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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Ich stehe für jede Art von Zusammenarbeit zur Verfügung“

    „Ich stehe für jede Art von Zusammenarbeit zur Verfügung“

    Die Cyberpartisanen haben die offizielle Webseite des belarussischen KGB gehackt und konnten dabei Datenbanken erobern, darunter auch rund 40.000 Nachrichten, die von 2014 bis 2023 über die Website an den Geheimdienst gesendet wurden. Belarussische Medien haben diese Nachrichten durchforstet und dabei Denunziationen ausfindig gemacht, in denen Menschen andere beim KGB anschwärzen. Es sind nicht nur Belarussen, die ihre Landsleute denunzieren, sondern auch Russen oder sogar EU-Bürger, die sich mit Vorwürfen, Verdächtigungen und Handlungsaufforderungen an die Geheimdienstler wenden. 
    Der Historiker Aljaxandr Paschkewitsch meint, dass „das Ganze zunächst systematisiert“ werden müsse, um allgemeine Schlussfolgerungen aus den Funden ziehen zu können. Es sei jedoch klar, dass es sich bei der Mehrheit nicht um eindeutige Denunziationen handeln würde, sagt Paschkewitsch. Die Redaktion der Online-Plattform Nasha Niva hat recherchiert, dass es sich beim weitaus großen Teil der Nachrichten um Spam handelt, dazu kommen Meldungen von Menschen, die offensichtlich psychisch krank sind, und zahlreiche Anfragen von Menschen zu Verwandten und Bekannten, die in der Zeit des Großen Terrors verschwunden sind, oder zu Menschen, die nach den Protesten von 2020 festgenommen wurden. „Es ist schwierig, eine konkrete Zahl der tatsächlichen Denunziationen von Belarussen zu nennen, eine manuelle Zählung wäre erforderlich.“ Höchstwahrscheinlich übersteige ihre Zahl, schätzt Nasha Niva, nicht 1000 bis 2000 Nachrichten.

    Igor Lenkewitsch vom Online-Medium Reform hat sich eine Auswahl an Denunziationen genauer angeschaut. Darunter viele Hinweise auf Menschen, die während und nach den Ereignissen von 2020 die weiß-rot-weiße Protestsymbolik verwendeten, die mittlerweile verboten ist, aber vor allem auch Nachrichten von Leuten, die Kollegen oder Nachbarn offensichtlich eins auswischen wollten, und sogar ein Angebot von einer Initiative, die sich mit einem absurden Plan dem KGB andienen wollte.

    Nachbarn, Kollegen, Mitbewohner

    „Ich möchte der Organisation zur Terrorismusbekämpfung mitteilen, dass *** im staatsnahen Einkaufszentrum Korona im Restaurant Amsterdam arbeitet, die die weiß-rot-weiße Bewegung vorbehaltlos unterstützt, ihr Profil auf Facebook heißt ***, solche Menschen sollten nicht in Unternehmen der Republik Belarus arbeiten.“

    Diese Anzeige wurde eindeutig von einem oder einer Bekannten erstattet. Oder einem Kollegen, einer Kollegin. Vielleicht sind sie aneinandergeraten, waren sich uneinig über das Speisenangebot oder darüber, wie die Kunden zu bedienen seien? Wir können nur raten. Aber hier ist sie, die Anzeige, und zwar nicht irgendeine, sondern bei der Organisation zur Terrorismusbekämpfung. Wenn schon, denn schon.

    Hier das Schreiben einer Dame aus Baranowitschi: „In unserem Büro arbeiten unter anderem *** und ***, die seit Juli/August 2020 bis heute während der Arbeitszeit Nachrichten aus extremistischen, staatsfeindlichen Quellen besprechen, sich aggressiv gegen den Präsidenten und die Regierung äußern, auf widerliche und zynische Weise die Staatssymbolik beleidigen und gehässig und boshaft die staatlichen Sicherheitsstrukturen und Strafverfolgungsbehörden durch den Dreck ziehen. Im Herbst letzten Jahres brüsteten sie sich unverhohlen mit ihrer Teilnahme an nicht genehmigten Weiß-Rot-Weiß-Demonstrationen.“ 

    Und hier noch die Denunziation einer Staatsbürgerin, die sich nicht als „Petze“ empfindet: „Ich möchte Ihnen mitteilen, dass ich einen Mann kenne, der die Situation in Lida destabilisieren will. Er ist weiß-rot-weiß gesinnt und vor ein paar Tagen, soweit mir bekannt, aus dem Ausland eingereist. Was er dort macht, weiß ich nicht, aber er hat eine Summe von über 15.000 Euro mitgebracht. Ich weiß, er hat Geldkarten von europäischen Banken. Ich bin mir sicher, so provokativ wie er eingestellt ist, dass dieses Geld den smahary zugute kommen wird. Ich bitte Sie sehr, diesen Mann zu überprüfen, weil das zu Unruhe führt. Ich weiß, dass er zu Demonstrationen geht, in seinem Mobiltelefon werden Sie genügend Informationen finden. Ich habe mich nie für eine, entschuldigen Sie die Wortwahl, Petze gehalten, aber ich mache mir große Sorgen um die Zukunft meines Landes und der Kinder.“ Es folgen die Daten der Person, gegen die sich die Anzeige richtet. Natürlich ausschließlich aus Sorge „um die Zukunft“.


    Weiter geht’s. Der Direktor der *** GmbH namens – vollständiger Name – „beschäftigt Anhänger der weiß-rot-weißen Bewegung, die aus dem Belarussischen Metallurgiewerk BMS entlassen wurden. Normale Leute nimmt er nicht. Wir bitten, Maßnahmen zu ergreifen und das zu klären.“ Man kann davon ausgehen, dass diese Anzeige von so einem „Normalen“ stammt, der sich beworben hatte und der, aus welchen Gründen auch immer, abgeblitzt ist. Woraufhin er das einfach so hingeschmiert hat.

    Sie führt ein Doppelleben, und ich halte das für Verrat

    Auch Nachbarn lassen sich zu Denunziationen hinreißen. Zum Beispiel ein Minsker aus der Prityzki-Straße: „Guten Abend. An der Adresse *** wird eine Wohnung an verdächtige Leute vermietet. Immer wieder hängen sie weiß-rot-weiße Fahnen auf und laden Gäste ein, die laut sind. Ich bitte, diese Wohnung und ihre Mieter zu überwachen. Und den Vermieter zur Rede zu stellen.“ So sind die Methoden im Kampf gegen lärmende Nachbarn.

    Und auch das kommt aus Minsk, von wachsamen Nachbarn in der Rafijew-Straße: „Wir melden Ihnen, dass die beiden in der Wohnung Nr. *** wohnenden Frauen, von der die eine *** heißt und die jüngere ihre Tochter *** ist, Verachtung für die vom Präsidenten der RB [Republik Belarus – dek] durchgeführte Politik äußern, andere dazu anstiften, Unzufriedenheit kundzutun und abends zu Protestaktionen im Hof einladen.“

    Nein, wir haben natürlich nicht das Jahr 1937. Die Nachbarn denunzieren nicht, um das Zimmer in der Kommunalka zu bekommen, das nach der Verhaftung der Beschuldigten frei wird. Die Wohnung Nr. *** wird ihnen keiner zusprechen, und das wissen sie. Ist ihr Motiv also der gute alte Klassenhass? 

    Hier geht es um beinah verwandtschaftliche Beziehungen: „Guten Tag! Meine Aufgabe ist, Folgendes mitzuteilen, was Sie mit der Info machen, ist Ihre Sache. Die Schwester meines Mitbewohners *** ist Staatsbürgerin der RB und arbeitet seit zehn Jahren in Belgien. Sie ist Programmiererin. Sie lebt jetzt mit ihrem Chef zusammen. Meinem Mitbewohner zufolge ist es ihr gemeinsamer Job, Informationen zu sammeln und zu verkaufen. Sie kommen immer einmal im Jahr hierher, dieses Jahr zweimal. Wir unterhielten uns, und offenbar ist sie eine glühende Russophobin, Anhängerin der weiß-rot-weißen Sekte und aller faschistischen Führungsmethoden, die in der Ukraine zur Anwendung kommen. Das letzte Mal waren sie ungefähr vom 7. bis 11. Dezember da.“ Diese Bürgerin verdächtigt also die Schwester ihres Mitbewohners, Spionage zu betreiben. Was sie eilig den Behörden meldet.

    Und hier eine sehr traurige Geschichte: eine Denunzierung der Ex-Freundin. Die Anzeige ist lang, daher fasse ich sie zusammen und füge Zitate ein. „Guten Tag. Ich halte es für meine Pflicht, Sie über eine gewisse Person zu informieren“, eröffnet der Verfasser sein Opus. Er erzählt von einer Journalistin der staatlichen Medien, die „seit dem 18. August 2020, wie auch ihre Verwandten, an Demonstrationen teilnahm. Aus Gründen lebten wir zusammen, und nach den Wahlen am 9. August, als alles begann, verbat ich ihr, etwas auf die Straße zu gehen. Aber sie hat nicht auf mich gehört.“

    „Bald sprach sie nach der Arbeit immer öfter davon, dass alles schlecht sei und man etwas unternehmen müsse. Am 12. Dezember 2020 fing sie sehr schnell und nervös davon an, dass wir dringend nach Piter müssen, weil alles ganz schlimm sei und keiner wisse, wie das weitergehe. Ich beschloss, mit ihr auszureisen. Immerhin war sie meine Freundin. Wir holten ihre Tochter, und am 26. Dezember brachte ich uns alle auf illegalem Weg nach Piter. Im Nachhinein ist mir klar, dass das ein riesiger Fehler war. So lebten wir bis April. Der Umzug nach Piter kostete mich enorm viel Geld, das ich mir geliehen habe und immer noch schulde. Doch im April fingen wir an zu streiten, sie ging zurück nach Belarus, und Ende Juni sah ich sie wieder im Fernsehen. Das fand ich sehr unangebracht, weil sie ja für die Opposition eintritt. Und mir wurde natürlich klar, dass sie mich einfach vorübergehend für ihre Zwecke benutzt hat. Sie führt ein Doppelleben und ich halte das für Verrat.“

    Dann fügt der Verfasser hinzu, dass er bereit sei, „als Zeuge auszusagen, wenn nötig, unter Anwendung eines Lügendetektors.“ Er mache das nicht „aus Rache, weil wir getrennt sind, sondern weil ein Mensch für seine Taten zur Verantwortung gezogen werden und dafür einstehen muss“. „Außerdem habe ich ihretwegen gesundheitlichen und finanziellen Schaden erlitten (hohe Schulden) und meine psychische Stabilität eingebüßt. Ich bitte, in dieser Angelegenheit für Gerechtigkeit zu sorgen. Danke.“

    Die Leute, die diese Anzeigen schrieben, gingen wahrscheinlich davon aus, dass die Schriftstücke geheim bleiben würden. Aber dann kam es anders. Die Lustrationen von Seiten der Hacker begannen unerwartet früh. Das ist aber alles nur die Spitze des Eisbergs: Obige Denunziationen wurden allein anhand des Suchbegriffs „weiß-rot-weiß“ in der Datenbank gefunden. Mit anderen Suchbegriffen kann man bestimmt noch viel Aufschlussreiches ausheben. Aber das Grundmotiv ist klar. In diesen konkreten Fällen braucht man nicht anzufangen, über den Grad der ideologischen Spaltung der Gesellschaft nachzudenken – in meinen Augen ist das ganz banale Rache. 

    Ich hasse diese smahary, die für irgendeinen Mist kämpfen

    In anderen Fällen darf man ideologische Motive jedoch nicht ausschließen. Manchmal wenden sich idealistische Bürger sogar mit konkreten Anregungen und Empfehlungen an den KGB. So schlägt hier ein Genosse noch härtere Maßnahmen vor: „Wenn im Gefängnis kein Platz mehr ist, bringt sie doch in Militärkasernen und lasst sie die Drecksarbeit machen, Minderjährige eingeschlossen.“

    „Die Verletzten sollten am besten einzeln weggesperrt werden, denn gerade für Fotos mit Zusammengeschlagenen gibt es gutes Geld. Außerdem braucht es Höchststrafen für bezahlte Demonstranten und finanzielle Anreize für Leute, die aktiv jede Aktivität der Weiß-Rot-Weiß-Bewegung unterwandern“, raten andere. Wieder andere bieten schlicht ihre Dienste als Spitzel an: „Ich hasse diese smahary, die für irgendeinen Mist kämpfen, mit ihrer weiß-rot-weißen Fascho-Symbolik. Deshalb bin ich bereit, bei Bedarf Informationen weiterzugeben, die Ihnen, den Wächtern des Vaterlands, dabei helfen, das Land vor dem Verfall zu retten, damit es nicht wird wie … in der Ukraine zum Beispiel … Ich stehe für jede Art von Zusammenarbeit zur Verfügung. Bitte geben Sie meine Adresse nicht weiter. Ich befürchte Konspiration. Danke Ihnen für alles! Allein schon dafür, dass ich mich mitteilen konnte.“

    Mit Kuhmist gegen Proteste

    Eine Bürgerinitiative hat dem KGB sogar einen detaillierten Plan „zur endgültigen Unterbindung bezahlter Demonstrationen“ vorgelegt. Sie nennen das Projekt Operation Pastuschok (dt. kleiner Hirte) und behaupten, es sei „bestens auf die Mentalität unserer Landsleute zugeschnitten, überaus einfach und rentabel“. Diese Initiative verdient eine eingehendere Betrachtung. Für die Umsetzung ihres Vorhabens benötigen die Verfasser 50 Kühe, eine zwanzigköpfige Menschengruppe und Tierfutter. Die Menschen sollen „die Zunge im Zaum halten können und dabei freundlich sein, insbesondere gegenüber Journalisten. So sollen dann eines schönen Morgens in der Nähe des Unabhängigkeitsplatzes 50 Kühe unter Aufsicht von fünf bis acht Menschen auftauchen, „die die Rolle der Landwirte übernehmen". Sobald sich die bezahlten Demonstranten auf dem Platz versammeln, soll sich die Herde in deren Richtung bewegen.

    Ein Wort an die Planer: „Die Bauern sollen mit polnischen weiß-rot-weißen Flaggen laufen und höhere Löhne, den Bau eines großen landwirtschaftlichen Betriebs sowie einer Molkerei fordern. In regelmäßigen Abständen sollen vier bis fünf Personen Futter für die Kühe bringen. Die wütenden Bauern sollen die Demonstranten so weit wie möglich einbeziehen, um beim Verteilen von Heu und Füttern der Kühe zu helfen. Danach ist es an der Zeit, die Kühe zu melken, woran sich die Demonstranten ebenfalls beteiligen sollen. Für ihre Mitarbeit bekommen sie kostenlos leckere, noch warme Milch. Nach einer Weile werden die Kühe anfangen, auf den Platz zu scheißen. Wenn die Demonstranten sich nicht daran stören, bleibt der Kuhmist einfach liegen und wenn doch, dann sollen die Bauern den Demonstranten Schneeschaufeln geben und sie der Reihe nach die Fäkalien auf einen Haufen schaufeln lassen. Die Polizei soll davon KEINE Notiz nehmen.

    Die wütenden Bauern sollen darauf hinweisen, dass sie keine Zeit zum Putzen haben. Eine der Kühe könnte man im Laufe der Aktion zusammen mit den Demonstranten weiß-rot anmalen und die Demonstranten dazu ermuntern, sich mit ihr fotografieren zu lassen. Diese Kuh wird so für ein paar Tage zum Symbol der Demonstranten.

    Der Überraschungseffekt: Die gemeinsame Arbeit bewirkt einen Schulterschluss der wütenden Bauern mit den Passanten. Zunächst werden die Demonstranten das Geschehen mit Interesse verfolgen, bis sie irgendwann durch Kuhmist laufen müssen in typisch würziger Landluft. Dann ist der Moment gekommen, den Demonstranten seitens der Stadtverwaltung vorzuwerfen, dass sie sich nicht nur wie Schafe benehmen, sondern wie eine ganze Viehherde. Man kann sie zum Beispiel beschuldigen, dass sie die Hauptstadt zuscheißen oder spontan andere Vorwürfe gegenüber den Demonstranten und ihren Organisatoren erfinden. Das Ergebnis: Die bezahlten Demonstranten werden sich weigern, weiterhin für 30 Dollar Honorar durch Scheiße zu laufen und sich die Kleidung dreckig zu machen. Entweder werden sie Geld von den Organisatoren fordern oder weggehen. Oder man könnte mit Hilfe der Kühe ganz aus Versehen die aktivsten Demonstranten von den Plätzen wegdrängen.

    Denkbar ist, dass die Organisatoren den Demonstranten dann ein höheres Honorar zahlen oder sie an einen anderen Ort schicken. Die ‚wütenden Bauern‘ sollen dann ebenfalls den Ort wechseln und den bezahlten Demonstranten folgen – und hier kommen nun die anderen Leute aus der Gruppe ins Spiel, die diskret als Informanten fungieren und vorgeben, wohin sie die Herde treiben sollen. Die Kundgebung der Opposition wird mit dem Geruch von Scheiße assoziiert in Erinnerung bleiben. Fazit: Mit Ihrer Erlaubnis wird die Pastuschok-Methode zum ersten Mal in der Geschichte der Farbrevolutionen dazu beitragen, die Pläne der Übeltäter und Landesverräter endgültig unschädlich zu machen.“

    Weiterhin bekunden die Autoren des Konzepts ihre Bereitschaft, „zum Wohle unseres Staatsoberhaupts und unseres Belarus persönlich und unentgeltlich an dieser Aktion teilzunehmen.“

    Kaum auszudenken, was aus Minsk geworden wäre. Was soll man von diesem Vorschlag halten? Ist das eine ernstgemeinte Initiative „von unten“ oder ein erstklassiger Fake? Mit solchen Verbündeten braucht man jedenfalls keine Feinde. Man muss ihnen nur die Initiative überlassen. Und nein, ich weiß nicht, warum so viele Denunzianten nicht ordentlich schreiben können. Wobei das viel aussagt.

    Das Ganze wäre zum Lachen, wenn es nicht so traurig wäre. Dabei ist es nicht einmal so wichtig, ob die Denunziationen aus Liebe zum Regime oder aus persönlichen Rachegelüsten heraus erfolgen. Fest steht, dass sie unter den Bedingungen der anhaltenden Repressionen immer zahlreicher werden. Wahrscheinlich haben die Optimisten recht, und wir befinden uns noch nicht im Jahr 1937. Aber wo dann? Anfang der 1930er?

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  • „Man muss Realist sein, wenn man gegen eine Diktatur kämpft“

    „Man muss Realist sein, wenn man gegen eine Diktatur kämpft“

    Sasha Filipenko hat sich seit den Ereignissen im Jahr 2020 in Belarus auch in der internationalen Welt zu einer der wichtigsten belarussischen Stimmen entwickelt. Der Schriftsteller, der in Sankt Petersburg studierte und lange in Russland als Drehbuchautor, Fernsehmoderator und Autor arbeitete und lebte, äußert sich regelmäßig zu den politischen Entwicklungen in seiner Heimat. Seine Literatur schreibt er auf Russisch. Nun sind zwei seiner Romane auf Belarussisch erschienen. Aus diesem Anlass hat sich Kazjaryna Kulakowa für das Online-Medium Salidarnasc/Gazeta.by mit Filipenko unterhalten – über die Sprachenfrage in Belarus, über das Leben im Exil und darüber, warum über Belarus in unseren Breiten so wenig bekannt ist.

    Sasha Filipenko: Die Übersetzung meiner Bücher ins Belarussische ist natürlich ein sehr bedeutendes Ereignis für mich. Fast ein Jahr lang haben wir versucht, das möglich zu machen, es war nicht leicht. Die Leute sehen nur: Da ist ein neues Buch erschienen, aber damit es dazu kommen konnte, haben wir viel gearbeitet. Und ich bin sehr froh, dass es gelungen ist. 

    Salidarnasc: Worin bestanden die Schwierigkeiten?

    Einige belarussische Verleger sagten, das Buch sei schon auf Russisch erschienen, es sei sehr bekannt, und alle, die es lesen wollen, hätten es wohl schon gelesen, deshalb würde es sich schwer verkaufen lassen. Es war also schwierig, einen Verlag zu finden, weshalb ich dem Gutenberg Verlag sehr dankbar bin, dass es nun endlich so weit ist. 

    Für mich ist die Sprache eine Frage des Werkzeugkastens

    Die Übersetzung ist, wie ich finde, sehr gut geworden. Ich schreibe nicht auf Belarussisch, mein Gefühl für die Sprache ist nicht so gut. Als die Übersetzerin und die Lektorin mit der Arbeit begannen, merkte ich, dass sie das Belarussische sehr viel besser beherrschen als ich. Für mich ist das einfach eine Frage des Werkzeugkastens.

    Die belarussische Ausgabe von Filipenkos „Der ehemalige Sohn“ / Foto © gutenbergpublisher.eu
    Die belarussische Ausgabe von Filipenkos „Der ehemalige Sohn“ / Foto © gutenbergpublisher.eu


    Empfehlen Sie den Belarussen, die die Bücher bereits auf Russisch gelesen haben, sie noch einmal auf Belarussisch zu lesen?

    Natürlich, ich finde das sehr interessant. Man liest diese Geschichte nicht anders, aber wie mit einem anderen Blick. Für mich selbst war es sehr spannend.

    Die Sprachenfrage ist unter den Belarussen gerade ein heißes Thema: Viele Belarussen gehen zum Belarussischen über, der zukünftige Status unserer Sprache wird diskutiert. Wie denken Sie darüber?

    Ich sehe, dass die Mehrheit der Belarussen, die zum Belarussischen wechseln, im Ausland lebt. In Warschau und in Tbilissi. Ich weiß nicht, wie das der belarussischen Sprache im Inland helfen kann. Ich denke, es wäre gut, wenn die Belarussen in Belarus belarussisch sprechen würden. Zweitens scheint mir, dass viele Belarussen, die vorher nie belarussisch gesprochen haben, damit jetzt beginnen, weil das Russische toxisch geworden ist, die belarussische Sprache aber nicht – mit Belarussisch ist alles in Ordnung, damit ist man sozusagen ein guter Mensch und ein echter Belarusse.

    Doch für mich selbst existiert die Sprachenfrage nicht. Mir ist es gleich, wer ihr seid und welche Sprache ihr sprecht. Entsprechend sind für mich Belarussen nicht besser oder schlechter, je nachdem, ob sie belarussisch oder russisch sprechen. Diese Entscheidung trifft jeder für sich.

    Wir müssen zuallererst mit unseren Kindern belarussisch sprechen

    Die Situation ist jetzt so, dass die belarussische Sprache mit jedem Tag weiter vernichtet wird, das ist uns klar. Wenn wir wollen, dass sie nicht zerstört wird, dann müssen wir zuallererst, das ist das Wichtigste, mit unseren Kindern belarussisch sprechen. Danach kann jede Person schon selbst entscheiden, welche Sprache sie verwenden möchte. 

    Sprechen Sie belarussisch mit Ihrem Sohn, oder lernt er vielleicht belarussisch?

    Er lernt nirgends Belarussisch, aber er schaut sich belarussischsprachige Videos auf YouTube an. Natürlich unterhalten wir uns auf Belarussisch, und er hört auch, wie wir mit Freunden belarussisch sprechen. Ich spreche mit meinem Sohn englisch, französisch und russisch. Später, wenn er entscheidet, wo er leben möchte, wird er schon selbst wählen, welche Sprache er sprechen möchte. 

    Er weiß, dass er belarussische Wurzeln und auch diese Sprache hat. Aber jetzt ist es schwierig für ihn, sie zu lernen, auch Russisch lernt er nirgends, weil wir in der Schweiz leben. 

    Die belarussische Übersetzung Ihrer Bücher wird online auf der Verlagswebsite zugänglich sein. Das ist eine gute Neuigkeit für die Menschen in Belarus, denn sie können die Bücher ohne irgendwelche Hindernisse lesen. Halten Sie Kontakt zu Belarussen im Land und können Sie etwas über das Verhältnis der Menschen untereinander sagen?

    Ich spreche mit vielen Leuten in Belarus, allein schon für die Arbeit, da ich auch als Journalist tätig bin und für die europäische Presse schreibe. Im Moment sind alle sehr still geworden. Aber das bedeutet keinesfalls, dass sie sich aufgegeben haben. Sicher, es gab eine Niederlage (im Jahr 2020, Anm. d. Red.), es ist uns nicht gelungen, unser Ziel zu erreichen. 

    Wir haben eine Schlacht verloren, aber der Krieg ist noch im Gange

    Aber ich weiß, dass die Belarussen wieder protestieren werden, sobald sich eine Möglichkeit ergibt, in diesem Sinne ist nichts vorbei. Wir haben eine Schlacht verloren, aber der Krieg ist noch im Gange, und deshalb gehen auch täglich die Repressionen weiter. Diejenigen, die weiterhin an der Macht festhalten, spüren: Würden die Repressionen aufhören, wäre den Belarussen klar, dass eine Art Tauwetter beginnt, und dann könnten sie wieder auf die Straßen gehen.

    Die größte Auszeichnung für mich war übrigens (darüber habe ich kürzlich in Berlin berichtet, wo ich zum ersten Mal Romanauszüge auf Belarussisch vor Publikum las), dass Menschen, die 2020 in Haft kamen, dort mein Buch Der ehemalige Sohn gelesen und es von Zelle zu Zelle weitergereicht haben. Ich weiß, dass dieses Buch den Menschen etwas bedeutete, dass es für sie wie eine Therapie hinter Gittern war.

    In der französischen Zeitschrift Kometa haben Sie ein Art Reiseführer für das heutige Belarus geschrieben. Was überrascht Ausländer in Bezug auf Belarus am meisten, und was verwundert Sie in diesem Kontext wiederum?

    Mich wundert, dass niemand irgendetwas über Belarus weiß. Aber mir scheint, daran tragen wir auch selbst Schuld. Es fällt sehr schwer zu beschreiben, was da gerade vor sich geht. Und den Menschen in Europa fällt es ebenso schwer, das zu glauben. In der Schweiz habe ich von Leuten gehört, die drei Tage bei uns waren: in Belarus gäbe es gute Restaurants, saubere Straßen und man könne nicht sagen, dass Lukaschenka ein Diktator sei. Die Menschen begreifen also nicht wirklich, was im Land passiert.

    Vor einer Woche, bei einem Auftritt in Basel, begann eine Schweizerin plötzlich zu erzählen, dass sie sich für das belarussische Rentensystem interessiere und es für viel besser als das der Schweiz halte. Bei uns würde es den Rentnern besser gehen, als denen in der Schweiz, sie hätten zudem die Möglichkeit, ins Sanatorium zu fahren. Ich hörte mir das an und überlegte, ob diese Frau wohl einen Monat lang so leben könnte, wie ein belarussischer Rentner.

    Eine weitere dringliche Frage ist die nach den politischen Gefangenen. Es gibt keine einheitliche Lösung, wie man die Menschen aus der Haft befreien könnte. Sie sind in dieser Frage nicht mehr nur Beobachter, denn vor Kurzem wurde Ihr Vater verhaftet. Was denken Sie über die Frage der politischen Häftlinge?

    Ich sehe, dass Leute jetzt sagen, man müsse Zugeständnisse machen, die Sanktionen beenden, um die politischen Gefangenen freizubekommen. Als würden die Mächtigen nach der Freilassung nicht einfach andere festnehmen. Ich denke, dass noch am selben Tag neue Leute hinter Gitter kämen, denn das Regime hätte die Bestätigung: ja, es funktioniert.

    Die Menschen müssen freikommen, ohne dass es Bedingungen gibt

    Meine Eltern sind aktuell Geiseln in Minsk. Aber dennoch weiß ich, dass es nur eine einzige Option gibt: Die Menschen müssen freikommen, ohne dass es Bedingungen gibt. Den Machthabern muss klar sein, dass es keinerlei Verhandlungen geben wird: Die Leute müssen einfach nur freigelassen werden. Jemand hat gesagt, dass selbst im Krieg beide Seiten Gefangene austauschen. Aber wir haben keine Kriegsgefangenen hier, in Warschau gibt es keinen Asarjonak oder jemanden von deren Seite. Und die Abänderung der Sanktionen im Austausch gegen Gefangene – das ist auch keine Option.

    Wir können uns vorstellen, dass Kalesnikawa und Babaryka freigelassen werden, und jeder Belarusse wünscht sich, dass das geschieht. Aber es gibt dabei einen Preis, den es zu zahlen gilt, wenn am nächsten Tag ein anderer Mensch dafür verhaftet wird. Wie kann man das nicht berücksichtigen? Und warum heißt es, man habe kein Herz und kein Mitgefühl, wenn man die Idee der Zugeständnisse nicht mitträgt? Im Gegenteil, man hat sehr wohl Herz und Mitgefühl, nur muss man eben Realist sein, wenn man gegen eine Diktatur kämpft.

    Sie haben viele Male gesagt, dass vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine das belarussische Thema in Vergessenheit gerät. Ändert sich das in letzter Zeit?

    Ja, jetzt gerät auch das Thema Ukraine in Vergessenheit. Es gab die Ereignisse in Israel und andere. Ich glaube, dass die Ukrainer sich jetzt allmählich so fühlen, wie wir uns gefühlt haben. Ich arbeite mit Journalisten zusammen, die über die Vorwahlkampagne in den USA berichten, und bei all den Kandidaten und den Kommunalwahlen kommt die Ukraine auf dem zehnten oder elften Platz. Natürlich werden die Nachbarländer die Ukraine weiter stark unterstützen. Aber für die Menschen, die in Portugal, Spanien oder Italien leben … Mein Sohn kommt aus seiner Schweizer Schule und erzählt, dass die Leute in der Schweiz nicht wissen, dass in der Ukraine Krieg ist. 

    Wir begeistern uns für Konflikte wie für Netflix-Serien

    Mir scheint, wir begeistern uns für Konflikte wie für Netflix-Serien: Komm, lass uns die zweite Staffel schauen. Aber dann ist es nicht mehr spannend, und los, wir schauen einfach eine andere Serie. Was wir also tun können, ist, weiterhin darüber zu berichten, dass sich nichts geändert hat. 

    Sie erzählen viel über Ihre Arbeit als Journalist. Aber schreiben Sie gerade auch Bücher?

    Ja, ich habe begonnen, an einem neuen Buch zu arbeiten. 

    Vor etwas mehr als einem Jahr sagten Sie, dass Sie keine Bücher schreiben können – was hat sich geändert? Und worum geht es in dem neuen Buch, wenn man fragen darf?

    Das ist noch geheim. Einige Zeit lang war ich erschöpft und konnte nicht schreiben. Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, ein neues Buch zu beginnen. Es ist eine schwierige Frage, ob es gerade überhaupt einen Sinn hat, Bücher zu schreiben, denn du begreifst, dass Bücher überhaupt nichts bewirken. Aber andererseits beeinflussen sie dich selbst und viele Leser, oder sie werden zu Theaterstücken. Wenn ich mir also anschaue, was gerade auf unserer Welt passiert, dann wird mir klar, dass nur darin Sinn steckt – Kultur, Literatur, Theater.

    In Berlin gab es eine Inszenierung auf der Grundlage von Kremulator. Das hat sehr stark auf mich gewirkt, nicht in dem Sinne, dass ich stolz bin, weil mein Buch inszeniert wurde, sondern weil der Regisseur Maxim Dsidsenka und alle Mitwirkenden aus eigener Kraft, ohne Unterstützung eines Theaters oder so, ein großartiges Stück auf die Beine gestellt haben. 

    Kunst zu schaffen ist das, was wir tun können, um Menschen zu bleiben

    Für mich ist es sehr wichtig und wesentlich, dass Menschen sich der Kunst widmen – trotz allem. Dann beginne ich auch zu denken, dass ich schreiben muss, und schreibe. Deshalb finde ich, dass es gerade jetzt sehr wichtig ist, Kunst zu schaffen – es ist das, was wir tun können, um Menschen zu bleiben. 

    In Ihrem Roman Rückkehr nach Ostrog haben Sie den großangelegten Krieg Russlands gegen die Ukraine vorausgesagt. Was denken Sie heute über die Zukunft: Stehen wir an der Schwelle zu einer großen Katastrophe oder kommen doch positive Veränderungen auf uns zu?

    Darf ich die Frage nicht beantworten? Alles, was ich sage, wird nachher wahr. Noch vor Ostrog habe ich 2015/16 in einem Interview gesagt, dass ein großer Krieg kommen wird. Was ich jetzt sehe und fühle … Ich habe keine guten Prognosen. Daher lassen Sie mich bitte diese Frage nicht beantworten.

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  • „Russland braucht jetzt ein solches Belarus“

    „Russland braucht jetzt ein solches Belarus“

    Mit keinem anderen Staatsführer trifft sich Wladimir Putin derart häufig wie mit seinem belarussischen Kollegen Alexander Lukaschenko. Vor allem seit dem Beginn der Proteste in Belarus im Jahr 2020 und seit Beginn der russischen Großinvasion in die Ukraine hat die Anzahl der Besuche, die bis auf zwei Ausnahmen allesamt in Russland stattfanden, deutlich zugenommen. Die Gründe sind klar: Lukaschenko ist für Putin trotz aller Differenzen in der Vergangenheit der loyalste Verbündete; der russische Präsident hält dem belarussischen Diktator im Gegenzug den Rücken frei, unterstützt ihn wirtschaftlich, versucht aber gleichzeitig, den russischen Einfluss in Belarus weiter zu erhöhen. Erstaunlich ist dabei immer wieder, wie Lukaschenko für sich Vorteile auszumachen versucht, obwohl er weiß, dass er sich gegenüber dem Kreml in der deutlich schwächeren Position befindet. 

    Nun war Lukaschenko Ende vergangener Woche wieder in Moskau, es war bereits das zweite Treffen zwischen den beiden Staatenführern in diesem Jahr. Die Treffen werden in unabhängigen belarussischen Medien regelmäßig eingehend diskutiert. Dabei standen diesmal vor allem diese Fragen im Vordergrund: Welche aktuelle Rolle spielt Lukaschenko für Putin im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine? Könnte Belarus immer noch mit eigenen Truppen eingreifen? Oder wäre es dem Kreml dienlicher, wenn Lukaschenko Russland mit seinen industriellen Möglichkeiten im Kampf gegen die Sanktionsauswirkungen unterstützt und er für den Fall, dass es doch irgendwann zu Verhandlungen mit der Ukraine kommen sollte, die Rolle des „Friedensstifters“ für Putin übernimmt? Der belarussische Journalist Alexander Klaskowski gibt in seiner Analyse für das Online-Medium Pozirk Antworten auf diese und andere Fragen.

    Alexander Lukaschenko teilte bei seinem Besuch im Kreml am 12. April vor Journalisten mit: „Ich bestreite ja nicht, dass wir ein Co-Aggressor sind“. Dabei unterstrich er aber auch: „Jeder erfüllt seine Aufgabe.“ Anders gesagt, Wladimir Putin und Lukaschenko haben sich offenbar auf eine Aufgabenteilung in der ukrainischen Frage (und darüber hinaus) geeinigt. Diese spezielle Aufgabenteilung zeigte sich auch darin, dass der Gast während seines aktuellen Besuchs als Sprachrohr des Kreml zum Thema Friedensgespräche mit Kyjiw fungierte. Er trat vehement dafür ein, die Verhandlungen von Istanbul 2022 als Grundlage zu nehmen und diskreditierte die für Juni geplante Konferenz in der Schweiz, zu der Moskau nicht eingeladen wurde. Putin pflichtete – wie es sich für einen Zaren ziemt – großmütig bei. 

    Selbst wenn Lukaschenko zugibt, Co-Aggressor zu sein, hindert ihn das nicht daran, als Friedensstifter aufzutreten. Den ukrainischen Präsidenten, den er viele Male beleidigt und als politischen Jungspund deklassiert hat, nannte er diesmal höflich beim Vor- und Vatersnamen. Kurzum, er ist ein Großmeister im Herumlavieren. 

    Russland braucht jetzt ein solches Belarus

    Die Moskauer Journalisten fragten Lukaschenko, wie hoch er die Wahrscheinlichkeit einschätze, dass Belarus in die Kampfhandlungen eintreten müsse. Die Antwort lautete: „Eine solche Notwendigkeit gibt es nicht. Und eine solche Notwendigkeit wird es auch nicht geben.“

    Es folgten Argumente, die der belarussische Machthaber vermutlich wiederholt vor Putin von Angesicht zu Angesicht ausgebreitet hat. Heute scheint zwischen ihnen in dieser Hinsicht Konsens zu herrschen. Lukaschenko sagte: „Russland braucht jetzt ein solches Belarus – friedlich, still und ruhig, das seine Aufgabe erfüllt. Im Einzelnen werde ich Ihnen nicht erzählen, womit wir uns beschäftigen“. 

    Im Grunde kann man erraten, dass es vor allem um die Unterstützung des kriegsführenden Russland bei der Produktion von Nachschub geht – sowohl im zivilen Sektor (im Zuge der Sanktionen und der Abwanderung westlicher Firmen aus Russland sind einige Lücken entstanden) als auch im militärischen Bereich. Unter anderem hilft Minsk Moskau dabei, mithilfe von Grauimporten die Sanktionsauswirkungen zu mildern. 

    Des Weiteren erklärte Lukaschenko offen, dass es derzeit selbstmörderisch sei, sich von Belarus aus in der Ukraine einzumischen. Erstens sei „deren Grenze zu Belarus verbarrikadiert – da ist kein Rankommen. Sie ist vollständig vermint und zubetoniert, und es stehen 120.000 ukrainische Soldaten an dieser Grenze.“ 

    Zweitens, so erklärte er, würde sich in diesem Fall die Front um 1000 Kilometer – nämlich um die Länge der belarussischen Grenze mit der Ukraine, Polen und den baltischen Staaten – verlängern (jaja, die aggressiven NATO-Staaten warten nur darauf!): „Wenn wir in den Krieg eintreten, müssen wir diese Front sichern. Können wir das? Wir können das nicht. Ich sage Ihnen: Wir können das nicht. Wollen wir Probleme? Nein, wollen wir nicht.“

    Und ein weiterer Punkt: „Die Hälfte unseres Landes liegt im Hundertkilometerradius von Kyjiw (hier übertreibt er in seinem üblichen Stil – Anm. d. A.). Auch die Erdölraffinerie in Mosyr, die zum Glück bislang ohne Einschränkung arbeitet, sie wurde modernisiert, und auch die Russen tanken Benzin aus der Raffinerie Mosyr.“ Es ist anzunehmen, dass Lukaschenko faktisch wiederholt hat, was er auch Putin in ihren Tête-à-Têtes dargelegt hat. Und der ist mit dieser Argumentation bis heute mehr oder weniger einverstanden: Besser keine schlafenden Hunde wecken. Andernfalls hätte Lukaschenko keine solche Überzeugung ausgestrahlt. 

    Die Tatsache, dass der belarussische Machthaber wieder zwei Tage bei seinem Großen Bruder zu Gast war und gemeinsam mit ihm die Kosmonauten ehrte, spricht alles in allem dafür, dass zwischen ihnen gegenseitiges Verständnis eingekehrt ist. Die von einigen Kommentatoren überspitzte Version, Putin würde seinem Partner wieder und wieder verzweifelt die Daumenschrauben anziehen, erscheint eher unwahrscheinlich.

    Der Klassiker: Rückendeckung für die „russischen Brüder“ 

    Die beiden Herrscher reagierten auch auf die Äußerungen ihrer politischen Gegner und einer Reihe von Experten, dass laut Lukaschenko „Putin und Lukaschenko morgen Europa einnehmen wollen“. Der belarussische Regent versicherte, man habe „niemals solche Pläne besprochen“. Der Kremlchef bezeichnete diese Verdächtigungen als Unsinn. Auf der Gegenseite liegt das Vertrauen in die Aussagen der beiden Herrscher verständlicherweise bei Null. Die hatten auch vor dem Einmarsch in die Ukraine 2022 unverfroren versichert, nur gemeinsame Militärübungen durchzuführen

    Damals war jedoch offensichtlich, dass Truppen zusammengezogen wurden, und die Amerikaner warnten in Klartext vor einem anstehenden Überfall. Eine solch schlagkräftige Formation ist heute weder für einen erneuten Marsch auf Kyjiw von belarussischem Territorium aus noch für einen Blitzkrieg zur Einnahme von Vilnius (oder gar Warschau) ersichtlich. Sollte sich eine solche Formation bilden, dann dauert das länger als einen Monat, und würde zudem mit den heutigen Möglichkeiten der Aufklärung klar entdeckt werden. Aktuell ist es für Putin logischer, an den bestehenden Fronten in der Ukraine maximal voranzukommen, um im Falle von Friedensverhandlungen eine möglichst günstige Position zu haben. 

    Selbst wenn Russland eine neue Mobilisierung durchführt, würde das Kanonenfutter am ehesten in der Ukraine gebraucht, vielleicht für den erwarteten Angriff auf Charkiw. In dieser Situation eine weitere Front gegen die NATO zu eröffnen, wäre fraglos eine schlechte Idee.

    Lukaschenko wird hingegen mit Vergnügen den Anschein erwecken, die russischen Brüder vor einer potenziellen NATO-Aggression zu beschützen. Unter anderem behauptet er, sich den westlichen Truppen heldenhaft entgegenstellen zu wollen, sollten sie in der Ukraine auftauchen: „Jetzt haben sie begonnen, von der Verlegung eigener Truppen in die Ukraine zu reden, höchstwahrscheinlich an die Grenze zu Belarus. Wir warten, sollen sie nur kommen.“

    Doch diese Truppenverlegung ist bislang mit einer Heugabel auf Wasser geschrieben, und so oder so ist klar, dass die Franzosen oder auch die Briten nicht in die Offensive gehen würden. Doch Lukaschenko ist es wichtig, Moskau davon zu überzeugen, wie wertvoll seine Mission ist, die verdammten Westler zurückzuhalten, die an den Grenzen des Unionsstaates mit den Panzerketten rasseln. 

    Die Weltraumparty soll weitergehen – die Kosten trägt der große Bruder

    Derweil hat der belarussische Bündnispartner es eilig, Dividenden aus der aktuellen Situation einzustreichen. Am 11. April sagte er im Kreml zu Journalisten: „Wenn wir schon Aggressoren sind, sollten offen gestanden auch die gleichen Bedingungen für die Wirtschaftssubjekte und die Menschen gleich sein.“

    Zwar ist das doppelt gemoppelt, doch der Inhalt ist verständlich. Als einziger Verbündeter des kriegsführenden Imperiums will Minsk ein Maximum an Vorteilen. Im Gespräch mit Putin merkte Lukaschenko an: „Die Kredite, die für gemeinsame Projekte bewilligt wurden – 100 Milliarden Russische Rubel [circa 1 Milliarde Euro – dek] – sind schon zu über 80 Prozent in Projekten umgesetzt.“ Die Andeutung ist klar: Es wäre keine Sünde, noch ein paar Kreditmittel rüberwachsen zu lassen.

    Zudem ist Lukaschenko sichtlich euphorisch ob der Tatsache, dass es locker gelungen ist, auf das russische Raumfahrtprogramm aufzuspringen. Am 26. März rutschte ihm raus, dass der Weltraumflug Belarus 70 Millionen Dollar kosten würde, Russland allerdings diese Ausgaben übernehme. Jetzt überredet Lukaschenko Putin, wieder belarussische Kosmonauten in den Orbit zu schicken. Dem belarussischen Machthaber gefällt eindeutig das Image des Anführers einer Raumfahrernation, und er wünscht sich eine Fortführung der Party, zumal der große Bruder die Kosten dafür übernimmt. 

    Der Wohlstand wackelt, doch Lukaschenko ist es gewohnt, sich herauszuwinden

    In den ersten Wochen der großangelegten Invasion Russlands in der Ukraine, besonders, nachdem die Angreifer bei Kyjiw aufs Maul bekommen hatten, wirkte Lukaschenko nervös und gereizt. Jetzt ist er viel lockerer: Er konnte die Entsendung seiner Truppen in diesen Fleischwolf vorerst abwenden und von Russland neue Produktionsaufträge bekommen. Die russische Armee drängt die Ukrainer zurück. Ein Teil der westlichen Politiker tendiert scheinbar dazu, Kyjiw zu einem Frieden zu ungünstigen Bedingungen zu zwingen. Die Ansichten einiger Kommentatoren, dass Putin den belarussischen Vasallen im Falle eines Friedensabkommens mit der Ukraine weniger schätzen wird, die Subventionen streicht und Belarus als Trostpreis annektiert, kann man anzweifeln. 

    Eine friedliche Verschnaufpause würde Moskau am ehesten nutzen, um Kraft und Ressourcen für eine „Endlösung der Ukraine-Frage“ zu sammeln. Und dann weiterzumachen. Und bei solchen Plänen kann der belarussische Verbündete noch sehr nützlich sein. Warum ihn also verprellen? Wie man sieht, hat sich Lukaschenko, dieser Meister des Manövers, begabt im Springen zwischen Strömungen, unglaublich geschickt an die Situation des großen Krieges in der Nachbarschaft angepasst (und dabei der eigenen Wählerschaft noch das Image des weisen und starken Friedensschützers in die Köpfe gepflanzt). 

    Es steht auf einem anderen Blatt, dass sein Wohlstand arg wacklig ist. Auf dem russischen Markt verschlechtert sich langsam die Stimmung. Bei den Händlern dort haben sich große Produktionsvorräte angesammelt, worüber sich Lukaschenko kürzlich bei einem Branchentreffen empörte. Auch die belarussische Außenhandelsbilanz verschlechtert sich – Äquatorialguinea ist, auch wenn man hundertmal hinfliegt, ein schlechter Ersatz für EU und Ukraine. Die einseitige Orientierung auf den russischen Markt und die Bindung im Bereich der Exportlogistik verstärken die Abhängigkeit vom Imperium. Das Russische Imperium seinerseits, sieht man von der Weltraumprotzerei ab, kann im Bereich innovativer Technologien nicht behilflich sein. Zudem atmet es Aggression, sie ist sein Modus vivendi. Mit einem solchen Großen Bruder kann sich der ganze relative Wohlstand, der heute vorhanden ist, unversehens in Nichts auflösen.
     
    Doch Lukaschenko hat keine Wahl, nach Den Haag will er ja auch nicht. Er ist es gewohnt, sich herauszuwinden, und tut das auch heute, wenn er versucht, selbst aus dem Status des Co-Aggressors den größtmöglichen Gewinn zu pressen.

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  • Die weiße Emigration: Warum Ärzte Belarus verlassen

    Die weiße Emigration: Warum Ärzte Belarus verlassen

    Auch Ärzte, Pflegekräfte und anderes medizinisches Personal hatten sich 2020 massenhaft den Protesten in Belarus angeschlossen. Trotz des eklatanten Personalmangels im Land gingen die Machthaber danach massiv gegen Augenärzte, Chirurgen, Psychologen oder Krankenpfleger vor. Bis heute kommt es zu gezielten Repressionen und Strafverfahren gegen medizinisches Personal. Ärzte werden entlassen, kommen hinter Gitter, werden zu Extremisten oder Terroristen erklärt, viele der Fachkräfte haben Belarus verlassen. In der Oblast Witebsk ist die Anzahl der Ärzte innerhalb eines Jahres um 700 zurückgegangen

    Die Journalistin Jana Machowa berichtet, was im belarussischen Gesundheitswesen vor sich geht, wohin und wovor die dringend gebrauchten Fachkräfte fliehen und welche Folgen dies für Patienten und Kranke hat.

    Russisches Original

    Tausende medizinische Fachkräfte fehlen 

    2023 ist das Einsetzen von Gelenkprothesen in Belarus eine Operation, die für den Durchschnittsbürger fast utopisch ist. „Schön realistisch bleiben! Vom Orthopäden-Prozess haben Sie gehört?“ So beschreibt eine Patientin, die ein neues Kniegelenk braucht, die Reaktion von Ärzten auf ihre Anfrage. Im Frühjahr 2023 rollte eine Verhaftungswelle durch die Orthopädischen Abteilungen des Landes, dutzende erfahrene Fachärzte landeten hinter Gittern – so wie kurz davor Psychologen und Psychotherapeuten, die die Silowiki in der Hoffnung, an Informationen zu „problematischen“ Patienten zu kommen, ebenfalls zahlreich festnahmen. Das zu Jahresbeginn geänderte Gesetz Über psychotherapeutische Hilfeleistung erlaubt es nun den Geheimdiensten, ohne Angabe von Gründen die Bereitstellung von Informationen über Klienten zu verlangen. 

    Den Orthopäden werden offiziell Bestechlichkeit und illegale Absprachen vorgeworfen. Inoffiziell spricht man in Medizinerkreisen über eine mögliche Umgestaltung des Marktes sowie die Vermutung, alle diese „Prozesse“ könnten den Zweck haben, die Privatmedizin sowie Mediziner, die 2020 mitsamt ihrer ganzen Abteilung protestierten, dem Staat zu unterwerfen.

    Die Massenverhaftungen haben die Wartezeit für Gelenkimplantate, die ohnehin bereits Jahre betrug, noch zusätzlich verlängert. Sogar den Daten des Gesundheitsministeriums zufolge warten an die 14.000 Menschen auf ein künstliches Hüftgelenk. Die Empörungswelle ist bis zu Lukaschenko durchgedrungen, der ganz typisch reagierte: „Bis Jahresende macht ihr mir all diese Gelenke!“, forderte er vom Gesundheitsminister, ohne sich für Details zu interessieren. „Aber zackig! Einer steht, zwei nähen. Los, organisieren Sie das.“ Das Gebrüll in der Sitzung verkürzte die Wartezeit für Operationen natürlich nicht.

    Ein Ärztemangel aufgrund von niedrigen Gehältern und jenseitigen Anforderungen, was den Umfang der zu leistenden Arbeit betrifft, bestand in Belarus auch schon vor 2020. Mit dem Beginn der Massenrepressionen nach den Präsidentschaftswahlen verschärfte sich die Situation. Im Herbst 2022 meldete die polnische Gesundheitsministerin Katarzyna Sojka, dass im Laufe des letzten Jahres rund tausend belarussische Ärzte eingereist seien. 

    Die Belarusian Medical Solidarity Foundation ByMedSol führte eine Studie zur Zahl der medizinischen Fachkräfte in Belarus durch. Als Grundlage dienten offen zugängliche Quellen und offizielle Statistiken. Die Ergebnisse sind ernüchternd. „Wenn das Gesundheitsministerium Ende 2022 von 48.000 praktizierenden Medizinern spricht, dann ist das gelogen. In Wirklichkeit sind es mindestens 10.000 weniger“, erklärt der Gründer der Stiftung, Andrej Tkatschow, und fügt hinzu, dass seit 2020 die Lügen in den staatlichen Strukturen immer größere Dimensionen annehmen und man, statt Probleme zu lösen, lieber die Statistiken manipuliere. 

    Seinen Daten zufolge haben in den letzten drei Jahren tausend bis mehrere tausend medizinische Fachkräfte Belarus verlassen. Indirekt bestätigen das die Daten der landesweiten Jobbörse: Der Suchbegriff „Arzt“ bringt rund 6500 Stellenangebote, für Krankenschwestern gibt es über 4000 freie Arbeitsplätze. „Äußerst vorsichtig geschätzt sind auf jeden Fall mehr als 1000 Mediziner ausgewandert. Es können auch bis zu 5000 sein. Man kann sie nur indirekt zählen, weil viele medizinische Fachkräfte den Job gewechselt, aber keine Möglichkeit zur Emigration haben“, erklärt ein Vertreter von ByMedSol.

    Medizinisches Personal bei einer Protestkundgebung in Minsk im Jahr 2020 / Foto © Natalia Fedosenko/ITAR-TASS/imago-images 

    26 Mediziner sind als politische Häftlinge anerkannt

    Slawomir Gadomski, stellvertretender Gesundheitsminister, sieht den Ausweg aus der personellen Not in einem größeren Angebot an staatlich finanzierten Studienplätzen, als „Zuckerl“ verspricht er eine soziale Förderung in Form von Wohnungen. Lukaschenko hat den Ärztemangel kommentiert, indem er Polen, wohin seine wertvollen Fachkräfte verschwinden, mit der Faust drohte. Im November 2020 erklärte er: „Wir haben keine überschüssigen Ärzte. Wir brauchen sie selber, für unsere Leute. Zurückhalten werden wir aber keinen … Wer abhaut, braucht nicht mehr wiederzukommen.“ Wiederkommen, das haben die Ärzte allerdings ohnehin nicht vor. Die meisten, die seit 2020 abgewandert sind, sind vor Repressionen geflüchtet.

    Die Mediziner stachen während der Proteste sehr ins Auge. Sie demonstrierten mit Plakaten direkt vor den Krankenhäusern. Wie sonst niemand wussten sie über das Ausmaß der Gewalt Bescheid, immerhin waren sie es, die die Opfer medizinisch versorgen mussten.

    „Es war unmöglich zu schweigen. Jeden Tag [im August 2020 – dek] kamen Verprügelte und Verletzte herein. Blaugeschlagen, mit Platzwunden und Schussverletzungen. Ich arbeite schon lange im OP, habe schon vieles gesehen, aber sowas … Vor der Arbeit stellte sich unsere Belegschaft vor den Haupteingang der Klinik, manche hatten Plakate gemalt: Nein zur Gewalt. Was hätten wir denn sonst tun können?“, erzählt ein Chirurg aus einer Minsker Klinik, der anonym bleiben will. Manche Kollegen, fügt er hinzu, hätten nach kurzer Haft gekündigt und das Land verlassen, andere hätten den Beruf gewechselt, und manche säßen noch immer hinter Gittern. 

    Andrej Ljubezki, eine Koryphäe im Bereich Kinder-Kiefer- und Gesichts-Chirurgie, rief dazu auf, die Verfolgung und Misshandlung der Menschen einzustellen. Woraufhin er zu fünf Jahren Strafkolonie verurteilt und zum Terroristen erklärt wurde. „Jeder von uns hat einen oder auch mehrere Bekannte, Freunde oder Nachbarn, die festgenommen wurden, die erniedrigt und geprügelt wurden“, schrieb Ljubezki, der inzwischen als politischer Gefangener gilt, auf Facebook noch vor seiner Verhaftung.

    Wegen Kleidung in den „falschen“ weiß-rot-weißen Farben wurde eine 71-jährige Fachärztin für Onkologie und Mammalogie mit einer Geldstrafe von 3770 Rubel (damals rund 1100 Euro) belegt. Die 51-jährige Psychiaterin Natalja Nikitina wurde an ihrem Arbeitsplatz im Minsker Psychiatrie- und Psychotherapiezentrum für Kinder festgenommen. Ein paar Stunden zuvor hatte sie eine Mitteilung über ihre Entlassung erhalten. Wegen Kommentaren im Internet wurde die Ärztin zu einem Jahr und zehn Monaten Strafkolonie und einer Geldstrafe in Höhe von 6400 Rubel (damals rund 1900 Euro) verurteilt. Das sind nur einige Beispiele.

    Im Oktober 2023 betrug die Zahl der aus politischen Gründen inhaftierten Ärzte rund 26. Vertreter von ByMedSol gehen davon aus, dass die Dunkelziffer höher ist. Aber Menschen, die einmal durch den Fleischwolf der Repressionen gedreht wurden, wollen oder trauen sich oft nicht, offen zu sprechen.

    Ich behandle meine belarussischen Klienten jetzt von Polen aus

    „Morgens um halb sieben kamen KGB-Bedienstete zu mir nach Hause, stemmten die Türen auf. Fünf Stunden Hausdurchsuchung, fünf Stunden Verhör. Ich wurde gegen Unterschrift entlassen, mit dem Zusatz: nicht für lange“, erzählt Jelena Gribanowa, Psychologin mit 20 Dienstjahren. 

    Nicht einmal nach diesem Vorfall wollte Jelena das Land verlassen, doch 2021 wurde ihr klar, dass man sie nicht in Ruhe lassen würde – und sie ergriff die Flucht: „Im Staatsfernsehen war ein Beitrag, in dem aufgrund meiner ehrenamtlichen Tätigkeit ein ‚psychologisches Zentrum der Protestbewegung‘ und eine ‚Koordinatorin des Litauer Puppenspielers‘ aus mir gemacht wurde. Und dann kam absoluter Nonsens von wegen, wir würden ‚von Europa finanziert‘.” 

    Die Psychologin lebt seit nunmehr zwei Jahren in Polen, hat belarussische und ukrainische Klienten, arbeitet als Psychologin und Supervisorin für eine Menschenrechtsorganisation in Charkiw. 

    Bevor sein Diplom in Polen anerkannt wurde, arbeitete ein ebenfalls lieber anonym bleibender Onkologe ein Jahr lang als Lieferant in Warschau. „Bis zur Anerkennung meines Abschlusses durfte ich arbeiten, was ich wollte, nur nicht als Arzt. Die medizinische Prüfung ist hier sehr schwer, beim letzten Mal haben von 800 Ärzten (großteils aus Belarus und der Ukraine) nur sechs sie geschafft. Daher kommt es oft vor, dass belarussische Ärzte bereits im Vorfeld, während sie noch in Belarus leben und arbeiten und ihre Migration planen, die Nostrifizierung in Polen beginnen. Die größte Herausforderung ist es, Wohnraum zu finden; ich hatte Glück, ich hatte schon zu Hause auf eine Wohnung gespart. Denn auch wenn das Diplom anerkannt wird, müssen alle im ersten Jahr ein Praktikum machen und verdienen nicht viel“, erzählte der Arzt.

    Private Ärztezentren wurden zur Entlassung von Ärzten gezwungen

    Die Repressionen betreffen medizinisches Personal auf allen Ebenen. Weil er nichts gegen Mitarbeiter unternahm, die Gewalt ablehnen, wurde einer der landesweit besten Herzchirurgen entlassen, Alexander Mrotschek, Direktor des RNPZ (Republikanisches Zentrum für Forschung und Praxis) für Kardiologie. Der Gründerin des RNPZ für pädiatrische Onkologie und Hämatologie, Olga Aleinikowa, sowie dem Direktor des RNPZ für Onkologie in Borowljany, Oleg Sukonko – das sind die beiden wichtigsten Onkologiezentren für Kinder und Erwachsene in Belarus – wurde erstmal die staatliche Prämie für 2020 gestrichen. Ihre Mitarbeiter wurden wegen Illoyalität und Kritik am Regime in Handschellen direkt aus ihren Dienstzimmern geführt. Bald musste auch die Leitung aus diversen Gründen ihren Platz räumen. Sogar private medizinische Einrichtungen wurden unter Druck gesetzt. 2022 wurde das beliebte Ärztezentrum Lode geschlossen. Nach umfassender Prüfung wurde der Verwaltung eine Liste zugestellt, anhand welcher umgehend eineinhalb Dutzend illoyale Ärzte gekündigt wurden. 

    Als Lode seinen Betrieb wieder aufnahm, gab der Gründer kurz darauf die Summe bekannt, die er an die Staatskasse berappen musste – 236.000 Rubel (damals rund 68.000 Euro). Hinter vorgehaltener Hand wurde diese Summe um ein Vielfaches vergrößert und vermutet, dass das wohl die Rache für 2020 sei, als die Verletzten, die aus der U-Haft in Okrestina kamen, im Lode kostenlos behandelt wurden. 

    Ebenfalls 2022 unterbrach das Gesundheitsministerium für sechs Wochen die Lizenz des Ärztezentrums Nordin, über zwei Monate standen auch Merci und Krawira still. Das Augenärztezentrum Nowoje srenije (dt. Neue Sehkraft) traf es am härtesten – ihm wurde die Lizenz entzogen. „Neugestaltung des Marktes? Oder feindliche Übernahme?“, fragten sich die Mediziner. Parallel dazu tauchten in Minsk Filialen einer neuen Privatklinik auf. In Medizinerkreisen wird gemunkelt, dass sie von „familiennahen“, also aus Lukaschenkos Umfeld stammenden, Personen betrieben werden. 

    „Betrachtet man die Situation als Versuch, die feudale Ordnung wiederherzustellen, dann passt alles zusammen. Es gibt einen Feudalherren und seine Vasallen. Diese verteilen die verfügbaren Ressourcen mithilfe von Zwang, Selbstbehauptung auf Kosten anderer und Sadismus. Alle anderen sind Bauern, sozusagen Verbrauchsmaterial. Wieso also nicht eine eigene Klinik bauen und den Gewinn untereinander aufteilen? So entstehen neue, regierungstreue Privatkliniken“, sagt Lidija Tarassenko, Koordinatorin von ByMedSol; als ausgebildete Gastroenterologin leitete sie die Endoskopie-Abteilung im Alexandrow-RNPZ für Onkologie und Radiologie (dem wichtigsten onkologischen Gesundheitszentrum in Belarus) und arbeitete in einer Privatklinik. „Die Ärzte werden eingesperrt, die Gesundheitszentren aus denselben Gründen ‚gemolken‘. Früher schrieben sie verschämt die Summe auf ein Zettelchen, heute sagen sie einem direkt ins Gesicht, wie viel man zahlen muss, um ‚einstweilen‘ seine Ruhe zu haben.“ 

    Absolventen werden an Arbeitsplätze verpflichtet

    „Die Fremdsprachenkurse sind voller Medizinstudenten, die nach dem Abschluss sofort auswandern wollen – der eine nach Polen, die andere nach Deutschland. Deswegen entscheiden sich viele für eine kostenpflichtige Ausbildung“, berichtet anonym ein Professor an einer medizinischen Universität.

    Doch auch die Behörden haben die ungünstige Tendenz bemerkt und versuchen, zukünftige Spezialisten zu verpflichten. Bildungsminister Andrej Iwanez hat bereits angekündigt, dass nun alle Studenten, egal ob sie auf eigene oder auf Staatskosten studiert haben, verpflichtet werden, eine gewisse Zeit an einer ihnen zugewiesenen Stelle zu arbeiten. Auch davon, dass diese Zeit fünf und nicht mehr wie bisher zwei Jahre betragen soll, war schon die Rede. Vor ein paar Jahren schlug Lukaschenko vor, die verpflichtende Arbeitszeit für Absolventen medizinischer Hochschulen auf zehn Jahre zu verlängern. Wer der Zuweisung nicht folgt, wird gerichtlich dazu gezwungen, eine Riesensumme zu bezahlen, die der Staat angeblich in seine Ausbildung investiert hat.

    Der Personalmangel besteht überall, vor allem bei hochspezialisierten Fachkräften; am drastischsten ist die Situation in den Regionen. „Die Ausbildung zum hochspezialisierten Facharzt dauerte früher Jahre. Heute genügt es, sich zu einem viermonatigen Kurs anzumelden und im Namen des Chefs einen Antrag zu stellen. So wird versucht, mit einer schnellen Umschulung die personellen Lücken zu stopfen“, erzählt eine anonyme Fachärztin aus einer Minsker Klinik. Bisher ist nur ein steigender Bedarf an Ärzten zu beobachten, während die Zahl der Einstellungen sinkt. Die Statistik wird manipuliert, indem unbesetzte freie Stellen aus den Personalplänen verschwinden. So wird die Kurve des steigenden Personalmangels optisch begradigt. 

    Gleichzeitig gibt es weiterhin immer mal wieder Nachrichten über einzigartige chirurgische Eingriffe, die in Belarus durchgeführt werden, zum Beispiel Herzoperationen an Kindern. Die finden auch tatsächlich statt. Nur sind solche Operationen punktuelle, einzelne Beispiele für die Arbeit hochqualifizierter Fachärzte, die noch im Land und nicht von Repressionen betroffen sind und an die der Durchschnittsbürger nur sehr schwer herankommt. 

    Den Patienten bleibt nichts anderes übrig, als sich selbst zu helfen

    Die abwandernden Ärzte stehen am Höhepunkt ihrer Karriere und hätten gerade ihr Wissen weitergeben und ihre Ablöse vorbereiten können. „Mit einer ordentlichen medizinischen Versorgung kann man in Belarus auch deswegen nicht rechnen, weil die Nachfolge fehlt. Die Ärzte verlassen ihre Posten, verlassen das Land. Und zwar im arbeitsfähigsten Alter von 30 bis 45 Jahren“, erklärt Lidija Tarassenko. 

    Für die verbleibenden Ärzte, sagt sie, wird es aufgrund der Überlastung immer schwieriger. Sie müssen alle Funktionen erfüllen: die Patienten untersuchen, die Instrumente bereitstellen und sterilisieren, die Dokumentation erstellen. „Noch dazu wird der Beruf gern heroisiert, und das ist ungünstig. Es führt zu überzogenen Erwartungen: ‚Ihr seid Ärzte, ihr müsst das machen!‘ Der menschliche Organismus ist aber nicht dafür gemacht, 24 Stunden am Stück zu arbeiten, und das für drei“, meint Tarassenko.

    „Ich sehe, wie die Kluft zwischen der zivilisierten Welt, der fortschrittlichen Technik und dem, wie unser Gesundheitssystem aufgebaut ist, immer größer wird. Die Situation von Krebspatienten ist ungeheuerlich. Zur Linderung brauchen sie opioide Schmerzmittel. Zu solchen Patienten kommt dreimal am Tag ein Krankenwagen, angeblich zur Beobachtung, als wären sie drogensüchtig.“ Aber das sei nur ein Beispiel für eine maßlose Herangehensweise, dafür, wie das Gesundheitssystem nicht aussehen soll, erklärt sie. 

    „Es fehlen ganze Fachgebiete. Wir haben und hatten nie ausgebildete Experten für Ernährung oder Schmerztherapie. Und kaum jemand versteht, dass wir sie brauchen würden – es war ja nie anders. Alles wird schlechter, aber das versuchen sie zu ignorieren. Solange die Junta an der Macht ist, kann man nicht viel machen. Denen ist egal, was mit den Menschen passiert. Wir haben ja gesehen, wie das bei Covid lief. Jetzt sind dieselben Leute an der Macht, und von ihren Fehlern haben sie sich eines gemerkt: Sie sind damit durchgekommen. Selbst wenn Leute ins Gesundheitswesen kommen, die etwas verändern wollen – die sind dem System fremd und werden hinausgedrängt. Den Patienten bleibt nichts anderes übrig, als sich selbst zu helfen“, zieht Lidija Tarassenko ihre unerfreuliche Bilanz. 

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    Um einem Strafverfahren zu entgehen, verließ die Aktivistin Kira Bojarenko ihre Heimat Belarus. Weil sie von jetzt auf gleich abreisen musste, musste sie ihre Ausweisdokumente zurücklassen. Den 24. Februar 2022, den Beginn der russischen Invasion in die Ukraine, erlebte sie in Kyjiw. Sie flüchtete aus der Ukraine und kehrte nach einiger Zeit dorthin zurück, wurde bei einem Raketenangriff verletzt und wird zurzeit in Polen behandelt.

    Im Interview mit dem belarussischen Ableger des Online-Mediums Mediazona erzählt die Belarussin davon, wie es ist, wenn das Schicksal alle Lebenspläne durchwirbelt, wenn man einfach durchkommen muss, dabei aber seine Ideale nicht aus dem Blick lässt.

    Vor zwei Jahren erwachten die Bewohner eines Kyjiwer Hauses von Explosionsgeräuschen. In dem Haus lebten vor allem Belarussen, die vor den Repressionen geflüchtet waren. Niemand hatte ernsthaft daran geglaubt, dass ein Krieg beginnen würde. Einige Hausbewohner besaßen aus verschiedenen Gründen nicht einmal Papiere, darunter auch die damals 31-jährige Kira Bojarenko. Ihr Pass war bei den belarussischen Sicherheitsbehörden geblieben, als sie das Land überstürzt verlassen hatte, da sie wegen Störung der öffentlichen Ordnung angeklagt worden war. 

    Viele der Hausbewohner beschlossen, die Ukraine zu verlassen. Alle zusammen hatten nur ein Auto, daher sollten zuerst die Kinder und die Erwachsenen ohne Papiere an die polnische Grenze gebracht werden. Noch am selben Tag erreichten sie den Grenzübergang in Hruschiw, mussten dort aufgrund der langen Warteschlange aber bis zum 27. Februar warten. 

    „Es war hart: kleine Kinder im Auto, kaum Sachen dabei, wir hatten nur ein paar Flaschen Wasser eingepackt, und die waren alle. Alle wollten essen und trinken, aber an der Grenze gab es keine Geschäfte, keine Häuser. Die Tankstellen waren schon leergekauft“, berichtet Kira.

    An der Schlange durften nur jene vorbei, die Kinder unter drei Jahren dabeihatten. Eine Frau bat eindringlich darum, vorgelassen zu werden, obwohl ihr Kind älter war, erinnert sich Kira. Die Ukrainerin sagte, dass sie das Kind zur Grenze bringen und dann zurückkommen würde. Letztlich wurde die Frau vorgelassen und kehrte einige Zeit später in Begleitung mehrerer Autos mit Wasser und Nahrung zurück, die sie an die wartenden Menschen verteilte. Die Belarussin erinnert sich, dass ein ukrainischer Grenzer am Kontrollpunkt sagte: „Was wollt ihr eigentlich, ihr Belarussen. Wir haben euch reingelassen, und ihr schießt auf uns.“ 

    „Ich sagte ihm damals: Hier gibt es keine Belarussen, die nicht unter diesem Regime gelitten hätten und die der Ukraine nicht dankbar sind. Was sollen wir denn tun – an die Grenze zurückkehren und die Raketen mit bloßen Händen abfangen?“

    „In Polen ist die Integration schwerer.“ – Rückkehr in die Ukraine

    In Polen erhielten die belarussischen Geflüchteten Hilfe von Freiwilligen – Wasser, Essen und eine Unterkunft in einem Schulgebäude, das als Aufnahmeeinrichtung diente, später dann in einem Dorf bei Warschau. „Unsere größte und einzige Bitte war damals, nicht getrennt zu werden. Wir wollten als Hausgruppe zusammenbleiben, erst einmal zu uns kommen.“

    In Polen erhielt Kira internationalen Schutzstatus. Während ihre Anerkennung geklärt wurde, arbeitete sie in einem Call Center der Organisation Helping to leave, die Ukrainern dabei half, die besetzten Gebiete zu verlassen. Die Belarussin sprach mit Menschen, die Hilfe brauchten, und half bei der Zusammenstellung von Evakuierungsrouten. 

    Im vergangenen Jahr empfahl ihr eine Freundin, die selbst ein Auto für die ukrainischen Streitkräfte überführte und humanitäre Hilfsgüter in die Ukraine brachte, bei einem Transport mitzufahren. Kira fuhr mit Papieren der Organisation, für die sie arbeitete, in die Ukraine und beschloss schließlich, in Kyjiw zu bleiben. In Polen sei es schwierig gewesen, sich zu integrieren, erzählt sie, die Ukraine sei ihr näher, zudem waren da noch Freunde.

    Freiwilligendienst in Cherson: „Unterwegs musste ich mich um Alte kümmern, sie füttern, Windeln wechseln, weil sie oft bettlägerig waren“

    In Kyjiw beschloss Kira, dass sie mehr tun könne als nur Telefondienst. Die Organisation schlug ihr vor, nach Cherson zu fahren und bewegungseingeschränkten Menschen bei der Evakuierung aus der Stadt zu helfen. Kira willigte ein. 

    Die Arbeit bestand darin, Alte und Menschen mit Behinderung bei der Evakuierung aus gefährlichen Stadtteilen von Cherson zu begleiten. Kira zufolge waren das manchmal Leute, die ihr Haus verloren hatten, Menschen, die aus Kellern geholt wurden. Die Freiwilligen (Kira nennt sie „Blutsbrüder“) sammelten die Leute in jenen Stadtteilen ein, die am häufigsten beschossen wurden, und brachten sie zum Bahnhof. Kira fuhr dann gemeinsam mit ihnen mit dem Zug und übergab sie am Zielpunkt anderen Freiwilligen, die sie dann in Gruppenunterkünften unterbrachten. „Unterwegs musste ich mich um sie kümmern, sie füttern, Windeln wechseln, weil sie ganz oft bettlägerig waren.“

    Auf jeder Fahrt begleitete die Freiwillige drei bis sieben Personen. Jede von ihnen hatte ihre eigene Geschichte, einige davon sind Kira besonders im Gedächtnis geblieben. Die erste Geschichte ist die von einem Großmütterchen, das 104 Jahre alt war. „Sie hatte schon einen Krieg überlebt, und jetzt erlebte sie wieder Beschuss und hatte ihr Zuhause verloren.“

    Die zweite Geschichte ist die von einer Frau mit einem schweren Beckenbruch, die zuerst mit der Evakuierung einverstanden war, dann aber die ganze Reise über nach Cherson zurückwollte, weil dort kürzlich ihr Ehemann gestorben war. „Sie war sogar böse auf mich, als ich sagte, dass ihr Mann tot sei und sie nun weiterleben müsse, dass man sie an einen guten Ort brächte. Wir waren ja keine ausgebildeten Psychologen.“

    „Im Bein steckten Splitter.“ – Die Verletzung

    Im Juni 2023 erlitt Kira in Cherson eine Verletzung. Sie war gerade auf dem Heimweg von der Migrationsstelle, als sie unter Beschuss geriet. Sie wartete an einer Haltestelle auf den Bus, als ein Geschoss in ein nahegelegenes Haus einschlug. Im ersten Moment war der Schock so stark, dass sie nichts begriff oder spürte. Ein Ukrainer, der gerade mit dem Auto vorbeikam, bot Kira Hilfe an, brachte sie nach Hause, da bald der nächste Angriff beginnen konnte. Und so war es auch: Kira kam in ihre Wohnung, ging auf den Balkon, um zu rauchen und sich nach dem Erlebten zu beruhigen, als die Stadt erneut von Raketen angegriffen wurde.

    „Ich nahm ein Kopfkissen und eine Decke und ging zum Ausruhen ins Badezimmer, da das der sicherste Ort ist. Dort begriff ich schließlich, dass etwas nicht stimmte. Es stellte sich heraus, dass in meinem Bein ein Splitter steckte.“ 

    Kira erzählt, dass sie selbst ein Tourniquet anlegte, das sie damals immer bei sich trug, und den Fremdkörper aus der Wunde entfernte. Sie wählte den Rettungsdienst, kam aber nicht durch, da das Netz beeinträchtigt war. Am nächsten Morgen rief sie dann andere Freiwillige an, die sie ins Krankenhaus Tropinki brachten. „Der Arzt sagte, ich hätte alles richtig gemacht, ich solle die Wunde reinigen, frisch verbinden und in einer Woche wieder zu ihm kommen.“
    Aber nach zwei Tagen hatte Kira stark erhöhte Temperatur und ihr Bein war aufs Doppelte angeschwollen. Sie musste schnell ins Krankenhaus. 

    „Da ich nicht alle Splitter erwischt hatte, war eine Entzündung entstanden, die Wunde war infiziert. Ich musste im Krankenhaus bleiben.“ Einige Tage später hatten Kiras Freiwilligenfreunde erreicht, dass sie nach Kyjiw verlegt werden konnte, um nicht unter dauerhaftem Beschuss im Chersoner Krankenhaus bleiben zu müssen. Nach Kyjiw reiste die Belarussin allein. Sie kam in das Krankenhaus, in dem sie im Endeffekt mehrere Monate blieb, die Ärzte entfernten eitriges Gewebe, reinigten die Wunde, gaben ihr Medikamente gegen Schmerzen und gegen die Schwellung. Kira zufolge hätte sie eine Hauttransplantation benötigt, aber in Kyjiw gab es Probleme mit einer solchen Operation. Kira beschloss, nach Polen zurückzukehren. In einem Krankenhaus in Białystok bekam sie schließlich eine Hauttransplantation. 

    Im Moment lebt die Belarussin in Polen und macht ihre Reha. Wenn die Wunde geheilt und ihr psychischer Zustand stabilisiert sind, plant sie, in die Ukraine zurückzukehren. „Ich habe Sehnsucht nach der Ukraine, dort sind meine Freunde, und das Land ist mir sehr vertraut. Aber noch ist da eine Art unterschwellige Angst. Selbst als hier in Polen zu Silvester überall die Feuerwerke krachten, habe ich mich unwohl gefühlt.“

    Das Leben in Cherson war nicht leicht: Die Geschäfte schlossen bereits um 15 Uhr, nur die ukrainische Kette ATB hatte bis 19 Uhr geöffnet. Ab 21 Uhr herrschte in der Stadt Ausgangssperre, niemand durfte mehr auf die Straße. Und ständig Beschuss. Im Februar 2021 war Kira in Minsk festgenommen worden, sie verbrachte ein halbes Jahr in Untersuchungshaft. Dann wurden ihre Haftbedingungen geändert, sie kam aus der Untersuchungshaft frei und nutzte diese Chance, um Belarus zu verlassen, ungeachtet dessen, dass ihr Pass bei den Sicherheitsbehörden verblieben war. „Ich verglich Cherson mit Minsk, mit dem Stadtteil, in dem ich aufgewachsen bin. Es war sehr ähnlich, die gleichen Häuser, nur dass bei vielen Fensterscheiben fehlten und in den oberen Etagen häufig Wohnungen durch Angriffe ausgebrannt waren.“

    Nach Minsk kann Kira nicht zurück. Deshalb möchte sie wenigstens in Cherson leben, der Stadt, die sie an ihr Zuhause erinnert, trotz Krieg.

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  • Die Angst der Macht vor der Wahl

    Die Angst der Macht vor der Wahl

    Die belarussischen Machthaber mögen keine Überraschungen, spätestens seitdem hunderttausende Belarussen bei den letzten Präsidentschaftswahlen ihren Unmut unter Beweis und diesen bei ihren Massenprotesten in den Straßen des Landes zur Schau stellten. Entsprechend wurde bei den Wahlen am 25. Februar 2024, bei denen neben 110 Abgeordneten des Parlaments auch etwa 12.000 Vertreter von Regionalversammlungen neu bestimmt wurden, nichts dem Zufall überlassen. Die USA sprechen von einer „Scheinwahl“. 

    Lukaschenko nutzte seinen Auftritt im Wahllokal in Minsk dazu, eine „Sensation“ bekannt zu geben: Er werde bei den Präsidentschaftswahlen 2025 kandidieren. Nichts anderes war selbstredend erwartet worden. Die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja – so beschreibt es der Journalist Alexander Klaskowski – habe spöttisch reagiert: „Na, dann krön’ dich mal schön“. 

    In seiner Analyse für das Online-Medium Pozirk zeigt Klaskowski, welchen eigentlichen Sinn die Parlamentswahlen verfolgten und welche Folgen dies für die nahe Zukunft in Belarus hat.

    Kein Witz: Die aktuellen Wahlen zum Repräsentantenhaus und zu den Regionalparlamenten sahen schon von Vornherein wie ein Spiel mit nur einem Tor aus. Dabei trainierte der Regent seine Mannschaft für die ihm viel wichtigeren Wahlen 2025. Und die Machtvertikale strampelte sich einen ab, um zu zeigen, dass sie für das notwendige Ergebnis sorgen kann. 

    Der Wahlprozess als existenzielle Bedrohung

    Die Parlaments- und Regionalwahlen verliefen ganz im sowjetischen Geiste: kein Kampf um die Macht, sondern ein Festtag. An erster Stelle stehen das Büffet mit den Fleischtaschen und das Konzert der Laienkünstler, den Wahlzettel wirfst du nebenbei ein, als symbolische Geste: alles steht schon vorher fest. 

    Sicher, in der Sowjetunion gab es vor der Perestroika auf den Wahlzetteln immer nur einen Kandidaten, das heutige Regime in Belarus imitiert bislang noch Konkurrenz. Aber grobschlächtig und mit Ach und Krach. Alle Kandidaten sind durch und durch regierungsnah und gründlich auf Loyalität geprüft. Lukaschenko, der 1994 sensationell die Präsidentschaftswahl gegen den damaligen Premierminister Wjatscheslaw Kebitsch gewann, hat die ganze Macht des demokratischen Wahlprozesses am eigenen Leib gespürt: Aus einem Niemand kann ein Alles werden. Und so untergrub der Herrscher diese Prozedur immer mehr und kastrierte sie. Jetzt hat der Prozess fast seinen Höhepunkt erreicht. Bei dieser letzten Wahlkampagne waren die Gegner der Regierung schlicht abwesend, sowohl unter den Kandidierenden wie auch unter den Beobachtenden.

    Am 25. Februar hatte Lukaschenko mitgeteilt, die OSZE habe keine Anfrage für eine Beobachtung gestellt. Dabei hatte Minsk das Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR) schon im Januar offiziell in die Wüste geschickt. Und der Vorsitzende der belarussischen Delegation in der Parlamentarischen Versammlung der OSZE, Andrej Sawinytsch, erklärte kürzlich ganz offen: Die Wahlbeobachter wurden nicht eingeladen aufgrund der Sanktionen gegen das Regime (in Beamtensprache heißt das natürlich „gegenüber der Republik Belarus“).

    Dabei hatte das Regime vor dem erstmals durchgeführten Einheitlichen Wahltag die Stimmung hochgekocht, ganz nach dem Motto „wenn morgen Krieg ist“. Den Ton gab der Anführer des Regimes selbst an, beschwor die Bedrohung durch Spionage, Terroranschläge und sogar einen Staatsstreich, was die Generäle und zivilen Amtsträger dann nachplapperten. Das klingt ganz nach 2020, als nichts nach Plan lief. Heute nimmt Lukaschenko Wahlen als existenzielle Bedrohung wahr. Er trifft zehnfach Vorkehrung, um sich abzusichern.

    Die größte Sabotageaktion der Opposition bei diesen Wahlen war der Zugriff auf öffentliche Monitore in Belarus (in Einkaufszentren, der Metro usw.) am 24. Februar, bei der ein Aufruf Swetlana Tichanowskajas gezeigt wurde, „NEIN zu gefälschten Wahlen“ zu sagen. Den Angriff hat angeblich BelPol durchgeführt. Wenigstens ein bisschen Salz in der Suppe. 

    Wozu die hochgepeitschte Wahlbeteiligung?

    Einer der Oppositionsführer in der Emigration, Pawel Latuschko, teilte unter Berufung auf Informationen aus dem Land mit, die Belarussen seien kaum zur Wahl gegangen, die Wahllokale, besonders in Minsk, seien leer geblieben. Die vom Regime vermeldeten offiziellen Zahlen sind allerdings tipptopp. Das Zentrale Wahlkomitee teilte mit, 72,98 Prozent der Wähler hätten abgestimmt. Zudem krönte ein zweifelhafter Rekord die Wahlkampagne: Offiziellen Zahlen zufolge haben 41,71 Prozent der Wähler vorfristig abgestimmt (das war an den fünf Tagen vor dem Wahltag möglich). 

    Der Anteil der Wähler, die vor dem Wahltag wählten, ist höher als bei den Wahlen 2020. Aber damals gab es wirkliche Schlangen an den Wahllokalen, einen ehrlichen Aufbruch, viele waren mit weißen Armbändchen gekommen, dem Symbol der Abstimmung für Tichanowskaja. Jetzt herrschte in großem Maße Zwang. Früher wurde die vorzeitige Wahl als Option für diejenigen beworben, die am Sonntag nicht die Möglichkeit haben, ins Wahllokal zu gehen. Heute preist die offizielle Propaganda diese Möglichkeit als Zeichen für hohes Verantwortungsbewusstsein und bürgerliche Reife. Die staatlichen Medien brachten schillernde Überschriften wie „Die Jugend steht in vorderster Reihe“. Überhaupt erinnern die vom belarussischen Regime gesteuerten Medien immer mehr an Nordkorea. 

    Wozu wurde die vorzeitige Stimmabgabe so forciert? Früher, sagen die Regimegegner, wurde die vorzeitige Abstimmung genutzt, um die Wahlergebnisse zu fälschen: Es war dadurch einfacher, nachts die Stimmzettel auszutauschen. Heute beschäftigt sich das Regime nach Ansicht seiner Opponenten gar nicht mehr mit solchen Kleinigkeiten. Es werden einfach die gewünschten Zahlen im Ergebnisprotokoll eingetragen. 

    Warum also werden die vom Staat abhängigen Bürger vorfristig in die Wahllokale gescheucht, noch vor dem Einheitlichen Wahltag, und das Ergebnis der Wahlbeteiligung künstlich aufgeblasen? Vermutlich ist es dem Regime wichtig, die Illusion zu schaffen, dass breites Interesse an den Wahlen besteht und der offizielle Kurs landesweite Zustimmung genießt. Zudem liebedienert hier die Machtvertikale vor dem großen Chef. Ist die vorfristige Wahlbeteiligung in einer Region niedrig, wird der zuständige Lokalchef sofort vor die Frage gestellt, ob er seinen Platz denn auch verdient hat, wenn er es nicht schafft, die Untergebenen und die Bevölkerung zu mobilisieren. 

    Für Lukaschenko war diese Wahlkampagne eine wichtige Durchlaufprobe vor der Präsidentschaftswahl 2025. Deshalb war es in seinem Interesse, die Beamten maximal anzuspannen und ihre Fähigkeit zu testen, einen nationalen Aufschwung zu imitieren. 

    Für das Regime ist es ein Kampf um Selbsterhalt

    Parlaments- und Regionalwahlen riefen in der Vergangenheit auch in für Belarus entspannteren Zeiten keine große Politisierung der Gesellschaft oder Massenproteste hervor. Dennoch bereitete sich das Regime auf diese Wahlen vor, wie auf einen Krieg. Wahllokale und umliegende Bereiche wurden von Videokameras ins Visier genommen. Zudem wurden überall Milizeinheiten abgestellt, die zuvor eifrig trainiert hatten, potentielle Aufwiegler festzunehmen. Auch mobile Einsatzkommandos mit Maschinengewehren standen bereit. Der Kommandant der Inlandstruppen, Nikolaj Karpenkow, drohte damit, dass bei Bedarf auch Wagner-Söldner aktiviert werden könnten. 

    Wenn du an Machtwechsel denkst, bist du ein Extremist

    Die Silowiki wiederholten in Dauerschleife, man habe seine Lehren aus 2020 gezogen und würde nichts Vergleichbares zulassen. Überhaupt betrachtet das System Lukaschenko Wahlen nicht als legales Mittel zum Machtwechsel, sondern als Kampf um den Selbsterhalt. Wenn du an Machtwechsel denkst, bist du ein Extremist, ein Verbrecher, ein Angreifer auf die Verfassungsordnung. So sieht es aus: Die herrschende Klasse setzt ihre auf Fälschung und Gewalt beruhende Herrschaft mit der Verfassungsordnung gleich. 

    Rumflennen wird der Herrscher nicht

    Bis Sommer 2025 wird noch viel Wasser den Bach hinunterfließen. Es ist ungewiss, wie sich der Krieg in der Ukraine entwickelt, wie es Wladimir Putin oder der belarussischen Wirtschaft bis dahin geht. Bei seinen Vorkehrungen für die Absicherung einer nächsten Amtszeit scheint Lukaschenko vom schlimmsten Szenario auszugehen, modelliert das Zusammentreffen negativer Umstände. Immer wieder betont er, „sie werden versuchen, die Lage ins Wanken zu bringen“. Die Feinde sollten bloß nicht darauf hoffen, dass „wir rumflennen und für Demokratie und eine flüchtige Freiheit kämpfen werden“.

    Der belarussische Herrscher ist ein eher misstrauischer Mensch, der einen Hang zu Verschwörungstheorien hat und sich von Feinden umgeben sieht – in weiten Teilen glaubt er seine eigenen Schauergeschichten. Und er versteht, dass er keinen Ausweg hat: Zu viel hat sich angehäuft, zu viele wünschen ihm alle möglichen Leiden an den Hals. Und daraus folgt, dass das Regime noch härter durchgreifen wird als bisher.

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  • „Ich bleibe, um die Zukunft von Belarus vor Ort mitzugestalten“

    „Ich bleibe, um die Zukunft von Belarus vor Ort mitzugestalten“

    Auch über drei Jahre nach den Protesten von 2020 und deren Niederschlagung durch die Staatsmacht vergeht in Belarus kaum ein Tag ohne neue Festnahmen. Wie aber ist die Stimmung im Land? Wie lebt man unter einem hochrepressiven System? Ist Opposition überhaupt noch in irgendeiner Form möglich? Artikel und Reportagen, die die Atmosphäre im Land selbst beschreiben, gibt es eigentlich nicht mehr, da die Medien ins Exil gedrängt und in vielen Fällen zu „extremistischen Organisationen“ erklärt wurden und die Menschen Angst haben, Interviews zu geben. 

    Der belarussische Ableger von Mediazona hat mit drei Belarussen gesprochen, die in Belarus geblieben sind, und die Auskunft geben – über ihre Ängste, über gesellschaftlichen Widerstand und über den Blick von außen auf das, was in Belarus passiert.
     

    Die Namen der Personen im Text wurden geändert, ihre Geschichten anonymisiert. Alle drei waren vor den Repressionen Leiter von Veranstaltungsorten oder Kulturorganisationen.

    „Ich verlasse Belarus nur, wenn Lebensgefahr droht.“
    Igor, Unternehmer im Kulturbereich:

    Ich habe mich vor einiger Zeit dafür entschieden, in Belarus zu bleiben. Weil ich im Kulturbereich arbeite, weiß ich, dass ich im Ausland für die belarussische Kultur nichts bewirken könnte. Im Exil kann man kulturelle Errungenschaften nur bewahren. Wie Ausstellungsstücke im Museum, mehr nicht. Ich verlasse Belarus nur, wenn Lebensgefahr droht.

    Derzeit ist es schwer, in Belarus Geld zu verdienen: die Preise steigen, der Lebensstandard sinkt, manche Waren sind verschwunden oder sehr teuer geworden. Aber ein vollständiger Zusammenbruch droht nicht. Und wo hat man es schon leicht und schön? 

    Die Behauptung, Belarus sei ein Konzentrationslager, ist Unsinn. Sogar das gegenwärtige Belarus ist von so einer Klassifizierung noch sehr weit entfernt. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass die Situation je vollkommen anders gewesen wäre. Schon immer konnten Initiativen von unten wegen unzähliger Widrigkeiten nur mit Ach und Krach umgesetzt werden. Deswegen liegt den Belarussen Einfallsreichtum aber auch im Blut. 

    Ich brauchte einige Zeit, um mich an die neuen Bedingungen zu gewöhnen, bis ich für meine Arbeit eine neue Routine fand. Wir versuchen etwas, wir kämpfen, wo wir können, wir erringen kleine Erfolge, freuen uns und machen den nächsten Schritt. Man kann eine Wiese noch so dick asphaltieren, das Gras kommt trotzdem durch. Erfreulich aber ist, dass vielen mittlerweile klargeworden ist, dass asphaltierte Wiesen nicht normal sind. 

    Sicher, es gibt heute weniger Menschen, die aktiv sind und denen nicht alles egal ist; viele haben das Land verlassen. Aber vieles ändert sich gerade, es bilden sich neue Kontakte, neue Formen der Vernetzung und der gegenseitigen Unterstützung. Und das hat zugenommen, denn es betrifft fast alle. Diese neuen kleinen Welten sind weiterentwickelte, verbesserte Versionen der alten. Deswegen stehen die Dinge bei uns gar nicht so schlecht, wie es scheint. 

    Es gibt zwei Belarus: das wirkliche und das erfundene

    Seit 2020 sind drei Jahre vergangen. Die Jugendlichen von damals haben mittlerweile die Schule abgeschlossen und studieren. Ich sehe neue Menschen, die sich für ihre belarussische Identität interessieren. Wegen der Umstände passiert das heutzutage im Untergrund, der Prozess ist von außen nicht sichtbar. Doch er findet statt, er ist nicht verschwunden, hat sogar Fahrt aufgenommen. Allerdings haben die Menschen Angst, ihre Überzeugungen und Interessen im öffentlichen Raum zu zeigen – zurecht. Deswegen entsteht der Eindruck, alles wäre erstickt, verstummt und alle wären gleichgültig geworden. Aber der Schein trügt. 

    Es sieht nicht so aus, als würde sich jemand außerhalb von Belarus groß für die realen Zustände im Land interessieren. Man könnte sogar meinen, den Belarussen im Exil gefalle die Vorstellung von einem Belarus als Konzentrationslager, wo alles Lebendige vernichtet, verbrannt und unter einer dicken Schicht Asphalt verborgen ist. Aber so brutal die Ereignisse von 2020 auch waren, finde ich trotzdem, dass sie gut waren für die Entstehung einer belarussischen Identität und für Belarus. Diese ganze Bewegung für ein neues Belarus im Exil hingegen erscheint mir ein Fischen im trüben Sumpfwasser zu sein. 

    Es gibt zwei Belarus: das wirkliche und das erfundene. Die beiden haben sehr wenig Berührungspunkte. Ich würde mir weniger Heuchelei, weniger Dramatisierung und mehr Zusammenarbeit wünschen.

    „Ich bleibe, um die Zukunft von Belarus vor Ort mitzugestalten.“
    Alexander, Person des öffentlichen Lebens:

    Die Stimmung in Belarus ist derzeit alles andere als beflügelnd: Sie ist gefährlich und depressiv. Man könnte die Situation auch mit einer Geiselhaft vergleichen. Man ist gezwungen, so zu tun, als gehorche man den Terroristen, zu versuchen, sie nicht zu verärgern und möglichst wenig aufzufallen, damit sie einen nicht erschießen. Andererseits weiß man, dass man das eigene Land ist, und dass man dort leben möchte. Deswegen beflügelt mich derzeit nur eins: Hier zu bleiben, um die Zukunft von Belarus vor Ort mitzugestalten, wenn sich ein kleines Fenster für solche Möglichkeiten öffnet. 

    Der Regierung geht es nicht darum, alle Menschen zu vernichten, sie sollen nur eingepfercht werden und brav Befehle ausführen. Menschen, die schon lange eingepfercht sind, können aufrichtig behaupten, in Belarus hätte sich nichts verändert.

    Jetzt haben es alle schwer: die Menschen im Exil, und die Menschen, die geblieben sind

    Schwieriger ist es für die Menschen, deren Vorstellung von Freiheit über Essen und Schlafen hinausgeht. Sie spüren dieses Konzentrationslager, weil sie ihre Bürgerrechte nicht wahrnehmen können. Man zwingt sie zu schweigen, und das ist für sie am schlimmsten. Denn nicht einmal im Bekanntenkreis ist es üblich, auszusprechen, was man denkt. 

    Das ist übrigens erstaunlich, denn früher war es anders. Ich bin seit 2001 Aktivist; es war immer möglich, gegenüber Bekannten, in der Partei oder im Netz, seine Meinung zu sagen, niemand sah darin was Schlechtes. Jetzt haben es alle schwer: die Menschen im Exil, und die Menschen, die geblieben sind. Einige meiner Verwandten sind im Exil, ich weiß, was das bedeutet. Es ist sehr schwer, seine Heimat zu verlassen und im Ausland anzukommen

    Was die Zukunft von Belarus betrifft, so muss ich immer an ein Sprichwort denken: Als erstes sind die gestorben, die dachten, es geht bald vorbei. Nach ihnen sind die gestorben, die dachten, es wäre für immer. Geblieben sind die, die gar nichts dachten und taten, was sie konnten.

    „Das Wichtigste in Belarus sind die Menschen.“
    Stanislaw, Kulturaktivist:

    In Belarus inspirieren mich die Menschen. Wenn du zu Hause sitzt und Nachrichten liest, erscheint alles furchtbar. Aber sobald du auf die Straße gehst, die Menschen siehst, wie positiv sie beim Einkaufen auf die belarussische Sprache reagieren, wie sie dich anlächeln – das inspiriert mich und das gibt mir Kraft. 

    Ich habe eine Zeitlang im Ausland gelebt, aber dort schnell den Mut verloren. Hier sehe ich die Stories von Menschen, die etwas machen, die sich zeigen, und möchte dabei sein. Manchmal, wenn ich an einem Feld vorbeifahre, einen Wald sehe, denke ich daran, dass ich jetzt nur ein Prozent davon verwirkliche, was ich könnte. Aber dieses eine Prozent verwirkliche ich in Belarus – das ist der wichtigste Antrieb, um hier zu bleiben.

    Vor einem Jahr war ich bei einem Konzert von Nejro Djubel. Es war großartig: ein voller Saal, Slam, eine Wahnsinnsatmosphäre. Danach lese ich in den Medien, das Konzert sei von Spezialkräften aufgelöst worden. Das stimmt überhaupt nicht. Spezialkräfte waren zwar da, aber wegen einer anderen Veranstaltung, die erst danach stattfand. Das ist natürlich auch schlimm. Aber wenn du im Ausland sitzt und liest, ein Konzert von Nejro Djubel sei aufgelöst worden, denkst du nur: wie furchtbar. Aber in Wirklichkeit war es ein super Konzert. 

    Deswegen scheint es, wenn man nur die Nachrichten liest, als wäre alles im Arsch, aber wenn man hier ist, sieht man die Möglichkeiten. Natürlich merkt man, dass das Leben stillsteht, vieles findet nicht mehr öffentlich statt. Aber das Wichtigste in Belarus sind die Menschen. Und ich meine gar nicht die Aktivisten und Aktivistinnen, das Wichtigste ist das Publikum. 

    Ich habe Mitgefühl mit jedem Menschen, der erzwungenermaßen ins Exil gegangen ist

    Ich fahre ab und zu ins Ausland und kenne viele Leute, die immer mal wegfahren und wiederkommen. Für sie ist das wie ein Häppchen Freiheit: Sie fahren weg, wenn es hart ist, erholen sich und kommen wieder. Das kann man finden, wie man will, aber es ist eine Tatsache, dass es solche Leute gibt. 

    Das politische Geschehen im Exil verfolge ich nicht und kenne auch niemanden, der sich dafür interessiert. Die Menschen, die in Belarus geblieben sind, haben ihre eigenen Sorgen, sie müssen zusehen, wie sie überleben, und vielen ist es grundsätzlich schnurz, was im Ausland los ist. 

    Ich habe Mitgefühl mit jedem Menschen, der erzwungenermaßen ins Exil gegangen ist. Auch im Laufe dieses Jahres werden Menschen Belarus verlassen, auch welche, die es jetzt noch gar nicht vorhaben. Aber in fünf Jahren sehe ich eine positive Perspektive: Ich hoffe auf Veränderungen und darauf, dass viele Belarussen und Belarussinnen zurückkehren.

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  • „Plötzlich begreifst du, dass du etwas für alle Zeiten verlassen hast“

    „Plötzlich begreifst du, dass du etwas für alle Zeiten verlassen hast“

    Eine junge Frau steht in einem Treppenhaus, auf Wände und Decken fällt kühlweißes Neonlicht, andere Bereiche liegen im Schatten, wo auch diese Frau steht, die nur schwer zu erkennen ist. Dieses eindrucksvolle Foto ist das Cover des Buches, das enstanden ist aus dem Projekt Connecting einer belarussischen Fotografin, die anonym bleiben möchte. Das Foto steht metaphorisch für die Schwierigkeiten des Ankommens in einem anderen Land, an einem fremden Ort, für das Dazwischensein, in dem Migranten leben, für die Suche nach lichten Orten, die einem helfen anzukommen, sich selbst zu finden in einer neuen Umgebung. 

    Die Fotografin hat sich genau dies zur Aufgabe gemacht: Menschen, die aus vielen anderen Ländern in die polnische Stadt Wrocław gekommen sind, an den Orten zu fotografieren, zu denen sie auf der Suche nach Halt und Orientierung eine Verbindung aufgebaut haben. Es ist auch ein Prozess, den Hunderttausende Belarussen durchmachen, die nach den Ereignissen im Jahr 2020 ihre Heimat verlassen mussten. Wir haben mit der Fotografin gesprochen und zeigen eine Auswahl von Bildern aus ihrem Projekt.

    Wassilissa Swiridowa, Belarus
    „Wrocław hieß mich herzlich willkommen. Der Umzug hierher glich einer großen, fröhlichen Reise, und es fühlte sich ganz natürlich an, hier zu sein. Vielleicht, weil ich Studentin war und alle um mich herum die gleichen Erfahrungen machten. Wir haben die Stadt erkundet und uns in sie und ineinander verliebt.“ / Foto © KK

    dekoder: Wie ist Ihr Projekt entstanden?

    KK: Das Projekt Connecting entstand, als ich aus Belarus nach Polen zog. Ich hatte mich für den Studiengang für bildende Kunst MFA (Master of Fine Arts) an der Akademie für bildende Kunst und Gestaltung in Wrocław beworben und wurde zu meinem Erstaunen angenommen – zusammen mit elf weiteren großartigen Künstlerinnen und Künstlern aus der ganzen Welt. Ich hatte nicht vorgehabt, nach Polen zu ziehen, aber ich konnte mir diese Chance nicht entgehen lassen. Und mein Mann dachte damals schon, dass es für uns immer schwieriger werden würde, in Belarus zu leben und unsere Kinder dort großzuziehen.
    Als ich Ende August 2019 in Wrocław ankam, fühlte ich mich – abgesehen von der Begeisterung über das neue Studium – vollkommen fremd. Wir kannten dort keine Leute, die wir um Unterstützung hätten bitten können. Ich hatte gedacht, ich sei organisiert und verantwortungsbewusst genug, um all die bekannten Probleme rund um die Auswanderung vorherzusehen und damit umzugehen. Aber die Wirklichkeit war dann ganz anders. Ich kam da nicht raus – ich fühlte mich völlig verloren. Um diese Situation psychisch zu bewältigen, traf ich andere Leute an der Akademie und anderen Orten. Ich begann, sie zu fragen und Erfahrungen auszutauschen, die ich bei dem Versuch machte, mich in der neuen, schönen, seltsamen und bis dahin entfernten Stadt Wrocław selbst zu finden.
    Die Kamera diente als Vorwand sich zu treffen und zugleich als Tool, um meine Gedanken und Gefühle zu analysieren.

    Warum haben Sie Belarus schließlich vollends den Rücken gekehrt?

    Ich bin in Minsk geboren und habe mein ganzes Leben dort verbracht. Und ich hatte wie gesagt auch nicht vor, Belarus zu verlassen. Aber im nächsten Jahr dann, 2020, passierte die Sache mit den Präsidentschaftswahlen. In der ersten Nacht der Anti-Regierungs-Proteste hielten meine Töchter die Schüsse für Feuerwerk. Da wurde uns klar, dass es kein Zurück mehr gab. Am nächsten Tag fuhren wir nach Polen, ohne moralisch oder finanziell darauf vorbereitet zu sein.

    Wie war das Ankommen in einem fremden Land für Sie?

    Ich kam also zweimal an, und beide Male waren schwierig. Beim ersten Mal war es dieser typische Migrationsprozess. Du glaubst, du weißt, was du tust und hältst dich für halbwegs vorbereitet. Aber du hast nie darüber nachgedacht, was es eigentlich wirklich heißt, bei Null anzufangen. Ganz einfache Dinge – das Lebensmittelgeschäft, die Apotheke, die Werkstatt, das Verwaltungsbüro, die Schule – musst du dir neu zusammensuchen. Du musst alle Formalitäten auf einmal erledigen, noch dazu in einer Fremdsprache. Mein Studium war auf Englisch, deshalb konnte ich kein Polnisch und hatte auch keine Menschen zum Üben.
    Ich habe einmal gelesen, dass eine Migration so etwas wie ein kleiner freiwilliger Tod ist. Heute kann ich das absolut verstehen. Auch wenn ich damals nicht begriff, warum Leute von Entbehrungen, Sorgen, Depressionen und Psychologen reden.

    Das Fehlen jeglicher Zukunftsvorstellung führt immer wieder zu depressiven Zuständen

    Ich weiß nur noch, dass ich zu dieser Zeit wie besessen Bilder mit einer Polaroid-Kamera aufnahm. Vielleicht war das für mich der einzige Prozess, den ich mehr oder weniger unter Kontrolle hatte und bei dem ich schnell Ergebnisse erzielen konnte. Du drückst auf den Auslöser und hast das Foto. Anders als bei all den anderen Sachen, die sich lange hinzogen und deren Ausgang ungewiss war.
    Die zweite Ankunft war für mich die Rückkehr nach Polen nach den Wahlen von 2020. Diesmal war es wegen des politischen Hintergrunds und der Covid-Einschränkungen einfach nur furchtbar. Plötzlich begreifst du, dass du etwas für alle Zeiten verlassen hast oder es dir vielleicht sogar gestohlen wurde. Das Fehlen jeglicher Zukunftsvorstellung führt immer wieder zu depressiven Zuständen. Wir bekamen mit, was mit unseren Freunden, mit den Menschen in Belarus, geschah, und empfanden Hilflosigkeit, Scham und Frustration.
    Ich brauchte eine Weile, um auf all diese Ereignisse zu reagieren. 2022 begann ich mit dem Projekt My Hut is on the Edge, in dem ich die zeitgenössische Ignoranz gegenüber sozialen und politischen Themen visuell interpretiere. 

    Wie haben Sie die Menschen für Ihr Projekt ausgewählt?

    Die Menschen, die ich für das Projekt Connecting fotografiert habe, waren unterschiedlicher Herkunft. Ich begann mit Leuten aus dem Ausland, die in irgendeiner Beziehung zur Akademie standen, und ihren Bekannten. Wrocław ist eine sehr internationale Stadt. Durch das Zusammentreffen mit meinen Protagonistinnen und Protagonisten wurde die Erfahrung, sich in einer fremden Stadt selbst zu finden, zu einer gemeinsamen, und zugleich lernte ich die Stadt auf diese Weise kennen. Für mich ist auch Wrocław eine Protagonistin dieses Projekts. Es hat eine einzigartig komplexe Geschichte mit zahlreichen Migrationsbiografien, mit denen ich mich später auch in meinem Fotoprojekt Locals beschäftigt habe.

    Die Ausländerinnen und Ausländer, die ich getroffen habe, kamen aus allen Regionen der Welt – zum Beispiel Yukako Manabe aus Japan, Polina Schumkowa aus Russland, Fatima García aus Costa-Rica, Maryam Abid aus Pakistan oder Filippo Gualazzi aus Italien. Die meisten waren zum Studium nach Polen gekommen, aber manche arbeiten auch in internationalen Unternehmen.
    Eines ist interessant: Ich dachte, je weiter das eigene Land entfernt ist, desto weniger spürt man Wrocław. Aber ganz so ist es nicht. So hat etwa Nicolas Crocetti aus Italien gesagt, die großen Unternehmen wie McDonalds und Zara seien das Einzige, was seinen Heimatort und Wrocław verbinde. Ausländer und ein paar offene Menschen aus Polen machen ihm das Leben zwar leichter, aber im Großen und Ganzen fühlt er sich in dieser Stadt wie ein Fremder.

    Was sind das für Orte, zu denen Sie selbst eine Verbindung spüren?

    Ich suche noch immer nach meinem Ort. Oder genauer gesagt, mir ist klar geworden, dass mein Ort zurzeit vielleicht keine geografischen Koordinaten hat. Er ist immer bei mir, und ich nehme ihn überall hin mit. Zumindest kann ich mir so meine Beziehung zu Wrocław erklären. Natürlich bewundere ich seine Architektur und Geschichte. Aber vor kurzem habe ich festgestellt, dass mich viele nostalgische, sentimentale Gefühle überkamen, als ich durch die Plattenbauviertel lief. Der Stil ist dort eher postsowjetisch, aber er ist mir so verständlich und nahe. Vielleicht arbeite ich deshalb jetzt an meiner Serie Betonia.

    Sehr viele Belarussen mussten ihre Heimat verlassen. Kann solch ein Projekt auch Ihnen helfen, Orientierung in einem neuen Leben zu finden?

    Viele sagen, dass Fotografie eine Art Therapie ist. Sie sehen die Arbeit an Fotoprojekten als Heilungsprozess. Ich würde dem zustimmen und zugleich widersprechen. In einer Therapie arbeitet man die Probleme durch und reflektiert sie nicht nur. Bei der Arbeit an einem Fotoprojekt kann es vorkommen, dass man intensiv über den Stoff nachdenkt und zu bestimmten Schlüssen kommt. Aber vielleicht passiert das auch nicht. Wenn man ein Problem fotografisch bearbeitet, wird man es nicht unbedingt los. Deshalb überrascht es mich nicht, dass viele meiner Kolleginnen und Kollegen psychologische Hilfe in Anspruch nehmen mussten.
    Fotografie ist ein großartiger Vorwand, um eine Zeitlang vor seinen Problemen zu fliehen und bringt eine gewisse Freude und Befriedigung. Aber sie hat vielleicht nicht so großartige Heilkräfte.
    Trotzdem finde ich es wichtig, solche fotografischen Praktiken zu unterstützen – für die Künstlerinnen und Künstler, aber auch für das Publikum, damit es erfährt, dass solche Schwierigkeiten, Situationen, Probleme und Gefühle existieren.
    Die Erfahrung der Umsiedlung wird meiner Meinung nach die Belarussen auf alle Fälle verändern. Nicht nur wegen des Traumas, das wir durchleben, sondern auch wegen des neuen Umfelds, der Menschen und Erfahrungen, die uns bereichern.

    Wie reagieren die Menschen auf die Fotos in dem Projekt?

    Ich glaube, mein Projekt ist ein etwas naiver, aber aufrichtiger Versuch, mich mit mir selbst und der Stadt anzufreunden – offen zu sein für neue Erfahrungen, für Menschen und das Leben überhaupt. Ich bin in diesem Projekt eher eine Beobachterin und Fragenstellerin. Die Menschen oder Orte, die ich zeige, stehen für unterschiedliche Ansätze, sodass viele Menschen einen Bezug dazu finden können. Zudem geht es nicht nur um Migranten. Auch wenn man in seiner eigenen Stadt lebt, kann man sich darin fremd fühlen. Die Verbindung zwischen einer Person und einem Ort hat in meiner Arbeit also eine viel breitere Bedeutung. 
     

    Maria Koupidou, Griechenland
    „Wrocław war für mich wie ein Traum. Schöne Orte, schöne Menschen. Alles war einzigartig. Ich vermisse die Stadt jeden Tag. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich hier wie zu Hause fühlen würde.“ / Foto © KK

     

    Links: Nelin Bayraktar, Türkei
    „Von zu Hause weg zu sein ist beides: verlockend und traurig. Zunächst schaue ich nach etwas Neuem, Anderem, Spannendem. Bald werden Dinge, die ich interessant finde, irgendwie mit meinem eigenen Zuhause verbunden. Wie Brücken und Wasser.“ / Foto © KK
    Rechts: Belichteter Film
    Alles hat ein Anfang und ein Ende. Jeder Umzug tötet etwas in dir und lässt etwas Neues wachsen. / Foto © KK

     

    Links: Yula Lee, Italien
    „In unserem Leben gibt es viele Scheidewege. Welchen Weg du auch wählst, du könntest immer etwas verpassen, aber der Nutzen ist dennoch viel größer.“ / Foto © KK
    Rechts: Blick aus dem Renoma
    Ein Einkaufszentrum in Wrocław. In der Vergangenheit die größte und exklusivste Shopping-Mall in der Stadt. / Foto © KK

     

    Inna Wlassowa, Russland
    „Ich mag die Architektur, die Kultur. Außerdem erinnert mich die polnische Sprache an meine Muttersprache.“ / Foto © KK

     

    Links: Dilay Kocogullari, Türkei
    „Mein Herz ist zu Hause, mein Kopf ist hier. Menschen und Verabredungen sind Dinge, die mir helfen zu überleben.“ / Foto © KK
    Rechts: Gebäude „Grüner Tag“ in Wrocław / Foto © KK

     

    Wrocław / Foto © KK

     

    Links: Katarzyna Lukojko, Polen
    „Ich will diese Stadt immer verlassen und komme immer wieder hierher zurück.“ / Foto © KK
    Rechts: Nächtliche Straßen in Wrocław / Foto © KK

     

    Ein Bau-Element der berühmten Haus-Galerie bei Powstanców Śląskich, genannt Titanic. Das 16-stöckige Galeriegebäude ähnelt dem berühmten Schiff, so auch die Absicht des Designers. / Foto © KK

     

    Links: Wrocław / Foto © KK
    Rechts: Regina Vutanyi, Ungarn
    „Zuhause war für mich immer ein schwammiges Konzept. Sobald ich auf banale Dinge stoße, merke ich, dass ich eine Routine entwickelt habe und bereit bin wegzuziehen. Wrocław war für mich immer wie zu Hause. Alles, was ich Tag für Tag sah, wurde für mich zu einem gewohnten Anblick, so wie ein gewohnter Anblick für alle wurde, die hier lebten.“ / Foto © KK

     

    Links: Korridor in einem ehemaligen Industriegebäude
    In Wrocław kommt es häufig vor, dass verfallene, verlassene Gebäude neben brandneuen, frisch gestrichenen Fassaden stehen. / Foto © KK
    Rechts: Maryam Abid, Pakistan
    „Als ich nach Wrocław kam, war alles neu und anders. Ich konnte nicht viel interagieren, aber ich mochte, wie hilfsbereit die Menschen dennoch waren und dass sie sich große Mühe gaben. Das weiß ich bis heute zu schätzen.“ / Foto © KK

     

    Wrocław ist einer der sich am schnellsten entwickelnden Ballungsräume in Polen. Seine attraktive geographische Lage gewährleistet Investoren die Nähe zum deutschen und zum tschechischen Markt, eine gute Infrastruktur und Zugang zu Mitarbeitern. / Foto © KK

     

    Links: Die Odra ist der wichtigste Fluss in Wrocław.
    Die Stadt wird oft „Venedig des Nordens“ genannt. Derzeit gibt es zwischen 118 und 130 Brücken und Fußgängerbrücken. / Foto © KK
    Rechts: Yukako Manabe, Japan
    „Ich war so glücklich, als ich sah, dass es in Wrocław Zierkirschen gibt! Sie lassen mich die Frühlingsstimmung spüren …“  / Foto © KK

     

    Links: der Fluss Odra, Wrocław / Foto © KK
    Rechts: Polina Schumkowa, Russland
    „Jeder Ort, den ich besuche, hinterlässt Spuren in meiner Seele. All diese Spuren machen aus, wer ich bin.“ / Foto © KK

     

    Nicoleta Puiu, Moldau
    „Menschen sind die größten Schätze der Städte. Jede Stadt hat ein menschliches Gesicht. Wrocław hat das beeindruckendste.“ / Foto © KK

     

    Fotos: KK
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: Ingo Petz
    Veröffentlicht am: 15.02.2024

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  • Alarmknopf im Wahllokal

    Alarmknopf im Wahllokal

    Am 25. Februar werden in Belarus Parlaments- und Kommunalwahlen abgehalten. Es sind die ersten landesweiten Wahlen seit 2020. Damals waren die Präsidentschaftswahlen Auslöser für landesweite Proteste, die nur mit massiver Gewalt niedergeschlagen werden konnten. Seitdem haben zigtausende Bürgerinnen und Bürger das Land verlassen, Tausende wurden eingesperrt, das Regime setzt seine Jagd auf Andersdenkende fort. Wjatscheslaw Korosten gibt für das belarussische Portal Pozirk einen sarkastischen Ausblick auf eine Wahl, bei der sich das Regime noch nicht einmal mehr um den Anschein von Demokratie bemüht.

    So etwas wie die Massenproteste im Sommer 2020 will Alexander Lukaschenko nicht noch einmal erleben. Die Wahlen am 25. Februar sollen vergessen machen, dass das Volk dem Präsidenten bereits ein deutliches „Nein“ gesagt hat. / Foto © IMAGO / Pond5 Images

    Einen Monat vor dem Einheitlichen Wahltag gibt es keinen Zweifel mehr: Die Wahlen zur zweiten Kammer des Parlaments und in die Lokalparlamente werden diesmal maximal ehrlich ablaufen. Die Behörden haben jede Imitation von Demokratie aufgegeben und verbergen nichts mehr: Sie werden die Kandidaten eigenhändig auswählen, die Abgeordneten selbst ernennen und die Wähler nicht unnötig mit der Illusion einer Willensäußerung verunsichern.

    Und wenn jemand meint, von seiner Stimme würde irgendetwas abhängen, oder schlimmer noch, auf die Idee kommt, auf seine Rechte hinzuweisen, dann werden ihn spezielle Leute per „Alarmknopf“ umgehend eines Besseren belehren.

    Nicht, dass es früher so viel anders gewesen wäre. Die Parlamentsabgeordneten wurden auch vorher selektiert und ernannt. Es wäre töricht zu glauben, die finale Liste würde durch die Wähler und nicht durch Alexander Lukaschenko persönlich abgesegnet.

    Allerdings war der Herrscher vor 2020 noch gnädig und ließ seine Opponenten wenigstens auf dem Stimmzettel zu. 2016, mitten im Tauwetter, ließ er sogar zu, dass die gemäßigten Oppositionellen Jelena Anissim und Anna Kanopatskaja ein Mandat als Abgeordnete erhielten. Das änderte zwar nichts daran, dass die zweite Kammer des Parlaments ein Ort ist, wo Entscheidungen von oben im Fließbandverfahren abgesegnet werden, aber immerhin wehte einen Hauch von Pluralismus durch den Sitzungssaal.

    Jetzt sind die Zeiten völlig andere. Es gibt nicht nur keine oppositionellen Kandidaten, es gibt im legalen Bereich gar keine Opposition mehr: Oppositionsparteien wurden aufgelöst, soziale Bewegungen abgeschafft, abweichende Meinungen sind de facto kriminalisiert. Sämtliche nennenswerte regimekritische Politiker sind entweder im Gefängnis oder im Ausland. Den weniger auffälligen wird klargemacht, dass sie besser die Füße stillhalten und nicht aufmucken. Der Bildung eines neuen Parlaments und der regionalen Räte nähert sich Belarus im Stechschritt in Reih und Glied und ohne Widerrede.

    Am 15. Januar war die Nominierung der Kandidaten abgeschlossen. Die Zentrale Wahlkommission meldete munter: Auf 110 Abgeordnetensitze kämen insgesamt 298 Kandidaten – 2,7 auf jedes Mandat. Bei der Wahl 2019 waren es 2,4 Mal mehr – 703 Kandidaten und damit 6,4 pro Sitz.

    Man bleibt unter sich, die Kandidaten sind handverlesen und linientreu. Bereit, Lukaschenko und seinem Kurs zu dienen, ihn zu wahren und zu mehren. Es sind Vertreter der vier regierungsnahen Parteien und der offiziellen Gewerkschaften, Beamte, Gesetzeshüter und Propagandisten. Dazu kommen der derzeitige Leiter der Lukaschenko-Regierung, Igor Sergejenko, und die Ministerin für Arbeit und soziale Sicherheit Irina Kostewitsch.

    Wir halten die Wahlen für uns selbst ab

    Weil den Behörden sonnenklar ist, dass man dem Westen diese „Wahlen“ unmöglich als solche verkaufen kann, machten sie sich nicht einmal die Mühe, OSZE-Beobachter einzuladen. Sie entschieden lieber gleich, nur Vertreter Russlands und anderer befreundeter Länder und Organisationen einzuladen.

    Die Entscheidung, die OSZE aus dem Spiel zu lassen, kommentierte Karpenko offen: „Wir haben an sich kein Problem damit“, sagte der Chef der Wahlkommission. „Aber wozu, wenn wir die Wahlen in erster Linie für uns selbst abhalten?“, fragte er rhetorisch. „Für uns selbst“ – das klingt eher nach einer Betriebsweihnachtsfeier als nach einer nationalen Kampagne, an der theoretisch die gesamte erwachsene Bevölkerung des Landes teilnehmen kann.

    Die OSZE nahm die rührende Direktheit des Beamten zur Kenntnis, schluckte die bittere Pille und brachte dienstfertig ihre „tiefe Besorgnis“ zum Ausdruck.

    Die Silowiki haben indes ihre eigene Rhetorik, und alles deutet darauf hin, dass sich das Innenministerium auf die Wahlen wie auf eine Spezialoperation vorbereitet. Das Ziel ist, die Parlamentsmandate möglichst ungestört an die richtigen Leute zu verteilen.

    Am 13. Januar kündigte Innenminister Iwan Kubrakow im Staatsfernsehen an, jedes Wahllokal mit einem „Alarmknopf“ auszustatten, wie ihn auch Bankangestellte für den Fall eines bewaffneten Raubüberfalls haben.

    Außerdem seien dem Minister zufolge „bereits jetzt in allen Regionen Überwachungskameras im Umkreis der Wahllokale installiert“ worden.

    Am Tag der Wahl, erklärte er weiterhin, würden „nach dem Vorbild von Minsk“, 50 Personen in einem „speziellen Raum“ untergebracht, die (offenbar an den Bildschirmen) jedes Wahllokal in Echtzeit überwachen werden. „Bei der kleinsten Gefahr“, so der General, würden „schnelle Einsatzgruppen“ die diensthabende Polizei verstärken, um eine „Störung der öffentlichen Ordnung“ zu verhindern.

    Die Silowiki lassen derzeit keine Gelegenheit aus, um über die Wahlen zu sprechen. Am 17. Januar sprach der stellvertretende Innenminister, Gennadi Kasakewitsch, anlässlich eines Besuchs in Usda bei Minsk mit seinen Untergebenen über die Unzulässigkeit „extremistischer Äußerungen“ während der Wahlen. Am selben Tag besprach Karpenko mit Offizieren der Inneren Truppen und der Grenzschutzorgane das „Verfahren für die Organisation der Stimmabgabe von Wehrdienstleistenden und Vertragssoldaten“.

    Ein paar Details: Die Namen der Mitglieder der Wahlkommissionen sind nun geheim – zu ihrer eigenen Sicherheit. Belarussische Staatsbürger, die sich im Ausland aufhalten, dürfen nicht wählen – dort kann man im Notfall ja nicht mal eben eine „schnelle Einsatztruppe“ hinschicken. Und natürlich kann von unabhängigen Beobachtern keine Rede sein.

    Kurzum, es wird alles getan, um sicherzustellen, dass nichts die Aufrechterhaltung der „Verfassungsordnung“ (sprich: der Macht Lukaschenkos und seines Regimes) gefährdet.

    Ist sie denn durch irgendetwas gefährdet? Aus Sicht der Machtvertikale offenbar schon.

    Viele Karrieren hängen davon ab, ob die Wahlen glatt laufen 

    Die Verhaltensauffälligkeiten der Behörden vor den Wahlen lassen sich durch eine ganze Reihe von Gründen erklären. Einer der wichtigsten: Das System, das Lukaschenko errichtet hat, ist zu einer anderen Form der Mobilisierung gar nicht fähig. Ihr politisches Credo scheint zu sein: „Es kann gar nicht genug sein“.

    Die belarussischen Behörden können weder flexibel noch nach dem Prinzip der Effizienz arbeiten. Vor allem nicht in letzter Zeit. Wenn Ideologie – dann in Überdosis und überall, bis in die Kindergärten. Wenn Wirtschaft – dann mit strengster Preisregulierung und Strafverfolgung wegen jedem Cent. Wenn Politik – dann ohne die kleinste Alternative, mit Säuberungen, willkürlichen Entlassungen und Razzien in Betrieben. Die Kahlschlag-Methode ist in den Augen der Staatsdiener eben die effektivste. Sie können gar nicht anders.

    Man könnte es als Rückversicherung betrachten – nicht so sehr der Vertikalen, sondern ihrer einzelnen Vertreter. Für Karpenko ist es im Grunde die erste wichtige Prüfung im neuen Amt. Für Kubrakow ist es ebenfalls der erste Stresstest. Seit 2020 mussten sich viele aus Lukaschenkos Entourage verabschieden, und die Neuen wollen die Fehler ihrer Vorgänger nicht wiederholen. Viele Karrieren hängen davon ab, wie „elegant“ die nächste Wahl verläuft.

    „Das Echo von 2020“ – so lautet eine verbreitete und im Prinzip treffende Erklärung dafür, warum sich das Regime auf die Wahlen wie auf einen Krieg vorbereitet. Die Situation nicht noch einmal erleben wollen, die Traumata loswerden, Rache üben – das sind durchaus logische Motivationen für ein Regime, das bereits am Rande des Abgrunds stand.

    Ja, eine Wahlkampagne gab es nach diesen Ereignissen bereits: das Referendum von 2022. Sie haben es planmäßig durchgeführt und alle gewünschten Änderungen in die Verfassung geschrieben. Aber aus irgendeinem Grund hat das keine Ruhe gebracht. Vielleicht, weil vor dem Hintergrund des russischen Einmarsches in der Ukraine erneut Proteste im Lande ausbrachen. Nach einem ruhigen 2021 gingen viele Menschen auf die Straße, die Zahl der Inhaftierten schnellte wieder in die Tausende, und das Okrestina-Gefängnis öffnete wieder sperrangelweit seine Tore.

    Sogar in der Kirche spricht Lukaschenko von den Wahlen

    Aber die Angst der Machthaber wurzelt natürlich nicht nur in der Vergangenheit. Im Palast auf dem Prospekt der Sieger in Minsk versteht man sehr wohl, dass die Parlamentswahl kein Ereignis ist, das die Gemüter der Bevölkerung übermäßig aufwühlt. Man kann sogar getrost behaupten, dass sich die Belarussen aufgrund der dekorativen Rolle des Abgeordnetenhauses im Staatskonstrukt kaum dafür interessieren. Nicht umsonst wurde im vergangenen Jahr die Beteiligungsschwelle für die Wahlen zur Abgeordnetenkammer abgeschafft – so mussten die Behörden die Menschen nicht mehr zur Wahlurne treiben.

    Es liegt auf der Hand, dass das Regime die Wahlen von 2024 als Prolog für den Präsidentschaftswahlkampf von 2025 versteht. Eine Generalprobe, die um jeden Preis jedes Lob von oben übertreffen muss.

    Experten sind sich einig, dass Lukaschenko vorhat, zum siebten Mal zu kandidieren, auch wenn er im Oktober 2020 bei dem berühmten Treffen mit politischen Gefangenen im KGB-Gefängnis das Gegenteil versprochen hatte. „Ich gebe euch mein Wort, Jungs“, sollen seine Worte gewesen sein, wenn man dem Pseudo-Oppositionellen Juri Woskressenski glauben darf.

    Doch die Zeit verging, und Lukaschenko hat sein Wort offenbar zurückgenommen. Und nun ist es der ewige Herrscher selbst, der am häufigsten in der Öffentlichkeit über die Präsidentschaftswahlen spricht.

    Sogar als er an Weihnachten eine Kirche in der Agrarstadt Scherschuny besuchte, sprach er von weltlichen Dingen: „Sie werden an uns trainieren. Und wir müssen durchhalten. Sie werden an uns für die kommenden Präsidentschaftswahlen trainieren.“ Die Wahlen seien das Hauptereignis des Jahres, das man „würdig überstehen“ müsse.

    Die Präsidentschaftswahlen werden spätestens am 20. Juli 2025 stattfinden, und in der Zeit bis dahin kann wirklich alles passieren.

    Der Krieg in der Ukraine geht weiter, und niemand weiß, wohin das Pendel ausschlagen wird. Der belarussischen Wirtschaft stehen nach dem Aufschwung im Jahr 2023 voraussichtlich schwierige Zeiten bevor. Auch auf dem vielbeschworenen „weiten Bogen“ [in der Zusammenarbeit mit Ländern in Asien, Afrika und Lateinamerika] sind keine Durchbrüche zu erwarten. Im Westen nichts Neues. Die wirtschaftliche Abhängigkeit von Russland wächst und droht uns politisch teuer zu stehen zu kommen. Bis zu den Wahlen im Jahr 2025 muss zudem noch eine belarussische Volksversammlung gebildet werden, die dann auch noch einen Vorsitzenden braucht. Das alles macht das Machtsystem zusätzlich kompliziert und erfordert zusätzliche Kontrolle.

    Zu allem Überfluss lässt den Herrscher hin und wieder seine Gesundheit im Stich, was Gerüchte von einer vorzeitigen Übergabe der Macht schürt. Diese werden durch das neue Gesetz über die lebenslange Immunität für den Staatschef und die erneute Beschränkung auf zwei Amtszeiten [für neu gewählte Präsidenten] in der Verfassung genährt.

    Die Zeit rennt, und sie ist allzu sehr verdichtet. Der Preis für Fehler ist mittlerweile so hoch, dass man sich schlichtweg keine mehr leisten darf.

    Entsprechend gibt es keinen Grund mehr, bei den Wahlen einen Wettbewerb zu imitieren. Die Zeiten sind andere.

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  • Belarussisches Roulette

    Belarussisches Roulette

    Nach Angaben von Menschenrechtsaktivisten haben belarussische Sicherheitskräfte im Jahr 2023 mindestens 125 Personen, die aus dem Ausland zurückgekehrt sind, festgenommen. Einige wurden direkt an der Grenze abgeführt, andere wurden später verhaftet. Warum kehren die Menschen zurück, wenn der Machtapparat Lukaschenkos nach wie vor mit scharfen Repressionen gegen die eigenen Bürger vorgeht und es auch immer wieder zu regelrechten Massenverhaftungen kommt? Die Gründe sind vielfältig: Möglicherweise findet man keine Arbeit im Ausland, kann so sein Leben nicht sichern, vielleicht sind die Eltern krank, man will die eigene Wohnung verkaufen oder man muss dringende Amtsgeschäfte erledigen. Schließlich können belarussische Staatsbürger seit vergangenem Jahr keine neuen Ausweisdokumente an den Botschaften ihrer Heimat mehr beantragen. 

    Das Online-Portal Zerkalo hat eine Belarussin und einen Belarussen getroffen, die die Reise trotz allen Risikos gewagt haben. Aber wie plant man solch eine Reise, wie stellt man sicher, dass die Sicherheitskräfte nicht doch auf einen aufmerksam werden, wenn eigentlich vor allem ein Faktor über Gelingen oder Scheitern einer solchen Unternehmung entscheidet: die Willkür.

    Die Namen der Befragten wurden zur Sicherheit anonymisiert.

    Hier beschreiben sie Reiserouten und Vorsichtsmaßnahmen, die sie selbst gewählt und ergriffen haben. Wir empfehlen jedoch nicht, ihre Wege und Erfahrungen als Anleitung zu ähnlichen Reisen zu verstehen und ein Risiko einzugehen, wenn Sie davon ausgehen, in Belarus von einer Festnahme bedroht zu sein.

    Schlimmstenfalls kommen die Maskierten direkt zum Notar

    Seit zweieinhalb Jahren lebt Viktoria mit ihrem Mann im Ausland. 2020 nahmen sie an den Protesten teil, ein paarmal wurden sie festgenommen, aber sie hatten Glück, sagt Viktoria: „Mal war kein Platz, mal haben sie uns vergessen, wir kamen immer wieder frei.“ Doch auch mehrere Hausdurchsuchungen mit Beschlagnahme ihrer technischen Geräte musste das Paar über sich ergehen lassen. Die letzte Durchsuchung war so brutal, dass sie beschlossen, lieber doch das Land zu verlassen. Später kam der Entschluss dazu, ihre Eigentumswohnung in Minsk zu verkaufen. Allerdings gibt es ein neues Gesetz, laut dem man dazu entweder persönlich anwesend sein oder jemandem eine Generalvollmacht ausstellen muss, die man jedoch auch nur in Belarus bekommt. Viktoria und ihr Mann beschlossen also, dass einer von ihnen fahren müsse und die Reise für Viktoria weniger riskant sei. 

    „Wir hatten uns schon gefreut, alle Verbindungen zu kappen, hatten sogar einen Käufer gefunden und wollten in Polen zum Notar gehen, um die Vollmachten aufzusetzen, da kam auf einmal dieser Erlass und machte uns einen Strich durch die Rechnung. Das soll uns alles nur das Leben erschweren. Die Regierung ist schlau, aber wir sind schlauer“, scherzt unsere Gesprächspartnerin. „Immerhin steht viel auf dem Spiel – ich rechne damit, dass sie die Ausgewanderten früher oder später überhaupt enteignen werden. Wir alle wollten nur für ein, zwei Jahre weggehen, aber dann wird einem klar, dass man sich im Ausland ein neues Leben aufgebaut hat und hier alles findet, was man zum Leben braucht.

    Einen Monat lang haben wir überlegt, dann fiel die Entscheidung. Wir planten jeden Schritt gründlich. Bekannte von uns sind schon seit einem halben Jahr in Polen, und jedes Mal, wenn sie nach Belarus fahren, fragt man ihnen an der Grenze Löcher in den Bauch – wieso sie schon so lange im Ausland leben und wieso sie jetzt zurückkommen würden. Daher wollte ich alle direkten Kontakte vermeiden, zumal ich ein humanitäres Visum habe.“

    Im Dezember 2023 flog die Belarussin nach Hause. Über Georgien und Russland in die nächstgelegene belarussische Großstadt – sie entschied sich für Orscha. Diese Reise für ein einziges Dokument kostete sie hin und zurück insgesamt eine Woche. 

    „Den Flug zu buchen war ein Hindernislauf, die ersten Tickets stornierten wir wieder. Einerseits aus Vorsicht, denn wenn man ein Ticket für eine russische Fluglinie kauft, taucht man sofort im System auf. Sie sehen, dass man fliegen will. Also stornierten wir und kauften andere Tickets. Vielleicht wäre dieser Aufwand gar nicht nötig gewesen, aber wir wollten alles tun, damit die Reise möglichst ungefährlich ist. Ich nahm keine belarussische SIM-Karte mit, aber dann stellte sich heraus, dass man in Russland seine Seele verkaufen muss, um sich mit dem WLAN zu verbinden!“, lacht Viktoria.  

    Sie erzählt, dass auf dem Moskauer Flughafen eine Belarussin mit einem kleinen Kind so lange verhört wurde, dass sie ihren Anschlussflug verpasste. Viktoria traf sie erst auf der Heimreise wieder. 

    „Am meisten Misstrauen kommt von russischer Seite. Da werden die Pässe gescannt und Fragen gestellt – zehn bis fünfzehn waren es bei mir: Wohin ich fahre, zu welchem Zweck, wie es danach weitergeht, wieso ich kein Visum habe (weil ich einen dauerhaften Aufenthaltstitel in Polen habe). Wobei viele dieser Fragen ziemlich seltsam waren: Wie viele Passagiere an Bord waren, welche Farbe die Flugzeugtriebwerke hatten, wie hoch die Lufttemperatur in Georgien war, wie viel Gepäck ich dabei hatte. Keine Ahnung, was sie mit all diesen Infos wollten.“

    Als dieses Stück geschafft war und Russland keine weiteren Fragen mehr hatte, erwartete Viktoria eine nicht minder schwierige Etappe: Sie musste in das Land einreisen, dessen Silowiki sie im Visier hatten, und so schnell wie möglich die Dokumente holen. Sie reiste noch am selben Tag wieder aus. 

    „Das Wichtigste ist, jemanden zu finden, der dich sicher durch Belarus bringt. Wir wurden von den Marschrutka-Fahrern gut instruiert, was wir sagen sollten, um keine Fragen zu provozieren. Ab da ging es leicht. Wir hatten im Voraus einen Notar in Orscha gebucht, einen privaten, den uns Bekannte empfohlen hatten. Der Termin war am Abend, weil man sehr schnell in den Datenbanken auftaucht und es jetzt Listen gibt. Ich wusste, wenn ich auf einer Liste stehe, kann mir mindestens die Ausstellung einer Vollmacht verweigert werden. Na, und schlimmstenfalls kommt die Maskenshow direkt zum Notar, egal, in welcher Stadt – angeblich sind die blitzschnell da. Davor haben uns die Immobilienmakler gewarnt. Aber wir haben uns abgesichert und kamen extra am Ende des Arbeitstages, damit ich am nächsten Morgen, wenn meine Daten im System auftauchen, schon außer Landes bin.“

    Der liebe Gott ist natürlich groß, aber ich hab’ mich in dieser Woche auch ziemlich angestrengt!

    Ihre Heimatstadt Minsk besuchte Viktoria nicht. Erst im letzten Moment, bevor sie wieder über die Grenze nach Russland reiste, gab sie ihren betagten Eltern und engsten Freunden Bescheid, die nach Orscha kamen, um sie zu sehen. Sie traf ihre Nächsten zum ersten Mal seit zweieinhalb Jahren.

    „Meine Eltern sagten später, dass sei alles so hektisch gewesen. Aber so herzlich! Wenn du deine Angehörigen umarmst und sagst: ‚Du hast dich gar nicht verändert.‘ Da muss man schon eine Träne verdrücken. Das war das Wertvollste an der ganzen Reise!“, meint Viktoria. „Aber dass ich gespürt hätte, dass ich mein Heimatland furchtbar vermisse, das kann ich nicht behaupten. Alles war grau, in Russland und Belarus fiel dichter Schnee und es stürmte, daher sah ich nicht viel von draußen, von der Stadt. Heimat, das sind für mich heute die Menschen, die mich dort umgaben. Alles, was ich dort hatte, lasse ich gern hinter mir, nur nicht die Menschen.“     

    Obwohl alles schnell und problemlos vonstatten ging, erzählt Viktoria von einem Ansturm verschiedenster Emotionen, darunter natürlich die Sorge, die Angst, dass etwas schiefgeht und sie den Silowiki in die Hände fällt, wie so viele Belarussen vor ihr:

    „Der Gipfel der Angst ist die Grenze, wenn dir ein Uniformierter in die Augen schaut, deinen ganzen Pass abfotografiert, anfängt zu notieren, zu telefonieren, weiterzuleiten. Und als würde dir nicht sowieso schon das Herz in die Hose rutschen, führen sie auch noch vor deinen Augen jemanden zum Verhör ab. Und du denkst, das kann dir genauso passieren. Ich wurde Gott sei Dank verschont, aber die Etappe in Russland war emotional am schlimmsten. Obwohl wir auf dem Rückweg nicht einmal im Stau standen und unsere Pässe gar nicht kontrolliert wurden. Wenn wir auf irgendwelchen ‚Terroristenlisten‘ gestanden hätten, wäre ich wohl nicht so einfach durchgekommen. Vielleicht half uns auch, dass in unserem Auto lauter Frauen saßen. Na, und als ich in die EU einreiste, auch auf Umwegen, machte ich mir dann Sorgen wegen meines russischen Stempels im Pass. Wir hatten alles durchgeplant – theoretisch hätte nichts passieren dürfen, aber trotzdem stand ich unter Stress. Am Ende bin ich sogar am Schnellsten durchgekommen.“

    Nach der letzten Passkontrolle auf EU-Territorium konnte sich die Belarussin wieder entspannen, sie besuchte noch Freunde und fuhr dann nach Hause nach Polen. Aber was sie da eigentlich erlebt hatte, wurde ihr erst später bewusst, räumt sie ein. 

    „Die Emotionen holten mich erst ein, als ich schon zwei oder drei Tage zu Hause war – ich brach körperlich zusammen, meine Psyche forderte Ruhe, ich musste das alles verarbeiten“, erinnert sie sich. „Aber mittendrin war ich konzentriert, dachte kritisch, machte alles, was nötig war. Während ich unterwegs war, waren alle nervös, aber die größten Sorgen machten sich meine Eltern. Sie sagten: ‚Der liebe Gott hat dich beschützt.‘ Ich dachte: ‚Der liebe Gott ist natürlich groß, aber ich habe mich in dieser Woche auch ziemlich angestrengt!‘ (Sie lacht.) Mein Mann war am ersten Tag extrem kühl. Er begrüßte mich natürlich, umarmte und küsste mich, das schon, aber er war reserviert. Als mir dann am zweiten Tag zu dämmern begann, dass alles gut ausgegangen war, dass ich wieder da war, in meinem Bett schlief und nicht Gott weiß wo, da wurde auch er emotional – er hatte sich ja auch Sorgen gemacht, auch wenn er es sich nicht anmerken ließ. So zeigt ein Mann seinen Stolz, dass wir Frauen so zähe Geschöpfe sind! (lacht) Wenn es eine Aufgabe zu erledigen gibt, dann akkumuliert man plötzlich seine ganze Kraft. Meine Tat eröffnet uns hier andere Horizonte. Es war ein nobles Risiko. Oder ein kaufmännisches, ich weiß nicht.       

    Ich erinnere mich, wie wir in Orscha an einer Ampel standen und neben uns ein Polizeiauto hielt – und wie ich zusammenzuckte. Überhaupt frage ich mich, wie Leute, die irgendeine Vorgeschichte haben, einfach über die belarussische Grenze fahren. Ich bin eine Woche lang mit Bussen und Marschrutkas herumgegondelt, putzte mir die Zähne bei McDonald’s, um möglichst unentdeckt zu bleiben. Ja, ich war erfolgreich, aber vielleicht war es einfach Glück? Ich will diese Vorgangsweise niemandem empfehlen. Ich weiß nicht, was passieren müsste, dass ich diesen Trip wiederhole – das war physisch und psychisch sehr anstrengend“, sagt Viktoria.

    Alle sagten, ich sei leichtsinnig … aber ich beschloss, dieses belarussische Roulette zu spielen

    Igor kommt ebenfalls aus Minsk, im Winter 2023 waren es knapp drei Jahre, seit er das letzte Mal zu Hause gewesen war. Ende November fuhr er für zehn Tage nach Belarus – so lange dauert es, einen neuen Pass zu bekommen. „Mein Risiko war dasselbe wie für alle Belarussen – man weiß nie, was passiert. Ich war auf allen Demos, habe an Protestveranstaltungen in Hinterhöfen teilgenommen, ungefähr bis Februar“, erklärt er. „Aber ich dachte, lieber gleich fahren, weil die Repressionen später nur noch stärker werden. Die Gefahr, festgenommen zu werden, würde nur steigen. Trotzdem versuchten alle, mir das auszureden, sagten, ich sei leichtsinnig. Fand ich ja auch, aber ich beschloss, dieses belarussische Roulette zu spielen. Als es ein paar Wochen vor meinem Flug hieß, dass Leute bei der Zwischenlandung in Moskau auf einmal mit einem Ausreiseverbot konfrontiert wurden – manche hatten das Glück, das schon vor dem Flug zu erfahren –, da bekam ich es doch mit der Angst zu tun.  

    Igor wollte sich ebenfalls absichern und flog über die russische Hauptstadt. Dort setzte er sich in den Zug nach Smolensk, wo ihn Freunde aus Minsk mit dem Auto abholten.

    „Bei der Passkontrolle auf dem Flughafen bekamen Staatsbürger Tadschikistans und der RF nur ein paar Fragen gestellt und wurden schnell durchgelassen. Als Belarusse musste ich deutlich mehr beantworten: Wohin, wozu, warum, wo ich arbeite, wann ich das Land verlassen habe, warum ich über Moskau fliege, warum ich ein litauisches Visum habe und was ich dort gemacht habe“, erzählt Igor. „Einer meiner Bekannten sagte irgendwas Dummes, da nahmen sie ihn sofort beiseite, holten ihren Vorgesetzten und verhörten ihn regelrecht. Aber sie verzichteten darauf, sein Handy zu durchsuchen, und ließen ihn nach zehn Minuten wieder laufen. Ich hatte Angst, ich könnte, ohne es zu wissen, in irgendwelchen Datenbanken auftauchen und festgenommen werden. Aber das war der einzige Moment, in dem ich mit einer Festnahme rechnete.“  

    Den Pass beantragte Igor in Minsk, wo er sicherheitshalber weder an seiner Meldeadresse noch bei Verwandten übernachtete. Er war darauf gefasst, auf dem Meldeamt gefragt zu werden, warum er schon so lange im Ausland lebe, doch keiner interessierte sich für ihn, und nach sieben Tagen bekam er im Schnellverfahren seinen Pass.  

    „Ich hatte Freunde gebeten, mir eine neue SIM-Karte zu besorgen, und benutzte sie mit einem fremden Handy, mein eigenes ließ ich ausgeschaltet. Ich entspannte mich: Niemand fragte nach mir, niemand suchte mich. Vielleicht täuschte das Gefühl. Man weiß ja nie, was passieren kann. Ich wunderte mich jedenfalls, dass ich während der ganzen Zeit fast keine Polizei auf der Straße sah, dabei hatte ich Flashbacks von 2020 befürchtet, von diesen Kleinbussen mit Uniformierten.“

    Die Menschen sind nicht gebrochen, sie warten auf die nächste Möglichkeit aufzustehen!

    Abgesehen davon registrierte unser Gesprächspartner eine andere Stimmung bei den Leuten auf der Straße. Er habe sich gefreut, vorübergehend zurück zu sein und seine Nächsten zu sehen, erzählt er, aber er habe gespürt, dass sich seine Beziehung zu Minsk verändert hätte:

    „Ich traf Freunde und Verwandte, wobei ich maximal darauf achtete, nicht aufzufallen und mich abzusichern, wo es ging. Ich aß, was ich am meisten vermisst hatte, spazierte durch die Stadt. Es war kalt, daher war ich immer ganz eingemummt in Jacke und Schal. Keine Ahnung, vielleicht war es ein Placebo-Effekt, und sie hätten mich auch so gefunden, wenn sie gewollt hätten.

    Insgesamt hat mir die Reise gut getan – endlich ließ das Heimweh nach, das mich in der Emigration so geplagt hatte. Da glaubt man, zu Hause ist das Gras grüner und alles ist schöner. Aber nach dem sonnigen Georgien sah ich diese ganze Düsternis hier, die unglücklichen, freudlosen Gesichter, die nie lächeln. Die Resignation, als wüssten alle, dass sie in einem Konzentrationslager leben und keine Perspektive haben. Diese Hoffnungslosigkeit, die in der Luft hängt …               

    Danach ging es mir besser, ich wusste, ich hatte alles richtig gemacht: dass ich weggegangen war und nicht mehr heim fuhr. Ich werde wohl die nächsten Jahre nicht mehr nach Belarus fahren. Ich habe auf einmal das Gefühl, dass mir alles fremd geworden ist. Nicht mehr das, was ich früher geliebt hatte – das ist alles zerstört. Wobei, wisst ihr, zuerst sah es aus, als hätten sie alles zerstört, als wäre alles verschwunden. Aber dann rief ich ein Taxi zum Meldeamt, und der Fahrer hörte Brutto. Leise, aber dennoch. Da dachte ich: Die Menschen sind nicht gebrochen, sie warten auf die nächste Möglichkeit aufzustehen! Ja, sie haben Angst, aber auch Hoffnung.”

    Zurück reiste unser Gesprächspartner ebenfalls über Smolensk und Moskau. Die Grenzpolizei auf dem Flughafen stellte kaum Fragen, und die Zone der internationalen Abflüge war halbleer. 

    „Als ich nach Georgien zurückkam, war ich sehr erleichtert und froh, ich fühlte mich sicher, obwohl ich auch in Minsk nicht wirklich Angst gehabt hatte. Ich begriff, dass ich mich hier schon mehr zu Hause fühle als in Belarus“, berichtet er. „Ich war froh, in mein gewohntes Leben zurückzukehren. Aber ich träume davon, am Tag des großen Staus (wenn die Repressionen vorbei sind und es eine neue Regierung gibt – Anm. Zerkalo) nach Belarus zurückzugehen. Ich glaube daran, dass alles wieder gut werden wird und Minsk wieder aufblühen kann.“

    Außerdem ist Igor froh, dass seine Reise glimpflich verlaufen ist und er jetzt einen neuen Pass in Händen hält, der zehn Jahre lang gültig ist. Aber er würde niemandem empfehlen, so vorzugehen wie er, sagt er.   

    „Objektiv betrachtet war das belarussisches Roulette. Jetzt, wo alles gut gegangen ist, kann ich natürlich sagen: Toll, das war es wert! Mit meinem neuen Pass kann ich beruhigt weiterleben und mich sicher fühlen“, sagt er. „Aber wenn es anders ausgegangen wäre, dann wären die Konsequenzen tragisch. Rein rational war es falsch und unvernünftig, was ich gemacht habe. Und das Schlimmste ist, dass meine Freunde und Bekannten, die Verwaltungsstrafen haben und unter Beobachtung stehen, von meiner Reise inspiriert ebenfalls nach Belarus fahren wollen. Es kostet mich enorm viel Mühe, ihnen klarzumachen, dass das gefährlich ist und sie es bleiben lassen sollen. Ich mache mir große Sorgen, jemand könnte meinem Beispiel folgen und in die Falle tappen. Es kommt oft vor, dass Leute fahren und nicht wissen, dass sie in der Datenbank erfasst sind, und dann werden sie festgenommen.”

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