„Meine Heimat ist das Haus, in dem meine Mutter wohnt“, sagt Tatsiana Tkachova. In ihrem Fotoprojekt Motherlanderkundet die belarussische Fotografin die Bindung zu dem Ort, an dem sie aufgewachsen ist und den vor allem ihre Mutter und ihre Verwandten zu ihrem Zuhause gemacht haben.
Tkachova wurde unter anderem mit dem World Press Photo ausgezeichnet. Aktuell lebt sie in Hamburg. Wir haben mit ihr gesprochen und zeigen eine Auswahl an Bildern aus dem Projekt.
dekoder: Wie ist das Projekt Motherland entstanden?
Tatsiana Tkachova: Das erste Foto entstand 2018 während meines Besuchs zu Neujahr. Ich weiß nicht mehr, was dazu beitrug, jedenfalls wollte ich das Leben meiner Mutter auf Kamera festhalten. An den Feiertagen zum Jahreswechsel besuche ich sie immer. Wir schmücken einen Tannenbaum, kochen Weihnachtsessen, reden viel und tauschen Nachrichten aus. Ich glaube, viele können sich sowas auch hier in Deutschland vorstellen. Ich mache immer Fotos, wenn ich bei meiner Mutter bin. Und dann hatte ich die Idee, meine Mama und ihre Schwestern in dem Haus zu fotografieren, in dem sie aufgewachsen sind. Aber dann kam die Corona-Pandemie, und die Schwestern konnten nicht zu Mama kommen, sie leben woanders in Belarus. Dann ging ich nach Deutschland. Ich hatte aber noch ein Archiv mit Fotos aus den letzten vier Jahren. Für mich war es wichtig, das, was jetzt vorhanden ist, zu einer runden Geschichte zusammenzufügen, soweit das möglich ist. Inspirierend waren für mich dabei Nadia Sablins Geschichte Tjotjuschki (dt. Tantchen) und Tarkowskis Film Zerkalo (dt. Der Spiegel).
Erzählt das Projekt auch eine besonders belarussische Geschichte?
Das weiß ich nicht, darüber habe ich nie nachgedacht. Wäre ich in einem anderen Land geboren, hätte ich wohl eine genauso enge Beziehung zu meiner Mutter und dem Ort, wo ich mein erstes halbes Lebensjahr verbracht habe. Ich liebe Belarus, ich bin hier geboren. Um genau zu sein, ist meine Heimat das Haus, in dem meine Mutter wohnt und ihre Schwestern und ihre Eltern gewohnt haben, meine Großeltern. Dieses Haus ist die Hauptfigur meiner Geschichte. Im Garten wachsen Blumen und Bäume, die mein Opa gepflanzt hat. Er und Oma sind längst tot, aber den Garten gibt es noch. Das kann man nicht erklären, das muss man fühlen. Deswegen finde ich es gut, dass Fotos visuelle Bilder erzeugen, die man schwer in Worte fassen kann, weil jeder eigene hat.
Geht es also in gewisser Weise auch um Verlust?
Ich würde nicht von Verlust sprechen. Ich glaube nicht, dass dieses Wort in diesen Kontext passt. Meine Mama lebt noch, und es geht ihr gut. Wir sprechen doch nicht von Verlust, wenn die Kinder zum Studieren in eine andere Stadt gehen oder in ein anderes Land. Das ist ein natürlicher Vorgang. Die Geschichte, die ich erzähle, ist zeitlos. Eine Verbindung zu dem Ort, an dem man seine Kindheit verbracht hat, und zu seiner Familie hat jeder. Das bleibt für immer in unserem Bewusstsein. Wenn wir Fotos ansehen, spüren wir die Nähe, die Intimität bestimmter Momente, die nur zwischen einander sehr nahestehenden Menschen passieren. Aber wenn man anfängt zu erklären, scheitert man immer, weil jeder seine einzigartige Erfahrung hat. Es ist das, was Umberto Eco in den Bekenntnissen eines jungen Schriftstellers beschrieb. Motherland ist ein Porträt meiner Familie und gewissermaßen ein Selbstporträt, das aus Erinnerungen an einen Ort besteht, den es nicht mehr gibt, weil man nicht in die Vergangenheit zurück kann.
Ein anderer Aspekt des Projekts scheint auch die Rolle der Mutter zu sein?
Mich fasziniert das Phänomen des Mutterseins und wie Frauen imstande sind, das Gerüst einer Familie aufrechtzuerhalten. In meiner Familie war das so. Ich weiß noch, wie jeden Sommer Mutters Schwestern mit ihren Männern und Kindern in unser Elternhaus kamen und wir alle beisammen waren. Irgendwann blieben die Frauen allein, weil die Männer sich mit Opa in die Garage verzogen, um an einem Motorrad herumzuschrauben. Wir saßen im Wohnzimmer, und Oma zeigte uns Stoffe, Kleider, Tücher. Das nannten wir: Schätze bewundern. Ich fragte mich immer: Wozu sollen wir das alles anschauen, wir haben es ja letztes Jahr schon gesehen. Aber die Großmutter fand immer etwas Neues. Sie lachten viel, erinnerten sich an ihre Kindheit, lasen Gedichte. Jetzt besuchen die Verwandten in diesem Haus meine Mutter.
Wie halten Sie Kontakt zu Ihrer Mutter?
Ja, meine Mutter hat mich zweimal hier besucht. Ich setze meine Arbeit an Motherland fort. Wir halten genauso Kontakt wie vorher, unterhalten uns oft per Videocall. Natürlich gibt es wegen der Visabeschränkungen ein paar Dinge zu beachten, aber ich hoffe, dass wir uns auch in Zukunft treffen können.
Haben Sie schon neue Projekte?
Ich arbeite an mehreren Projekten, aber es ist noch zu früh, davon zu erzählen. Ich hoffe, bald Ergebnisse vorzeigen zu können. Was Motherland betrifft, möchte ich unter anderem die ursprüngliche Idee umsetzen und Fotos von Mamas Schwestern hinzufügen, wenn sie sie besuchen. Und auch ein Buch zu Motherland entsteht gerade.
Waleri Salushny, Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, sorgte mit seinen Aussagen in einem Interview mit dem Economist und mit seiner Analyse von einer Pattsituation im Krieg in seiner Heimat für kontroverse Diskussionen. Sowohl in der Ukraine als auch im Westen. Was aber würde ein langanhaltender Stellungskrieg, in dem sich die Ukraine und Russland gegenseitig über längere Zeit aufreiben, für Belarus und für den dortigen Machthaber Alexander Lukaschenko bedeuten und vor allem für einen politischen Wandel, auf den die belarussische Opposition im Exil hofft? Dies fragt sich der Politanalyst Artyom Shraibman in seinem Beitrag für das belarussische Online-Medium Zerkalo.
Salushnys Aussagen müssen durch das Prisma seiner Rolle als Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte gelesen werden. Er ist dafür zuständig, sein Land zu befreien. Er ist weder Militäranalytiker noch hat er Spaß daran, das heimische und das westliche Publikum in tiefe Depressionen zu stürzen. Wenn dieser Artikel und das Interview veröffentlicht werden, dann bedeutet das, dass dahinter konkrete militär-politische Ziele stehen.
Diese werden offensichtlich, wenn man die ungekürzte Fassung des Textes auf Ukrainisch liest: Salushny erklärt ruhig und methodisch, welche Arten von Waffen und Kriegstechnik die ukrainischen Streitkräfte benötigen, um aus der aktuellen Sackgasse herauszukommen. Sein Text ist ein Versuch, den Bündnispartnern der Ukraine klarzumachen, dass sie keine besseren Ergebnisse auf dem Schlachtfeld erwarten können, wenn sie die Unterstützung Kyjiws mit Waffen nicht ernster nehmen. Dafür muss er den Westen wachrütteln, auch wenn das bedeutet, die unangenehme Wahrheit laut auszusprechen. Welche Folgen diese kalte Dusche haben wird, wissen wir nicht. Entweder die westlichen Partner helfen der Ukraine, aus dem von Salushny beschriebenen Dilemma herauszukommen, und der Krieg nimmt eine Wende. Oder sie machen weiter damit, die ukrainische Armee nicht für einen Sieg auszurüsten, sondern nur für die Vermeidung einer Niederlage. Wir wissen auch nicht viel über den Erschöpfungsgrad der russischen Truppen oder darüber, wie sehr ihnen die aktuelle Kriegsform langfristig schaden wird – mit regelmäßigen Angriffen mit Langstreckenraketen und Drohnen auf Lager, Schiffe und Stabsquartiere seitens der Ukraine. Ich sage das, damit wir den wichtigsten Aspekt jedes und insbesondere dieses Kriegs nicht aus den Augen verlieren: Wir können nicht in die Zukunft blicken. Was heute wie eine neue Realität auf Jahre aussieht, kann in ein paar Wochen ganz anders sein, und dann können wir alle Pläne und Prognosen, die wir in Erwartung einer jahrelangen Pattsituation erstellt haben, wieder vergessen.
Die Versuche mancher Stimmen im Westen, Druck auf Kyjiw auszuüben, doch endlich mit Moskau zu verhandeln, ignorieren die politische Realität sowohl in Russland als auch in der Ukraine
Aber es wäre auch falsch, ein solches Szenario zu ignorieren, und ich finde, es ist an der Zeit, ernsthaft darüber zu sprechen. Viele Belarussen, die sich den Wandel wünschen, so auch ich selbst, sind daran gewöhnt, sich die Zukunft im Format „vorher – nachher“ vorzustellen, mit Russlands Niederlage im Krieg als Zeitenwende. Auf lange Sicht hat diese Auffassung durchaus ihre Berechtigung. Doch Salushnys Artikel und eine nüchterne Analyse der Situation auf dem Schlachtfeld sowie der wirtschaftlichen Lage der kriegführenden Parteien legen nahe, dass das „Vorher“ noch viele Jahre lang andauern könnte.
Diese Jahre müssen nicht einmal von Waffenstillstand oder Feuerpausen begleitet sein. Die Versuche mancher Stimmen im Westen, Druck auf Kyjiw auszuüben, doch endlich mit Moskau zu verhandeln, ignorieren die politische Realität sowohl in Russland als auch in der Ukraine. Putin hat von sich aus keine Motivation, die Kampfhandlungen einzustellen – sein Regime ist untrennbar mit dem Kriegszustand verschmolzen, bezieht daraus Legitimität und Langlebigkeit. In der Ukraine wiederum ist es unmöglich, der Regierung oder den Wählern beizubringen, warum sie dem Kreml glauben sollten, dass er auch nur irgendwelche Vertragsbedingungen erfüllen und die Pause nicht für eine Nachrüstung nutzen und dann erneut zum Angriff übergehen wird.
Was die Aussicht auf Veränderungen in Belarus betrifft, ist diese Pattsituation wohl das aussichtsloseste Szenario. Ein auf Sparflamme dahinköchelnder Krieg ist für Lukaschenko politisch gesehen ein Geschenk. So haben jene Belarussen, die im Land geblieben und leicht zu verunsichern sind, stets ein Abschreckungsbeispiel vor Augen, dass das Leben noch schlimmer werden kann. Russland ist weiterhin mit dem Krieg beschäftigt und hat keine Zeit für andere Abenteuer wie etwa die Eingliederung von Belarus. Dabei ist Russlands Antrieb, Lukaschenko finanziell zu unterstützen, stärker als in Friedenszeiten, wenn eher die Buchhaltung den Ausschlag gibt. Gleichzeitig arbeitet die russische Rüstungsindustrie weiterhin auf Hochtouren und sichert auch für die belarussische Produktion eine stabile Auftragslage. Was könnten Triebfedern für einen Wandel in Belarus sein, wenn ein schwelender Konflikt im Ukrainekrieg auf Jahre zur Realität wird?
Mal abgesehen von Putins oder Lukaschenkos Tod, der irgendwann unausweichlich, aber nicht allzu vorhersehbar eintreten wird, gibt es zwei mögliche Problemquellen für Minsk: die Wirtschaft und das Wohlwollen Russlands. Wobei man sich eine Situation, in der nur einer dieser Pfeiler wegbricht und der andere bestehen bleibt, schwer vorstellen kann. Ja, eine hausgemachte Finanzkrise nach dem Muster von 2011, hervorgerufen lediglich durch Fehler der Wirtschaftsorgane, ist in Belarus durchaus möglich. Das Wachstum zum höchsten Ziel erhoben, überschwemmt die Regierung den Markt schon jetzt mit billigem Geld und hält die Preise mithilfe von administrativen Maßnahmen niedrig. Wirtschaftsexperten warnen vor der Gefahr, dass diese Blase platzen könnte.
Es gibt zwei Szenarien, die zu ernsthaften wirtschaftlichen Konflikten zwischen Minsk und Moskau wie in alten Zeiten führen könnten
Doch für sich genommen bringt eine Wirtschaftskrise zwar noch mehr Volatilität in die allgemeine Situation im Land, aber nicht zwangsläufig politische Probleme für Lukaschenko. Solange er die Gesellschaft fest in seiner Gewalt hat und die Loyalität zu Moskau aufrechterhält, wird Putin immer ein paar Milliarden übrig haben, um in Belarus einen Brand zu löschen.
Schlimmer für ihn wäre es, wenn die Krise durch eine bewusste Entscheidung Moskaus ausgelöst würde, den Hahn abzudrehen: Weniger Hilfe zu leisten, als Minsk gerne hätte, oder die Verluste durch eine sich verschlechternde Wirtschaftslage weltweit und in Russland nicht mehr auszugleichen. Eine solche Verschlechterung könnte vieles provozieren – von stark fallenden Rohölpreisen und einer neuerlichen russischen Rezession bis hin zur Verdrängung belarussischer Waren vom russischen Markt durch die Konkurrenz aus China.
Es gibt zwei Szenarien, die zu ernsthaften wirtschaftlichen Konflikten zwischen Minsk und Moskau wie in alten Zeiten führen könnten. Erstens, wenn Putin etwas fordert, das Lukaschenko ihm nicht geben will (eine stärkere Integration oder allzu unangenehme militärische Zugeständnisse), und zweitens, wenn Minsk allzu offen den Dialog mit dem Westen wiederherzustellen versucht. Ersteres hängt in hohem Maße von den Launen der russischen Regierung ab und ist deswegen schwer prognostizierbar. Hier gibt es viele Variablen – von Putins persönlicher Lust, den Retter zu spielen, bis hin zur Kriegsmüdigkeit der russischen Gesellschaft, die dazu führen könnte, dass der Kreml die Aufmerksamkeit auf neue außenpolitische Siege lenken will, etwa die Vereinigung mit Belarus. Beim zweiten Szenario – Moskau fühlt sich von einem neuerlichen Flirt zwischen Minsk und dem Westen provoziert – gibt es ebenfalls viele Unbekannte. Doch je länger der Stellungskrieg in der Ukraine dauert, desto höher stehen die Chancen für eine solche Neuaufnahme des Dialogs.
Nach den Wahlen 2025 werden die Proteste und die Gewalt von 2020 für die neue Generation europäischer und amerikanischer Politiker in ferner Vergangenheit und für die meisten vor ihrer Zeit liegen. Die politischen Gefangenen werden zum Teil wieder frei sein, also ist nicht ausgeschlossen, dass ihre Zahl im Vergleich zu heute geringer sein wird. Die belarussische Beteiligung am Einmarsch in der Ukraine 2022 wird den westlichen Regierungen, wenn Lukaschenko sie nicht selbst daran erinnert, noch weniger präsent sein als der Krieg selbst. In diesem Szenario wird der Krieg für den Westen leider genauso zur Routine werden wie vor dem 24. Februar 2022. Im Westen wird es immer mehr und immer einflussreichere Stimmen geben, die eine gezielte Lockerung der Sanktionen für Belarus wollen und dafür nur eine Forderung stellen: die Freilassung der restlichen politischen Häftlinge.
Wird Lukaschenko in seinem Dialog mit dem Westen Putins rote Linien überschreiten?
Bis dahin wird die Idee, dass man Lukaschenkos Regime mit Sanktionen zu Fall bringen kann, wenn man nur noch ein kleines bisschen ausharrt, endgültig verworfen sein. So werden die Sanktionen allmählich ihre heutige „Immunität“ verlieren. Minsk wird seinerseits immer noch an der Aufhebung dieser Beschränkungen interessiert sein, vor allem, wenn sich der wirtschaftliche Effekt durch das explosionsartige Wachstum der russischen Rüstungsindustrie und ihrer Nachfrage nach belarussischen Gütern langsam erschöpft.
Wird Lukaschenko in seinem Dialog mit dem Westen Putins rote Linien überschreiten? Werden diese roten Linien wiederum noch unflexibler werden, je älter Putin wird und je mehr sein Regime verpuppt? Wird es neue Phänomene geben, die den zivilen Widerstand in Belarus anheizen, so wie 2020 die Pandemie? An den „Krieg im Hintergrund“ wird sich mit der Zeit nicht nur der Westen gewöhnen, sondern auch die belarussische Gesellschaft, sodass das Argument von „Lukaschenko als Friedensgarant“ an Überzeugungskraft verlieren wird.
All diese Fragen sind für unsere Zukunft von größter Bedeutung. Im Moment müssen wir jedoch davon ausgehen, dass ein Wandel in Belarus kaum vorstellbar ist, solange Putin und Lukaschenko an der Macht und die Beziehungen zwischen Minsk und Moskau intakt sind. Was die Aussicht auf eine Demokratisierung in Belarus betrifft, so wird diese wiederum nur möglich, wenn sich Moskau entweder als unfähig erweist oder das Interesse daran verliert, eine prorussische Diktatur in unserem Land aufrechtzuerhalten. Die Fortsetzung eines festgefahrenen Stellungskriegs in der Ukraine, wie von Salushny beschrieben, befreit Lukaschenko nicht von allen potenziellen Problemen der nächsten Jahre. Von allen Alternativen dürfte sie jedoch das entspannteste Szenario für ihn sein.
Die Griechisch-Katholische Kirche hat in der Religionslandschaft Osteuropas eine besondere Bedeutung. Sie pflegt einen orthodoxen Ritus, erkennt aber gleichzeitig den Papst von Rom als höchstes Kirchenoberhaupt an. Sie entstand im 16. Jahrhundert in Osteuropa durch den Zusammenschluss von orthodoxen Bischöfen mit der römisch-katholischen Kirche; diese Union von Brest (1596) war eine bedeutende religionspolitische Zäsur für Teile Osteuropas.
Vorausgegangen waren politische Veränderungen in der Region: Im Kampf zwischen dem orthodox geprägten Moskauer Reich und dem römisch-katholischen Polen-Litauen wurden ab dem Mittelalter mehrfach die Grenzen verschoben und das änderte auch die jeweilige religiöse Zugehörigkeit der herrschenden Eliten. Für die orthodoxe Kirchenleitung auf dem Gebiet des heutigen Belarus erschien die Verbindung mit der katholischen Kirche als eine Möglichkeit, sich mit den katholischen Herrschern von Polen-Litauen gut zu stellen. Die religiöse Zugehörigkeit wurde mit politischen Loyalitäten verbunden, was bis heute besonders in Zeiten gesellschaftlicher Unruhen, wie den Protesten in Belarus, die es zuletzt 2020/2021 gab, neue Relevanz erfährt.
Ihar Kandratsev wurde wegen seiner Aktivitäten wiederholt vorübergehend festgenommen. So wie am 2. November 2022, als Silowiki den Priester kurz vor Beginn des abendlichen Gottesdienstes direkt aus seiner Kirche in Brest abholten.1 Er war im Protestjahr 2020 mit seiner öffentlichen Kritik am Lukaschenka-Regime bekannt geworden, zeigte sich bei zahlreichen Demonstrationen und trat auch als Redner auf. In einem Interview im Herbst 2020 bezeichnete er die offensichtlichen Fälschungen der belarusischen Präsidentschaftswahl als einen „Krieg gegen Gott“. So habe er „nach all diesen Verhaftungen von Kandidaten und normalen Bürgern (…) beschlossen, meine bürgerliche Position zum Ausdruck zu bringen“2. Bis heute gerät der Geistliche, der weiterhin in Belarus geblieben ist, immer wieder dafür unter Druck. Ende 2022 wurde auch die zentrale Homepage der Kirche (carkva-gazeta.by) als „extremistisches“ Medium gesperrt, die Kandratsev gemeinsam mit dem Journalisten Ihar Baranouski betreut. Beide erhielten mehrere Tage Ordnungsarrest. In seinem Monitoring hat das Netzwerk der belarusischen Oppositionsbewegung, „Christliche Vision“ für das Protestjahr 2020 mehrere Fälle von weiteren griechisch-katholischen Gläubigen und Priestern dokumentiert, die politisch verfolgt wurden.3 Sie hatten sich mit den friedlichen Demonstranten solidarisiert, öffentlich die staatliche Gewalt und den Wahlbetrug kritisiert.
Die Belarusische Griechisch-Katholische Kirche (BGKK) steht der Diktatur von Aljaksandr Lukaschenka nicht erst seit 2020 kritisch gegenüber und wahrt – trotz der gewachsenen Repressionen – weiterhin die Distanz. Sie bietet, wenn auch einen kleinen, so zumindest einen gewissen Rückzugsraum für Andersdenkende. Historisch ist die Belarusische Griechisch-Katholische Kirche eng mit der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche verbunden. Mit circa 8000 Gläubigen und 16 Gemeinden (Stand 2021) ist die Kirche in Belarus allerdings eine Minderheit, selbst im Vergleich zur römisch-katholischen Kirche, der knapp sieben Prozent der belarusischen Bevölkerung angehören. Die Mehrheitsgesellschaft hängt der Belarusischen Orthodoxen Kirche an, deren Leitung als Teil des Moskauer Patriarchats die Politik Lukaschenkas und Putins unterstützt. Die orthodoxen Geistlichen nutzten den historischen Konflikt zwischen orthodoxem Osten und katholischem Westen immer wieder, um die Belarusische Griechisch-Katholische Kirche als inneren Feind zu diffamieren. Mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine hat sich das zusätzlich verschärft.
Dieser Konflikt rührt an der historischen Genese der griechisch-katholischen Kirche in Belarus – die bis ins frühere Königreich Polen-Litauen zurückreicht. Seinerzeit gehörten Gebiete der späteren Ukraine und des späteren Belarus, also der westliche Teil der vormaligen Kyjiwer Rus‘, zu Polen-Litauen. Lange Jahre hatte sich Rom bemüht, die orthodoxen Bischöfe in Polen-Litauen, das katholisch geprägt war, von einer Vereinigung zu überzeugen. Bei dem wichtigen Konzil von Ferrara-Florenz 1438, das solch eine Wiedervereinigung der katholischen und der orthodoxen Kirche anstrebte, spielte Metropolit Isidor von Kyjiw und der ganzen Rus’ eine wichtige Rolle. Er hatte die Union auch als Reformansatz ausdrücklich unterstützt und war ein bedeutender Vermittler zwischen der Orthodoxen Kirche und Rom. Das brachte ihm Kritik vom Moskauer Großfürst ein, der die Unionspläne als Vereinigung mit dem größten Feind der wahren Orthodoxie ansah. Nach dem Konzil und Isidors Ernennung zum römischen Vertreter für die gesamte Region reiste er durch die ostslawischen Gebiete, um alle orthodoxen Gläubigen von der Union zu überzeugen. Während man die Union in Polen-Litauen und Galizien begrüßte, wurde Isidor in Moskau allerdings verhaftet und als Oberhaupt der Metropolie von Kyjiw abgesetzt. Es waren die Nachfolger Isidors in Kyjiw, die unabhängig von Moskau die Union schließlich 1596 in Brest besiegelten – auch gegen Widerstand innerhalb der eigenen Priesterschaft.4
Kirchliche Zugehörigkeit und politische Macht
Neben dem großen erhofften Ziel, das getrennte Christentum wieder zu einen, sahen die orthodoxen Bischöfe in Polen-Litauen durch die Union eine Möglichkeit, mit den katholischen Bischöfen im litauischen Königreich rechtlich gleichgestellt zu werden. Alle nicht-katholischen Religionsgemeinschaften waren zuvor immer wieder der Willkür der polnisch-litauischen Herrscher ausgesetzt; neben Jahren der Toleranz gab es aber auch Jahre stärkerer Unterdrückung und Ausgrenzung. Rom erlaubte der neuen Kirche den Erhalt des orthodoxen Ritus, das traditionelle Glaubensleben und auch ein eigenes Ostkirchenrecht, das etwa im Unterschied zu der römisch-katholischen Kirche den Priestern eine Ehe zugestand. Allerdings verstand Rom die Union anders als die orthodoxen Bischöfe als Unterordnung unter den Papst, und nicht als Vereinigung zweier gleichwertiger Traditionen.
Dass weite Teile der orthodoxen Bischöfe die Union von Brest trotzdem begrüßten, war zugleich Ausdruck einer gewachsenen Entfremdung von Moskau. Kyjiw und die westlichen Gebiete der früheren Rus’ hatten – andersrum – auch für Moskau zunehmend an Bedeutung verloren, obschon sich die Kirche offiziell weiterhin als Kirche der ganzen Rus’ bezeichnete. Hintergrund ist, dass die russischen Fürsten lange zuvor damit begonnen hatten, das Machtzentrum schrittweise nach Norden zu verschieben, und nach der Zerstörung Kyjiws durch die Mongolen zog auch der Metropolit von Kyjiw und der ganzen Rus’ als Kirchenoberhaupt zunächst nach Wladimir (im Jahr 1299) und dann nach Moskau (im Jahr 1325).
Nachdem Konstantinopel im Jahr 1453 an die Osmanen und damit an den Islam gefallen war, vertrat Moskau den Anspruch, als einziges orthodoxes Reich der Welt den wahren Glauben zu bewahren – und diesen etwa gegen die katholischen Polen, Litauer und Schweden im Westen zu verteidigen. Der Mutterkirche in Konstantinopel warf man vor, durch die Unionsgespräche auf dem Konzil von Ferrara-Florenz Schwäche zu zeigen und schließlich die Würde als orthodoxe Hauptstadt endgültig verloren zu haben. Die Unterstützung der Union von Brest durch die Bischöfe, die mit Isidors Nachfolgern der Kirche in Konstantinopel unterstanden, war für Moskau damit ein doppelter Verrat – am orthodoxen Glauben und an der Zugehörigkeit zum Herrschaftsraum der Rus‘.
So kam es mit den Auseinandersetzungen um die Union für Moskau zum endgültigen Bruch mit der griechischen Orthodoxie, die ausgehend von der Rus‘ über Jahrhunderte die religiöse Landkarte der Ostslawen geprägt hatte. In der Folge baute Moskau ein eigenes Patriarchat auf.
Zwischen Herrschaftsreligion und Opposition gegen Moskau
Die orthodoxe Bevölkerung im Osten und Süden des Königreiches Polen-Litauen blieb indes weiterhin Konstantinopel unterstellt, lehnte die neue griechisch-katholische Kirche jedoch – anders als die orthodoxen Bischöfe – mehrheitlich ab. Die Sorgen der Menschen waren nicht unbegründet. Die Union von Brest drängte die Orthodoxie auf dem Gebiet von Polen-Litauen stark zurück. Die Herrscher lösten schrittweise die orthodoxen Strukturen im Königreich auf. Nur wenige alte Klöster und Bruderschaften besonders im Süden konnten sich halten, darunter das im 11. Jahrhundert gegründete Kyjiwer Höhlenkloster, das sich mehrfach gegen die Übernahme durch die Unierte Kirche wehrte und bis heute als geistliches Zentrum der Orthodoxie gilt.
Auf dem Territorium des heutigen Belarus konnte sich die Union fast vollständig durchsetzen: Dabei spielte der griechisch-katholische Erzbischof von Polazk, Jasafat (Josaphat) Kunzewitsch (1580–1623), eine wichtige Rolle. Er zog als begabter Prediger viele Menschen an und setzte später rigoros und gemeinsam mit der Staatsgewalt die Union gegen die orthodoxe Bevölkerung, etwa mit Hilfe von Enteignungen, durch. In der Folge wurde er 1623 von wütenden orthodoxen Gläubigen in Witebsk ermordet, 1643 durch Papst Urban VIII. selig- und 1867 als Märtyrer durch die katholische Kirche heiliggesprochen. Er war damit der erste katholische Heilige aus einer griechisch-katholischen Kirche. Mit der Ausbreitung des Russischen Reiches ab dem 18. Jahrhundert gewann seine offen anti-orthodoxe Haltung posthum eine bedeutende symbolische Kraft für den Widerstand gegen die russische Vorherrschaft in der Region. Daraus erklärt sich seine Popularität unter den Gläubigen, die sich auch heute deutlich von Russland absetzen wollen. Seine rigorose Haltung wird dabei selten kritisch reflektiert. Er gilt als Schutzheiliger der Ukraine und des mehrheitlich in der Ukraine verbreiteten Basilianer-Ordens, wird jedoch auch vor allem von der römisch-katholischen Kirche in Polen und Litauen verehrt. Im heutigen Belarus spielt er als Heiliger hingegen eine weniger sichtbare Rolle. Der Grund dafür dürfte in der staatlich unterstützten Dominanz der Russischen Orthodoxen Kirche in Belarus liegen.
Verdrängung und Verbot durch Russland
Mit der Ausdehnung des Moskauer Großfürstentums beziehungsweise des Russischen Reiches wurde die griechisch-katholische Kirche in den westlichen Gebieten wieder zurückgedrängt – zunächst wurde sie in Kyjiw (ab 1648) und später in den Gebieten um Witebsk und Polazk (nach der ersten Teilung von Polen-Litauen 1772) sowie Minsk, Sluzk, Zhitomyr und Braclaw (nach der zweiten Teilung von Polen-Litauen 1793) verboten und die Gemeinden in die russisch-orthodoxe Kirche zwangseingegliedert. Durch diese Politik verschwand die griechisch-katholische Kirche auf dem Gebiet des heutigen Belarus bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts fast vollständig. Im 20. Jahrhundert praktizierten die verbliebenen griechisch-katholischen Gläubigen ihren Glauben schließlich über Jahrzehnte nur noch im Untergrund, da nun nicht nur ihr Glaube, sondern auch ihre nationale Identität als Angriff auf die Ideen der Sowjetunion angesehen wurde.
Eine kleine Gemeinschaft konnte sich überdies in den Gebieten bilden, die zeitweise zu Polen gehört hatten. Als Belarus im Zweiten Weltkrieg von Hitler-Deutschland besetzt war, wurde die Glaubensgemeinschaft für die Zwecke der Nazis instrumentalisiert. Die deutschen Besatzer ließen das durch die sowjetischen Herrscher unterdrückte Glaubensleben als Teil der Kriegsführung wieder zu, es durften Liturgien gefeiert und Kirchbauten genutzt werden. So konnte sich diese Gemeinschaft für ein paar Jahre wieder konsolidieren. Allerdings stand sie nachfolgend unter dem Verdacht, mit Hitlerdeutschland kollaboriert zu haben und so wurden sie mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs erneut durch die sowjetische Armee und durch die Zwangseingliederung in die Russische Orthodoxe Kirche zerschlagen.
Einige Gemeinden konnten immerhin in Polen und im westlichen Exil weiter existieren. In der BSSR war die griechisch-katholische Kirche ebenso verboten wie in der Ukrainischen SSR. Glaubenstraditionen und der religiöse Widerstand gegen politische Instrumentalisierung wurden jedoch im Untergrund bewahrt und prägen das postsowjetische Selbstbewusstsein: Vertreter der griechisch-katholischen Kirche bleiben gegenüber der autoritären Herrschaft Aljaksandr Lukaschenkas kritisch und verweigern sich gleichzeitig der Vereinnahmung durch nationalistische oder pro-europäische Strömungen.
Kirche prägt belarusische Kultur und Identität
Die systematische Unterdrückung durch die russische Politik und Kirche hat, ähnlich wie im Fall der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche, eine besondere konfessionelle Identität geprägt. Die Erfahrung, Spielball von imperialer Religionspolitik zu sein, gibt den Gläubigen – bis heute – ein besonderes Bewusstsein ihrer lokalen und kirchlichen Zugehörigkeit: So pflegt die Belarusische Griechisch-Katholische Kirche die Liturgie in belarusischer Sprache. Das Oberhaupt der Kirche, Siarhiej Hajek, betont die Bedeutung des ersten ostslawischen Bibeldruckers Francisk Skorina, der ursprünglich aus Polazk kam. Die Kirche ist auch ein wichtiger Antrieb für die belarusische Übersetzung liturgischer Texte. Für die Ausbildung von Geistlichen ist die Belarusische Griechisch-Katholische Kirche wiederum eng mit der Schwesterkirche in der Ukraine verbunden. In gesellschaftspolitischen Fragen positioniert sie sich heute in Gemeinschaft mit der römisch-katholischen Bischofskonferenz von Belarus. Das bedeutet auch, dass sie moraltheologisch sehr konservative Ansichten vertritt und etwa die Pro-Life-Bewegung und Anti-Gender-Positionen unterstützt.
Hoffen auf eigenes Bistum
Seitdem die Belarusische Griechisch-Katholische Kirche mit dem Ende der Sowjetunion wieder offiziell anerkannt ist, ist die Gemeinschaft jedoch so klein geblieben, dass der Vatikan lange keine eigene Kirchenstruktur einrichtete. Die Gemeinden unterstanden seit 1991 den römisch-katholischen Bischöfen und einem sogenannten Apostolischen Visitator mit Sitz in Lublin. Erst im März 2023 und als Stärkung der Kirche im Zuge der wachsenden politischen Repressionen in Belarus erhob der Vatikan die Kirche zu einer eigenen Apostolischen Administratur. Damit wurde die Hoffnung genährt, dass sie in naher Zukunft als eigenständiges Bistum anerkannt wird.5 Die Belarusische Orthodoxe Kirche kritisierte diesen Schritt umgehend als Affront gegen die Mehrheitskirche und wertet dies als Einmischung in innere Angelegenheiten. Für die belarusische Orthodoxie des Moskauer Patriarchats ist die Griechisch-Katholische Kirche eine kirchenpolitische Konkurrenz, auch deswegen werden in der Auseinandersetzung historische Feindbilder aktualisiert, mit der die griechisch-katholische Kirche als Gefahr aus dem Westen verfemt und eine gezielte Unterwanderung der eigenen Zivilisation unterstellt wird.6 Mit ähnlichen Vorwürfen versuchte die Orthodoxe Kirche, die Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche seit dem Maidan zu diskreditieren. Gerade gegen diese zivilisatorische Grenzziehung zwischen Ost und West hat sich die Griechisch-Katholische Kirche seit ihrer Entstehung immer gewehrt.
ANMERKUNG DER REDAKTION:
Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.
Seit dem Jahr 2020, als die belarussischen Machthaber begannen, die Proteste niederzuschlagen, wurden mehr als 1400 NGOs liquidiert, berichtet das Online-Medium Pozirk. Auch die Festnahmen gehen weiter, längst werden auch Angehörige von bekannten Dissidenten, die sich im Ausland befinden, festgenommen. Kürzlich der Vater des Schriftstellers Sasha Filipenko.
Die Repressionen in Belarus haben mittlerweile ein Maß erreicht, über das sich selbst russische Journalisten und Dissidenten wundern. Sie befürchten, dass das System Putin die Maßnahmen aus dem Nachbarland in voller Gänze übernehmen könnte. Die russische Journalistin Katja Janschina hat am eigenen Leib erfahren, wie die belarussischen Machthaber gegen unliebsame Personen vorgehen. Sie wurde bei einer Recherchereise verhaftet und musste für 15 Tage ins Gefängnis. Was sie dort gesehen und erlebt hat, beschreibt sie in einem Beitrag für das russische Online-Portal no Future.
Wie weit sind wir vom belarussischen Regime entfernt?
Anfang des Jahres 2023 verschwand die russische Journalistin Katja Janschina. Sie war nach Belarus geflogen, um über den Gerichtsprozess der Mitarbeiter des Menschenrechtszentrums Wjasna zu schreiben. Sie standen vor Gericht, weil sie Menschen halfen. Nach der Verhandlung forderte man Janschina auf mitzukommen. Der Kontakt zu Katja brach ab und ihre Kolleg:innen von Memorial, Adwokatskaja uliza und das Team von no Future begannen, ihr einen Anwalt zu organisieren. Es stellte sich heraus, dass es in Belarus noch schwieriger ist, einen Anwalt zu finden, als in Russland – es gibt nahezu keine mehr. Zudem hat ihre Arbeit im Polizeistaat kaum Aussicht auf Erfolg. Nach 15 Tagen in einer überfüllten Zelle für politische Häftlinge wurde Katja nach Russland deportiert. Im Gespräch mit no Future bittet sie darum, ihre Erlebnisse nicht zu heroisieren und bezeichnet sie als „touristischen Ausflug“ – in eine Zukunft, in der man dafür verurteilt wird, dass man einen Telegram-Kanal abonniert hat, in der grundlos Wohnungen durchsucht, alte Menschen geschlagen und beleidigt werden und Polizisten voller Stolz die Bezeichnung „Oberfaschist“ tragen.
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Zuerst sprach ein merkwürdiger Mann mit mir, er trug keine Uniform, aber seine Visage sagte ganz klar Staatssicherheit. Man merkte sofort, dass dieser Typ es gewohnt war, mit anderen Menschen auf eine ganz bestimmte Art zu sprechen. Er setzt sich hin, spricht dich sofort mit „du“ an und sagt dann mit so einer fordernden Stimme: „Vorstellen, Pass her“. Also völlig überzeugt davon, dass man ihm sofort alles gibt, alles aushändigt. Weil er es so gewohnt ist, er muss sich überhaupt nicht anstrengen. Als ich ihn im Gegenzug bat, sich vorzustellen, sagte er: „Da ich im Gericht war, sollte ja wohl klar sein, wer ich bin?“ Er muss sich also nicht vorstellen. Er fragte: „Kennst du überhaupt die belarussischen Gesetze, die Gesetze des Landes, in das du eingereist bist?“ Ich verstand, worauf er hinauswollte, aber mich ärgerte furchtbar, was gerade ablief. „Ich werde mit Ihnen nicht über Gesetze diskutieren, ich habe Jura studiert“, antwortete ich. Er fragte mich nach extremistischen Telegram-Kanälen aus. Ob ich wüsste, dass es in Belarus solche gibt. Ich erinnere mich noch, wie mich das auf die Palme brachte. Was sollte diese Frage überhaupt? Ich antwortete also: „Wenn Sie wirklich für die Rechtsschutzorgane arbeiten, dann stellen Sie normale Fragen, nicht so seltsame.“ Dann wollte er an mein Handy: „Gib mir dein Telefon und das Passwort, wir schauen mal rein.“ Ich sagte: „Auf keinen Fall.“ Er schaute mich an, als sei ich verrückt, winkte ab und sagte: „Bringt sie weg.“
Man brachte mich auf eine typische Moskauer Polizeistation. Hätte ich nicht gewusst, dass ich in Belarus bin, hätte ich gedacht, ich sitze auf einer russischen Wache. Dieselben Typen, dieselben Gespräche, dasselbe Gefluche nach jedem Wort … Ihre Bullen sind wie unsere. Mit dem einzigen Unterschied, dass es viele junge Männer gibt, die mit politischen Fällen befasst sind. In Russland sind es meiner Erfahrung nach nur wenige junge Leute, die meisten sind Männer über 30.
Als ich im Protokoll las, ich hätte die Milizionäre beleidigt, angeschrien, sie provoziert und ihre Verwarnungen ignoriert, konnte ich mich nicht beherrschen. Ich wollte ihnen einfach zu verstehen geben, dass ich sehe, dass sie mir etwas anhängen wollen. Ich sagte: „Verstehen Sie eigentlich, woran Sie sich da beteiligen?“ Und die sagten nur: „Katja, du verstehst das doch alles, du bist doch ein erwachsener Mensch.“ Ich erwiderte: „Nichtsdestotrotz fabrizieren Sie hier gerade einen Fall. Auch wenn ihr nicht die Initiatoren seid, heißt das nicht, dass ihr unschuldig seid.“ Ich konnte deutlich sehen, dass es ihnen unangenehm war und sie auch alles verstehen. Sie wollten das ja gar nicht … „Du verstehst das doch“, „du bist doch erwachsen“, „wenn es nach uns ginge …“ – dieselben Reaktionen wie bei den russischen Bullen.
Nach der Gerichtsverhandlung schickten sie mich für 15 Tage in den Strafisolator auf der Akreszina-Straße. Dort gibt es zwei Arten von Mitarbeitern: Die einen kommen, arbeiten und gehen wieder, und einige von ihnen haben sogar Mitleid mit dir. Die anderen finden es einfach geil, dass sie hier das Sagen haben. Als Masse sind sie gesichtslos in ihren Uniformen, aber einen konnte ich mir wegen seiner markanten Augenbrauen und besonderen Grausamkeit merken. „Sieh dir das an, die Smahary sehen schon genauso aus wie die Obdachlosen, genauso dreckig und verwahrlost, kein Unterschied“, sagte er zu einem Gehilfen. Smahar ist das belarussische Wort für Kämpfer – so werden die Protestteilnehmer abfällig genannt. Später erfuhr ich, dass sein Name Jewgeni Wrublewski und er tatsächlich als einer der grausamsten Mitarbeiter bekannt war. Er selbst nannte sich den „Oberfaschisten“ von Akreszina.
Als die Zellentür aufging, waren da Menschen über Menschen. Sie saßen auf dem Bett, auf dem Tisch, auf der Bank, auf dem Boden … Es waren Frauen verschiedenen Alters, von 20 bis über 60 Jahre alt. Es gab eine Architektin, eine Buchhalterin, eine Klavierlehrerin, eine IT-Frau, eine Wirtschaftsanalytikerin, eine Projektleiterin, eine Mikrobiologin … Es waren keine herausstechenden Aktivistinnen – die sitzen schon alle im Gefängnis oder haben das Land verlassen. Es waren einfach Frauen, die ihr normales Leben lebten, zur Arbeit gingen und sich nicht vorstellen konnten, dass eines Tages jemand kommen und sie verhaften würde.
Viele werden für Reposts verhaftet. Das ist oft nicht einmal ein Post in den sozialen Netzwerken, sondern eine private Nachricht. Wenn du zum Beispiel einem Freund etwas aus einem verbotenen Telegram-Kanal weiterleitest. Und das muss nicht einmal etwas Politisches sein. Eine Frau saß in der Zelle, weil sie ihrem Freund den aktuellen Wechselkurs aus einem „extremistischen“ Kanal geschickt hatte. Aber es reicht auch schon, einfach in einer Chatgruppe zu sein, um eine Wohnungsdurchsuchung zu bekommen. Manchmal finden sie überhaupt nichts, aber dann wären sie ja umsonst da gewesen! Also schreiben sie 15 Tage Haft für Widerstand gegen die Polizei auf, holen sich dein Telefon und Passwort und suchen weiter.
In Belarus läuft das wie am Förderband – sie holen sich einen, dadurch finden sie die nächsten. Diese Arbeit ist dermaßen systematisiert, dass alle schon wissen: Die Razzien gegen Politische laufen am Donnerstag, also kommt immer freitags ein neuer Schwung Menschen in die Zelle …
Die Toilette in der Zelle war zum Glück mit einer Metallwand mit Tür abgetrennt, aber alle Gerüche gingen in die Zelle, vor allem, wenn die Lüftungsanlage abgestellt war. Um sich zu waschen, gibt es in der Toilette eine Flasche, du füllst sie mit Wasser und kannst dich dann hinter der Wand der Körperpflege widmen. Man wäscht sich also am Waschbecken, dafür geben sie Haushaltsseife aus, aber man muss tagelang darum betteln. Zum Zähneputzen muss man bei der Krankenschwester um Aktivkohle bitten, und die Zähne dann alle paar Tage mit dem Finger schrubben. Damenhygiene … du fragst die Krankenschwester nach Binden, und sie gibt dir zwei ganz dünne pro Tag. Wenn die anderen Frauen nicht ihre eigene kleine Reserve hätten, wäre es kaum zu ertragen. Haarewaschen kann man dort eigentlich gar nicht, womit auch, deshalb flochten sich alle in der Zelle gegenseitig Zöpfe. Wir trugen alle diese Zöpfe.
In der Zelle gibt es drei sehr grelle Lampen, die ständig an sind. Wenn sich alle in eine Reihe auf den Boden schlafen legen, du deinen Kopf unter das Bett schiebst und oben jemand liegt, dann ist das Licht verdeckt … Oder man legt sich eine Socke auf die Augen. Aber, ehrlich gesagt, das Licht war noch das geringste Übel im Vergleich zu allem anderen, vor allem der stickigen Luft.
Sie steckten immer wieder „asoziale“ Frauen in unsere Zelle. Sie brachten Läuse mit, und alle anderen bekamen sie dann auch. Manche Verwandten kamen auf die Idee, Läusemittel mitzuschicken, und so wuschen wir diesen Frauen die Haare, und uns selbst auch. Sie wurden wahrscheinlich in unsere Zelle gesteckt, um es uns noch unangenehmer zu machen und Streit zu schüren, aber das gelang nicht. Es waren ganz normale Frauen, nur eben mit gebrochenem Schicksal. Letztlich waren sie die Gestraften, denn in den anderen Zellen hätten sie ein eigenes Bett gehabt, ausgeschaltetes Licht und eine funktionierende Lüftung.
Die Zelle für die Politischen ist immer voll. Aber das Schlimmste sind weder der unerträgliche Alltag noch die fünfzehn Menschen auf engstem Raum, nicht einmal die Läuse und Wanzen oder die stickige Luft. Das Schlimmste ist, dass du 15 Tage bekommen hast und bis zuletzt nicht weißt, ob du danach rauskommst oder ein Strafverfahren auf dich wartet … vielleicht bekommst du auch noch mal 15 Tage, oder sie finden in deinem Handy etwas gegen jemand anderen … Ich werde mir nie vorstellen können, was diese Frauen fühlten, die in dieser Zelle saßen und nicht wussten, ob sie am Ende rauskommen würden oder nicht. Und selbst wenn sie rauskommen, werden sie ständig in der Erwartung leben, wieder verhaftet zu werden.
Ich hörte mir die Geschichten dieser Frauen an und dachte: „Was für ein Mist, das sind wunderbare Menschen, sie haben nicht verdient, dass das mit ihnen passiert, sie haben diesen Staat nicht verdient.“ Ich dachte darüber nach, warum so wenig darüber gesprochen wird, wo all das doch genau jetzt passiert. In dieser Zelle sitzen auch heute noch 15 Menschen, und manche werden da nicht mehr rauskommen, weil im Anschluss das Strafverfahren wartet.
Warum erzähle ich das alles? Natürlich wird es nichts an der Regierung in Belarus ändern, es wird auch die Haftbedingungen der Politischen in Akreszina nicht menschlicher machen, aber wenigstens schaltet und waltet das Böse nicht in aller Stille und bei ausgeschaltetem Licht. Wir haben nicht viele Instrumente, um den Belarussen, besonders von Russland aus, zu helfen, aber wir sind verpflichtet, darüber zu sprechen. Und wenn es nur dazu führt, dass dieser Jewgeni Wrublewski, der Möchtegern-„Oberfaschist“, sich später seiner Verantwortung nicht entziehen kann, dass alles, was passiert, dokumentiert wird und es wenigstens später Gerechtigkeit geben kann. Damit die Menschen, die jetzt in diesem Moment das alles durchmachen müssen, das nicht umsonst tun.
Die belarussische Schriftstellerin und Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch erhebt immer wieder ihre Stimme, wenn es um politische Themen und die Verteidigung demokratischer Grundrechte geht. Auch deswegen musste sie ihre Heimat verlassen, wo die Machthaber nach den Protesten von 2020 bis heute mit harten Repressionen gegen jegliche Form des Andersdenkens vorgehen.
In einem längeren Interview für das belarussische Online-Medium Zerkalo spricht Alexijewitsch über den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, über die Frage einer Schuld der Belarussen an diesem Krieg, über die vielen politischen Gefangenen in ihrer Heimat und über die Auswirkungen der post-sowjetischen Ära auf die aktuelle Lage in Osteuropa.
Zerkalo: Was machen Sie in letzter Zeit?
Swetlana Alexijewitsch: Ich lebe in Berlin, habe Heimweh, schreibe ein Buch und reise viel. Im Grunde ist mein Leben wie immer, nur eben nicht zuhause. Belarus vermisse ich sehr. Ich habe keine Ahnung, wann ich wieder hinfahren kann. Das macht mich traurig.
Sie wurden in der Ukraine geboren, in Iwano-Frankiwsk. Ihre Mutter ist Ukrainerin, Ihr Vater Belarusse. Wie erleben Sie das, was derzeit passiert?
Ich fiebere mit der Ukraine, ich wünsche mir sehr, dass sie siegt. Das würde das Machtgefüge unserer gesamten Region verändern. Sonst bleiben wir weiterhin außen vor. Die Ukraine ruft in mir nichts als Begeisterung hervor. Wie sich die Ukrainer vom ersten Tag an behauptet und gezeigt haben, dass sie ihre Heimat nicht hergeben, das kann nur begeistern.
Haben Sie erwartet, dass die Ukrainer sich so verhalten?
Wissen Sie, ich habe lange genug in der Ukraine gelebt. Ich habe damit gerechnet, ja, ich wusste, dass sie die Ukraine nicht hergeben werden. Sie haben schon mehrere Maidane hinter sich. Sie sind auf ein europäisches Leben eingestellt und wollen nichts anderes mehr. Ich war dort an vielen Universitäten eingeladen, habe diese Jugend mit ihren leuchtenden Augen gesehen, die sich ein neues Land aufbauen will. Ich fürchte nur, sie sind jetzt alle tot.
Tragen die Belarussen Schuld an diesem Krieg und werden wir danach Reparationen an die Ukraine zahlen müssen?
Ob wir müssen werden, weiß ich nicht, aber ich denke, wir werden helfen. Wir sind ja Geiseln unseres Regimes. In Belarus tragen nur wenige Menschen Schuld, und wenn, dann sind es Russen, die Russland unterstützen. Ich habe hier viele Belarussen getroffen, keiner hat schlecht über die Ukraine gesprochen, niemand will kämpfen und Ukrainer töten. Ich habe zwei Cousins in der Ukraine und will mir gar nicht vorstellen, wie das möglich wäre – dass wir einander umbringen.
Das sind nicht meine Worte, aber man hört oft: Dieser Krieg ist ein Krieg der alten Männer, der alten Überzeugungen und Vorstellungen, ein Krieg von Leuten , die diese alte Weltordnung beibehalten wollen. Schade um die ukrainische Jugend, auch um die russische, die gern anders leben würde. Ich habe hier viele Menschen gesehen, die vor der Mobilmachung geflohen sind. Sie könnten in den Schützengräben sitzen, aber sie wollen nicht sterben oder Ukrainer töten. Sie verstehen nicht, warum sie Menschen töten sollten, die einfach ihr Leben leben. Es ist also ein Krieg der Alten. Sie wollen die Zeit besiegen, aber das geht nicht. Also werden sie verlieren. Die Frage ist nur – wann?
Sprechen wir über die politischen Gefangenen in Belarus. Halten Sie es für angebracht, wenn es einem peinlich ist, dass sie im Gefängnis sitzen?
Ich weiß gar nicht, ob man das peinlich nennen kann. Peinlichkeit ist ein oberflächliches Gefühl, hier geht es um etwas viel Tieferes. Man begreift, dass man an ihrer Stelle sein könnte. Bei meiner Gesundheit würden mir zwei-drei Tage Gefängnis wohl reichen, aber trotzdem könnte ich an ihrer Stelle sein, bin es aber nicht. Ich bin nicht einmal im Land.
Was ist das also für ein Gefühl? Vielleicht ist es Scham oder Peinlichkeit, auch wenn die sehr an der Oberfläche liegen. Diese Gefühle gehen tiefer. Denn ich kenne Katja Andrejewa (eine Journalistin des Fernsehsenders Belsat, die zu 8 Jahren und 3 Monaten verurteilt wurde, Anm. d. Red.) und Maria Kolesnikowa, diese schöne Powerfrau, die eine Leitfigur im neuen Belarus hätte sein können. Wahrscheinlich ist es nicht Peinlichkeit, sondern Verzweiflung. So würde ich es nennen.
Ich denke ständig an Mascha Kolesnikowa, die ich sehr toll finde, an Polina Scharendo-Panasjuk, an Katja Andrejewa – so wunderbare Frauen! Ich will mir nicht vorstellen, was man ihnen dort antut, wie krank sie davon zurückkehren werden. Unsere Hilflosigkeit desillusioniert mich, dass wir nichts für sie tun können. Hilflosigkeit. Ich weiß nicht, was ich tun kann. Ich kenne viele, die im Gefängnis sitzen, sehr starke und interessante Frauen. Und auch Männer, wie Maxim Znak zum Beispiel.
Sollte der Westen Zugeständnisse machen, um die politischen Gefangenen zu befreien? Beispielsweise Belarus von Sanktionen befreien oder Lukaschenko als Präsidenten anerkennen?
Ich weiß nicht. Früher war ich überzeugt, dass man alles tun sollte, um Menschen zu retten. Ich dachte das, als Nord-Ost passierte (eine Geiselnahme in Moskau im Oktober 2002, Anm. d. Red.) und als der Tschetschenienkrieg begann. Und auch jetzt denke ich, dass es unsere oberste Priorität sein sollte, Menschen zu retten. Andererseits wird die Regierung sich kaum auf Zugeständnisse einlassen. Sie halten die Häftlinge nicht nur als Tauschware im Gefängnis, sondern auch aus Rache. Sie sehen ja, die Maschine läuft, sie bleibt nicht einfach stehen, jeden Tag gibt es neue Verhaftungen. Und vor allem so brutale.
Ich werde nie vergessen, wie eine Frau – ich glaube, es war Nikolaj Awtuchowitschs Mutter – während der Wohnungsdurchsuchung gezwungen wurde, die ganze Zeit zu knien. Vielleicht war es auch jemand anders, aber das hat sich mir eingeprägt. Letztlich hat ja nicht Lukaschenko befohlen, dass sie knien muss, das war deren Wunsch. Das bedeutet, ein Teil der Leute hasst uns, hasst uns dermaßen, dass sie eine alte Mutter vier Stunden lang knien lassen.
Das ist alles ziemlich gefährlich. Ich hatte immer Angst vor einem Bürgerkrieg. Wir balancieren ständig auf einem schmalen Grat. Je länger es dauert, desto tiefer geraten wir hinein.
Menschenrechtsaktivisten sprechen von 1500 politischen Gefangenen allein in den Untersuchungshaftanstalten und Straflagern, zudem gibt es Menschen, die ohne unser Wissen aus politischen Gründen sitzen, enorm viele haben Verhaftung, Schläge, Prozesse, Strafen, Durchsuchungen und Emigration hinter sich. Wie wird sich diese Erfahrung in unserer Bevölkerung niederschlagen?
Es ist ein schweres historisches Trauma. Eine Demütigung. Einerseits werden wir, wenn es gut ausgeht, sagen können, dass wir standgehalten haben. Andererseits geht das nicht spurlos an einer Nation vorbei.
Es hängt alles davon ab, wie sich unser weiteres Leben entwickelt. Ob wir in Belarus bleiben können, wo wir nun einmal in einer geopolitischen Lage sind, in der Russland auch ohne Lukaschenko und mit einem anderen Präsidenten immer irgendwie präsent sein wird. Es ist also sehr kompliziert. Ich bin keine Politikerin, aber ich denke, dass die Bewährungsprobe für unsere Nation noch nicht zu Ende ist. Uns steht noch so etwas wie ein Bürgerkrieg bevor.
Die aktuelle Emigrationswelle aus Belarus ist nicht die erste, aber wohl die umfangreichste in der Geschichte des Landes. Haben Sie versucht, den Erfahrungen nachzuspüren, die die Menschen machen, die das Land verlassen und alles aufgegeben haben?
Ja, ich treffe mich viel mit solchen Leuten und möchte ein Buch über sie schreiben. Noch vor einem Jahr hatten diese jungen Menschen leuchtende Augen und dachten, sie würden sehr bald zurückkehren. Jetzt ist dieses Strahlen erloschen. Bei Weitem nicht alle wollen hierbleiben (ich auch nicht), sie wollen nach Hause, wissen aber nicht wie.
Gelingt es Ihnen, Kontakt mit Belarussen zu halten, die noch im Land sind? Wissen Sie, wie es denen geht?
Es gelingt mir nur wenig, da ich weiß, dass ich abgehört werde, dafür habe ich Beweise. Ich möchte niemanden gefährden. Aber wenn wir uns treffen, dann frage ich sie aus. Ich möchte in meinem neuen Buch über sie schreiben.
Und dieser Streit zwischen Emigrierten und Gebliebenen … Den finde ich ungerechtfertigt. Denn auch, wer ins Ausland geht, hat es schwer. Ich kannte 50-jährige Frauen, die am Bahnhof Lasten schleppten, um zu überleben. Später fanden sie eine andere Arbeit, aber am Anfang mussten sie da durch. Ich möchte nicht, dass die Menschen in Belarus glauben, uns gehe es hier so gut. Einerseits das Heimweh, andererseits wollen bei Weitem nicht alle bleiben. Ja, viele werden hierbleiben, das ist klar, weil sie Kinder haben, die zur Schule gehen, sie werden in einem normalen Land aufwachsen.
Polen zum Beispiel ist sehr froh über die belarussischen Immigranten. Ich war in Wrocław, dort gibt es Fabriken, die schon geschlossen waren und nun wieder produzieren können. Für die Wirtschaft ist das sehr gut. Und die Menschen haben alles, was sie zum Leben brauchen. Aber keiner von uns weiß, wann es das neue Belarus geben wird, wer dahin zurückkehren wird. Ich denke, es werden viele sein.
Wenn Sie jetzt zurückblicken, drei Jahre nach den Wahlen, würden Sie dann wieder genauso handeln – dem Koordinationsrat beitreten und Ihre Solidarität mit den Protestierenden ausdrücken?
Ja, natürlich, damals ging es gar nicht anders. Das war eine solche Bewegung, solche Gesichter! Mein Gott, wie viele wunderschöne Frauen in weißen Kleidern da auf den Straßen waren. Sie schenkten den OMON-Spezialeinheiten Blumen, worauf diese ziemlich verwirrt reagierten, bis sie ihr Kommando empfingen. Es wäre seltsam, wenn ich mit Asarjonok in dieser Rückkehrerkommission säße, während Mascha Kolesnikowa im Gefängnis ist. Nein, das ist unvorstellbar.
Halten Sie es für richtig, dass der Protest friedlich geblieben ist? Oder hätten die Protestierenden doch entschlossener handeln sollen?
Diese Frage wird mir tatsächlich häufig gestellt. Ich war immer für friedlichen Protest, und nun schreibt man mir sogar Briefe, in denen man mir das vorwirft: „Sind Sie glücklich mit Ihren Luftballons und Blümchen?“ Verstehen Sie, wir haben der ganzen Welt gezeigt, dass Protest anders sein kann, dass völlig andere Menschen auf die Straße gehen können. Im Nachhinein haben wir dafür bezahlt. Aber ich reise viel, und die ganze Welt erinnert sich daran, wie schön und würdevoll alles war. Es müssen keine Reifen brennen.
Erstens waren die Menschen nicht bereit zum gewaltsamen Protest. Der Protest war, wie er war, weil seit dem letzten Krieg so viele Jahre vergangen und die Menschen an Frieden gewöhnt sind. Sofort eine Waffe oder einen Pflasterstein zu greifen, das ist nicht so leicht. Ich habe bei den Märschen niemanden gesehen, der dazu bereit gewesen wäre. Wenn die Situation irgendwie gekippt wäre, vielleicht wäre es dann möglich gewesen.
Wir hätten länger auf der Straße bleiben müssen, wir hätten nicht nachlassen dürfen
Diese Hofgemeinschaften, die entstanden sind, das war ein völlig anderes, friedliches und modernes Belarus. Das hat die Menschen im Westen sehr beeindruckt, weil sie eher brennende Reifen kennen. Aber sehen Sie, wenn Reifen brennen wie auf dem Maidan, dann gewinnt das Land, aber wenn die Menschen in weißen Kleidern und mit Blumen auf die Straße gehen, dann bezahlen sie hinterher dafür.
Aber ich bin Künstlerin, ich kann mich nicht über Blutvergießen freuen oder behaupten, es sei notwendig. Auch wenn russische Schriftsteller immer sagen, dass beständig sei, wofür Blut geflossen ist. Nein, das war nie meine Überzeugung und ist es auch heute nicht.
Ein anderes Thema ist, dass wir länger auf der Straße hätten bleiben müssen, wir hätten nicht nachlassen dürfen. An diesem einen Tag, an dem wir so viele waren wie noch nie und Lukaschenko mit dem Maschinengewehr herumlief, kehrten wir vom Marsch zurück, und da war ein alter Mann, der weinte und sagte: „Wohin geht ihr, warum geht ihr weg?“ Verstehen Sie, er sprach aus Erfahrung.
Wir dachten, dass wir nach Hause gehen, um am nächsten Tag wiederzukommen. Mascha Kolesnikowa stand ebenfalls da und wollte die Leute nicht gehen lassen, sie sagte: „Bleibt hier!“ Ich weiß nicht, vielleicht wird die Geschichte sagen, dass wir im Unrecht waren, aber das war so schön. Was danach kam, war schrecklich – die Gefängnisse und all das. Für diese Schönheit müssen wir nun die Konsequenzen tragen.
Ihr neues Buch sollte ursprünglich von der Liebe handeln, nun habe ich gehört, Sie schreiben über die Proteste?
Mein Buch Secondhand-Zeit trägt im Original den Untertitel Das Ende des roten Menschen. Wie sich nun herausstellt, war das noch nicht sein Ende. Er lebt weiter, er hatte sich nur versteckt. Also muss diese Geschichte weitergeschrieben werden, und das tue ich. Über den roten Menschen, was er verkörpert, wer seine Kinder sind, die nach dem Zerfall der UdSSR aufwuchsen. Ein sehr großes und ernstes Thema.
Ich würde gern Bücher über andere Themen schreiben, die mich interessieren, über die Liebe und das Altern. Dank der Medizin sind uns 20-30 Jahre zusätzliche Lebenszeit vergönnt. Mich interessiert, was die Menschen darüber denken, wie sie leben, wie sie diese Zeit nutzen. Aber sehen Sie, es gelingt mir nicht, die Barrikaden zu verlassen.
Nach dem Zerfall der UdSSR entstand ein furchtbarer Hybrid aus Kapitalismus und sowjetischem Fundament, es wurden Staaten gegründet, die nur vorgeben, Demokratien zu sein. Sie organisieren Wahlen und errichten eine Marktwirtschaft, aber in Wirklichkeit sind sie ganz normale Diktaturen, ohne klare Ideologie und mit dem einzigen Ziel, die Macht ihrer Führung zu sichern und auszuweiten. Welches der beiden Systeme ist in Ihren Augen schlimmer – das sowjetische oder das postsowjetische?
Ich hatte mehrfach die Gelegenheit, Michail Gorbatschow zu treffen. Viel haben wir nicht gesprochen, aber er sagte wiederholt, er sei Sozialdemokrat. Ich denke auch, dass man Gorbatschows Wunsch, einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz zu schaffen – auch wenn Russland so riesig ist und die Sowjetunion so riesig und mächtig war – als moderne Sozialdemokratie bezeichnen kann. Das ist mir sehr nah. Ich glaube, Russland hätte einen anderen Weg eingeschlagen, wenn er an der Macht geblieben wäre. Er war wohl nicht die Art Mensch, die Krieg mit der Ukraine führt. Nein, er war anders, aus einer anderen Zeit.
Ich erinnere mich an seine Dialoge mit dem Dalai-Lama (dem geistigen Führer Tibets, Anm. d. Red.). Die beiden formulierten sehr schöne Träume. Es gibt ein Buch darüber, aber meines Wissens nicht auf Russisch. Es soll sehr interessant sein – zwei Menschen dieses Denkens unterhalten sich über die Zukunft. Aber sehen Sie, es ist nichts daraus geworden, alles hat eine andere Richtung genommen.
Die Menschen hatten viele Jahre im Lager gelebt, und plötzlich ließ man sie frei. Sie traten vor die Tore, kannten nichts außer dem Lagerleben. Was sollten sie also aufbauen? Wieder ein Lager. Sie erinnern sich wieder daran, dass wir Menschen des Krieges sind, dass wir entweder kämpfen oder uns auf einen Krieg vorbereiten oder uns an einen erinnern – das ist unser Zustand. Ich habe viele Jahre lang unsere Geschichte aufgeschrieben, und ich würde sagen, die Erfahrung des Krieges und der Stalinzeit, das waren die zentralen Erfahrungen des sowjetischen Menschen.
Man hätte das Volk auch bilden müssen. Nicht nur füttern
Ich erinnere mich an eine Reise nach Russland, irgendwo in die Provinz, bei Irkutsk, glaube ich. Hinterher erzählte ich meinen Freunden in Moskau: „Ihr wisst gar nicht, was die Menschen denken, die dort leben. Alles, was wir hier über Demokratie und Freiheit reden, betrifft nur unseren kleinen Kreis. Fahrt nur ein Stückchen weiter, schon weiß keiner mehr, was Freiheit ist“. Früh am Morgen hielten wir an einem Laden, vor dem schon ein Mann stand, und er sagte zu mir: „Was für eine Freiheit? Es gibt den Wodka, den du willst, es gibt sogar Bananen. Welche Freiheit? Wovon redest du?“
Man hätte also das Volk auch bilden müssen. Nicht nur füttern, sondern auch mit ihm über die Freiheit sprechen. Über das neue Leben. Aber niemand hatte Erfahrung damit, weder die Schriftsteller noch die Ökonomen, noch die Politiker. Also ist ein neues Lager entstanden, das noch schrecklicher ist als das davor. Das Einzige, was mir trotz allem gut gefällt, sind die jungen Leute. Ich hatte Gelegenheit, mit einigen zu sprechen, die gerade das Studium beenden. Sie gefielen mir sehr. Wir haben damals vom Kosmos geträumt, von geologischen Expeditionen, wir waren Romantiker. Diese jungen Leute heute träumen konkret: Wirtschaft studieren, Manager werden, oder etwas in der Art. Sie haben so eine Selbstachtung.
Ich erinnere mich an eine Schülerin, die bei der Abschlussfeier des Gymnasiums für einen Lehrer eingetreten ist, der im Okrestina inhaftiert war. Ich weiß nicht, wo dieses mutige Mädchen jetzt ist, sie wurde ebenfalls verhaftet. Und dieser „Studenten-Fall“! Damit beschäftige ich mich gerade. Ja, sie wurden unter Druck gesetzt, manche vielleicht auch gebrochen, aber sie haben Großartiges geleistet, und die anderen jungen Leute werden sich daran erinnern.
Wissen Sie, alles was heute vor sich geht, will begriffen werden. Nicht nur Lukaschenko oder die Opposition. Man muss diese ganze Aura erfassen, die es im Land gibt, in dem um die 1000 Organisationen liquidiert wurden. Selbst ein Verein zum Schutz der Wildvögel. (Gemeint ist die Liquidation der NGO Achowa ptuschak bazkauschtschyny, Anm. d. Red.).
Können Sie sich vorstellen, was für ein Land da geschaffen werden soll? Und doch, trotz allem können sie uns nicht aus dem globalen Kontext werfen. Es gibt Computer, einen gemeinsamen Raum im Netz. Ich wiederhole deshalb: Diese Leute kämpfen gegen die Zeit, doch die Zeit ist unbesiegbar.
Das heißt, die roten Menschen werden abtreten? Wie kann man die Menschen charakterisieren, die den roten Menschen ablösen werden?
Unter diesem roten Menschen haben wir gelebt wie in einem Aquarium. Jetzt kommen Leute nach, die dem Rest der Welt gleichen. Ob es die Diktatoren wollen oder nicht, Russland und Belarus öffnen sich..
Man kann heute nicht mehr in einem abgegrenzten Ghetto leben. In der heutigen Zeit sind Ghettos nicht mehr möglich. Und wenn, dann nur für kurze Zeit. Schade natürlich, dass das Leben so kurz ist, aber was will man machen?
Wie kann man ein Land charakterisieren, in dem die Werke der einzigen Literaturnobelpreisträgerin auf Extremismus überprüft werden?
Ja, das ist eine interessante Frage. Ich glaube, im Gebiet Hrodna hat man sogar Bücher von mir, von Uladsimir Arlou und Alhierd Bacharevič gesammelt, in eine Grube geworfen und angezündet. (Anm. d. Red.: Wir konnten keine Bestätigung für diese Information in öffentlich zugänglichen Ressourcen finden.) Die Phantasie unserer Sklaverei ist erstaunlich. Sergej Dowlatow antwortete einmal auf die Behauptung, Stalin sei an allem schuld: „Ja, Stalin. Aber wer hat die vier Millionen Denunziationen geschrieben?“ Etwas Ähnliches passiert auch bei uns. Ich habe mich mit der Stalinzeit beschäftigt und bin erschüttert, wie sehr sich alles wiederholt, wie das alles in den Hirnen festsitzt. Wieder Denunziationen, wieder lässt sich die Macht an Menschen aus, die anders denken. Es ist erschreckend. Es ist noch nicht 1937, aber es erinnert bereits daran. Besonders das Verhalten der Menschen in solchen kritischen Situationen.
Im Laufe des Jahres 2023 haben die belarussischen Machthaber alle oppositionellen Parteien liquidiert. Es ist Teil der Radikalisierung des politischen Systems von Alexander Lukaschenko, das sich mit der Niederschlagung der Proteste von 2020 zusehends in Richtung Totalitarismus entwickelt, manche sagen, sich sowjetischen Zuständen annähert.
Auch die Partyja BNF wurde im August verboten; die national-konservative Partei hat in Belarus Geschichte geschrieben. Hervorgegangen aus der Belarussischen Volksfront, die in der zweiten Hälfte der 1980er entstand, wurde die BNF zu einem wichtigen Akteur im Übergang von Belarus in die Unabhängigkeit, wie auch BNF-Mitgründer Yury Drakakhrust in seiner Analyse für dekoder schreibt.
Das belarussische Online-Medium Zerkalo erzählt die Geschichte ihres Aufstiegs und ihres Niedergangs, die auch eine Geschichte darüber ist, wie der einst demokratisch gewählte Lukaschenko in den 1990er Jahren sein autoritäres Machtsystem etablieren konnte.
Die Gründungsversammlung der Belarussischen Volksfront „Wiedergeburt“ (Belaruski Narodny Front „Adradshenne“, BNF), die damals formal noch keine Partei, sondern eine Bewegung war, fand am 24. und 25. Juni 1989 in Vilnius statt, da die Minsker Behörden eine Durchführung in der Hauptstadt der BSSR nicht genehmigt hatten. Die Entstehung der BNF hatte bereits früher begonnen, begünstigt durch eine Reihe von Ereignissen.
Vier Jahre zuvor war Michail Gorbatschow in Moskau an die Macht gekommen und hatte die Perestroika begonnen. Dies bedeutete unter anderem eine gewisse Liberalisierung des Lebens in der Sowjetunion und eine Politik der Glasnost mit einer größeren Medienfreiheit. Davon machte der Kunstwissenschaftler und Archäologe Sjanon Pasnjak Gebrauch: Am 3. Juni 1988 veröffentlichte er gemeinsam mit dem Ingenieur Jauhen Schmyhaljou (russ. Jewgeni Schmygaljow) in der Zeitung Litaratura i Mastaztwa (dt. Literatur und Kunst) den Artikel Kurapaty – Weg des Todes.
Der Text berichtete von den Massenerschießungen, die während der Stalin-Zeit im Wald von Kurapaty am heutigen Stadtrand von Minsk stattgefunden hatten. Alexander Feduta schreibt in seinem Buch Lukaschenko. Eine politische Biografie aphoristisch, damals [Ende der 1980er] sei Belarus aufgewacht. Geweckt hätten es Ales Adamowitsch mit der Wahrheit über Tschernobyl und Sjanon Pasnjak mit der Wahrheit über Kurapaty.
Die Veröffentlichung des Artikels erregte bald Aufmerksamkeit über die Grenzen der Republik hinaus, er wurde in zentralen sowjetischen und ausländischen Medien abgedruckt. Die Behörden kamen daher nicht umhin, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten. An den archäologischen Grabungen nahm Pasnjak selbst teil. Die Ermittlungen ergaben, dass die Erschießungen vom NKWD durchgeführt wurden, und zwar vor dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion.
Die BNF konnte sich auf Vorbilder stützen, die es damals bereits in den baltischen Ländern gab. Diese „Volksfronten“ waren keine Parteien, sondern möglichst breit aufgestellte Bewegungen, in denen sich Menschen mit unterschiedlichen politischen Ansichten, aber ähnlichen Zielen versammelten. Auch die Belarussische Volksfront begann als solche Bewegung.
So lässt sich teilweise erklären, warum in unserem Land seitdem jegliche Regierungskritiker häufig unter dem Begriff „BNFler“ zusammengefasst werden. Andere oppositionelle Bewegungen gab es damals nicht, daher unterstützte der überwiegende Teil der demokratisch eingestellten Belarussen die BNF. Einen entscheidenden Einfluss hatte auch die Propaganda im belarussischen Fernsehen und in der staatlichen Presse seit Anbruch der Lukaschenko-Ära. Erstens verteufelte diese gerade die BNF stärker als alles andere. Zweitens sollten unter den neuen Bedingungen andere politische Parteien daran gehindert werden, sich zu entwickeln und zur Regierungsmacht aufzuschließen. Dadurch wurde im Bewusstsein der Massen die BNF zur wichtigsten Oppositionsbewegung.
Kehren wir zurück in die letzten Jahre der Sowjetunion. Im Februar 1989 versammelte die BNF im Minsker Dynamo-Stadion 40.000 Menschen. Das war die erste behördlich genehmigte oppositionelle Massenveranstaltung in Belarus. Dass die Menschen, wie das Portal Tut.by schrieb, neben weiß-rot-weißen Flaggen auch Flaggen der BSSR, der UdSSR sowie russische und litauische Fahnen trugen.
Wie bereits erwähnt, hatten die belarussischen Behörden die Gründungsversammlung der BNF in Minsk verboten, und die Delegierten mussten nach Vilnius ausweichen. Erwartungsgemäß wurde Pasnjak zum Vorsitzenden der Bewegung gewählt. Dem damaligen Zeitgeist entsprechend erhielt die Organisation den Namenszusatz Für die Perestroika, der erst zwei Jahre später abgelegt wurde. Das Programm enthielt auch Verweise auf kommunistische Grundsätze. Konkret hieß es darin, die BNF „tritt ein für den Umbau der Gesellschaft gemäß den Prinzipien von Demokratie, Humanismus und sozialer Gerechtigkeit, für die Errichtung eines Rechtsstaates, für die Wiedergeburt der leninistischen Grundsätze der Politik der Völker, für die tatsächliche Souveränität von Belarus, wie in der Verfassung der BSSR verankert“.
1990 sollten die ersten alternativen Wahlen zum Obersten Sowjet stattfinden, dem Parlament der BSSR. Am 25. Februar organisierte die BNF vor dem Haus der Regierung eine riesige Wahlkundgebung. Sjarhej Nawumtschyk nennt in seinem Buch die Teilnehmerzahl von 100.000: „Zum ersten Mal sah Minsk eine solche Massenversammlung, zum ersten Mal fand eine öffentliche Auseinandersetzung zwischen BNF und der (Führung der) Kommunistischen Partei von Belarus [KPB – dek] statt, genauer gesagt, zwischen dem Vorsitzenden der BNF, Sjanon Pasnjak, und dem Generalsekretär des ZK [Zentralkomitee – dek] der KPB, Jefrem Sokolow. Letzterer begann seinen Auftritt begleitet von Zurufen ,Nimm deine Mütze ab! Du sprichst vor dem Volk!‘, und beendete ihn vor einer Menge, die ,Tritt ab!‘ skandierte.“ Nach der Kundgebung zogen die Menschen zum Gebäude des Staatsfernsehens und forderten Sendezeit für die BNF-Führung. Infolgedessen konnte Pasnjak im Fernsehen auftreten und die Front wurde zu einer Kraft, mit der die Machthaber immer stärker rechnen mussten.
Die Wahlen zum 12. Obersten Sowjet fanden wenige Wochen später statt, am 4. März. Für die noch ganz junge Bewegung wurden sie ein Erfolg – die BNF konnte 30 Abgeordnete in das gesetzgebende Organ entsenden. Insgesamt gab es 360 Abgeordnete, sodass die Front weniger als zehn Prozent des Gremiums ausmachte. Die überwiegende Mehrheit der Sitze im Ovalen Saal nahm immer noch die kommunistische Nomenklatura ein, die Reformen blockierte. Vergleicht man das Ergebnis mit den Parlamentswahlen anderer Sowjetrepubliken im selben Jahr, so schnitten die demokratischen Bewegungen dort häufig viel besser ab: In Georgien waren es etwa 70 Prozent, in Litauen 67 Prozent, in Lettland 65 Prozent und in der Ukraine 22 Prozent. Doch auch mit ihren geringen Ressourcen gelang es der BNF, Bahnbrechendes für unser Land zu erreichen.
Die Erklärung der Unabhängigkeit und die Präsidentschaftswahlen
Schon bald nach den Wahlen 1990 erarbeitete die Belarussische Volksfront den Gesetzesentwurf Unabhängigkeitserklärung der BSSR, der Vorrang der belarussischen Gesetzgebung vor der sowjetischen gebot, doch das Dokument fand vorerst keine Unterstützung. Das änderte sich, als im Juni 1990 Russland seine Unabhängigkeit erklärte. Damals stand Boris Jelzin, Gorbatschows stärkster Konkurrent, dem Obersten Sowjet der RSFSR vor. Um ihm das Heft aus der Hand zu nehmen und die Bedeutung des Dokuments zu schmälern, beschloss man in Moskau, gleichlautende Deklarationen in allen Sowjetrepubliken zu verabschieden.
Nun machte sich die Vorarbeit der BNF bezahlt. Der damalige BNF-Abgeordnete Valentin Golubew erinnert sich: „Auf Bitte von Sjanon Pasnjak schrieb ich in einer Nacht den ersten Entwurf der Präambel (der Deklaration), wir diskutierten ihn im berühmten Raum 306 der Opposition und verteilten ihn an die Abgeordneten. Dann wurde der damalige Parlamentspräsident, Mikalaj Dsemjanzej (russ. Nikolaj Dementej) nach Moskau zu Gorbatschow bestellt. Als er zurückkam, erzählte er lebhaft: Wie gut, dass ich dieses Projekt mithatte, er [Gorbatschow – dek] sagte, in Belarus geht es wohl auch voran!“
Am 18. Juni, sechs Tage nach der Verabschiedung der Souveränitätserklärung der RSFSR, wurde eine parlamentarische Kommission gegründet, um einen analogen Entwurf für Belarus vorzubereiten, der schließlich bei der Sitzung am 27. Juli 1990 angenommen wurde. Ohne die Vorbereitung der BNF hätte es dieses Dokument nicht gegeben, und bei der Formulierung der finalen Fassung wurden die Einwände der Front berücksichtigt.
Im März 1991 gab die BNF auf dem Zweiten Parteitag ein neues Programm bekannt. Darin wurde nun ganz offen das wichtigste Ziel der Bewegung formuliert: durch die Umsetzung der Souveränitätserklärung die vollständige Unabhängigkeit von Belarus zu erreichen. Zudem plante die Organisation den Aufbau einer belarussischen Armee, die Einführung der belarussischen Staatsbürgerschaft und die Durchführung eines Allbelarussischen Gründungskongresses, der das zukünftige Staatssystem festlegen sollte. Ein weiteres Ziel der BNF war die Einführung des Privateigentums. Damals erschienen diese Ziele fantastisch. Doch schon im April 1991 wurde in Belarus massenhaft gestreikt. Die Arbeiter (unter den Mitgliedern der Streikkomitees waren auch Vertreter der BNF) forderten Lohnerhöhungen. Später kamen auch politische Forderungen hinzu: Rückzug der Vertreter der KPdSU aus den Betrieben, Auflösung des kommunistischen Obersten Sowjets, neue Parlamentswahlen, Nationalisierung des kommunistischen Eigentums, keine Unterzeichnung des neuen Unionsvertrags, und andere.
Zu diesem Zeitpunkt verlief der Streik ergebnislos. Doch die Erinnerung daran beeinflusste vielleicht die Vorgangsweise der prokommunistischen Mehrheit im Parlament im August 1991, als zwischen den Mitgliedsstaaten der Sowjetunion ein neuer Unionsvertrag unterzeichnet werden sollte. Michail Gorbatschows Idee war ein neuer Staatenbund anstelle der alten UdSSR, wenngleich mit derselben Abkürzung: die Union der Souveränen Sowjetrepubliken. Der sowjetische Geheimdienst und eine Reihe hoher Parteifunktionäre verstanden den neuen Vertrag als einen Schritt Richtung Zerfall des Landes und versuchten am 19. August, einen Staatsstreich zu verüben. In Minsk gingen nur Wenige gegen das von den Putschisten proklamierte Staatskomitee für den Ausnahmezustand auf die Straße, darunter die BNF. Die Volksfront, aber auch Vertreter anderer politischer Parteien, nannten den Putsch umgehend „einen Versuch der Machtergreifung“, das Staatskomitee eine „Junta“. Die kommunistische Mehrheit im belarussischen Parlament nahm eine Wartehaltung ein. Erst am 22. August, als die Niederschlagung des Putsches in Moskau offensichtlich war, beschloss das Präsidium des Obersten Sowjets, eine außerordentliche Sitzung einzuberufen.
In kürzester Zeit erarbeitete eine Gruppe von Abgeordneten der BNF ein Gesetzespaket und stellte es bei der Sitzung am 24. August vor. Die folgenden Tage wurden zum Triumph für die Front und für Sjanon Pasnjak persönlich. Ihr Nachdruck und eine wohlgewählte Taktik (zum Beispiel jagten sie den letzten Vorsitzenden der KP der BSSR, den allmächtigen Anatoli Malofejew, von der Tribüne, ein Schock für die Nomenklatura) trugen Früchte. Am 25. August erlangte die ein Jahr zuvor beschlossene Souveränität der BSSR den Status eines Verfassungsgesetzes, und Belarus wurde de jure unabhängig.
In den 20 Tagen bis zur nächsten Sitzung erarbeitete die BNF-Fraktion noch 31 weitere Gesetzesentwürfe, unter anderem zur Staatsbürgerschaft, zum Aufbau einer Armee, zu Grenzschutz, Zoll, Militärgerichtsbarkeit, zur Anerkennung von privatem Grundbesitz und zur Aufhebung des Unionsvertrags von 1922. Alle diese Punkte (mit Ausnahme des privaten Grundbesitzes) konnten später umgesetzt werden. In dieser Septembersitzung wurden auch das Wappen Pahonja und die weiß-rot-weiße Flagge zu den offiziellen Staatssymbolen. Der Demokrat Stanislau Schuschkewitsch wurde zum neuen Parlamentspräsidenten gewählt. Im Dezember 1991 unterzeichnete er die Belowesher Verträge, die das Ende der UdSSR besiegelten und nach deren Ratifizierung Belarus auch de facto unabhängig war.
Das verweigerte Referendum und die ersten Präsidentschaftswahlen
Die BNF hatte ihr wichtigstes Ziel, das sie kaum ein Jahr zuvor formuliert hatte, erreicht: Belarus war ein unabhängiger Staat geworden. Doch in diese neue Epoche trat das Land mit der alten Nomenklatura im Obersten Sowjet, die keine politischen und wirtschaftlichen Reformen wollte. In Fragen der Bildung und Kultur mischte sie sich weniger ein, weshalb in diesen Bereichen die größten Erfolge verzeichnet werden konnten. In der BNF hatte man die berechtigte Vermutung, dass die Zusammensetzung des Parlaments nicht dem tatsächlichen politischen Meinungsbild und den Wählersympathien entsprach. Letztlich war es noch zu Sowjetzeiten gewählt worden, unter maßgeblichem Druck des kommunistischen Systems. Daher initiierte die Front unter der Führung von Pasnjak ein Referendum über vorgezogene Wahlen zum Obersten Sowjet. Um diese Initiative durchzubringen, mussten mindestens 350.000 Unterschriften gesammelt werden. Die BNF übertraf diese Vorgabe und reichte im April 1992 sogar 442.000 Unterschriften im Zentralen Wahlkomitee ein, von denen die Mehrzahl als gültig anerkannt wurde.
Dem Gesetz nach war das Parlament nun verpflichtet, ein Datum für das Referendum festzusetzen. Die Belarussen sollten gefragt werden, ob sie einer vorzeitigen Auflösung des aktuellen Parlaments und Parlamentswahlen nach neuem Gesetz zustimmen. Vorgezogene Wahlen hätten 1992 die Chance eröffnet, die Geschichte zu verändern, Reformen und einen demokratischen Wandel einzuleiten. Doch vermutlich fürchtete die Mehrheit der Abgeordneten, im Fall einer Neuwahl ihr Mandat und damit viele Privilegien zu verlieren, die den Volksvertretern zustanden. Daher widersetzten sich die Parlamentarier dem Gesetz und führten kein Referendum durch. Rückwirkend betrachtet ist dieses verweigerte Referendum einer der Points of no Return: Ab diesem Moment fuhr die Lokomotive der belarussischen Geschichte in Richtung Präsidialsystem, und dann weiter bis zu Lukaschenkos Diktatur. Die Verweigerung des Referendums war ein Rückschlag für die BNF. Doch sie trug keine Schuld daran – es waren ihre politischen Gegner, die gesetzeswidrig gehandelt hatten. Im Folgejahr 1993 registrierte die BNF endlich eine Partei unter gleichem Namen. Ihr Vorsitzender – und auch der Vorsitzende der Bewegung Belarussische Volksfront „Wiedergeburt“ – blieb Sjanon Pasnjak.
Allmählich trat in Politik und Gesellschaft eine neue Frage in den Fokus: Welches System soll die Republik in Zukunft haben – ein parlamentarisches oder ein präsidiales? Die Ausarbeitung der belarussischen Verfassung dauerte bereits seit Sommer 1990 an. Die Opposition um die BNF sprach sich für die erste Variante aus. „Die Front begründete ihre Position damit, dass sich ein Präsidialsystem unter den Bedingungen fehlender demokratischer Traditionen, eines kaum entwickelten Parteiensystems und eines der Exekutive unterstellten Parlaments durch die Machtkonzentration unausweichlich zu einer Diktatur entwickeln würde“, schreibt Sjarhej Nawumtschyk in seinem Buch Vierundneunzig [Dsewjanosta tschazwerty].
Die parlamentarische Mehrheit, die auf der Seite der Regierung stand, unterstützte das präsidiale System und sah an der Staatsspitze den damaligen Premierminister Wjatschaslau Kebitsch, einen ehemaligen Kommunisten und sogenannten „roten Direktor“. Die Verfassung wurde eigentlich ihm auf den Leib geschrieben, und er konnte letztendlich – wiederum gesetzeswidrig – die ihm passende Version durchdrücken. Nachdem er die Einführung des Präsidentenamts nicht hatte verhindern können, sah sich Pasnjak gezwungen, selbst um diesen Posten zu kämpfen. Bei den ersten Präsidentschaftswahlen standen sechs Namen auf den Wahlzetteln, doch reale Chancen auf einen Sieg hatten nur vier Personen: Kebitsch, Schuschkewitsch, Lukaschenko und Pasnjak.
Die beiden Ersteren wurden im Volk als Vertreter der Regierung wahrgenommen. Mit ihnen verband man die Folgen der Wirtschaftskrise und den rapiden Niedergang des Lebensstandards in den letzten Jahren. Lukaschenko und Pasnjak hatten keine Funktionen inne und konnten deshalb die Staatsmacht kritisieren. Doch die Ideen der nationalen Wiedergeburt und der Marktwirtschaft, für die der Vorsitzende der BNF eintrat, fanden bei den Wählern keine Zustimmung. Lukaschenko dagegen appellierte an das sowjetische Erbe, was in der Bevölkerung Unterstützung fand. Dem offiziellen Endergebnis des ersten Wahlgangs zufolge hatte Lukaschenko etwa 45 Prozent erreicht und ging damit gemeinsam mit Kebitsch (17,3 Prozent) in die zweite Runde, die er dann auch gewann. Den dritten Platz holte Pasnjak ein, für den 12,8 Prozent der Wähler gestimmt hatten, mehr als 757.000 Menschen.
Der Hungerstreik, der „Minsker Frühling“ und Pasnjaks Emigration
Die Präsidentschaftswahlen – die einzigen in der Geschichte des Landes, an deren Ergebnis kein ernsthafter Zweifel besteht – hatten die Popularität der BNF in einem maßgeblichen Teil der belarussischen Bevölkerung gezeigt. Von einer Mehrheit konnte man zwar noch nicht reden, in jedem anderen demokratischen Land hätte eine solche Partei jedoch eine wichtige Fraktion im Parlament gebildet und damit Chancen gehabt, den Kurs der Regierung zu beeinflussen und die eigene Wählerschaft auszubauen.
Alexander Lukaschenko begann jedoch gleich nach der Wahl, sein persönliches Machtsystem zu implementieren, wie zum Beispiel eine Geschichte um den BNF-Abgeordneten Sergej Antontschik zeigte. Im Dezember 1994 präsentierte dieser vor dem Parlament einen Bericht über Korruption in Lukaschenkos Umfeld. Ein Jahr zuvor hatte der zukünftige Präsident dieses Thema von derselben Tribüne aus auf die Agenda gebracht. Lukaschenkos Vortrag war in der Presse abgedruckt und im Radio ausgestrahlt worden, er wurde sein Sprungbrett zur Macht. Antontschiks Rede aber wurde nicht im Radio gesendet und auch die Veröffentlichung in der Zeitung wurde verboten. Die führenden Tageszeitungen des Landes, darunter Sowjetskaja Belorussija (SB) und Narodnaja Gaseta(NG), erschienen zum Ausdruck des Protests mit weißen Flächen auf der Titelseite. Daraufhin setzte Lukaschenko den Chefredakteur der SB, Igor Ossinski, ab (später den Chef der NG, Iossif Sereditsch) und begann damit, die Presse unter Druck zu setzen. Am Ende hatte Antontschiks Rede keinerlei Folgen für Lukaschenko. Die wichtigsten Informationskanäle der Bevölkerung waren blockiert worden.
Dass es diese Rede überhaupt gab, zeigt deutlich, dass die BNF zu diesem Zeitpunkt Lukaschenkos wichtigste Gegnerin war. Das war dem Politiker auch bewusst, und er wollte sich offenbar rächen. In der Wahrnehmung der Bevölkerung waren die wichtigsten Erfolge der BNF der Status der belarussischen Sprache als einzige Amtssprache (der noch 1990 vom kommunistischen Obersten Sowjet beschlossen worden war) und die Einführung der historischen Staatssymbole, des historischen Wappens Pahonja und der weiß-rot-weißen Flagge (diese Änderung wurde 1991 erreicht). Daher setzte Lukaschenko ein Referendum an, in dem die Bevölkerung über eine Änderung der Staatssymbolik und die Einführung des Russischen als zweite Amtssprache abstimmen sollte. Das Gesetz über Volksbefragungen von 1991 verbot es, Fragen zu stellen, „die das unverbrüchliche Recht des belarussischen Volkes auf eine souveräne nationale Staatlichkeit und die staatliche Garantie der belarussischen nationalen Kultur und Sprache beeinträchtigen“, daher war dieses Referendum gesetzeswidrig. Doch das kümmerte Lukaschenko nicht.
Die parlamentarische Abstimmung über die Aufnahme der einzelnen Fragen ins Referendum war für den 11. April 1995 angesetzt. Die Opposition trat zum Zeichen des Protests gegen den Verfassungsbruch in den Hungerstreik, an dem insgesamt 19 Abgeordnete der BNF, angeführt von Sjanon Pasnjak, und der Belarussischen sozialdemokratischen Partei Hramada unter Führung von Aleh Trussau teilnahmen. Trussau hatte 1988 auch dem Gründungskomitee der Front angehört.
„Jahre später sprachen wir über diese Situation mit den anderen Abgeordneten der BNF-Fraktion und kamen überein, dass wir alle bereit waren zu sterben“, erinnert sich Sjarhej Nawumtschyk in seinem Buch Fünfundneunzig [Dsewjanosta pjaty]. „Wenn ein Mensch bereit ist, in den Tod zu gehen, wenn er sein Lebensende vor Augen hat, dann merkt man ihm das wohl an. Jedenfalls fällt es mir schwer, das, was danach geschah, irgendwie rational zu erklären. Wir saßen den anderen Abgeordneten von Angesicht zu Angesicht gegenüber, wir schauten ihnen in die Augen und sie uns.“ Die schockierten Abgeordneten, die bis vor Kurzem Lukaschenko noch uneingeschränkt unterstützt hatten, stimmten nun ganz anders ab, als der Präsident es erwartet hatte. Sie akzeptierten lediglich die Frage über eine Integration mit Russland im Referendum .
Die 19 Abgeordneten blieben auch nach Sitzungsende im Parlamentsgebäude. Nachts kamen der OMON und der Sicherheitsdienst des Präsidenten in den Sitzungssaal, einige hundert Mann. Sie trieben die Hungerstreikenden gewaltsam aus dem Gebäude. Die Abgeordneten wurden brutal geschlagen und dann auf dem heutigen Prospekt der Unabhängigkeit aus den Polizeiwagen geworfen. Noch in der Nacht dokumentierten die Abgeordneten die Misshandlungen und zeigten sie bei der Staatsanwaltschaft an. Das Eindringen von Geheimdiensttruppen ins Parlament hätte für die Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens gegen den Präsidenten gereicht, doch die vom brutalen Vorgehen der Silowiki eingeschüchterten Abgeordneten verurteilten den Angriff auf ihre Kollegen nicht einmal, sondern beschlossen nun, alle von Lukaschenko eingebrachten Fragen zum Referendum zuzulassen.
Am 14. Mai 1995 fand nicht nur das Referendum statt, sondern auch der erste Wahlgang für das neue Parlament. Es gibt Gründe, die Ergebnisse dieser Wahl als gefälscht zu bezeichnen. Aus Auftritten der Oppositionskandidaten im Fernsehen sowie aus Flugblättern waren Kritik am Referendum und der Regierung gestrichen worden. Doch vor allem passierte etwas höchst Erstaunliches. Alexander Feduta schreibt im bereits erwähnten Buch: „Die Beteiligung am Referendum entsprach wundersamerweise der Nichtbeteiligung an der Parlamentswahl, obwohl dieselben Menschen wahlberechtigt waren. In 141 von 260 Wahlbezirken konnte aufgrund zu niedriger Wahlbeteiligung (weniger als 50 Prozent) kein Abgeordneter gewinnen, gleichzeitig war die Beteiligung am Referendum aber ausreichend für dessen Gültigkeit.“ Damals sah das Wahlrecht vor, dass 50 Prozent der Wahlberechtigten in einem Wahlkreis ihre Stimme abgeben mussten, damit das Ergebnis gültig war. In vielen Fällen fehlten den Oppositionskandidaten nur wenige Dutzend Stimmen. Ein Abgeordneter der BNF, Valentin Golubew, erreichte zum Beispiel 58 Prozent der Stimmen, doch die Wahlbeteiligung in seinem Wahlkreis betrug angeblich nur 49,9 Prozent (und das war kein Einzelfall).
Im Ergebnis wurde kein einziger Abgeordneter der Volksfront in das neue Parlament gewählt. Die neuen Parlamentarier waren zur Kooperation mit Lukaschenko bereit. Dieser setzte nun, ohne Widerstand aus den Eliten zu begegnen, auf die Integration mit Russland. Der russische Präsident Boris Jelzin war krank, und die Chance, die Herrschaft im Kreml zu übernehmen, sah für Lukaschenko greifbar nahe aus.
Die Gerüchte über die Unterzeichnung eines Unionsvertrags und den drohenden Verlust der Unabhängigkeit brachten tausende junge Menschen auf die Straßen, die früher nicht an politischen Aktionen teilgenommen hatten. Eine Reihe von Kundgebungen im Jahr 1996 ging als „Minsker Frühling“ in die Geschichte ein. Organisiert wurden sie von der BNF. Bei der Demonstration gegen die Unterzeichnung des Unionsvertrags zwischen Belarus und Russland gingen am 24. März zwischen 15.000 und 30.000 Menschen auf die Straße. Die Nachricht über die Proteste ging weltweit durch die Medien. Am 26. März teilte Boris Jelzins Sprecher Sergej Medwedew mit, es gehe nicht darum, „einen neuen Staat zu schaffen“, was dann der am 2. April in Moskau unterzeichnete „Vertrag über die Schaffung einer Staatengemeinschaft von Belarus und Russland“ abbildete. Am selben Tag fand in Minsk eine neuerliche Aktion mit etwa 30.000 Teilnehmenden statt, diesmal ohne Auflösung und Festnahmen. Am 26. April nahmen bereits etwa 50.000 Menschen am Tschernobyl-Gedenkmarsch teil, der brutal aufgelöst wurde.
2011 schrieb der Journalist Andrej Dynko rückblickend in Nasha Niva: „Den Demonstranten in Minsk war es gelungen, die Unionsverträge mit Russland zu stoppen und die Weltöffentlichkeit auf die Gefahr eines Anschlusses aufmerksam zu machen. Es war Zeit gewonnen und die Initiative gekapert worden. […] Hätten sie einen Monat mehr zur Verfügung gehabt, hätte die Bevölkerung geschwiegen, Belarus hätte zu einem Tatarstan (einer Republik innerhalb der Russischen Föderation, Anm. d. Red.) werden können.“ Die Erfolge des „Minsker Frühlings“ hatten einen hohen Preis: Sjanon Pasnjak und sein Mitstreiter Sjarhej Nawumtschyk mussten das Land verlassen, da ihr Leben bedroht war. Sie erhielten Asyl in den USA. Die Situation in Belarus geriet augenblicklich ins Zentrum der Aufmerksamkeit führender amerikanischer Medien. Das führte dazu, dass die USA und die Europäische Union die Ergebnisse des Referendums von 1996 nicht anerkannten. Doch die Zukunft der Front sollte sich dadurch massiv verändern.
Alternative Wahlen und die Spaltung der BNF
Zum direkten Grund für die Spaltung der BNF wurden die alternativen Wahlen. Alexander Lukaschenkos erste fünfjährige Legislatur endete laut Verfassung im Jahr 1999. Doch mit der Verfassungsnovelle von 1996 wurde festgelegt, die Legislaturperiode ab diesem Zeitpunkt neu zu beginnen.
Diesen Umstand wollte ein Teil der Opposition für sich nutzen. Viktor Gontschar, vormals ein Mitstreiter Lukaschenkos, später sein Gegner, schlug vor, 1999 alternative Präsidentschaftswahlen durchzuführen. Da er 1996 unrechtmäßig als Leiter des Zentralen Wahlkomitees abgesetzt worden war, hatte er formal das Recht, einen solchen Wahlprozess zu organisieren. Mit dutzenden Politikern wurden Gespräche geführt, doch nur zwei Personen wollten bei einer solchen Wahl kandidieren: Der ehemalige Premierminister Michail Tschigir, der seit seinem Rücktritt 1996 in Moskau arbeitete, und Sjanon Pasnjak.
Einen Tag, nachdem seine Kandidatur „registriert“ wurde, wurde Tschigir festgenommen und des Amtsmissbrauchs, der Amtsanmaßung und der Fahrlässigkeit beschuldigt. Kurz nach Beginn des Wahlkampfs zog auch Pasnjak seine Kandidatur zurück und warf den Organisatoren Provokation vor. Damit verloren die Wahlen ihren Sinn: Es gab nur noch einen einzigen Kandidaten, der zudem im Gefängnis saß. Das ganze Vorhaben war zu einer politischen Mobilisierungsaktion der Opposition geworden, die einen widersprüchlichen Eindruck hinterließ. Unter anderem auch bei den Aktivisten der BNF.
Tatsächlich schwelten innerhalb der BNF schon lange vorher Konflikte. Es gab keine Einigkeit bezüglich der Parteistrategie. Pasnjak und seine Gleichgesinnten hielten an der ursprünglichen Linie fest, die in den 1990er Jahren verfolgt worden war: Sie nahmen die Front als führende und eigenständige politische Kraft wahr, an die die anderen Parteien sich „anpassen“ sollten. Ihre Opponenten wiederum waren bereit, sich mit anderen oppositionellen Kräften abzusprechen und für einen Sieg der Demokratie Kompromisse einzugehen. Bereits früher hatten Pasnjaks Mitstreiter ihm Autoritarismus vorgeworfen. „Im Mai [1999] teilte ich dem Rat mit, dass beim Parteitag alle meine Stellvertreter neu gewählt werden würden, dass es diesen Diskussionsklub, wie ich ihn nannte, so nicht mehr geben sollte. Danach begann die Meuterei auf dem Schiff“, räumte Pasnjak ein. Wir ergänzen hier, dass er zum Zeitpunkt dieser Entscheidung die Partei schon seit drei Jahren aus der Emigration geführt hatte, per Fax und Telefon.
Pasnjaks Opponenten stellten als Gegenkandidaten den 38-jährigen Philologen Winzuk Wjatschorka auf, Gründungsmitglied der Bewegung und ebenso Teil des Gründungskomitees der Partei (sein Sohn Franak Wjatschorka ist heute Berater von Swetlana Tichanowskaja). Weder er noch Pasnjak konnten eine Mehrheit erlangen. In der Folge organisierten Pasnjaks Anhänger einen eigenen Parteitag, wählten den Politiker zum Vorsitzenden und benannten die Partei um in Konservativ-Christliche Partei – BNF (KChP-BNF). Die Gegner erkannten diese Entscheidungen nicht an, trafen sich ebenfalls und wählten Wjatschorka zum Vorsitzenden, der damit die Partei BNF anführte.
Nach der Spaltung schlugen die Parteien verschiedene Richtungen ein, die sich nie mehr überschneiden sollten. Wjatschorkas BNF setzte auf einen Kurs der Zusammenarbeit mit anderen Organisationen. Die KChP-BNF trat für den Boykott jeglicher Wahlen ein. In den zwei Jahrzehnten nach der Spaltung gab es nicht den Funken einer Chance auf eine Wiedervereinigung. In jedem Fall aber ist die BNF in die Geschichte eingegangen, als Organisation, die das Schicksal des Landes für immer verändert hat, indem sie die Unabhängigkeitserklärung von Belarus herbeiführte und als Erste den Kampf gegen Alexander Lukaschenko aufnahm, für die Freiheit.
Warum konnte die Belarussische Volksfront (BNF) ab 1988 entstehen und sich zu einer wichtigen politischen Kraft entwickeln, obwohl das Nationalbewusstsein der Belarussen im Vergleich zu den Bevölkerungen in anderen Sowjetrepubliken eher schwach ausgebildet war? In seinem Stück geht der Journalist Yury Drakakhrust, einer der Mitgründer der BNF, dieser Frage auf den Grund.
Warum war Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre die Belarussische Volksfront (BNF) die stärkste Oppositionskraft in Belarus? Ideologisch folgte diese Organisation einem kulturell-ethnischen Nationalismus. Ähnliche Bewegungen formierten sich, oft ebenfalls unter dem Namen „Volksfront“, Ende der 1980er in zahlreichen Republiken der UdSSR – von Aserbaidschan bis Estland (allerdings nicht in der RSFSR). Und sie waren die treibende Kraft, die sowohl demokratische Entwicklungen als auch schließlich die Unabhängigkeit von der Sowjetunion herbeiführte.
Wer spricht in Belarus Belarussisch?
Auf den ersten Blick hatte dieser kulturell-ethnische Nationalismus im Vergleich zu allen anderen Sowjetrepubliken in Belarus den schlechtesten Stand. In der letzten sowjetischen Volkszählung von 1989 betrug der Anteil jener Einwohner der BSSR, die die Sprache der Titularnation (hier also Belarussisch) als Muttersprache angaben, nur 65 Prozent – einer der niedrigsten Werte im Vergleich zu anderen Sowjetrepubliken. Viele Soziologen und Personen des öffentlichen Lebens, darunter Funktionäre der BNF, sprachen immer wieder von einem schwach ausgeprägten Nationalbewusstsein der Belarussen. Im Hinblick auf die Sprachpräferenzen der Bevölkerung wurde diese These durch spätere, nunmehr im unabhängigen Belarus durchgeführte Volkszählungen nur bekräftigt. 1999, 2009 und 2019 wurde dabei folgende Frage gestellt: Welche Sprache sprechen Sie normalerweise zu Hause? 1999 war nur bei 36,7 Prozent der Bevölkerung die Antwort Belarussisch, 2019 waren es sogar nur noch 26 Prozent. Bemerkenswert ist auch eine weitere Besonderheit, die die Volkszählungen zum Vorschein brachten, nämlich der Zusammenhang zwischen Mutter- bzw. Alltagssprache und sozial-demografischen Faktoren: Der höchste Anteil des Belarussischen als Mutter- und Alltagssprache ist bei älteren Menschen, Menschen mit niedrigem Bildungsstand sowie der Dorfbevölkerung zu verzeichnen. Überträgt man diese Daten rückwirkend auf die 1980er Jahre, so kann man davon ausgehen, dass die BNF bei ihrer Gründung keine besonders breite und erfolgversprechende Ausgangsbasis hatte.
Die Wurzeln des belarussischen Nationalismus
Dennoch waren Ende der 1980er Jahre einige Voraussetzungen für die Entwicklung eines Nationalismus in Belarus erfüllt. Eine davon war die relativ hohe ethnische Homogenität. In der Volkszählung von 1989 betrug der Anteil der Belarussen in der Bevölkerung 77 Prozent, die ethnischen Russen machten 13,2 Prozent aus. Bereits in den 1970er Jahren bildeten sich die ersten Kreise von Anhängern des nationalen Diskurses. Das waren keine offiziellen Organisationen (die in der UdSSR nur unter Aufsicht der KPdSU gestattet waren), sondern ein informelles Netzwerk von Menschen mit ähnlichen Ansichten und Überzeugungen. In den späten 1980er Jahren, mit dem Beginn der Perestroika, weitete sich dieses Netzwerk aus und nahm immer mehr organisierte Formen an. Aus diesem Netzwerk gingen auch die Gründer der BNF hervor – Juras Chodyko, Michail Tkatschow, Viktor Iwaschkewitsch, Winzuk Wjatschorka, Ales Bjaljazki (Friedensnobelpreisträger 2022) und natürlich ihr Vorsitzender, Sjanon Pasnjak. Gleichzeitig erwiesen sich die Befürworter demokratischer Entwicklungen, die jedoch keinen Akzent auf nationale Werte legten, als viel weniger fähig zur Selbstorganisation. Im Wettbewerb um die politische Führung war die BNF ihren ideologisch anders gesinnten Konkurrenten damals ein gutes Stück voraus. Dieser Vorsprung war unter anderem der Tatsache zu verdanken, dass die Ideologie der BNF sowohl nationalistische als auch demokratische Komponenten umfasste. Die nationalistische Komponente sorgte für einen, wenn auch kleinen, aber umso treueren harten Kern als Basis, während die demokratische Komponente eine breite gesellschaftliche Unterstützung ermöglichte. Ein weiterer wichtiger Faktor war die Vorbildwirkung anderer Sowjetrepubliken.
Wie der nationalistische David den kommunistischen Goliath besiegte
Ich kannte einige Mitbegründer der Estnischen Volksfront persönlich und war von der Energie und Größe dieser Bewegung zutiefst beeindruckt. Unter diesem Eindruck rief ich 1988 anlässlich einer Kundgebung in Kurapaty zur Gründung einer Belarussischen Volksfront auf, die wenige Monate später tatsächlich erfolgte. Ich will meinen Beitrag nicht überbewerten, der Verweis auf meine persönliche Erfahrung soll nur zeigen, dass die Impulse zur Gründung und zum Erfolg der BNF nicht ausschließlich aus dem national-demokratischen Netzwerk der 1970er und 1980er Jahre kamen. Andererseits waren hier aber auch nicht nur Antikommunisten am Werk, wie ich 1988 einer war. Die Unabhängigkeitserklärung, ihre Aufnahme in die Verfassung sowie schließlich die Auflösung der UdSSR und Gründung der Republik Belarus – all diese Entscheidungen traf das gesetzgebende Organ der Sowjetrepublik, in dem die Kommunisten die überwiegende Mehrheit stellten, während nur ein paar Dutzend von insgesamt 360 Abgeordneten die BNF vertraten. Aber es war die BNF, die diese Themen erst auf die Tagesordnung gesetzt hatte. Das lässt sich einerseits auf das politische Können der führenden BNF-Politiker zurückführen, andererseits ist auch eine andere Erklärung denkbar, in der das Narrativ vom „nationalistischen David“, der den „kommunistischen Goliath“ besiegt, nicht ganz treffend erscheint. Ein erheblicher Teil der kommunistischen Elite der BSSR war keineswegs gegen die Ausweitung der Rechte der Republik und, in einer bestimmten Phase, auch nicht gegen ihre Unabhängigkeit. Goliath machte David schöne Augen, überließ ihm nach außen hin die Führungsrolle, ging jedoch fest davon aus, auch unter den neuen geopolitischen Bedingungen an der Macht zu bleiben. Paradoxerweise gab es Situationen, in denen der nationalistische Impuls aus Moskau kam. Von Abgeordneten des Obersten Sowjets in Belarus wissen wir, dass 1990 die Initiative zum Beschluss der Souveränität der Republik vom Präsidenten der UdSSR Michail Gorbatschow ausging. Er sah, dass viele Republiken solche Deklarationen bereits verabschiedet hatten, und bevorzugte es, diesen Prozess auf Initiative der Kommunistischen Partei und unter ihrer Aufsicht einzuleiten, als es dem unkontrollierbaren Zufall zu überlassen, welchen Weg Belarus in seinem Streben nach Unabhängigkeit einschlägt. Aber wie es die Geschichte manchmal so will, war der Versuch, dieses Ereignis abzuwenden, erst recht ein Katalysator dafür. Nichtsdestoweniger war es die BNF, die das Thema Unabhängigkeit in Belarus aufgebracht hatte.
Wurde der Kommunismus vom Nationalismus gestürzt?
Der Nationalismus war überall [in der späten UdSSR] die treibende Kraft zum Sturz des Kommunismus – so auch in Belarus. Die gesellschaftliche Basis war hier jedoch schwächer ausgeprägt als in anderen Sowjetrepubliken. Das stand zwar der Erlangung der Unabhängigkeit schließlich nicht im Weg – auch Länder wie Turkmenistan (wo in den Jahren der Perestroika keine Spur einer Bewegung für nationale Unabhängigkeit und Demokratie zu sehen war) wurden unabhängig –, bestimmte aber den weiteren Verlauf der Ereignisse im nunmehr souveränen Belarus. Hier sehen wir ein weiteres Paradox: Während das sowjetische Imperium noch existierte, fuhr die BNF im Widerstand gegen die fünf-Millionen-köpfige KPdSU und das mächtige totalitäre System, vor dem die ganze Welt Angst hatte, einen Sieg nach dem anderen ein und gestaltete die Geschichte mit. Als der wichtigste Sieg errungen war, sah sich die BNF einem provinziellen Fragment des imperialen Systems gegenüber. Dieses Fragment, dieser Überrest, hatte weder Struktur (die belarussische kommunistische Partei war liquidiert worden) noch Ideologie (der Kommunismus war auf der Müllhalde der Geschichte gelandet). Die belarussische kommunistische Elite hatte auch zu Sowjetzeiten nicht mit besonderen politischen Talenten oder politischem Willen geglänzt.
Und trotzdem war es genau in diesem Moment – als die BNF im nun unabhängigen Belarus mit diesen Anti-Bismarcks allein dastand – vorbei mit ihren Siegen. 1992 legalisierte das belarussische Parlament die kommunistische Partei und blockierte ein Referendum über vorgezogene Parlamentswahlen, für das die BNF fast eine halbe Million Unterschriften gesammelt hatte. So blieben ungefähr jene Kreise an der Macht, die auch schon vor der Unabhängigkeit regiert hatten. Eine Weile spielte die BNF noch die Rolle der Partei, die den politischen Stil vorgab und die Idee der Unabhängigkeit vorantrieb. Aber bei den Präsidentschaftswahlen 1994 schlug das Pendel in die ideologische Gegenrichtung aus, als mit Alexander Lukaschenko ein UdSSR-Romantiker und konzeptioneller Gegenspieler der BNF an die Macht kam. Bei den Parlamentswahlen 1995 musste die BNF eine bittere Niederlage einstecken, und noch im selben Jahr ließ Lukaschenko auf Basis einer Volksabstimmung die Staatssymbolik ändern. Die weiß-rot-weiße Flagge und das Pahonja-Wappen, die mit der BNF assoziiert wurden, mussten weichen.
Übrigens ist Belarus kein Einzelfall – die sogenannten Volksfronten und ähnliche Bewegungen haben nirgendwo lange über die Unabhängigkeit ihrer jeweiligen Länder hinaus existiert. Das Schicksal des belarussischen Nationalismus erwies sich jedoch als komplexer und weitreichender. 1998 veröffentlichte ich den Artikel Der belarussische Nationalismus spricht Russisch, der sich auf Umfrageergebnisse des Unabhängigen Instituts für sozial-ökonomische und politische Studien bezog. Diese hatten gezeigt, dass die Unabhängigkeit Belarus’ mehr Zuspruch unter der russischsprachigen Bevölkerung des Landes erfahre als unter der belarussischsprachigen. In meinem Artikel erklärte ich diesen Umstand mit sozial-demografischen Faktoren: Der Anteil der Belarussischsprachigen war, wie wir bereits gesehen haben, unter Dorfbewohnern, älteren und weniger gebildeten Menschen höher. Und genau das waren die Schichten, die eher dazu tendierten, den Sowjetzeiten nachzutrauern. Hier sollten wir uns die Entwicklung der öffentlichen Meinung zur Sowjetunion ansehen: Umfragen zufolge war in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit die Mehrheit der Belarussen für die Wiedererrichtung der UdSSR (siehe Tabelle 10). Doch bereits 2002, in den frühen Jahren von Lukaschenkos Regierung, verschob sich dieses Verhältnis: Der Anteil derer, die nicht mehr in der UdSSR leben wollten, überwog und wurde im weiteren Verlauf von Jahr zu Jahr höher.
„Nation als Schicksalsgemeinschaft“
Sehr anschaulich wurden die Metamorphosen des belarussischen Nationalismus bei den Protesten 2020 illustriert. Die Leitfiguren des Widerstands waren Viktor Babariko, langjähriger Manager einer Gazprom-Bank, und die russischsprachige Lehrerin Swetlana Tichanowskaja. Doch schon bald nach Beginn der Proteste wählte das kollektive Bewusstsein der Belarussen die weiß-rot-weiße Flagge als Symbol – das Markenzeichen der längst vergessenen und zu diesem Zeitpunkt wenig populären BNF. Die Proteste von 2020 hatten einen explizit nationalen Charakter im Sinne von Ernest Renans „Nation als Schicksalsgemeinschaft“. Die Sprache, die die Mehrheit der protestierenden Belarussen 2020 sprach, untermauerte übrigens meine These aus dem Jahr 1998.
Und noch ein Paradox verdient Aufmerksamkeit: 1993 forderte Lukaschenko, damals noch Parlamentsabgeordneter, die Einheit von Belarus und Russland. Als Präsident traf er nach 1994 mehrere Integrationsvereinbarungen mit der Russischen Föderation; eine neue Sowjetunion, und sei es nur aus zwei Republiken, konnte jedoch nicht einmal ein solch großer Fan der UdSSR wie er erzielen. Die Unabhängigkeit, so zeigte sich, wird man gar nicht so leicht wieder los. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass dieser glühende Opponent der BNF, der Belarus nun schon beinahe 30 Jahre lang regiert, gewissermaßen die Ideen seiner Gegner umsetzt.
Hier lassen sich wiederum Parallelen zur deutschen Geschichte ziehen: 1848 kämpfte der „aggressive Junker“ Otto von Bismarck mit dem Säbel gegen die deutschen Demokraten, doch später als Kanzler war ausgerechnet er es, der jenes geeinte Deutschland schuf, von dem das Frankfurter Parlament 1848 geträumt hatte. Zwar nicht der Form nach, aber immerhin ein geeintes. So hat sich die „List der Vernunft“, von der einst Hegel schrieb, sowohl in der deutschen als auch in der neusten belarussischen Geschichte manifestiert – hier zu sehen am Beispiel der erstaunlichen Metamorphosen des ideellen Erbes der Belarussischen Volksfront.
Der freie Geist und das geschriebene Wort sind seit jeher Feinde von autoritären Systemen und Diktaturen. Auch das System Alexander Lukaschenko ist in den Jahren seiner Existenz immer wieder gegen die unabhängige Literatur vorgegangen. Es gab zwar keine offizielle Zensur wie in der Sowjetunion, dennoch übten die Machthaber eine gewisse Kontrolle über unabhängige Verlage aus, die beispielsweise eine offizielle Herausgeberlizenz brauchten, um ihrer Arbeit nachgehen zu können. Auch wurden Bücher nicht genehmer Autoren nicht in den staatlichen Buchhandlungen verkauft, die lange Zeit den Markt im unabhängigen Belarus dominierten. Die Existenz eines unabhängigen Schriftstellerverbandes, unabhängiger Verlage und Buchhandlungen wurde lange geduldet, auch wenn sie von Zeit zu Zeit mit Repressionen attackiert wurden, wie im Fall des Verlags Lohvinau. All das ist vorbei, seitdem der Staat nach den Protesten von 2020 die Gesellschaft, Medien, Kultur und Zivilgesellschaft massiv bekämpft. Seitdem gehen die Machthaber auch gezielter gegen Literatur, Verlage und Autoren vor.
Die belarussische Journalistin Anna Wolynez erzählt die Geschichte des Verlags Januškevič, der in seiner Heimat liquidiert wurde und der ins Exil nach Polen ging, um dort weiterarbeiten zu können.
Der britische Botschafter verkleidet als Professor für Zauberkunst, Andrang beim Butterbierausschank, Aufteilung der Gäste nach den Hogwarts-Häusern – so sah Anfang 2020 die Harry-Potter-Nacht in Minsk aus. Zu den Organisatoren gehörte neben der Britischen Botschaft auch der unabhängige belarussische Verlag Januškevič.
Anlass für das Fest war die Veröffentlichung der belarussischen Übersetzung von Harry Potter und der Stein der Weisen. Die erste Auflage, 2000 Exemplare, verkaufte sich innerhalb von drei Monaten. Die zweite Auflage wurde ein halbes Jahr später an der litauischen Grenze vom Zoll beschlagnahmt. Die belarussischen Zöllner hätten sich davon überzeugen wollen, dass das Buch keinen Aufruf zum Sturz der Regierung enthält, erklärte der Verlag Januškevič in den sozialen Netzwerken.
Von allen anderen Harry-Potter-Bänden, die in Belarus verkauft wurden, unterschied sich dieser nur dadurch, dass er auf Belarussisch anstatt auf Russisch erschienen war. Schließlich durfte das Buch doch ins Land. Doch schon im Frühjahr 2021 konfiszierte der Zoll einen weiteren Titel des Verlags – den Roman Die Hunde Europas von Alhierd Bacharevič. Der Verkauf des Buchs wurde verhindert, ein Jahr später kam es auf die sogenannte republikanische Liste extremistischer Materialien.
Die Regierung hatte den Verlag Januškevič schon lange im Visier. Im Januar 2021 fand eine Durchsuchung in den Büroräumen statt, der Verlagsgründer Andrej Januschkewitsch wurde festgenommen. Nach der Befragung kam er wieder frei, doch die Technik des Verlags wurde konfisziert und die Konten gesperrt. Erst ein halbes Jahr später wurden sie wieder freigegeben. Im März 2022 musste der Verlag sein Büro räumen. Als die Bücher abverkauft wurden, standen die Leute stundenlang danach an.
„Wir dachten, die Räumung wäre auf Initiative der Stadtverwaltung erfolgt, aber tatsächlich hatten viel höhere Stellen ihre Hände im Spiel“, erinnert sich Andrej Januschkewitsch. „Wir nahmen das nicht ernst und wussten nichts Genaues über die Hintergründe.“
Der kleine unabhängige Verlag ließ sich nicht unterkriegen. Am 17. Mai 2022 eröffnete im Minsker Stadtzentrum die Buchhandlung Knihauka mit Büchern des Verlags Januškevič, seinen Freunden und Partnern. Der Name bedeutet „Kiebitz“ [doch auch das Wort kniha – „Buch“ – steckt darin – Anm. dekoder]. „Uns war nicht bewusst, dass es sich um eine systematische Attacke auf den belarussischen Buchdruck handelte“, räumt Januschkewitsch ein.
Die Buchhandlung Knihauka existierte genau einen Tag. Zuerst kamen Propagandisten vom staatlichen Fernsehen zur Eröffnung, kommentierten die Bücher und versuchten, darin Fotos der SS oder Texte über Nazismus zu finden. Dann kam die Antikorruptionsbehörde GUBOPiK mit einem Durchsuchungsbeschluss – Silowiki aus der Unterabteilung des Innenministeriums, die seit 2020 mit politischer Verfolgung befasst sind. Sie teilten mit, dass die Buchhandlung unter dem Verdacht stehe, „extremistische Literatur“ zu verbreiten, und konfiszierten zweihundert Bücher.
„Ich hatte damals ein interessantes Gespräch mit dem Offizier. Er teilte Bücher offenbar in ‚richtige‘ und ‚falsche‘ ein. Wir befassten uns, seiner Ansicht nach, mit ‚falschen‘ Büchern. Tja, so ist das … Dem belarussischen Leser genügt Harry Potter auf Russisch, und wer braucht schon das [belarussischsprachige] Kupala-Theater, wenn es Gastspiele aus Moskau gibt“, bemerkt der Verleger sarkastisch.
Was in Belarus vier Jahre dauerte, gelang in Polen in weniger als einem Jahr
Der Verlag Januškevič existierte von 2014 bis 2021 und gab in dieser Zeit etwa 150 Bücher von Autorinnen und Autoren aus verschiedenen Ländern in belarussischer Sprache heraus. Es war ein privatwirtschaftliches Unternehmen, auch wenn der Verlag Fördermittel für einzelne Bücher bekam, etwa vom deutschen Goethe-Institut, der Stiftung Ireland Literature, dem polnischen Buchinstitut oder dem tschechischen Kulturministerium. Der Übergriff der Silowiki 2022 brachte die Arbeit zum Erliegen. Weitere Festnahmen folgten: Diesmal verbrachten eine Mitarbeiterin der Buchhandlung 23 Tage und der Verleger 28 Tage in Haft. Im Juni 2022 emigrierte Andrej Januschkewitsch nach Polen.
„Alles passierte plötzlich und war nicht geplant. Aber ich kenne Polen schon lange und spreche Polnisch. Ich habe hier Bekannte, Kollegen und Freunde“, erzählt er. Nach dem Umzug musste er praktisch bei Null beginnen. Das Team war in Belarus geblieben, so dass der Verlagsinhaber die Arbeit gemeinsam mit Lektoren, Korrektoren, Übersetzern und Designern aus verschiedenen Ländern nun selbst übernahm.
Auch die Leserschaft half dabei, den Verlag wieder aufzubauen. Ein halbes Jahr nach dem Umzug initiierte der Belarusian Council for Culture eine Spendensammlung zur Unterstützung des Verlags, und zwar in der für Belarus neuen Form des Magistrats, einer Art Genossenschaft, die über einen definierten Zeitraum hinweg ein Projekt unterstützt. Im Rahmen des Magistrats Knihauka spendeten 325 Personen innerhalb eines halben Jahres 23.000 Euro. Der Verlag hat keine eigene Buchhandlung, die Bücher werden über das Internet vertrieben, zum Beispiel über die Online-Plattform allegro. Geplant sind auch der Verkauf über Amazon und die Eröffnung eines Büros mit Direktvertrieb. Im August 2023 ging der eigene Webshop an den Start, der wie die ehemalige Buchhandlung in Minsk heißt – knihauka.com. „Ein Haufen Probleme musste und muss noch immer gelöst werden, verbunden mit der Legalisierung, der Geschäftseröffnung und dem Geschäftsbetrieb. Aber Schritt für Schritt findet sich alles“, so Januschkewitsch.
Im Vergleich zu Belarus sind die Arbeitsbedingungen in Polen günstiger, findet der Verleger: kostenlose ISBN-Nummern, einfache Unternehmensregistrierung, eine große Auswahl an Druckereien, günstige Preise, viele Optionen für den Buchvertrieb. „So konnten wir gleich effizient an die Arbeit gehen. In Belarus haben wir drei bis vier Jahre gebraucht, um eine Webseite aufzubauen und bekannt zu werden oder Kontakte mit ausländischen Druckereien aufzubauen, weil die belarussischen nicht die gewünschte Qualität liefern konnten“, erzählt Januschkewitsch.
In Belarus müssen sich Verleger zudem beim Informationsministerium registrieren und eine Prüfung ablegen, um eine spezielle Zulassung zu erhalten. Im Januar 2023 wurde Andrej Januschkewitsch diese Zulassung entzogen – als erstem privaten Verleger in Belarus. „Diese Prüfung ist absoluter Schwachsinn und dient als ideologischer Filter, um unerwünschte Verleger aussortieren zu können“, meint er.
Bücher sind kein Brot – wer kein Geld hat, kommt auch ohne sie aus
Während der Zeit in Polen sind bereits an die 20 Titel erschienen, darunter George Orwells Farm der Tiere und eine Neuauflage des legendären Romans Die Hunde Europas von Alhierd Bacharevič (in Zusammenarbeit mit dem Verlag Vesna). Die Auflage im Umfang von 1000 Exemplaren verkaufte sich innerhalb von sieben Monaten.
In Belarus hätte der Verlag diese Menge etwa in einem Jahr verkauft. Januschkewitsch erklärt das damit, dass die Leserschaft in Polen „konzentrierter“ sei: „In Belarus verlor sich der belarussische Leser in einem Meer aus russischsprachigen Büchern. Die Menschen wussten nicht, dass es uns gab. Hier aber gibt es kein russisches Monopol, zudem wächst das Bewusstsein dafür, Belarusse zu sein, nicht Russe. Diese Identität will gefördert werden, dadurch wächst das natürliche Interesse an der belarussischen Kultur.“
Im Angebot sind nicht nur Bücher für Erwachsene. Eine Auflage von 200 Stück des Jugend-Fantasy-Romans Wolnery [dt. Die Freiwilligen] von Waler Hapejeu verkaufte sich innerhalb von zwei Monaten. Ebenso der Jugendroman Kasik s kamennaj horki i Wjadsmak Schawanaha Horada [dt. Kasik aus Kamennaja Horka und der Zauberer der Verborgenen Stadt] von Ales Kudryzki.
„Das ist etwas ganz Neues. Wir haben nicht viel in die Werbung investiert und hatten Angst, auf einer Auflage von 700 oder 1000 Stück sitzenzubleiben. Deshalb haben wir mit einer Probeauflage von 250 Exemplaren begonnen, und in weniger als zwei Monaten waren alle verkauft“, sagt der Verleger. Für 2023 und 2024 stehen Der Herr der Ringe und der nächste Band von Harry Potter auf dem Programm. Ein weiterer Erfolg des Verlags ist die Vertragsunterzeichnung mit dem „King of Horror“ Stephen King, dessen Bücher nun in belarussischer Übersetzung erscheinen werden. King hatte im Februar 2022 untersagt, dass seine Bücher ins Russische übersetzt werden.
Januschkewitsch ist überzeugt: Die aktuell hohe Nachfrage nach belarussischsprachigen Titeln darf man nicht ungenutzt vorbeiziehen lassen. „Das Publikum ist da, es verlangt nach neuen Büchern, es hungert richtiggehend danach. Dabei erreichen wir noch gar nicht die großen Länder, wie Großbritannien, die USA und Frankreich, in denen viele Belarussen leben“, sagt er.
Es sei also höchste Zeit, die kulturelle Produktion intensiv anzukurbeln, um den günstigen Moment nicht verstreichen zu lassen. „Bücher sind kein Brot und keine Wurst, wer kein Geld hat, der kommt auch ohne sie aus … Aber die Belarussen wollen das Eigene und sind bereit, dafür Geld auszugeben“, meint Januschkewitsch.
Das belarussische Regime ist antibelarussisch
Eines der jüngsten Bücher des Verlags ist Chloptschyk i sneh [dt. Der kleine Junge und der Schnee] von Alhierd Bacharevič. Es sollte ursprünglich bereits im Frühjahrsprogramm 2021 erscheinen, doch dann dauerte es bis zum Sommer 2023. Damals, erklärt der Verleger, habe er mit dem Autor lange über einige scharfe Formulierungen diskutiert. „Der Autor sagte offen, dass im Land Faschismus herrsche und die Situation schrecklich sei. Ich wusste, dass man das unmöglich drucken konnte, die Selbstzensur setzte ein, und ich konnte den Autor, dessen Bücher bereits aus den Bibliotheken und Buchhandlungen verschwanden, überzeugen. Aber dann wurde klar, dass das Problem nicht einzelne Formulierungen waren, sondern dass Bacharevič insgesamt in Belarus verboten werden sollte“, sagt Januschkewitsch. „Ich bin froh, dass wir das Buch jetzt unzensiert herausgeben konnten.“
Die aktuelle Situation in Belarus, den Einfluss von Ideologie und Kulturpolitik auf den Buchmarkt, sieht der Verleger kritisch. Seiner Meinung nach waren der Besuch des GUBOPiK, die Schließung seiner Buchhandlung und die Ermittlungen gegen seinen Verlag damit verbunden, dass er belarussische Bücher vertreibt. „Ich werde nicht müde zu wiederholen, dass das belarussische Regime antibelarussisch ist. Sie brauchen das Belarussische nur als Vorwand, wie die Fassaden der potemkinschen Dörfer“, sagt Januschkewitsch. Nach diesem Prinzip arbeiten alle staatlichen Verlage.
„Ich muss lachen, wenn ich höre, dass auf der Bestsellerliste ein Buch mit dem Titel Der Genozid am belarussischen Volk während des Großen Vaterländischen Krieges steht. Was für ein Unsinn! Ich stelle mir vor, wie die Belarussen an einem ruhigen Familienabend gemütlich im Sessel sitzen und diesen trockenen, vom Generalstaatsanwalt redigierten Text lesen“, sagt der Verleger ironisch. In Belarus könne man sich entweder mit ideologischer Dienstleistung beschäftigen oder neutrale Bücher und Kinderbücher herausgeben. Den Finger am Puls der Zeit haben, sozialkritische oder tagesaktuelle Bücher bringen, das sei verboten.
„Es würde mich nicht wundern, wenn sie das Werk von Erich Maria Remarque für unerwünscht erklären. Seine Bücher haben einen stark pazifistischen Anklang, und warum sollte der belarussische Bürger unnötig an den Krieg in der Ukraine erinnert werden?“, sagt Januschkewitsch. Unerwünschte Autoren würden aus den Buchhandelsketten und den Bibliotheken verbannt, die unabhängigen belarussischen Verlage könnten zum großen Teil nicht mehr im Land selbst arbeiten. Gegen sie werde ein systematischer Feldzug geführt, erklärt der Verleger. Dadurch mussten 2022 mehrere Verlage ihre Tätigkeit einstellen: Knihasbor, Halijafy, Medysont und Limaryjus.
Das ist Putins Rückkehr ins 19. Jahrhundert
Könnte der Verleger heute nach Belarus zurückkehren? Bislang gebe es keinen Grund dafür, sagt Januschkewitsch. Bücher im Untergrund zu drucken, wie es die Bolschewiki und andere Revolutionäre vor 120 Jahren taten, werde heute nicht gelingen. Und auf offiziellem Weg könne man es aufgrund der Politik nicht tun, die darauf abzielt, alles Belarussische zu vernichten. In kultureller Hinsicht entwickelt sich Belarus zu einer russischen Provinz, resümiert der Verleger.
„Das ist Putins Rückkehr ins 19. Jahrhundert … Das Russische Imperium nannte man ‚Völkergefängnis‘, und in dieses Gefängnis kehren wir nun zurück, bloß in neuer Form“, sagt Januschkewitsch. „Das muss sich ändern: Das Nationale sollte für die belarussische Regierung Priorität haben. Um sich von Moskau loszureißen, müssen dieselben Schritte unternommen werden, die die Ukraine in den letzten fünfzehn Jahren gegangen ist. Unter anderem wurde dort ein eigener Buchmarkt auf die Beine gestellt.“
Bis es soweit sei, würde eine Rückkehr bedeuten, sich in einem Dorf zu verstecken und die verlegerische Tätigkeit einzustellen. „Aber ich bin emigriert, um weiterhin frei arbeiten zu können“, sagt der Verleger. „In Polen kann ich herausgeben, was ich möchte. In Belarus ist das momentan unmöglich.“
Polesien, eine zwischen Belarus und der Ukraine gelegene Sumpflandschaft, ist eine Art kulturelle Schatzkammer für Ethnologen. Die Abgeschiedenheit der dortigen Kommunen wird im Frühling durch den schmelzenden Schnee und die dann entstehenden Inseln in der verzweigten Wasserlandschaft verstärkt. Das hat über die Jahrhunderte dazu geführt, dass sich dort vorchristliche Traditionen und archaische Lebensweisen erhalten haben und eine eigene Kultur ausformen konnte. Aber der grenzüberschreitende Raum zwischen Polen, Belarus und der Ukraine habe verhindert, dass sich „eine Monokultur“ entwickelt hat, wie der belarussische Historiker Pawel Tereschkowitsch sagt, „da dort permanente Kulturschwankungen und Fremdeinflüsse bestehen, aus denen sich eine hybride Kultur entwickelt“. Der polnische Ethnologe Józef Obrębski (1905–1967) hielt die Bewohner von Polesien weder für Ukrainer, noch für Belarussen, sondern für ein eigenes Volk. Obrębski gilt bis heute als einer der bedeutenden Erforscher dieser geheimnisvollen Landschaft.
Das belarussische Online-Medium Zerkalo hat Fotos von Obrębski ausfindig machen können, die die Bewohner des westlichen Polesien, ihre Häuser und ihren Alltag in den 1930er Jahren zeigen, als die Region zur Zweiten Polnischen Republik gehörte. Wir zeigen eine Auswahl dieser Fotos, die wir durch weitere Fotos aus dem entsprechenden Archiv ergänzt haben. Es ist nach Menschen im Sumpf der zweite Teil einer Reihe mit historischen Fotos aus Belarus.
Fotos zu finden, die zeigen, wie die Belarussen vor dem Zweiten Weltkrieg lebten, ist schwierig, da sich viele Bilder aus dieser Zeit im Ausland in privaten Sammlungen oder Museen befinden. Wir können eine Sammlung von Fotografien des polnischen Ethnologen Józef Obrębski präsentieren mit Genehmigung des Robert S. Cox American Research Centre for Special Collections and University Archives an der Bibliothek der University of Massachusetts Amherst. Von April 1934 bis September 1936 führte der Wissenschaftler im Auftrag des Polnischen Instituts für die Erforschung nationaler Probleme und der Kommission für wissenschaftliche Forschungen in den östlichen Ländern eine Forschungsexpedition durch das westliche Polesien durch. Ein bedeutender Teil seines Schaffens, das der Untersuchung der sozialen Struktur des polesischen Dorfes und seines Wandels gewidmet war, bezieht sich auf das Territorium unseres Landes. Schauen Sie sich an, wie dieser Ethnologe das Leben in den belarussischen Dörfern des westlichen Polesiens in den 1930er Jahren festgehalten hat.