niveau der staatlichen Fürsorge für jene, die es im Leben aus welchen Gründen auch immer schwer haben.
Menschen mit Behinderung, alte Menschen …
Es ist klar, dass ein vernünftig organisierter kapitalistischer Staat besser fertig wird mit der Erfüllung der ersten Aufgabe – mit der zweiten müsste ein sozialistischer Staat besser fertig werden. Doch die Sowjetunion hat, wie wir wissen, dabei ziemlich versagt. Ich kann mich sehr gut an diese sowjetischen Polikliniken erinnern, die sowjetischen Medikamente, die berühmten Kindergärten, in die ich ging wie zur Zwangsarbeit, das Essen, das die armen Kinderchen dort vorgesetzt bekamen. Und da sehe ich keinen besonderen Unterschied: Die Polikliniken waren damals reinster Horror und sind heute reinster Horror. Sehen wir uns den ersten Parameter an, die freie Wahl des Lebenswegs: Wenn ich an mich selbst zurückdenke als Kind, als Teenager, der in der Sowjetunion lebte. Wie hoch war da der Grad an Freiheit? Bei jeder Bewegung stieß man zuerst auf sein persönliches Datenblatt, in dem es zig Stolpersteine gab: Man hatte entweder die falsche Nationalität oder die falschen Verwandten: Solche, die seinerzeit [während des Zweiten Weltkriegs] in okkupierten Gebieten gewohnt hatten, oder solche, die im Ausland lebten …
Ich habe nicht gegen das Regime gekämpft, aber ich hatte immer so ein inneres Ekelgefühl
Und es gab noch eine sehr schwerwiegende und für viele Leute (auch für mich) absolut unüberwindbare Hürde, die in Michail Schischkins Roman Venushaar heißt: „Bekenne dich dazu, ein Härchen in des Teufels Pelz zu sein.“ Die Wahl vieler Berufe, jede Art von Karriere hing grob gesagt davon ab, ob man Mitglied der KPdSU wurde oder nicht. Das hatte einen zutiefst rituellen, widerwärtigen Sinn, man musste in diesen Versammlungen sitzen, musste für irgendeinen Blödsinn stimmen oder für Sauereien wie den Einmarsch in die Tschechoslowakei, oder für die Verurteilung eines weiteren Ausreißers und Dissidenten. Für mich zum Beispiel war das absolut unmöglich. Ich habe nicht gegen das Regime gekämpft, aber ich hatte immer so ein inneres Ekelgefühl. Daher trat ich mit 23 Jahren [nach Ende des Studiums – dek] hinaus ins große Leben, schmiedete keine Pläne, dachte überhaupt nicht an morgen, das war zwecklos.
Was ist das für ein Land, wo ein 23-Jähriger mit Hochschulabschluss keine Pläne hat und nichts werden will, weil er weiß, dass er in diesem Land nichts wird, wenn er nicht etwas tut, was ihm zutiefst zuwider ist?
Wie Sie bestimmt schon erraten haben, gefällt mir Putins Regime nicht, und zwar so sehr nicht, dass ich einfach nicht in dem Land leben will, über das er bestimmt. Und doch, wenn Sie sich das Bündel von Lebensentscheidungen ansehen, vor dem der Mensch jetzt steht, der junge Mensch genauso wie der nicht mehr junge, dann ist das etwas völlig anderes.
Das ist aber deswegen etwas völlig anderes, weil es bei Ihnen in der Sowjetunion, besser gesagt bei uns in der Sowjetunion, noch Berufe gab, aber der heutige Mensch kann seinen Beruf gar nicht mehr wählen. Es gibt noch genau zwei Berufe: Ölförderer und Ölwächter. Außer Ölraffern und Silowiki gibt es nichts mehr im heutigen Russland. Die Perspektive, nach der Universität arbeitslos zu werden, ist viel hundertprozentiger, drängt sich viel stärker auf als in der Sowjetzeit. Niemand wurde zum Parteibeitritt gezwungen, im Gegenteil, für manche Bevölkerungsgruppen, zum Beispiel für Beamte, war der Eintritt in die Partei gar nicht so einfach: Da gab es äußerst strenge Filter. Um Chef zu werden, musste man der Partei beitreten, aber um ein rechtschaffener Journalist zu sein, war das vollkommen unnötig, und in der Literaturnaja Gaseta gab es solche massenhaft.
Ich habe selbst in einer Redaktion gearbeitet. Der rechtschaffene Journalist von 1982 war einer, der keinen Plunder schrieb. Aber auch keiner, der die Wahrheit schrieb und das, was er wirklich dachte, nicht wahr? Dazu, dass es heute keine Berufe mehr gibt außer zwei: Sie werden sich wahrscheinlich wundern, aber von den Landsleuten, die ich persönlich kenne, gehört da kein einziger dazu. Und alle haben Berufe und arbeiten in den verschiedensten Bereichen.
In welchen denn zum Beispiel?
Der eine schreibt, die andere programmiert Software, der Nächste verfolgt sonst irgendeine ordentliche Tätigkeit.
Grigori Schalwowitsch, wer zahlt denn diese Informatiker, für wen programmieren sie denn? Zu 90 Prozent sind das staatliche Behörden. Was gibt es denn in Russland sonst? Waffen und Rohstoffe.
Ich finde mich in der seltsamen Rolle wieder, die heutige Russische Föderation zu verteidigen … Eines der positivsten Phänomene, die sich im heutigen Russland beobachten lassen, ist, dass in diesem Land trotz allem der Kapitalismus funktioniert. Die Gesetze von Privateigentum und privater Unternehmerschaft. Enorm viele Leute sind selbständig. Das ist ein Land, in dem sich auf unglaubliche, fantastische Art und Weise ein Dienstleistungssektor entwickelt hat, in dem eine Menge Leute beschäftigt sind.
Ich finde mich in der seltsamen Rolle wieder, die heutige Russische Föderation zu verteidigen …
Und viele schreiben nicht auf Befehl von oben … Zum Beispiel äußern Sie sich abfällig über Internet-Journalismus, damit bin ich überhaupt nicht einverstanden. Das ist eine Szene, aus der regelmäßig sehr starke, talentierte Leute hervortreten, die keine Redaktion reinlassen würde.
Grigori Schalwowitsch, ich habe größten Respekt für den YouTuber Juri Dud, aber Dud ist ein Abklatsch von Parfjonow, und Parfjonow ist, so schlimm das auch sein mag, ein Produkt der Sowjetunion. So wie auch Sie ein Produkt der Sowjetunion sind. Denn, wissen Sie, man muss ein Imperium nach seinem Output beurteilen. Der Output dieses Imperiums waren zwei Generationen sowjetischer Intelligenzija der Extraklasse.
Erstens sind Sie selbst ein Produkt der Sowjetzeit. Zweitens hat sie mich in professioneller und kreativer Hinsicht überhaupt nicht beeinflusst. Im Gegenteil, während ich in der Sowjetunion lebte, dachte ich mit Befremden daran, dass es, sowas aber auch, Leute gibt, die Schriftsteller werden, in meinen Augen war das damals fast ein ehrloser Beruf. Ich wurde erst ungefähr zehn Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion Schriftsteller, zu einer Zeit, in der ich schon zu vergessen begann, was das gewesen ist. Dazu brauchte es eine sehr gründliche innerliche Befreiung. Weil, wie Sie wissen, ein Schriftsteller, der innerlich unfrei ist, wird niemals etwas Brauchbares zustandebringen. Nicht wahr?
Da bin ich mir nicht so sicher. Wer ist schon innerlich frei? Für mich ist innere Freiheit ein zu abstrakter Begriff. Erinnern Sie sich, Pasternak sagte: Unfrei ist der Apfelbaum, der Früchte trägt, unfrei ist der Verliebte … Ja, was soll innere Freiheit sein? Ein abstrakter, absoluter Begriff. Natürlich war ich, als ich im sowjetischen Russland lebte, unfrei, aber in Putins Russland hab ich viel mehr Angst. Weil, wie Maria Rosanowa ganz richtig sagte: Im sowjetischen Russland gab es Ufer, wir wussten, was sie mit uns machen können. Aber was die heute mit uns machen können, wissen wir nicht, das kann alles sein. Wissen Sie, die Sowjetunion war ein Gewächshaus, ein entsetzliches, aber immerhin ein Gewächshaus, eng und schwül, aber ein Gewächshaus. Wissen Sie, woran mich die Sowjetunion erinnert? An eine alte, dumme, unfähige Lehrerin, der es aber immer noch gelang, den einen oder anderen in der Klasse von der Kriminalität abzuhalten. Doch dann haben Banditen die Macht ergriffen, freie und fortschrittliche, bewaffnet bis an die Zähne.
Seltsam. Ich habe gegen die Sowjetunion, gegen dieses ganze System, abgesehen von den rationalen Einwänden, die ich Ihnen schon genannt habe, auch noch Einwände emotionaler Natur, und wenn ich anfange, darüber nachzudenken, dann … Ich kann der Sowjetunion nicht verzeihen, wie sie mit dem Leben meiner Eltern umgegangen ist.
Diese ganze Armseligkeit, die Erniedrigung, in der ihr Leben verlief, ist absolut unverzeihlich und unerträglich. Dieses System, das in den Menschen das Gefühl der eigenen Würde zertrampelte – das Wertvollste, was die Evolution hervorgebracht hat –, und noch dazu völlig absichtlich, das scheut für mich jeden Vergleich.
Ich kann der Sowjetunion nicht verzeihen, wie sie mit dem Leben meiner Eltern umgegangen ist. Diese ganze Armseligkeit, die Erniedrigung
Schauen Sie … Gut, im heutigen Russland, wenn du da deine eigene Weltanschauung hast und dich darüber äußern möchtest, dann hast du es schwer im Leben, ja? Aber es ist eine Frage des persönlichen Mutes und der persönlichen Entscheidung, und in Wahrheit wird dir wahrscheinlich gar nichts so wahnsinnig Schlimmes …
Nein, Grigori Schalwowitsch, dann haben sie keine Ahnung von dem Delo Seti. Wenn Sie Ahnung hätten, wüssten Sie, dass es schlimmer ist als in den 1970ern.
Ich habe Ahnung von Delo Seti. Ich verstehe und sehe diese Tendenz sehr wohl, wie die Spezialeinheiten die ganze Zeit versuchen, ihre Möglichkeiten auszuweiten, sie versuchen es die ganze Zeit: Können wir dies schon machen, können wir jenes schon machen? Und das autoritäre System gesteht ihnen permanent zu: Ja, jetzt könnt ihr auch dies, und jetzt auch jenes. Diesen Prozess sehe ich genau, das ist ein grauenhafter und sehr gefährlicher Prozess. Aber ich möchte Sie daran erinnern, dass sich diese Frage den Tschekisten in der Sowjetzeit nicht einmal gestellt hat, weil sie sowieso alles tun konnten, und niemand auch nur einen Mucks machte.
Ich sage jetzt etwas ganz Trauriges. Natürlich gab es in der Sowjetunion zwei Lebenssphären: Es gab die Hölle für alle und die Scharaschki, eine Art Fegefeuer, für einige wenige. Scharaschki gab es in der UdSSR mitunter als so kleine Inselchen intellektueller Aktivität.
Na ja, ich weiß nicht, ich kann das schwer beurteilen, immerhin lebe ich schon ziemlich lange [seit 2014 – dek] nicht mehr in Russland und bin nicht auf dem Laufenden. Aber weiß der Teufel, also, die Behauptung, dass es jetzt in Russland schlimmer ist als in der Sowjetunion der 1980er Jahre, hm … Meinen Sie das ernst?
Ich habe den Eindruck, die heutige junge Generation ist viel besser als wir damals. Ich erinnere mich an mich selbst, ab dem Moment, wo ich eine eigene Meinung hatte, da war ich wahrscheinlich 14 oder so, weil bis zu diesem Alter glaubt man ja irgendwie alles. Man wächst auf in einem Kindergarten, wo ein Porträt von Opa Lenin hängt, dann ist man Pionier, man marschiert durch die Straße und denkt: „Wenn uns Wladimir Iljitsch jetzt nur sehen könnte, wie wir herrlich und fein leben, und wie schlecht es die armen Kinder in Amerika haben.“ Dann kommt die Pubertät, und im Kopf beginnt sich etwas zu rühren. Ich kann mich sehr gut an den Moment erinnern, wo das bei mir passiert ist, aus einem nichtigen Anlass. Im Englischunterricht mussten wir Hamlets Monolog auswendig lernen: To be or not to be — that is the question. Whether it is nobler in the mind to suffer … und so weiter. Und plötzlich begriff ich den Sinn dessen, was Shakespeare schrieb: dass nämlich die philosophische Hauptfrage des Seins nicht die Frage ist, was zuerst da war: die Materie oder das Bewusstsein, sondern die Frage, ob dieses Leben mit all seinen Hässlichkeiten es wert ist, sich diesen Film zu Ende anzusehen.
Ja, stimmt absolut.
Das war mein erster eigenständiger Gedanke im Leben, und ich war so dermaßen stolz darauf, dass ich begann, alles rundherum einer Bewusstmachung und Neubewertung zu unterziehen. Und sofort in der ersten Schulstunde zog ich in Zweifel, was unsere Lehrerin sagte, da ging es gerade um Leninismus oder Ähnliches.
Dass es jetzt in Russland schlimmer ist als in der Sowjetunion der 1980er-Jahre, hm … Meinen Sie das ernst?
Zu der Zeit, nach der zehnten Klasse, war ich schon ein absolut zynischer Junge, der das Eine sagte, das Andere dachte und wusste: Das, was man denkt, darf man nicht laut sagen. Und als ich mein Studium begann, war ich nur von solchen jungen Leuten umgeben, das waren die Studierenden der 1970er Jahre. Das war ein unglaublich abgebrühter, berechnender Zynismus. Ich habe manchmal Online-Gesprächsrunden mit Studierenden oder Schülern, ich lese in sozialen Netzwerken und ich sehe: Die sind viel besser als wir damals, mein lieber Herr Gesangsverein.
Nach der zehnten Klasse war ich schon ein absolut zynischer Junge, der das Eine sagte, das Andere dachte
Grigori Schalwowitsch, eine Frage, die mir sehr wichtig ist. Ich habe sehr auf Ihr Buch gewartet, auf Ihren Band über die Petrinische Epoche, und habe mit Schrecken festgestellt, dass Ihre Meinung über Peter den Großen generell vorwiegend negativ ist. Mir schien, dass das mit Ihrer Einstellung zur Sowjetunion zusammenhängt. War denn nicht das ganze russische 19. Jahrhundert, das goldene Zeitalter, ein Produkt Peters des Großen?
Wissen Sie, ich habe auch immer gedacht, Peter hat ein Fenster nach Europa aufgestoßen und Russland in Richtung irgendwelcher vor-aufklärerischer Werte gerückt. In der näheren Auseinandersetzung sah ich, dass das gar nicht wahr ist. Also, er hat natürlich ein Fenster aufgestoßen, aber die Tür hat er zugelassen. Das war ein vergittertes Fenster, durch das jene hinaussehen durften, denen das gestattet war. Was hat Peter gemacht? Er hat das zermürbte Moskauer Zarenreich des 17. Jahrhunderts übernommen, in dem es eigentlich keine richtige Vertikale gab und das nach der Zeit der Wirren völlig am Ende war. Tatsächlich hat Peter eine überaus harte Staatsstruktur aufgebaut, ähnlich wie in der Goldenen Horde, eine absolute Vertikale, in der alle Entscheidungen ausschließlich an einer Stelle getroffen wurden, die sich im Kopf des Herrschers befand, und alle Entscheidungen kamen nur von dort. Das ist keine Europäisierung, das ist eine absolute Asiatisierung, getarnt mit Perücken, Miedern und Spangenschuhen. Was das 19. Jahrhundert betrifft und damit die russische Literatur, also jene Kultur, aus der wir alle hervorgegangen sind, so verdanken wir sie, wie mir jetzt klar ist, nicht Peter, sondern Katharina, sie entstand also wesentlich später.
Na ja, Katharina ist ja auch eine etwas blassere Variante von Peter, sein Spiegelbild.
Aber nein, gar nicht, überhaupt nicht. An Katharina ist, wie mir scheint, in historischer Hinsicht das Interessanteste, dass sie erstmals in der russischen Geschichte Soft Power effektiv eingesetzt hat.
Peter der Große hat eine überaus harte Staatsstruktur aufgebaut, eine absolute Vertikale
Katharina hat ein unglaublich produktives und faszinierendes Know-how entdeckt: Sie hat demonstriert, dass man die besten Ergebnisse erzielen kann, nicht indem man mit Enthauptung oder Pfählen droht, sondern indem man Belohnungen verspricht, und dass der Zarenthron kein Horrording ist wie unter Iwan dem Schrecklichen, sondern eine Art Sonne, zu der man hinstreben soll, um sich an ihren Strahlen zu wärmen. Und wie sich herausstellte, funktionierte das wunderbar.
Wissen Sie, es geht doch immer um dieses Verhältnis zwischen dem Russischen und dem Sowjetischen. Für manche ist das Sowjetische die Fortsetzung des Russischen, doch für mich sind das zwei verschiedene Paar Schuhe, und man weiß nicht, ob besser oder schlechter. Wie sehen Sie das?
Für mich geht es da um das Verhältnis vertikal oder horizontal. Der russische Staat wurde als superzentralisiertes vertikales Modell errichtet, von oben nach unten wie bei Dschingis Khan, wo alle Entscheidungen oben getroffen und wie ein Staffelstab nach unten weitergegeben wurden.
Wenn der Abstand zwischen Staatsmacht und Volk geringer wird, dann werden sich auch die Mentalität und die gesellschaftliche Atmosphäre insgesamt verändern
Ich sehe nichts Nationales und Fatales in diesem Schema, jedes Volk, das man in dieses Schema presst, wird so. Ich bin überzeugt, wenn Russland in ein paar Jahren aufhört, ein superzentralisierter Staat zu sein, und zu einer normalen Föderation wird, wo alle oder 90 Prozent der Entscheidungen, die das Leben der Menschen betreffen, vor Ort gefällt werden und der Abstand zwischen Staatsmacht und Volk geringer wird, dann werden sich auch die Mentalität und die gesellschaftliche Atmosphäre insgesamt verändern.
Was ich noch gern verstehen würde: Derzeit entwickelt sich in Russland, wie bei uns geschrieben wurde, ja eine Art Föderalismus, und zwar aus einer Richtung, wo man es nicht erwartet hat. Putin erlaubt den Regionen, autonom zu entscheiden. Daraus wird nichts werden, weil sie so oder so auf die Signale von oben hören. Glauben Sie denn, dass die Pandemie in Russland eine Horizontalisierung bringt?
Ich glaube, für Putin ist das ein gefährliches Experiment, das davon zeugt, dass er die Natur des Staates, den er errichtet hat, nicht wirklich durchschaut. Jede Schwächung der Vertikale und Delegierung realer Macht in die Regionen ist ein Risiko. Weil in vielen Regionen unfähige Gouverneure sitzen, die nichts erreichen. Aber es kann durchaus die eine oder andere aktive Person auf den Plan treten, die ihre Verantwortung spürt, etwas in Angriff nimmt und sich als besser erweist als die Zentralmacht – und sich damit eine gewisse Beliebtheit, ein gewisses Vertrauen der Bevölkerung verdient.
Und sofort eins auf die Mütze kriegt.
Alle kriegen eins auf die Mütze, aber wenn sich die Spielregeln ändern, tauchen diese Mützen oft wieder auf. So ist der Mensch beschaffen. In der Sowjetunion bekamen es alle so dermaßen auf die Mütze, wie man es sich heute gar nicht mehr vorstellen kann. Aber sobald dieses System in die Binsen ging, ins Schlingern geriet, waren sofort unglaublich viele eindrucksvolle, ehrenhafte, mutige Leute da, erinnern Sie sich.
Der sowjetische Patriotismus basierte auf Überzeugungen, darauf, dass wir ein Land sind, das anders tickt. Der Patriotismus in Putins Epoche basiert zur Gänze auf Ressentiments: Ja, wir sind so und so, und wir sind stolz und glücklich, dass wir nicht anders sein können, und die ganze Welt wird uns, sorry, in den Arsch kriechen. So ungefähr. Finden Sie nicht auch, dass der sowjetische Patriotismus weniger militarisiert war, nicht so großspurig, so unverfroren, dass er anders war?
Reden wir jetzt vom offiziellen Patriotismus oder vom Patriotismus im Massenbewusstsein? „Wir zogen durch die halbe Welt, wenn‘s sein muss, gerne wieder“ – soll das eine friedliche Rhetorik sein? Dass bei uns in der Schule im Wehrkundeunterricht an der einen Wand eine Atombomben- und an der anderen eine Wasserstoffbombenexplosion hing und unsere Mädchen brav dasaßen und Kalaschnikows zerlegten – war das friedliche Rhetorik?
Ich glaube, ein anständiger Mensch soll das tun, was seinem Anstand nicht zuwiderläuft. Wir sind alle verschieden, jeder von uns hat erstens andere Lebensumstände und zweitens ein anderes öffentliches Auftreten. Aber ich glaube, jeder hat, wenn er nicht gerade moralamputiert ist, eine innere Stimme, die einem immer sagt, was man tun kann und was nicht, und auf die soll man hören.
Erwartet Russland das Schicksal der UdSSR, und wann?
Sie meinen offenbar den Zerfall? Ich halte das für absolut nicht ausgeschlossen, weil das aktuelle Regime, auch wenn es glaubt, die Einheit des Staates mit allen Kräften zusammenzuhalten, diese meiner Meinung nach untergräbt. Weil ein Staat, der sich nur an einer Schraube hält, ein sehr schwaches Modell ist: Wenn diese Schraube abbricht, zerfällt alles in Stücke.
Jeder hat, wenn er nicht gerade moralamputiert ist, eine innere Stimme, die einem immer sagt, was man tun kann und was nicht, und auf die soll man hören
Wie realisierbar ist Ihrer Einschätzung nach die Utopie der Föderalisierung, die Sie in Glückliches Russland beschreiben?
Durchaus realisierbar. Ich glaube, das eigentliche Hauptproblem, die Hauptkrankheit der russischen Staatlichkeit, wird sich auflösen, wenn Russland zu den Vereinigten Staaten von Russland wird. Zu einer echten Föderation mit mehreren profilierten Hauptstädten, mit Möglichkeiten für die Menschen vor Ort, die eigenen Behörden besser zu kontrollieren, sodass im Zentrum nur die vereinigenden Vorrechte verbleiben, internationale Beziehungen, Verteidigung, einige große, landesweite Projekte. Und das genügt vollauf. In jedem Volk kann sich Verantwortungsgefühl herausbilden. Behandle einen Menschen wie einen Erwachsenen, und er wird anfangen, sich zu benehmen wie ein Erwachsener.
Wenn diese wichtigste Schraube abbricht, wird es dann besser?
Nach den Grauen kommen normalerweise die Schwarzen. Lang werden sie sich natürlich nicht halten können, weil sie unfähig sind, irgendwas zu verwalten oder auf den Weg zu bringen.
Aber eine gewisse Zeit halten sie sich?
Ja, das ist möglich und sehr bedrückend.
Hätte die Sowjetunion alternative Entwicklungsmöglichkeiten gehabt? Ich meine, hätte die Katastrophe der 1990er Jahre verhindert werden können?
Ich glaube, eine große verpasste Chance war die nicht erfolgte Unterzeichnung des Vertrags von Nowo-Ogarjowo über die Union Souveräner Staaten, das, was der eigentliche Grund für den Putsch war. Weil die Leute, die den Putsch unternahmen, richtige Horden-Etatisten waren, denen klar geworden war, dass dieses System am Ende war.
In jedem Volk kann sich Verantwortungsgefühl herausbilden
Wenn die Sowjetunion im August 1991 anstatt zu zerfallen zu einer solchen Konföderation geworden wäre, ähnlich der Europäischen Union, nur eben im eurasischen Raum, dann hätte, glaube ich, alles anders kommen können.
Viele fragen: Haben Sie nicht das Gefühl, dass es höchste Zeit ist, dem heutigen Russland den Rücken zu kehren und ein eigenständiges Leben zu beginnen?
Na ja, also, ich sage das jetzt ohne Schmeichelei. Ich glaube, Russland ist ein enorm interessantes und großes Land, nicht im imperialen Sinn, sondern im Hinblick auf sein energetisches und kulturelles Potenzial, das über unzählige Generationen angesammelt wurde. Es ist ein Land mit unglaublichem Potenzial und unglaublichen Möglichkeiten. Es macht schwere Zeiten durch, wird vielleicht noch schwerere durchmachen, aber mir scheint, Russland hat gute Chancen, irgendwann endlich ein glückliches Russland zu werden.
Die DDR und die Sowjetunion hatten beide auf ihre Weise Extrempositionen: Die kleine DDR war durch ihre Grenzlage und den deutschen Zwillingsstaat immer dem unmittelbaren Vergleich mit dem „Westen“ ausgesetzt. Die Sowjetunion war groß und die kommunistische Supermacht. Beide verschwanden von der Landkarte. Doch danach nahm die Nostalgie unterschiedliche Formen an.
DDR-Bürger und Sowjetbürger fielen aus ihren Ländern. Aber die ehemaligen DDR-Bürger fielen weicher, denn sie wurden von den bundesdeutschen Sozialwerken aufgefangen. Für die einstigen Sowjetbürger war die Fallhöhe ungleich größer, und niemand fing sie auf. Russland sah sich zwar als Nachfolgestaat der Sowjetunion, hatte aber über Nacht seinen globalen Großmachtstatus, seine Vormachtstellung in Osteuropa, seine Absatzmärkte und sein Prestige als ungeliebter aber respektierter Chef verloren. Im Unterschied zu den anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks konnten die russischen Bürger keine fremde Macht für die Missstände verantwortlich machen.
Nach 1989 waren die Grenzen offen und die Mauern gefallen. Aber es zeigte sich, dass der Osten ganz andere Vorstellungen von der Geschichte hatte als der Westen. In diesen Vorstellungen spielte der Stalinismus eine wichtigere Rolle als der Nationalsozialismus (der Faschismus hieß), und der Holocaust kam kaum vor. Außerdem machte sich schon bald eine irritierende Nostalgie bemerkbar: Denselben Bürgerinnen und Bürgern, die sich kurz zuvor der Parteidiktaturen entledigt hatten, erschien angesichts der sozialen Sprengkraft der Privatisierungen und des Turbokapitalismus das Leben im Sozialismus in einem positiven Licht.1 Dabei variierten die nostalgischen Praktiken und ihre Inhalte von Land zu Land.2
Im postsowjetischen Russland brach der Staat komplett zusammen, Löhne und Renten wurden immer wieder monatelang nicht ausbezahlt. Diese Krisenerfahrung der 1990er Jahre blieb den Ostdeutschen erspart. Dafür gab es in Russland keine Bevormundung von außen, was die Vergangenheitsbewältigung und die Lebensleistung anbetraf, und auch keinen Schwarm von „Besserwessis“, der die Posten der ostdeutschen Funktionseliten besetzte. In Russland blieben letztlich die alten Eliten oder deren Kinder an der nun privatisierten Macht. Die Kontinuität des Staatsverständnisses, der Regierungs- und Kommunikationsstil und die Rolle von Autorität erschließt sich jedem, der heute eine russische Schule betritt. Geschichtspolitik ist weiterhin Staatsmonopol. Die russische Führung weiß die Nostalgie als politische Ressource zu nutzen und konzentriert sich zunehmend darauf, den verlorenen Großmachtstatus wiederzugewinnen.
Offizielle Werte-Rhetorik versus Dinge des Alltags
Die nostalgische Sehnsucht „nach einer sicheren Welt, einer gerechten Gesellschaft, wahren Freundschaften, gegenseitiger Solidarität und des allgemeinen Wohlergehens, kurz, nach einer perfekten Welt“3 macht sich in Russland vor allem an Kindheitserinnerungen, an Lieblingsspeisen und an einer auch offiziellen Werte-Rhetorik (Sicherheit und Solidarität) fest – in Ostdeutschland hingegen vor allem an materiellen Dingen des Alltags.
Diese Rolle der materiellen Kultur kam nicht von Ungefähr: Die deutsch-deutsche Rivalität durch die direkte Nachbarschaft während des Kalten Krieges war jahrzehntelang an den Warenwelten festgemacht, repräsentiert und gedeutet worden. Die Dinge des Alltags waren politisch aufgeladen. Während die Westdeutschen angesichts von DDR-Waren und ihres Schönen Einheits Designs (so der Titel einer Ausstellung von 1989) mitleidig die Nase rümpften, umgab die Westwaren in allen sozialistischen Gesellschaften eine Aura höchsten symbolischen Kapitals. Dieser Fetischismus machte auch vor den Führungseliten nicht Halt: Breshnew fuhr Mercedes, und in Wandlitz umgaben sich die Honeckers und Mielkes mit westdeutschen Waschmaschinen und japanischer Elektronik. Währenddessen blätterten ihre Bürger verzweifelt im unter der Hand weitergereichten Neckermann-Katalog, und nur diejenigen mit Westverwandten konnten hoffen, etwas davon einmal in den Händen halten zu dürfen.
Es ist bemerkenswert, wie die ungeliebten Konsumgüter in den Auslagen der HO-Kaufhallen wenige Jahre später zu sehnsuchtsumwogten Erinnerungsorten werden konnten.4 Weniger verwunderlich ist hingegen, dass die Westgüter die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllten. Die heiß ersehnten Markenartikel verloren ihren Nimbus als symbolisches Kapital relativ schnell: Erstens waren sie nun im Übermaß vorhanden, zweitens waren sie teuer, und drittens befriedigten die Dinge, die man sich doch leistete, nicht. Bald nahm die Sehnsucht nach den Waren der verlorenen sozialistischen Welt den Platz ein, den zuvor die Westwaren besetzt hatten.
Allerdings war der Grad der Fixierung auf die Dinge eine ostdeutsche Besonderheit, die in Russland keine Entsprechung hatte. Das hatte verschiedene Gründe:
Im Unterschied zu Russland wurden viele Dinge aus dem DDR-Alltag wie Geräte, Kleidung, Autos und Dokumente über Nacht unbrauchbar. Im Zuge der Wiedervereinigung verschwanden die vertrauten Produkte aus den Regalen der Geschäfte, weil sie niemand mehr kaufen wollte. Viele Menschen größtenteils mittleren Alters begannen angesichts der grundstürzenden Veränderungen, die schwindenden Gegenstände des täglichen Lebens zu sammeln.
Schmerzliche Erfahrung mit Stasi-Akten
Die zuvor politisch aufgeladenen Dinge erhielten neue, emotionale Bedeutungen. Dazu trug die schmerzliche Erfahrung mit den Stasi-Akten bei: In der späten DDR hatten sich die Bürger nicht mehr mit dem Staat, sondern mit ihren geliebten „Nischen“ identifiziert, in denen soziale Gleichheit, Freundschaft und Solidarität herrschten. Genau diese Nischen erwiesen sich dann aber als von IMs unterwanderte Horte der gegenseitigen Bespitzelung. Diese fortschreitende Entzauberung vernichtete die letzten Illusionen über die vielgelobte Solidarität in der DDR. Nicht zuletzt deshalb verlagerten sich die emotionalen Praktiken des Erinnerns auf die Dinge.5
Sie wurden zu Stellvertretern, zu Symbolen sozialistischer Erfahrung und Identität.6 Durch das Sammeln versuchten die ehemaligen DDR-Bürgerinnen, die Kontrolle und die Deutungshoheit über die Veränderungen ein Stück weit zurückzuerlangen und sich auch für das eigene Selbstverständnis, die Lebensbilanz, eine Zeitkapsel zu schaffen.
In zahlreichen privaten DDR-Museen stapelten sich in den 1990er Jahren regaleweise alte Fernseher, Tonbandgeräte und Gummi-Kosmonauten. Die Menschen wollten die Dinge nicht mehr behalten, aber fortwerfen mochten sie sie auch nicht. Die Museen boten eine Lösung: Wie auf einem Friedhof konnten hier die Dinge abgegeben werden und dennoch ihre Würde behalten, nützlich bleiben und der Überlieferung von DDR-Wissen an die Nachwelt dienen. Es war nicht alles umsonst: hier ruht die Lebensleistung der DDR-Bürger.7
Die Sammelwut, die private und offizielle Musealisierung der DDR, unterscheidet die DDR-Nostalgie fundamental von der Sowjetnostalgie. Die Entwertung biografischer Erfahrung, die die DDR-Bürger nach 1989 mit voller Wucht traf, gab es in Russland nicht.8 Im postsowjetischen Russland wandelte sich die materielle Umgebung nicht so schnell. Paradigmatische Wende-Figuren wie die bananengeile „Zonen-Gabi“ fehlten hier. Die Kaufkraft war geringer und die Zölle auf Westprodukte hoch. Auch die Betriebe wurden weniger schnell privatisiert oder abgewickelt und produzierten weiter. Die Wolgas und Moskwitschs blieben im Verkehr, und die Wohnungen der älteren Menschen sind bis heute mit sowjetischen Möbeln ausgestattet. Sowjetische Dinge wurden nicht gesammelt, sondern benutzt.
Sowjetische Dinge wurden nicht gesammelt, sondern benutzt
In postsowjetischen nostalgischen Praktiken geht es deshalb eher um Symbole, um Auslöser von Erinnerungen und Emotionen wie Speisen, Bilder und sowjetische Schlager. Sowjetbürger suchen bis heute nach „demselben Geschmack“ bei den Neuauflagen beliebter Marken von damals. Produkte wie die Milchschokolade Alenka, Indischer Tee, sowjetische Eiscreme (plombir), Vogelmilch-Torte, Doktorskaja-Wurst oder der Streichkäse Drushba waren oft im Defizit und erinnern ans Schlangestehen, an Beschaffungs-Solidarität und an staatliche Fürsorge zugleich. Durch nostalgisches Essen können Erfahrungen einverleibt, nacherlebt und mit anderen geteilt werden. Der Fernsehsender Nostalgija, 2004 gegründet, zeigt nicht nur beliebte sowjetische Filme, sondern imitiert sowjetische Sendeformate und sogar die Programmstruktur des sowjetischen Fernsehens.9 Die populärste sowjetische Schlagersängerin Alla Pugatschowa blieb im Geschäft. Die sowjetischen Dinge spielen zwar auch eine Rolle, aber nur in virtuellen Rekonstruktionen der UdSSR 2.0 im Internet10 und in Social-Media Gruppen auf LiveJournal, Vkontakte oder Odnoklassniki.11
Sowjetnostalgie als Mainstream
In postsowjetischen nostalgischen Praktiken geht es um moralische Werte wie Solidarität und Vertrauen, die in den überlebenswichtigen persönlichen sozialen Netzwerken zentral waren und die mit der Erinnerung an den sowjetischen Alltag fest verbunden sind. In Russland hat die Stasi-Unterlagen-Behörde keine Entsprechung, die dieses Bild erschüttern könnte. Falls es Denunziantentum im Umfang des IM-Systems gab, wurde das nicht publik. Die zentralen Errungenschaften der Sowjetunion werden weiterhin gefeiert: der Sieg im Zweiten Weltkrieg, die Erfolge im Kosmos und die glückliche sowjetische Kindheit. Sie hatten eine längere Halbwertszeit als die Weltspitzenleistungen des Sozialismus, die die DDR erbrachte. Gagarin ist bis heute ein Begriff, aber die Helden der DDR wie Sigmund Jähn sind inzwischen vergessen. Das hängt vielleicht auch damit zusammen, dass es um das wandelbare Phänomen der Ostalgie inzwischen stiller geworden ist, während sich die Sowjetnostalgie durch verschiedene Entwicklungsstufen bewegte und heute Mainstream und Teil der offiziellen russischen Geschichtspolitik ist.
vgl. Nadkarni,Maya/Shevchenko, Olga (2004): The Politics of Nostalgia: A Case for Comparative Analysis of Post-Socialist Practices, in: Ab Imperio 2 (2004) 4, S. 487-519 ↩︎
Todorova, Marija/Gille, Zsuzsa (Hrsg., 2012): Post-communist Nostalgia, Oxford; Todorova, Marija (Hrsg., 2014): Remembering communism. private and public recollections of lived experience Southeast Europe, Budapest ↩︎
Velikonja, Mitja (2009): Lost in Transition: Nostalgia for Socialism in Post-Socialist Countries, in: East European Politics and Societies 23 (2009) H. 4, S. 535-551, hier S. 535 ↩︎
Betts, Paul (2000): The Twilight of the Idols: East German Memory and Material Culture, in: The Journal of Modern History, Vol. 72, No. 3 (September 2000), S. 731-765, hier S. 762 ↩︎
Bach, Jonathan (2015): Consuming Communism: Material Cultures of Nostalgia in Former East Germany, in: Angé, Olivia/Berliner, David (Hrsg.): Anthropology and Nostalgia, New York, S. 123-138., hier S. 734 ↩︎
Corney, Frederick C. (2010): Remembering Communism in Modern Russia: Archives, Memoirs, and Lived Experience, in: Todorova, Marija (Hrsg.): Remembering Communism: Genres of Representation, New York, S. 237-252, hier S. 246-7 ↩︎
Kalinina, Ekaterina (2014): Multiple faces of the nostalgia channel in Russia, in: View: Journal of European Television History and Cult 5 (2014) H. 3, S. 108-118 ↩︎
Morenkova, Elena (2012): (Re)Creating the Soviet Past in Russian Digital Communities: Between Memory and Mythmaking, in: Digital Icons – Studies in Russian, Eurasian and Central European New Media 7 (2012), S. 39-66 ↩︎
9. November 1989: Politbüro-Mitglied Günter Schabowski gibt auf Nachfrage versehentlich eine neue Reiseregelung bekannt, mit der die Mauer für DDR-Bürger praktisch durchlässig wird: Jeder, so wird angekündigt, könne ein Visum beantragen. Die Regelung sollte eigentlich noch bis zum nächsten Morgen, den 10. November 1989, 4 Uhr, unter Verschluss bleiben. Doch es kam anders.
Vor 30 Jahren fiel die Berliner Mauer. Es ist ein politisches Erdbeben für die beiden deutschen Staaten und das geteilte Berlin, als den DDR-Grenzern beim Ansturm der Menschen am 9. November 1989 nur die Wahl blieb zwischen Schießen und Nachgeben.
Die Massen bahnen sich ihren Weg an der Bornholmer Brücke, der Invalidenstraße, dem Brandenburger Tor. Die Bilder aus dieser historischen Nacht zeigen, wie die Menschen friedlich die Mauer überwinden – von Ost nach West, von West nach Ost. Die deutsche Wiedervereinigung wurde im Jahr darauf, am 3. Oktober 1990, Realität – aber das ahnt im November 1989 noch keiner. Der Jubel an der geöffneten Grenze 1989 schuf ikonische Bilder im Gedächtnis der deutsch-deutschen Geschichte.
Doch wie wurde dieses Ereignis in der Sowjetunion bekannt? Was haben die Zeitungen an den Folgetagen geschrieben – wie unterschiedlich haben sie berichtet, im Vergleich zu den Medien in der BRD, wie auch zu den Medien in der DDR?
dekoder zeigt Ausschnitte in einer historischen deutsch-deutsch-sowjetischen Presseschau.
In der Bundesrepublik füllen sich die TV-Nachrichten allmählich mit der Neuigkeit – um 20 Uhr die Hauptausgabe der Tagesschau:
#DDR: Privatreisen können beantragt werden
Die Aktuelle Kamera, Hauptnachrichtensendung im DDR-Fernsehen, berichtet von der neuen Reiseregelung, die Politbüro-Mitglied Günter Schabowski überraschend verkündet hat:
#UdSSR: An der Schwelle zum Winter
Die Titelseite der Prawda, des Parteiorgans der KPdSU, bleibt am nächsten Morgen, dem 10. November, unbeeinflusst vom Mauerfall im fernen Berlin – wie auch die anderen Aufschlagseiten der sowjetischen Presse. Aufmacher-Thema der Prawda ist, wie es um die Viehzucht in den Kombinaten vor dem nahenden Winter bestellt ist.
Auch insgesamt spielen die Ereignisse in Berlin eine untergeordnete Rolle und werden wenn, dann auf den Auslands-Seiten behandelt. Die Mauer war in der UdSSR lange ein heikles Thema; hinzu kommt, dass die eigenen wachsenden Probleme täglich die Zeitungen füllen:
#UdSSR: Harter Schnitt mit alten Dogmen
Am 11. November dann greift die Prawda die Grenzöffnung von Berlin in ihrem Auslandsteil, Seite 6, auf und kommentiert:
Deutsch
–
Die jetzige Entscheidung der DDR-Regierung ist ein mutiger und weiser politischer Schritt, der einen harten Schnitt mit alten Dogmen bezeugt. Er zeigt, dass sich die heutige DDR selbst den Weg in ein neues politisches Denken weist, ein Denken, das sich durch eine kreative Herangehensweise an die schwierigen Fragen auszeichnet, die das Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander so lange verkompliziert haben.
Das Boulevardblatt Bild am 10. November 1989 mit der Schlagzeile: „Geschafft! Die Mauer ist offen“. Alle Zeitungen in der BRD titeln – analog zur Bild – am 10. November 1989 mit der Nachricht zur Maueröffnung:
#DDR: Wie der Regierungssprecher mitteilte …
In der DDR druckt das SED-Parteiorgan Neues Deutschland (wie die anderen großen Parteiblätter auch) am 10. November allein die nüchterne – über den DDR-Nachrichtendienst ADN verbreitete – Mitteilung zur Reiseregelung im Wortlaut ab:
Deutsch
–
Wie der Regierungssprecher mitteilte, hat der Ministerrat der DDR beschlossen, daß bis zum Inkrafttreten einer entsprechenden gesetzlichen Regelung der Volkskammer folgende Bestimmungen für Privatreisen und ständige Ausreisen aus der DDR ins Ausland mit sofortiger Wirkung in Kraft gesetzt werden. […]
Neues Deutschland, 10.11.1989, DDR-Regierungssprecher zu neuen Reiseregelungen, Nachrichtenagentur ADN
#UdSSR: Massenflucht schadet nicht nur der DDR
Ausnahme unter den sowjetischen Blättern: Sofort am 10. November berichtet die Izvestia, die damalige Regierungszeitung, auf Seite 4 unter dem Titel Suchen nach Auswegen aus der Krise über die neue DDR-Reiseregelung:
Deutsch
–
Am Donnerstagabend haben lokale und westliche Radio- und TV-Sender diese Nachricht gemeldet: Auf Beschluss der DDR-Regierung ist die Grenze zwischen der DDR und Westberlin geöffnet. […] Innerhalb der letzten zwei Tage betrug die Zahl der ständigen Ausreisen aus der DDR in die BRD über die Tschechoslowakei nach Angaben der Nachrichtenagentur dpa ungefähr 19.000. Mit so einem Andrang hat die BRD, wie es aussieht, nicht gerechnet. […] Die lokale Bevölkerung stöhnt im wahrsten Sinne des Wortes. Man scheint in der BRD und in Westberlin verstanden zu haben, dass die Massenflucht nicht nur der DDR schadet.
Izvestia, 10.11.1989, Poiski wychoda iz krisissa, W. Lapski
Die Nacht des 9.11.1989 in den Nachrichten
#BRD: Vorsicht vor Superlativen – aber nicht heute
Die ersten Bilder: Die Tagesthemen mit Hanns Joachim Friedrichs haben am Abend des 9. November den Fernsehreporter Robin Lautenbach für eine Live-Schalte zum Grenzübergang Invalidenstraße geschickt:
#UdSSR: Zum Mauerfall in Moskau
Wie war es im November 1989, in Moskau vom Mauerfall zu erfahren und die Ereignisse von dort aus zu verfolgen? Elfie Siegl war zum damaligen Zeitpunkt bereits langjährige Korrespondentin für den RIAS Berlin und die Frankfurter Rundschau – so erinnert sie sich:
#DDR: Ein Stück Vertrauen gewonnen
In der DDR sind am 11. November in allen Blättern lange Reportagen und Interviews zu lesen. Ebenso in der Jungen Welt, seinerzeit Zentralorgan des staatlichen Jugendverbandes FDJ und Ende der 1980er Jahre bei einer Auflage von 1,6 Millionen:
Deutsch
–
„Einfach toll. Wahnsinn“ – viele können es kaum glauben, sind fassungslos. Wie es weitergeht? Daran denkt hier und heute erst mal keiner. Anja hat heute auch ein Stück Vertrauen gewonnen, sagt sie. „Ihr seid zu viert?“ fragen wir ein Trüppchen, das offensichtlich zusammengehört – Textiltechnik-Studenten. „Ja, wir kommen auch zu viert wieder zurück.“
Junge Welt, Wochenend-Ausgabe 11./12.11.1989, Zu viert gehen wir rüber und zu viert auch zurück – Verlag 8. Mai GmbH/junge Welt
#DDR: Wer weiß, wann wieder Schluss ist
Die Berliner Zeitung sieht einen ähnlichen Trend des Rückkehrens nach dem Besuch im Westen, gibt in einer Meldung aber auch zu bedenken:
Deutsch
–
Fast alle DDR-Bürger, die seit der Nacht zu gestern die Grenze zur BRD passiert haben, wollten, wie zu erfahren war, noch am selben Tag oder nach dem Wochenende wieder in ihre Heimat zurückkommen. […] Zu hören war: Heute abend sind wir wieder da. Aber auch: Wer weiß, wann wieder Schluß ist damit. Rund 3250 hätten sich Angaben aus Bonn zufolge als Übersiedler registrieren lassen.
Berliner Zeitung, 11./12. November 1989, Heute abend sind wir wieder da
#BRD: Nur noch ein schüchterner Wasserwerfer
In den bundesdeutschen Blättern finden mit der Nachricht zur Grenzöffnung auch die ersten Reaktionen Eingang in den Druck für den nächsten Tag (10. November), während am 11. November die großen Reportagen folgen – Beispiel taz:
Deutsch
–
In einer ersten Reaktion zeigte sich der Regierende Bürgermeister West-Berlins [Walter Momper – dek] ‚sehr froh‘ und appellierte an die Berliner, sich ebenfalls zu freuen, „auch wenn wir wissen, dass daraus viele Lasten auf uns zukommen werden“.
Die Fernsehteams haben die Mauer taghell ausgeleuchtet, ein Wasserwerfer spritzt noch schüchtern von Ost nach West, mehrere Hundert, vielleicht Tausend umlagern die historische Stätte. […] Die Berliner stürmen die Mauer. Kaum einer kommt oben an, ohne zu jauchzen und die Arme hochzureißen. ‚Die Mauer muss weg! Die Mauer muss weg!‘ heißt die Parole des Abends. Nur: der Chor ist schon von der Realität überholt.
In der Sowjetunion gibt es Zeitungen und Magazine, die den Mauerfall noch Tage und Wochen später nicht aufgreifen. Die Tageszeitung Trud, Organ des Gewerkschaftskomitees, legt für den 12. November im Korrespondentenbericht aus Berlin allein den Fokus auf die zeitgleich ablaufenden Umbildungen an der DDR-Staatsspitze:
Deutsch
–
Gestern hat unsere Zeitung über die Ergebnisse des 10. Plenums des ZK der SED berichtet. Aber davor war es im Land zu etwas nie Dagewesenem gekommen, als innerhalb von nur zwei Tagen als erstes die Regierung und dann das Politbüro des Zentralkomitees der Regierungspartei zurücktraten.
Eine neue Regierung ist noch nicht gewählt. […]
Trud, 12.11.1989, GDR: Dni peremen, W. Nikitin
#UdSSR: Sektkorken ohne Exodus
Ganz anders die Komsomolskaja Prawda, damals Presseorgan der kommunistischen Jugenorganisation Komsomol, die bereits am 11. November eine Reportage bringt – nah dran am deutsch-deutschen Puls der Zeit:
Deutsch
–
Bei jedem Schritt knallten Korken der Sektflaschen, brannten Wunderkerzen. „Heute ist in Berlin ein Feiertag“, rief jemand aus der Menge erklärend einem Ausländer zu. […] Wonach sah das aus? Nach allgemeiner Euphorie? Nach Verbrüderung? Ja, wenn man bedenkt, dass sich direkt vor meinen Augen Verwandte trafen, die auf verschiedenen Seiten der Grenze leben. Aber womit es überhaupt keine Ähnlichkeit hatte, war ein Exodus.
Komsomolskaja Prawda, 11.11.1989, Tschelowek prochodit skwos stenu, S. Maslow
Fern der überlaufenen Grenzübergänge in Berlin blickt die Frankfurter Allgemeine Zeitung nach Leipzig:
Deutsch
–
Wie groß das Mißtrauen der Menschen in der DDR gegen die bisher Herrschenden ist, zeigt sich in dieser Donnerstagnacht noch auf andere Weise. Gerade vor wenigen Stunden hat das Politbüromitglied Schabowski auf einer im DDR-Rundfunk direkt übertragenen Pressekonferenz fast beiläufig erwähnt, jeder DDR-Bewohner könne mit sofortiger Wirkung ohne Vorliegen besonderer Voraussetzungen ins Ausland reisen. Doch von Freude, Erleichterung, Genugtuung ist wenig zu spüren auf dem Karl-Marx-Platz in Leipzig – vor der Litfaßsäule werden kaum Worte gewechselt. Von der neuen Reisefreiheit spricht niemand.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.11.1989, Nach dem Treffen mit Krenz ist Rau auch ratlos, Albert Schäffer
… und zum Grenzkontrollpunkt Helmstedt zwischen heutigem Sachsen-Anhalt und Niedersachsen:
Deutsch
–
Die kühnste Vorstellung wird in Gedanken deshalb Wirklichkeit, weil niemand denkt, dass sie Wirklichkeit werde. Daß die Mauer aufbrechen, die Grenze durchlässig werde, haben in Helmstedt und die Menschen überall am Zonenrand immer gewünscht. Sie wußten zugleich, daß sie ein Stück ihrer Identität verlieren, wenn dies Wirklichkeit werde.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.11.1989, Ein Licht nach langer Dunkelheit, Ulrich Schulze
Was bleibt? Was kommt?
#BRD: „Wir bleiben dran“
Die Zeit beleuchtet die Aktivitäten neuer politischer Gruppen, die im SED-Staat immer stärker ein Mitspracherecht einfordern.
Deutsch
–
Wir bleiben hier, wir bleiben dran, bleib auch Du in der DDR“ ist in grellen Farben auf den Lack gemalt. An der Antenne wehen grüne Bänder, Zeichen der Hoffnung. Auf der anderen Seite des Autos ist zu lesen, für wen Uwe Jahn wirbt, für die Initiativbewegung Demokratie Jetzt. […] Seine Gruppe trifft sich bei ihm im Büro, gemeinsam überlegen die sechs Männer ihre nächsten Schritte: Unterschriften sammeln für einen Volksentscheid über eine Verfassungsänderung, die der SED den Führungsanspruch nehmen soll, eine Demonstration im Betriebshof in der kommenden Woche.
Die neu gewonnene Reisefreiheit täuscht für die Neue Zeit, Parteiblatt der Ost-CDU, nicht über bestehende Missstände in der DDR hinweg. Sie kommentiert:
Deutsch
–
Nach wie vor erfährt die Öffentlichkeit nichts über das, was angemahnt und lautstark von Hunderttausenden auf den Demonstrationen gefordert wurde: Privilegien, Machtmißbrauch. So viele von denen, die Amt und Funktion ausnutzten zur persönlichen Bereicherung, sitzen noch immer in der Volkskammer, in Bezirkstagen und anderen Leitungen. Sie hören die Anwürfe und – schweigen.
Neue Zeit, 20.11.1989, Vom Wasser gepredigt, vom Wein getrunken, Klaus M. Fiedler
#BRD: Meine erste Banane
Zonen-Gaby heißt eigentlich Dagmar, kommt aus Rheinland-Pfalz und stand im Jahr 1989 Modell für den Titel der November-Ausgabe der Satirezeitschrift Titanic. Das Bild wurde Kult und gilt als berühmtester Titanic-Titel, vielfach nachgedruckt und bis heute gern zitiert:
„Zonen-Gaby (17) im Glück (BRD): Meine erste Banane“
#UdSSR: Süßes Wort „Freiheit“
Die Wochenzeitung Moskowskije Nowosti, damals ein wichtiges Forum für Gorbatschows Perestroika-Politik und auch international in mehreren Sprachen vertrieben, zieht historisch große und vieldeutige Parallelen:
Deutsch
–
Als die jungen Deutschen tanzend am Brandenburger Tor über die Fernsehbildschirme liefen, werden im Gedächtnis lange vergangene Schattenbilder wach – die der Pariser, die vor 200 Jahren auf den Ruinen der Bastille tanzten. Selbstverständlich stand die Mauer an Symbolgehalt dem feudalen Kerker in nichts nach. Dieses elende Symbol der Teilung Europas und der Welt, der Konfrontation, des Kalten Krieges und vor allem das Symbol unserer und unserer Verbündeten Angst vor der Bewegungsfreiheit von Menschen, der Zirkulation von Ideen, von Freiheit ganz generell. Es war das Symbol des feudalen Sozialismus. […] Jeder in der DDR, dem das Wort Freiheit süß erscheint, ist froh über die Umwälzungen. Aber unsere Besorgnis werden wir nicht verheimlichen: Ende vergangener Woche hatte die Polizei sowohl von der einen als auch von der anderen Seite Skinheads, jugendliche Neonazis und Randalierer zu verjagen. Im Übrigen: Der Fall der Bastille, wie man weiß, war nicht der Weg zu Frieden und Glückseligkeit auf unserer sündigen Erde. Ungeachtet dessen haben wir dieses Ereignis 200 Jahre später groß gefeiert.
Moskowskije Nowosti, 19.11.1989, Berlinskaja stena: Kto stroil, tot i snossit, Wladimir Ostrogorski
#BRD: Wirtschaften ohne Lehrbuch
Die Mauer ist seit zehn Tagen Geschichte: Der Spiegel macht sich Gedanken darüber, was die Öffnung nach anfänglicher Begeisterung an der Börse wirtschaftlich für beide Seiten, BRD und DDR, bedeutet:
Deutsch
–
Den Börsianern und Kleinanlegern, den Managern und den Politikern dämmerte, daß mit der plötzlichen Öffnung der bislang hermetisch verriegelten DDR eine ökonomische Situation eingetreten war, für die es keine historische Parallele gibt; für die sich auch in keinem Lehrbuch der Volkswirtschaft eine Handlungsanweisung finden läßt. Es ist eine Situation voller Risiken. […] Viel Zeit zum Reagieren haben Modrow, Krenz und Genossen nicht. Durch die offene Grenze laufen ihnen, wenn die ökonomische Lage sich nicht bald zum Besseren wendet, die Jungen und die Fähigen davon. Richtung Westen droht zudem, wegen der vertrackten Umtauschverhältnisse, ein Ausverkauf der spärlichen Güter.
Die Wochenzeitung Argumenty i Fakty, lange nur Funktionären zugänglich, in den 1980er Jahren aber zum vielgelesenen Leserforum avanciert, sieht die Maueröffnung als weitreichendes Signal für die gesamte innere Verfasstheit der DDR:
Deutsch
–
Es besteht kein Zweifel daran, dass das, was in der DDR im Herbst dieses Jahres geschehen ist, eine Revolution war. […] Der Oktober wurde für die DDR zu einer Zeit, in der unter die gesamte historische Periode des verwaltungsökonomischen, stalinistischen Entwicklungspfades ein Strich gezogen wurde. Ein Pfad, der sich auch hier erschöpft und die Republik weiter in eine Sackgasse geführt hatte. […] An Intensität in der Dynamik und Dramatik übertraf das deutlich unsere Perestroika.
Argumenty i Fakty, 9.12.1989, Oktjabrskaja revoluzija v GDR, S. Rjabikin
Sie ist im Rahmen einer Kooperation von dekoder mit einem Lehrprojekt an der Universität Hamburg (UHH) unter Leitung von Monica Rüthers und Mandy Ganske-Zapf entstanden. Das Projekt wurde vom Lehrlabor des Universitätskolleg der UHH gefördert und ist Teil des Verbundprojektes Wissenstransfer hoch zwei – Russlandstudien.
Das Jahr 1989 hat für Ostmitteleuropa, die DDR und auch für China klare Erzählungen parat: sie handeln entweder vom Ende kommunistischer Herrschaft in einer friedlichen Revolution oder von der Repression einer beginnenden Freiheitsbewegung, die von den Panzern der „Volksbefreiungsarmee“ am Tiananmen zerschlagen wurde. In diesen Ereignissen liegt die weltgeschichtliche Bedeutung dieses Epochenjahres begründet. Doch wie reagierte Moskau auf die dramatischen Ereignisse damals, etwa auf den Mauerfall am 9. November in Berlin? Schließlich war es die sowjetische Führung, die im Frühjahr 1985 mit der Wahl Michail Gorbatschows für neue Dynamik in der erstarrten Ordnung des Kalten Krieges sorgte.
Das sowjetische Jahr 1989
In den Jahren von Glasnost und Perestroika war die UdSSR für kurze Zeit tatsächlich jene historische Avantgarde, die sie seit 1917 vorgab zu sein. In immer schnelleren Schritten betrieb die Führung um Michail Gorbatschow den Umbau des politischen Systems. Sie lockerte die einst allmächtige Zensur, ließ politische Gefangene frei und begann mit der Privatisierung der Wirtschaft zu experimentieren. Mit den Wahlen zum Kongress der Volksdeputierten der UdSSR am 26. März 1989 stand die UdSSR im Frühjahr noch an der Spitze der Reformen in den kommunistischen Diktaturen Osteuropas. Doch im Laufe des Jahres sollte sie diese Position einbüßen. Zugleich entwickelte die von Gorbatschow initiierte „oktroyierte Zivilisierung“ der sowjetischen Gesellschaft neue Dynamiken, die sich der Steuerung von oben zunehmend entzogen. Dazu gehörte auch die Erosion des sowjetischen Staates an seinen Peripherien: Vom Baltikum bis in den Kaukasus schwand bereits 1989 mit der Macht der Partei auch die Autorität des Zentrums.
Insgesamt verschoben sich die Schwerpunkte sowjetischer Politik. Während nach 1945 das Imperium in Osteuropa stets im Fokus gestanden hatte – insbesondere während der Krisen von 1953, 1956, 1968 und 1980/81 – verlagerte sich nun die Aufmerksamkeit. Michail Gorbatschow und seine Führungsmannschaft waren insbesondere an besseren Beziehungen zum Westen interessiert. Die Vereinigten Staaten und auch die Bundesrepublik Deutschland genossen bald besondere Priorität. Wegen der Verweigerung von Reformen in der DDR, der ČSSR, in Rumänien oder Bulgarien wuchs die politische Distanz zu den „Bruderländern“. Außerdem verabschiedete sich die sowjetische Führung von der Breschnew-Doktrin, die besagte, dass sozialistische Staaten nur begrenzt souverän sind und die Sowjetunion das Recht besitzt, jederzeit – auch gewaltsam – in ihre Angelegenheiten zu intervenieren. Während der Wahlen in Polen im Juni zeigte sich, dass Moskau tatsächlich kein Interesse hatte, politisch oder militärisch in seinem Glacis zu intervenieren. Der Kreml akzeptierte die Niederlage der Kommunisten. Es öffnete sich ein Ermöglichungsraum für Veränderungen, den es so in Europa seit Jahrzehnten nicht gegeben hatte.
Das Jahr 1989 in der DDR
Die DDR und die UdSSR verband über Jahrzehnte eine special Relationship. Der kommunistische Staat auf deutschem Boden symbolisierte den sowjetischen Sieg von 1945. Auch wenn es nur das halbe Deutschland war, so handelte es sich doch um ein Kronjuwel des sowjetischen Imperiums. Über Jahrzehnte konnte in der DDR keine gewichtige politische Entscheidung ohne sowjetische Rückendeckung getroffen werden. Das galt natürlich insbesondere, wenn es um Macht ging – und im Kalten Krieg waren Grenzfragen selbstredend Machtfragen. Die halbe Million sowjetischer Soldaten auf deutschem Boden war ein weiterer Faktor und natürlich war die sowjetische Botschaft – eigentlich ein eigenes Städtchen entlang des Boulevards Unter den Linden – über die Lage im Lande stets gut im Bilde. Zusätzlich unterhielt der KGB eine große Residentur in Berlin-Karlshorst.
Die SED-Führung wusste um ihre Abhängigkeit von Moskau. Während die anderen kommunistischen Staaten Osteuropas auch über eigene nationale Legitimationen verfügten, stützte sich Ost-Berlin auf den „Sieg über den Faschismus“ und die „Freundschaft zur Sowjetunion“ als Staatsräson. Der „Sozialismus auf deutschem Boden“ war nur als sowjetisches Protektorat denkbar. Doch mit Beginn der Perestroika begann eine gefährliche Entfremdung zwischen der DDR und ihrer Schutzmacht. Während Gorbatschow und seine Mitstreiter von der Notwendigkeit tiefgreifender Reformen überzeugt waren, hielten Erich Honecker und seine Genossen im SED-Politbüro die DDR für einen sozialistischen Musterstaat. Als Reaktion auf die sowjetischen Reformen fragte der Ost-Berliner Chef-Ideologe Kurt Hager bereits 1987 rhetorisch: „Würden Sie, nebenbei gesagt, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?“ Damit war auch öffentlich der Bruch vollzogen.
Zu Beginn des Epochenjahres 1989 gehörten die DDR wie auch Rumänien oder die Tschechoslowakei zu den erbittertsten Gegnern der Moskauer Reformpolitik. Honecker und die SED-Führung befürchteten, dass Moskau auf dem Weg sei, den Sozialismus zu verraten. Ost-Berlin sah sich im Gegensatz zum Kreml als Anker der Stabilität und Verteidiger der Ordnung von Jalta und Helsinki in Europa. Drei Faktoren begannen jedoch seit dem Frühjahr 1989 die SED-Herrschaft zu schwächen: die Proteste der eigenen Bevölkerung, die seit den gefälschten Kommunalwahlergebnissen vom Mai eine neue Qualität gewannen, der sich verschlechternde Gesundheitszustand des Generalsekretärs Erich Honecker und der steigende Druck ausreisewilliger DDR-Bürger, die begannen, nach Schlupflöchern im erodierenden Eisernen Vorhang zu suchen und sie in Ungarn sowie in den deutschen Botschaften von Prag oder Warschau fanden. So wurde im Sommer aus der stillgelegten DDR-Gesellschaft sukzessive ein Land in Gärung, Aufruhr und Aufbruch. Auf sowjetische Hilfe konnte die SED beim Machterhalt nicht zählen: Michail Gorbatschow entschied bereits zu Beginn des Herbst 1989, dass die sowjetischen Truppen in den Kasernen bleiben würden.
Missverständnisse, Medien, Kontrollverlust: Ein Tag im Herbst 1989
Spätestens seit den Leipziger Montagskundgebungen und dem Sturz Honeckers am 17. Oktober gerieten die Verhältnisse in der DDR ins Wanken. Bereits am „Tag der Republik“, dem 40. Jahrestag der Gründung der DDR am 7. Oktober 1989, war Michail Gorbatschow selbst auf den Straßen Berlins mit der aufgeheizten Stimmung konfrontiert worden. Seine Unterstützung für Honecker blieb lauwarm. Kurz zuvor, am 5. Oktober, hatte der außenpolitische Berater Gorbatschows, Anatoli Tschernjajew, in seinem Tagebuch notiert: „Der komplette Zerfall des Sozialismus als Faktor in der globalen Entwicklung ist in vollem Gange. Vielleicht ist dies unvermeidbar und gut. Dies könnte dazu führen, dass sich die Menschheit auf der Basis gemeinsamer Werte vereinigt. Und dieser Prozess begann in Stawropol.“ Damit spielte der Funktionär auf den Geburtsort Gorbatschows an. Er sah den sowjetischen Generalsekretär bereits als welthistorische Figur. Gorbatschows Popularität erreichte 1989 wenigstens im Ausland neue Höhepunkte. Er wurde für das geteilte Deutschland und für den ganzen Kontinent zum Hoffnungsträger.
Fokus auf die inneren Probleme
Doch Gorbatschows politische Sorgen galten zunehmend der Heimat. Während des Jahres 1989 forderten die inneren Probleme der UdSSR seine Aufmerksamkeit. Im Herbst begann sich der politische Machtkampf mit seinem Widersacher Boris Jelzin erneut zuzuspitzen. Auch die konservative Fraktion im Politbüro um Jegor Ligatschow entzog der Führung zunehmend Unterstützung. Trotz aller Turbulenzen zwischen Warschau, Berlin, Prag und Budapest konzentrierte sich die sowjetische Führung deshalb primär auf die innenpolitische Lage. Schließlich ging es in dieser Arena, die sich ebenso schnell entwickelte wie die Weltpolitik, letztlich um die eigene politische Macht. Eine Lektüre der Tagebücher Tschernjajews, wahrscheinlich die wertvollste Quelle aus dem Zentrum der Macht, veranschaulicht, dass die sowjetische Führung im Herbst 1989 durch die dramatische Lage zu Hause oft von außenpolitischen Problemen abgelenkt wurde.
Anfang November stand die DDR vor großen Veränderungen. Es war offensichtlich, dass der status quo, ein eingeschlossenes Land mit scharf bewachten Grenzen, nicht zu halten war. Doch niemand hatte den Abend des 9. November auf der Rechnung. Auch die neue SED-Führung unter Egon Krenz war weiterhin an enger Abstimmung mit dem Kreml interessiert. Während der ersten Novemberwoche standen diesem Wunsch aber zwei Dinge im Weg: die traditionellen Feierlichkeiten zum Jahrestag der Oktoberrevolution (7./8. November) und die Inkompetenz der neuen SED-Führung. Als in Ost-Berlin an einem neuen Reisegesetz gearbeitet wurde, war die Moskauer Führung wegen der Feierlichkeiten nicht zu erreichen. Am Vormittag des 9. November tagte das sowjetische Politbüro – Anrufe aus dem Ausland wurden nicht durchgestellt. Deshalb scheiterte im Vorfeld die Abstimmung zwischen der neuen SED-Führung um Egon Krenz und den Moskauer Machthabern.
Von den Ereignissen überrollt
Als Politbüromitglied Günter Schabowski mit seiner überstürzten Aussage zur Gültigkeit des neuen Reisegesetzes gegen 19 Uhr am 9. November („Nach meiner Kenntnis gilt das sofort … unverzüglich.“) den Sturm auf die Berliner Mauer auslöste – die Wiederholung seines Fehlers in den westlichen Abendnachrichten tat ein Übriges – war weder der Kreml noch die sowjetische Botschaft in Ost-Berlin im Bilde. Auch die historische Entscheidung zur Öffnung der Mauer („Wir fluten jetzt“) am späten Abend wurde ohne Rücksprache mit den sowjetischen „Freunden“ getroffen. Erstmals traf die SED eine historische politische Entscheidung im Alleingang: im Zuge ihres eigenen Untergangs emanzipierte sie sich von ihren Moskauer Paten. Der sowjetische Botschafter Kotschemassow meldete sich erst am Morgen des 10. November telefonisch bei SED-Chef Krenz und drückte seine Beunruhigung über die Lage in Berlin aus. Vom Fall der Mauer erfuhr Moskau erst aus den Nachrichten, der Botschafter selbst hatte geschlafen. Wobei die sowjetischen Medien zunächst zurückhaltend bis gar nicht berichteten – es war ein heikles Thema und, was noch schwerer wog, es gab genug eigene innenpolitische Probleme, die breit diskutiert wurden und täglich auf die Agenda drängten. Am 9. November 1989 war die UdSSR zu einem Beobachter geworden. Wenn überhaupt, dann hatte die sowjetische Seite mit einer kontrollierten Grenzöffnung zwischen der DDR und der Bundesrepublik gerechnet – aber nicht mit dem Fall der Berliner Mauer. Da Michail Gorbatschow Gewalt ausschloss, musste Moskau die neuen Realitäten akzeptieren.
Während sich der deutschlandpolitische Berater Gorbatschows, Valentin Falin, am Morgen des 10. November entsetzt zeigte und das Ende der DDR prophezeite, dachte sein Kollege Anatoli Tschernjajew schon über die DDR hinaus. Er notierte in sein Tagebuch: „Die Geschichte des sozialistischen Systems ist zum Ende gekommen. […] Nur noch unsere ‚besten Freunde‘ sind übrig: Castro, Ceausescu und Kim-Il-Sung. […] Jetzt geht es nicht mehr um den Sozialismus, sondern um die Balance der Weltmächte, um das Ende von Jalta, das Ende des Erbes von Stalin und des Sieges über Nazi-Deutschland.“ Tatsächlich hatte die Sowjetunion 1945 den Krieg gewonnen und begann 1989 den Frieden zu verlieren. Jetzt ging es nicht mehr um die Reform des Sozialismus, sondern darum, sein Ende zu begleiten.
Zum Weiterlesen:
Hertle, Hans-Hermann (2009): Chronik des Mauerfalls: Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989, Berlin
Eine kleine Zeichnung zeigt Michail Gorbatschow mit Hut, über ihm ein Heiligenschein, hinter ihm steht seine Ehefrau in russischer Pelzmütze. Er fragt sie: „Schwebt dieses verdammte Ding immer noch über mir, Raissa?“. Treffender als auf dieser Zeichnung des Karikaturisten Hans Traxler1 aus dem Jahr 1993 ließ sich nicht ausdrücken, dass Gorbatschow in der öffentlichen Wahrnehmung als Heilsbringer überhöht und unerfüllbare Erwartungen an ihn gestellt wurden. Traxler hatte dabei die deutsche Bevölkerung im Blick. Die unmittelbaren Wendejahre 1989/90 waren zwar vorbei, aber Gorbi blieb in Deutschland eine Kultfigur.
Anders in Russland. Ein russischer Cartoonist hätte zu Beginn der 1990er Jahre einen gegensätzlichen Bezugspunkt gewählt und das Muttermal auf der Stirn Gorbatschows als Zeichen des Antichrist gedeutet. Verschwörungstheorien geisterten durch die russische Öffentlichkeit, dunkle Kräfte galten als verantwortlich für den Untergang des Landes. Dies aber war die Kehrseite davon, dass auch in der Sowjetunion Gorbatschow in den ersten Jahren seiner Amtszeit als Erlöserfigur gesehen wurde. Das Bad in der Menge, begeisterte Zurufe von Bürgerinnen und Bürgern, die euphorisierenden Gespräche mit Arbeitern – all das fand nicht nur 1989 in Bonn auf dem Rathausplatz oder bei Stahlarbeitern in Dortmund statt.
Dieselben Szenen hatte es im Sommer 1985 in der Sowjetunion gegeben, als Gorbatschow nach seiner Wahl zum Generalsekretär gemeinsam mit seiner Frau Raissa eine Antrittsreise durchs Land unternahm. Die ersten Stationen waren Leningrad im Mai, Dnepropetrowsk und Kiew im Juni sowie unterschiedliche Orte in Sibirien im September.
Gorbatschow als Sündenbock
Zu Beginn der Regierungszeit projizierte die Bevölkerung der Sowjetunion zunächst alle Träume von einem besseren Leben auf den neuen Generalsekretär. Gorbatschow versprach einen allgemeinen Aufschwung des Landes, bessere Wirtschaftsleistung, Entbürokratisierung, demokratische Mitwirkung und einen höheren Lebensstandard – eine optimierte Version des real existierenden Sozialismus. Die Politik von Perestroika und Glasnost setzte jedoch einen dynamischen, unkontrollierbaren Prozess in Gang, der in wenigen Jahren die Grundpfeiler der sowjetischen Ordnung zum Einsturz brachte. Ende Dezember 1991 trat Gorbatschow zurück, die Sowjetunion hörte auf zu existieren, die russländische Föderation unter Führung von Präsident Boris Jelzin trat die rechtliche Nachfolge an. Für den Kollaps des Landes und alle negativen Ergebnisse, die der Reformprozess gebracht hatte, wurde Gorbatschow verantwortlich gemacht. So überzogen die anfangs in ihn gesetzten Erwartungen, so übertrieben dann die kritischen und ablehnenden Beurteilungen. Gorbatschow dient seither in Russland als Sündenbock und negative Integrationsfigur. Aus den verschiedenen politischen Lagern und allen Schichten der Bevölkerung kommen abwertende, oft hasserfüllte Kommentare; regelmäßig kursiert in den Medien das Gerücht, er sei („endlich“) gestorben.
Noch ist die russische Gesellschaft, aber ebenso die Historikerzunft, weit davon entfernt, die historische Rolle Gorbatschows angemessen und in all ihren Facetten zu beurteilen. Die Gründe, warum er im eigenen Land derart ungeliebt ist, lassen sich jedoch nennen und drei Bereichen zuordnen: Erstens gibt es Ursachen, die unmittelbar mit Gorbatschows politischem Handeln in seiner Regierungszeit in Zusammenhang stehen, zweitens lässt sich die Kritik an ihm auf ein sehr lückenhaftes historisches Gedächtnis der russischen Bevölkerung zurückführen und drittens haben die auf ihn folgenden Regierungen seine Reformen gezielt dämonisiert, um mit dieser Abgrenzung den eigenen politischen Kurs zu legitimieren.
Politisches Handeln
Für die spätere Beurteilung seiner Politik wirkte sich besonders negativ aus, dass Gorbatschow in den Jahren 1985 bis 1991 eine Vermittlerposition zwischen Reformgegnern und Reformanhängern bezog und damit die Unterstützung beider Seiten verlor. Seine Entscheidungen wirkten oft zögerlich und widersprüchlich, seine Reden zwar wortreich, aber folgenlos, sein Handeln unentschlossen und planlos.
Nur ein Beispiel dafür war seine Haltung zur führenden Rolle der Kommunistischen Partei an der er festhielt, aber gleichzeitig freie Wahlen, Pluralismus und die Errichtung eines Mehrparteiensystems versprach. Gescheitert wäre Gorbatschow vermutlich in jedem Fall an der viel zu großen Aufgabe, das Land in allen Bereichen zu reformieren. Da er aber die Anhängerschaft überall verloren hatte, stand er schließlich als der alleinige Verantwortliche für die Niederlage da, dem nicht nur die eigenen politischen Fehler, sondern ebenfalls die daraus folgenden Probleme wie die katastrophale Wirtschaftslage, die Verarmung der Bevölkerung, der Verlust des Großmachtstatus und die steigende Kriminalität angelastet wurden.
Öffentliche Erinnerung
Die öffentliche Erinnerung an die Perestroika weist viele Lücken auf. Die positiven Resultate, an erster Stelle der enorme Zuwachs an Bürger- und Freiheitsrechten, werden heute nicht mit dem Namen des letzten Generalsekretärs verbunden. Der Hauptvorwurf an Gorbatschow lautet, er habe die Sowjetunion zerstört. Dabei wird (ähnlich wie im Westen) ausgeblendet, dass er mit dem Einsatz von Panzern zu Beginn des Jahres 1991 versuchte, die Abspaltung der baltischen Republiken zu verhindern. Die Bürgerinnen und Bürger Moskaus und Leningrads gingen gegen diese gewaltsamen Maßnahmen auf die Straße. Gorbatschow veranlasste im März 1991 ein Referendum für den Fortbestand der Sowjetunion. Er versuchte, einen neuen Unionsvertrag mit den Republiken auszuhandeln, dessen Unterzeichnung zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr realistisch gewesen sein mag. Den faktischen Endpunkt unter die Existenz der UdSSR setzten jedoch die Präsidenten Russlands, der Ukraine und Belarus’, Jelzin, Krawtschuk und Schuschkewitsch, mit dem Abkommen von Beloweshskaja Puschtscha vom 8. Dezember 1991. Gorbatschow als „Totengräber der Sowjetunion“ zu bezeichnen, vernachlässigt die Rolle Jelzins und auch die der russischen Bevölkerung, die hinter den weiterführenden Demokratisierungsplänen Jelzins stand und die Souveränität Russlands begrüßte.
Gorbatschow-Bild in der russischen Politik
Der von persönlicher Feindschaft geprägte Machtkampf der Jahre 1989 bis 1991 zwischen Gorbatschow und Jelzin setzte sich in der Regierungszeit Jelzins fort. Jelzin und seine Regierungsmannschaft begründeten die radikalen Maßnahmen, die sie nach 1991 ergriffen, auch mit dem Verweis auf die Zaghaftigkeit der Gorbatschowschen Reformen. Die Politik unter Jelzin bestand aus der Abgrenzung zu Gorbatschow: Russland statt Sowjetunion, Mehrparteiensystem statt KPdSU, Privatisierung statt kollektive Eigentumsformen, Handeln statt Reden. Mit der Machtübernahme durch Wladimir Putin bekam das Bild Gorbatschows weitere dunkle Flecken. Für Putin stand von Beginn an die Wiederherstellung eines starken Staates im Mittelpunkt seiner politischen Agenda. Da Putin von Jelzin ins Amt gebracht worden war, konnte die Abgrenzung von dessen Politik zunächst nicht auf eine personalisierte Weise stattfinden. Stattdessen sprach Putin vom Untergang der Sowjetunion als größte Tragödie des 20. Jahrhunderts. Zunehmend wurden die „wilden 1990er Jahre“ als abschreckendes Gegenbild zum „neuen Russland“ konstruiert. Daraus folgte die Ablehnung derjenigen, die für die Ergebnisse der Reformen – reduziert auf Untergang, Regellosigkeit und Chaos – die Verantwortung tragen. In der öffentlichen Wahrnehmung sind dies Gorbatschow und Jelzin. Gorbatschows Ansehen scheint jedoch noch schlechter als das Jelzins zu sein, denn während Letzterer vor allem den Makel des „Säufers“ trägt, so gilt Gorbatschow als „Verräter“ und „Volksfeind“.
Bis zu seinem Tod Ende August 2022 versuchte Gorbatschow, aktiv Politik zu betreiben, sein Image als großer Staatsmann zu pflegen und die Geschichte der von ihm initiierten Perestroika mitzuschreiben. Die von ihm gegründete Gorbatschow-Stiftung wirkt in diese Richtung mit der Veröffentlichung von Dokumenten und öffentlichen Veranstaltungen. Allerdings ist der Erfolg beschränkt. Gorbatschows Teilnahme an den Präsidentschaftswahlen 1996 endete mit einem katastrophalen Resultat, seine Kommentare zur Rechtmäßigkeit der russischen Besetzung der Krim 2014 verstörten die westliche wie auch die liberale russische Öffentlichkeit.
Offen ist, wie sich die Wahrnehmung Gorbatschows im Zuge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ändert: Alexej Wenediktow, ehemaliger Chefredakteur von Echo Moskwy, sagte in einem Interview kurz vor Gorbatschows Tod im August 2022, dass dieser über den Krieg bestürzt sei: „Natürlich versteht er, was da passiert. Das war sein Lebenswerk. Die Freiheit – das war Gorbatschow.“ Wenn der Wunsch nach Wandel in Russland also irgendwann wachsen sollte, dann werden die Reformen der 1980er und 1990er und ihre Vertreter eventuell in ein positiveres Licht rücken.
aktualisiert am 31.08.2022
Zum Weiterlesen
Brown, Archie (2001): Gorbachev, Yeltsin and Putin: Political Leadership in Russia’s Transition, Oxford
Dalos,György (2011): Gorbatschow: Mensch und Macht: Eine Biographie, München
Gorbatschow, Michail (2013): Alles zu seiner Zeit: Mein Leben, Hamburg
Kašin, Oleg (2014): Gorbi-drim, Moskau
Taubmann,William (2017): Gorbachev: His life and times, New York