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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Kupalle in Belarus

    Kupalle in Belarus

    In Belarus findet man kaum jemanden, der noch nie von Kupalle gehört hat. Das Mittsommerfest wird zwischen dem 21. Juni und dem 7. Juli gefeiert.1 Das belarussische Wort für den Feiertag betont die Heiligkeit, die sakrale Bedeutung und nicht etwa einen arbeitsfreien Urlaubstag. Der Reichtum an Liedern, Bräuchen, Überlieferungen und Legenden rund um Kupalle könnte einen ganzen Jahreskreis füllen. Ausgehend von einem einheitlichen Kern finden sich über ganz Belarus verteilt viele Varianten – ein weiteres Indiz für die tiefreichende Archaik dieses Festes. Zur selben Zeit feiern auch alle Nachbarländer von Belarus die Sommersonnenwende, die in Litauen und Lettland sogar ein staatlicher Feiertag ist. Doch nun hinein in die wundersame Welt der Hexen und Zauberer, der magischen Feuer und Kräuter: Kupalle.2  

    „In einer weiteren Pflanze laufen die Fäden verschiedener Kupalle-Mythen zusammen: in der Farnblüte. Es heißt, der Farn blühe um Mitternacht und nur für einen Augenblick, dafür leuchtend hell wie Feuer.“ / Illustration © Anna I.

    Der längste Tag, hellstrahlende Sonne und die kürzeste Nacht, die nach der Sonnenwende sekündlich und minütlich das Tageslicht wieder schluckt. Dieses augenfällige astronomische Phänomen inspirierte die archaischen Gesellschaften zu einer ganzen Reihe ritueller Handlungen, durchaus durchdacht. In allen, ausnahmslos allen Sonnenkalendern der Welt sind die Sonnenwenden vermerkt. Und die meisten Feiertage des Christentums basieren auf dem Sonnenkalender. Zur Wintersonnenwende, wenn die Tage wieder länger werden, wird die Geburt Jesu Christi gefeiert. Genau ein halbes Jahr später, ungefähr zur Sommersonnenwende, wenn die Tage wieder kürzer werden, feiert man die Geburt von Johannes dem Täufer, der Gottes Sohn mit einem Bad (baden = belaruss. kupazza > Kupalle) im Jordan getauft hat. In der Heiligen Schrift schreibt Johannes der Täufer über sich und Jesus sogar: „Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen“ (Johannes 3:30).

    Johannes der Täufer als christlicher Pate von Kupalle

    Dabei ist es unverzichtbar, den christlichen Strang dieses anscheinend völlig vorchristlichen Ritus zu verfolgen. In der Iwan-, Jan-, Johann-Linie erkennen wir eine logische Fortsetzung ritueller Aspekte. Diese machen die traditionelle Weltanschauung der Belarussen deutlich, nämlich das Volkschristentum: Hier fügen sich neue Figuren und Ideen organisch in alte Schemata ein und ergänzen das „unzulässige Heidentum“, das sie somit auch sozial legitimieren. Gerade die Verbindung zum heiligen Johannes und dem Motiv der Taufe sorgte gewissermaßen dafür, dass das Fest über die Jahrhunderte bewahrt und weiterentwickelt wurde.
           
    Die archaischen Wurzeln bestehen bis zum heutigen Tag, man findet sie in nahezu jedem Brauch dieser wundersamen Nacht. Das zentrale Element dabei ist das Kupalle-Feuer – es kann ein Lagerfeuer sein oder ein brennendes Rad. „Gott selbst hat das Feuer entfacht“, heißt es in einem Kupalle-Lied. Der Text hebt das irdische Fest gewissermaßen auf eine überirdische Ebene. So wird das Kupalle-Feuer zum Symbol für das heilige kosmische Urfeuer, jenen ursprünglichen Eros, der in der mythologischen Entstehungsgeschichte Himmel und Erde in leidenschaftlicher Umarmung vereinte. Auch heute noch wird das „lebendige“ Feuer für die Kupalle-Mysterien auf althergebrachte Art mithilfe von Zündstein und Schlageisen oder gar durch Aneinanderreiben zweier Holzstücke – wie zwei Leiber – entfacht. Auf dass die Flamme des kosmischen Begehrens die verblühende Welt in neue Bahnen transformiere. Auf dem Höhepunkt von Entwicklung, Vereinigung und Harmonie verschmelzen die vier Elemente (Feuer und Luft – männlich, Wasser und Erde – weiblich) zu einem Ganzen. 

    Wenn Kupalka in der Nacht auf Besuch geht

    Kindern erklärt man das auf einer Stange entzündete Rad gern als Symbol der Sonne. Doch zugrunde liegt ein tieferer, ebenso anschaulicher Sinn. Die Geometrie des Rades symbolisiert das weibliche Prinzip und die Idee der Vollkommenheit der Welt, während der brennende Baumstamm oder der Stab für das männliche Prinzip steht. So finden wir in dieser brennenden Achse eine erstaunliche Konsistenz von Idee und Bild und folglich die Interpretation des Kupalle-Festes als Vereinigung von Mann und Frau, Himmel und Erde, Feuer und Wasser. Erst wenn wir dieses Ereignis als Verschmelzung der beiden Prinzipien zu einem Androgyn begreifen, verstehen wir die Lieder, in denen Kupalka mal bei dem Mädchen Auginka oder Axinka schläft, mal bei dem Jungen Maximka oder Zjareschka. Oder sogar bei Iwan selbst: „Die Leute standen da und staunten, dass Iwan und Kupalka verliebt waren.“ Der erotische Aspekt der Kupalle-Bräuche wird dann fortgesetzt, mit rituellen Vorwürfen an die unverheiratete Jugend, wenn Pärchen dann paarweise übers Feuer springen, und Wahrsagerinnen den Mädchen über ihren zukünftigen Bräutigam Auskunft geben. 

    Rund um Kupalle finden wir ein noch rätselhafteres und unglaublicheres Liebesmotiv. Balladen erzählen von einer wundersamen Begebenheit: Eine Witwe bringt zwei Söhne zur Welt, die sie in Windeln wickelt und „auf die Donau schickt“; es vergehen 17 Jahre, und eines Tages legt ein Schiff mit zwei jungen Männern an; die Zwillingsbrüder werben um ihre Mutter und ihre jüngere Schwester. Wissenschaftler haben versucht, diese Ballade in dem Kontext zu deuten, dass Kupalle in der Zeit gefeiert wird, in der die Sonne im Sternbild der Zwillinge steht (20. Juni bis 20. Juli). Erstaunt stellten sie direkte Parallelen zur hethitischen Legende der Königin von Kaneš fest, denn auch da werden von einer Witwe geborene Zwillinge ins Wasser ausgesetzt, kehren zurück, werden nicht wiedererkannt und heiraten ihre Mutter/Schwester, um eine neue Dynastie zu gründen. 
    Doch zwischen der Beschriftung der Tafeln mit dem hethitischen Mythos und den ersten Spuren des belarussischen Narrativs liegen viertausend Jahre! 

    Solche Übereinstimmungen zeugen von der Beständigkeit traditionellen Kulturguts und davon, dass viele seiner für uns nicht mehr ganz verständlichen Bilder und Handlungen kein Zufall sind. Nur mehr Kupalle-Blumen wie der Wachtelweizen und das Ackerveilchen erinnern an die Zeit, als Zwillinge eine kulturelle Rolle spielten. 

    Kupalle als Fest der Blumen und Kräuter

    In einem nicht minder populären Balladenzyklus findet der Bruder keine Bessere als seine Schwester, aber sie zieht einer Hochzeit den Tod vor. Kein Wunder, war doch eine neue Zeit angebrochen, in der Inzest tabu war. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich in Pflanzen zu verwandeln. Oder Bruder und Schwester werden als Kinder getrennt, erkennen einander nicht, entdecken ihre Blutsverwandtschaft und werden zu einem blau-gelben Blümchen:

    Die Mädchen werden beim Blumenpflücken
    an Schwester und Bruder denken:
    Diese blühenden Kräuter
    waren einst Brüderchen und Schwesterchen.

    Kupalle wird häufig als Fest der Blumen und Kräuter bezeichnet, weil es in die Zeit fällt, in der Pflanzen für medizinische und rituelle Zwecke gesammelt werden. Tatsächlich ist zur Sommersonnenwende die Vegetation am Höhepunkt ihres Grünens und Blühens, allerdings hat der Zeitpunkt der Ernte in der Morgendämmerung des Festtags keinen nachweisbaren Einfluss, wie jeder Botaniker bestätigt. Es geht um etwas anderes, nämlich ihre Verbindung zu den Gottheiten.
    Auch später, in der christlichen Geschichte, werden Pflanzen mit Heiligen assoziiert, etwa in der Legende vom Johanniskraut, das auf Belarussisch swjatajannik heißt, also ebenfalls nach dem heiligen Johannes benannt ist: Angeblich wächst es an Stellen, wo sein Blut versickert ist. Nicht zu vergessen auch, dass die Kupalle-Kräuter am Johannes-Tag in der Kirche geweiht und im Herrgottswinkel aufbewahrt werden, um sie in kritischen Situationen griffbereit zu haben.

    Vom heiligen Johanniskraut zum Zauber der Farnblüte

    In einer weiteren Pflanze laufen die Fäden verschiedener Kupalle-Mythen zusammen: in der Farnblüte. Es heißt, der Farn blühe um Mitternacht und nur für einen Augenblick, dafür leuchtend hell wie Feuer. Er werde von Geistern, Teufeln und sonstigen Sagenwesen bewacht. Wem es gelinge, diese Blüte zu pflücken, dem werde ein ganz besonderes Glück zuteil. Doch gerade dieses vielversprechende Wort „Glück“ gibt uns Rätsel auf. Oft ist damit Reichtum gemeint, denn in manchen Versionen eröffnen sich dem Eroberer der Blume unterirdische Schatzkammern. In den volkstümlichen Überlieferungen jedoch verleiht die Blume ein ansonsten unzugängliches Wissen. Man beginnt, die Sprache der Tiere zu verstehen, das Flüstern der Bäume und Gräser. Man lernt die Heilkräfte der Pflanzen kennen, die dem gewöhnlichen Auge verborgen bleiben, und wird zu einem Heiler. Mit einem Wort, Welten tun sich auf.

    Die Suche nach dem Kupalle-Wunder ist wie die Reise ins gelobte Land

    Legenden ranken sich um die enormen Gefahren, die die Suchenden auf sich nehmen. Mal ragt eine grüne Schlange mit einem Hahnenkopf aus den Kletten, mal fliegt eine Hexe mit schwingendem Besen durch die Lüfte, gefolgt von geflügelten Katzen und allerlei Ausgeburten der Hölle. Oder Drachen. Der Weg der Farnblüte ist von grauenerregenden Heimsuchungen gesäumt. In den meisten Versionen kann die Blüte zufällig im Schuh eines armen Hirten landen, der daraufhin die Sprache der Natur versteht. Doch auch in diesem Fall begegnet dem Glückspilz eine „finstere Gestalt“, die ihn bedrängt, seine ramponierten Strohschuhe gegen neue Stiefel zu tauschen. Ist es nicht paradox? Den Schlüssel zum heiligen Wissen hat immer der Teufel … Und er will ihn keinem Menschen geben. Betrachten wir das mal von einer anderen Seite. Die Suche nach dem Kupalle-Wunder ist wie die Reise ins gelobte Land. Der Mensch weiß von den Möglichkeiten, die sich ihm eröffnen können, wenn er der Blume habhaft wird, in den Legenden kann er sogar einige Zeit an dem Wunder teilhaben, ohne davon zu wissen, doch nie kann er es ganz besitzen. 

    Möglicherweise ist die Moral der Farnblütenlegende, dass dem Menschen nur der Weg zu Glück und Erfolg gegeben ist, ein Festhalten daran für immer ihm jedoch verwehrt bleibt. Der Mensch trachtet mit seinem Streben, alle Geheimnisse und die Sprache des Weltgefüges zu verstehen, nach Ebenbürtigkeit mit Gott, dem Schöpfer. Doch das zerstört die ursprüngliche Hierarchie; die kosmische Ordnung, die zu Anbeginn der Welt festgelegt wurde, geht in die Brüche, und überall breitet sich Chaos aus. In solchen Farben wird eben auch das Pflücken der Blüte beschrieben – als kataklysmisches Ereignis. Allein durch ihre Existenz oder ihr Nicht-Blühen tritt die Farnblüte als Hüterin der Grenze zwischen den Welten auf.

    Wahrsagerei mit sozialer Ausprägung

    Das Verschwimmen dieser Grenze ist zentrales Thema der Kupalle-Zeit. Die Integrität des Kollektivs und die rituelle Bestrafung Abtrünniger (von ledig Gebliebenen bis zu Hexen und Zauberern) verweisen auf die wichtige Rolle, die Kupalle in der Regulierung des sozialen und kulturellen Raums spielt. Offene Grenzen zwischen den Welten verstärken den Wunsch, in die Zukunft zu spähen – es gibt eine Menge Wahrsagerei mit deutlicher sozialer Ausprägung: Wann wird geheiratet und wie viel bleibt noch an Lebenszeit. Heute staunen wir über die Bräuche unserer Ahnen, mit denen sie ihr Schicksal voraussagten: Wenn eine Blüte, die man gepflückt und zu Hause zwischen zwei Balken geklemmt hat, aufblüht, erwartet einen dieses Jahr Freude am Leben. Wenn nicht, dann … 

    Doch die Jugend ist jung, und es ist im Interesse des Kollektivs, an sie zu denken. Deswegen tun sich die Jungen zu Paaren zusammen, festigen ihre Verbindung beim Sprung übers Feuer, zeugen Kinder, feiern Hochzeit, wählen Zaren und Herrscher. Auf dass das Leben der Menschen und des Kollektivs weitergehe. Aufgrund dieser sozialen Funktion bleibt Kupalle auch in der modernen Gesellschaft fest verankert. Hier geht es nicht vorrangig um Ernte oder Nachwuchs (dafür gibt es andere Brauchtümer), hier geht es um die Fortsetzung der menschlichen Welt und die Beibehaltung ihrer Ordnung. Daher auch um das Abschütteln von Veraltetem, Abgetragenem (im Kupalle-Feuer wird ja auch Gerümpel verbrannt, das man aus dem ganzen Dorf zusammenträgt). Wie jeder „Grenz-Feiertag“ ist auch Kupalle ein Tag, an dem der Grat zwischen den Welten so dünn wird, dass die jeweiligen Bewohner hin- und herwandern, miteinander kommunizieren, ihre wahre Natur zum Vorschein bringen. An dem deutlich wird, dass die Trennung in irdischen und jenseitigen Raum nicht zwingend ist. 

    Junge Menschen tanzen um ein Feuer während der Feierlichkeiten zum Iwan-Kupala-Tag, die vom Belarussischen Staatlichen Museum für Volksarchitektur und ländliche Lebensweise im Dorf Oserzo in der Nähe von Minsk veranstaltet werden. / Foto © Natalia Fedosenko/TASS/imago-images

    Geister, Dämonen, Kurzzeithexen und Wassernixen im Kornfeld

    Obwohl auch von Geistern und Dämonen erzählt wird, räkeln sich zu Kupalle auch Wassernixen ungeniert in den reifenden Kornfeldern. Nein, die beiden Welten verfügen lediglich über eine mentale Grenze und bestehen problemlos nebeneinander. Denn die Dorfhexe ist einfach eine Nachbarin, deren besondere Fähigkeiten nur in dieser Nacht ihre Kraft entfalten: Sie sammelt, was auf fremden Feldern und in den Ställen der Nachbarn gedeiht, mit einer Milchseihe ein, bis aus dieser Milch zu tropfen beginnt, verwandelt sich in eine Kröte, geht aufrecht wie ein Mensch in die Scheune und saugt den Kühen die Milch aus. Was dann kommt, ist ein bisschen wie im Horrorfilm, obwohl solche Geschichten auch heute noch gern die Runde machen: Erwischt man so ein Scheusal und fügt ihm sichtbare Schäden zu, ohne es aber zu töten, so sieht man tags darauf bei jemandem aus dem Dorf gebrochene Arme, ein geschwollenes Auge und dergleichen. So funktioniert die Erziehung der Gesellschaft, indem man den Übeltäter öffentlich zur Schau stellt! Soll er sich doch schämen und bessern …

    In manchen belarussischen Regionen steht die symbolische Reinigung des Kollektivs im Vordergrund, das Loswerden nicht nur von altem Zeug, das im Feuer verbrennt, sondern auch von potenziellen Übeltätern. Auch sie werden verbrannt, wie es früher in ganz Europa üblich war. Heute werden sie nur mehr symbolisch den Flammen übergeben, als Puppe – leider in Gestalt einer Frau mit einem Kopftuch … Sie heißt Mara oder Marena, manchmal auch Baba Jaga. Die Hexer des Dorfes können sich, so die Idee, auch selbst entlarven, indem sie nicht zum Kupalle-Feuer kommen oder indem sie versuchen, glühende Kohlen daraus zu entwenden. Auch deswegen wird bei den Feierlichkeiten so aufmerksam auf die Vollständigkeit des Kollektivs geachtet: Alle müssen hin, und wer sich weigert, der – so heißt es in einem Lied – „soll umfallen wie ein Baumstamm und seine Kinder wie Holzscheite“ … Die gesellschaftliche Einheit an diesem kosmischen Umbruch bestimmt eben auch den Zusammenhalt für das kommende Jahr – bis zum nächsten Kupalle.        

    In Belarus das beliebteste Fest des Jahres

    Das Kupalle-Fest hatte historisch gesehen Glück. Mit seiner außergewöhnlichen Tiefe und der Verankerung durch christliche Allusionen blieb es auch in der Sowjetzeit lebendig und wurde von den Kulturfunktionären aktiv gepflegt. Nicht ohne ideologische Adaptionen allerdings: Erotik und Hexenglauben wurden abgemildert, der Akzent auf ein Sonnen- und Blumenfest gesetzt, und jegliche Assoziationen zur Taufe wurden getilgt. Doch noch spannender ist, was im postsowjetischen Belarus aus Kupalle wurde – nämlich das beliebteste und „belarussischste“ Fest des Jahres, das tatsächlich auch in jenen Gegenden Schwung aufnahm, in denen es vorher weniger Beachtung fand. Der moderne Belarusse kann sich mit dem Bäuerlichen, der Ernte, dem Dorf – lauter Themen, von denen die anderen Bräuche voll sind – nicht mehr so stark identifizieren. Die heutige Attraktivität von Kupalle liegt in dem Mysterium der kosmischen Ehe und der irdischen Liebe, die immer und für alle relevant sein wird. Wie auch am Etikett „das belarussischste“ Fest zu sein.


    ANMERKUNG DER REDAKTION:

    Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.


    1. Die Ungenauigkeit im Datum hat mit der Kalenderreform von 1582 zu tun, als die katholische Kirche den neuen europäischen Gregorianischen Kalender übernahm, der den astronomischen Realien genauer entsprach. Die orthodoxe Kirche hingegen behielt den Julianischen Kalender bei. ↩︎
    2. Dem belarussischen Kupalle ist umfangreiche wissenschaftliche Literatur gewidmet, vgl. Lis A.S. Kupalskija pesni. Minsk 1974; Tawlai G.W. Belorusskoje Kupalje. Obrjad, pesnja, Minsk 1986; Walodsina T., Kucharonak T. “adranoje shyta haspadara klitscha…”: kaljandarny hod u abradach i swytschajach, Minsk 2015 ↩︎

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  • Alexander Lukaschenko

    Alexander Lukaschenko

    Im Jahr 2024 feiert Alexander Lukaschenko zwei runde Jubiläen: Seinen 70. Geburtstag und 30 Jahre im Amt. Er wurde 1954 geboren. Über seinen Vater ist nichts bekannt, seine Mutter, Melkerin in einer Kolchose, hat ihn allein aufgezogen. Sie lebten in Armut. Auf die Frage eines Journalisten: „Wie lebten Sie als Kind?“ sagte Lukaschenko, damals bereits Präsident: „Bettelarm war ich!“1 Allem Anschein nach wurde die alleinstehende Mutter von den Dorfleuten gepiesackt. Uneheliche Kinder waren damals gesellschaftlich nicht akzeptiert. Der Publizist Alexander Feduta, nunmehr aus politischen Gründen inhaftiert, beschreibt Lukaschenko folgendermaßen: „Wir haben es mit einem typischen komplexbehafteten Dorfjungen zu tun, vaterlos oder, wie es auf dem belarussischen Land heißt, ein bajstruk.“2  

    Wie schaffte es dieser Dorfjunge aus dem Osten von Belarus an die Spitze der Macht in seinem Land, die er als Diktator schließlich an sich riss? Wie gelang es Lukaschenko, ein System zu errichten, das die belarussische Gesellschaft bis heute unter Kontrolle hat? Waleri Karbalewitsch, Autor einer Lukaschenko-Biographie, über das autoritäre Machtgefüge in Belarus. 

    Der Weg zur Macht 

    Anhand der Bruchstücke, die Lukaschenko über seine ersten Lebensjahre preisgibt, gewinnt man keineswegs den Eindruck einer glücklichen Kindheit, ganz im Gegenteil. Wir sehen Neid auf andere Kinder, die mit mehr Wohlstand gesegnet waren, den Komplex eines zu kurz gekommenen Menschen. „Die 1950er Jahre waren eine schwere Zeit, eine furchtbare Not. Ich weiß noch, was für ein Kampf bei uns im Dorf herrschte. Wer stärker war, überlebte, Familien mit kräftigen Männern und Vätern hatten es leichter. Ich hab meinen Teil wegbekommen …“, sagte Lukaschenko.3 
     

    „Die junge Generation wählt Alexander Lukaschenko.“ Wahlwerbung zu den Präsidentschaftswahlen im Jahr 1994 / Foto © Archiv/Tut.by 

    Nach der Wahl zum Präsidenten im Jahr 1994 nahm Lukaschenko seine Frau bekanntlich nicht mit nach Minsk. Nach ein paar Monaten machte ein Witz die Runde, von dem böse Zungen behaupten, er sei die reine Wahrheit: Frau Lukaschenko habe auf die Frage von Nachbarn, warum sie ihm nicht hinterherfahre, geantwortet: „Ach, mein Saschka bleibt doch nie irgendwo länger als zwei Jahre.“ 

    Tatsächlich beeindruckt sein Lebenslauf, bevor er Präsident wurde, durch häufige Arbeitsplatzwechsel. Paradoxerweise ist der einzige Posten, den er jemals länger innehatte, das Präsidentenamt.  

    Die häufigen Jobwechsel zeugen von Lukaschenkos Unverträglichkeit. Fast überall war seine Tätigkeit von Konflikten begleitet. Seine Frau erinnerte sich: „Wo auch immer er war, immer und überall schlug er sich mit seiner Sturheit und Direktheit die Nase an. Natürlich war das störend. Misserfolge und Kränkungen vertrug er ganz schlecht.“4 Der psychologische Begriff hierfür ist Fehlanpassung, also, die Unfähigkeit, sich an soziale Normen anzupassen, die es in jeder Gesellschaft gibt. Das hinderte ihn daran, Karriere zu machen und im sowjetischen System ein hohes Amt zu ergattern. Er wirkte eher wie ein Außenseiter, ein Loser.  

    Doch mit Beginn der Perestroika, mit Glasnost und Demokratisierung, waren diese Charakterzüge, die ihm früher so im Weg gestanden hatten (weil sie zu Konflikten mit der Obrigkeit führten), plötzlich von Vorteil. In dieser Zeit des Kampfes gegen die Parteinomenklatur, die sich mit Händen und Füßen gegen Reformen sträubte, erfreuten sich mutige Akteure, die sich entschlossen zeigten, immer größerer Beliebtheit. Und Lukaschenko passte reibungslos ins Bild eines Kämpfers für Gerechtigkeit, eines Siegers über das System. Außerdem entdeckte er sein Talent zum Politiker, der in der Öffentlichkeit steht, vor Publikum spricht, dessen Aufmerksamkeit er bannt. Also stürzte er sich Hals über Kopf in die Politik, eine für ihn ganz neue Sphäre, in der er sich bald zu Hause fühlte. 1990 machte er den Schritt vom Direktor einer Provinz-Sowchose zum Abgeordneten des Obersten Sowjets der BSSR. Die Sitzungen dieses Machtorgans wurden damals live im Fernsehen übertragen. Lukaschenko trat häufig auf, hatte zu allen Themen etwas zu sagen. Bald kannte ihn das ganze Volk.  

    Wie so oft in der Geschichte ging es auch hier nicht ohne Zufall. Um einen politischen Höhenflug zu schaffen, muss einer auch zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde der Oberste Sowjet zum Parlament des unabhängigen Belarus, und Lukaschenko wurde zum Vorsitzenden einer parlamentarischen Kommission zur Bekämpfung der Korruption gewählt. Diesen Posten wusste er höchst effektiv für sich zu nutzen, nannte sich gar den obersten Korruptionsbekämpfer des Landes. Unter anderem deswegen konnte er bei den Präsidentschaftswahlen 1994 einen triumphalen Sieg einfahren. Lukaschenko war der Inbegriff des „Volkskandidaten“. Seine ganze Erscheinung, seine Kultur, seine Sprache und seine Art zu sprechen, das war dem Volk alles sehr nah und vertraut. Viele Menschen konnten sich mit ihm identifizieren. 

    Natürlich war er nicht sofort ein Diktator. Anfangs waren seine Reden von Enthusiasmus und dem aufrichtigen Wunsch geprägt, dem Volk zu dienen und das Land so schnell wie möglich aus der Krise zu führen. Er sagte: „Schweißausbrüche bereitet mir nur der Gedanke, die Versprechen nicht einlösen zu können, die ich den Menschen bei den Wahlen gegeben habe.“5 Für den Fall seines Scheiterns zog er sogar einen freiwilligen Rücktritt in Betracht. 

     

    Lukaschenko bei seiner Inauguration am 20. Juli 1994 im Obersten Sowjet, noch neben der weiß-rot-weißen Fahne, der damaligen Staatsflagge, die heute verboten ist.

    Machthunger und Gewaltenteilung 

    Bald nach seinem Amtsantritt stieß Lukaschenko auf das, was man Gewaltenteilung nennt. Völlig überraschend für ihn: Es gab ein Parlament und ein Verfassungsgericht, die ebenfalls einen Teil der Macht für sich beanspruchten. Für Lukaschenko war das inakzeptabel. In seiner Vorstellung ist wahre Macht nur absolute Macht. Der neue Präsident wies also ein allgemein anerkanntes Element der Demokratie wie die Gewaltenteilung, die Checks and Balances einer Regierung, entschieden von sich. 1996 verkündete er, das Prinzip der Gewaltenteilung sei „eine Bedrohung für unseren Staat“6 geworden. „Werft dieses Gleichgewicht, diese Balance und Kontrolle aus euren Köpfen!“; „Ich will, dass der Staat ein Monolith ist“7, sagte Lukaschenko. 

    Ganze zwei Jahre war er damit beschäftigt, andere Zentren der Macht zu beseitigen und zu zerstören. Das geschah unter anderem mithilfe eines gefälschten Referendums über eine neue Verfassung, das Politiker und Juristen einen Staatsstreich nannten. Ende 1996 hatte er ein personalistisches autoritäres Regime installiert, in dem nur eine einzige staatliche Institution tatsächlich Einfluss hat: Alexander Lukaschenko. Wahlen wurden zur Fiktion, die Opposition wurde aus allen staatlichen Einrichtungen geworfen, und der Staat erhielt das Monopol auf alle TV- und Rundfunksender.        

    Lukaschenkos dominanter Charakterzug, die Kernidee seiner Weltanschauung ist ein grenzenloser Machthunger, der vor nichts haltmacht. Allem Anschein nach ist dieses Streben nach Allmacht der Grund dafür, dass Lukaschenko sich strikt weigert, die Todesstrafe abzuschaffen oder ein Moratorium darüber zu verhängen. Denn das Recht, einen Menschen bis hin zur Tötung zu bestrafen oder auch zu begnadigen, galt schon in alten Zeiten als einer der wichtigsten Faktoren der Macht. Deswegen ist Belarus das einzige Land Europas, in dem die Todesstrafe zur Anwendung kommt. 

    An Lukaschenkos Äußerungen sieht man, dass für ihn die Frage nach der Macht eine Frage von Leben und Tod ist. Wenn er seinen Opponenten vorwirft, ihn seines Amtes entheben zu wollen, so ist das für ihn dasselbe wie ein Mordanschlag. Der Führer hat keinen Zweifel: Verliert er die Macht, rechnet er mit einem schrecklichen Gericht für sich. Ein Leben ohne Macht kann Lukaschenko sich nicht vorstellen: Es verliert seinen Sinn. Als er 2020 dem ukrainischen Talkmaster Dmytro Gordon ein Interview gab, sagte Lukaschenko auf die Frage, ob er nicht zurücktreten wolle: „Ich kenne ja nur diese Lebensart … Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Gut, also schön, ich bin nicht mehr Präsident – und was mach ich dann morgens nach dem Aufstehen?“8 An den kritischen Tagen der Massenproteste 2020 wiederholte Lukaschenko immer wieder, er werde an der Macht bleiben, solange er lebe. Bei einem Auftritt in der Radschlepperfabrik am 17. August 2020 verkündete er: „Solang ihr mich nicht umbringt, wird es keine anderen Wahlen geben.“9     

    Die Abgeordneten der BNF während des Hungerstreiks aus Protest gegen Lukaschenkos umstrittenes Referendum im Jahr 1996 / Foto © Archiv/Tut.by 

    Die Ideologie des Systems 

    Das Lukaschenko-Regime ist auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR das prosowjetischste. Lukaschenko betont immer wieder, dass seine Vorlage für den Aufbau eines Staats die sowjetische Gesellschaftsordnung sei, und Lenin und Stalin nennt er „Symbole unseres Volkes“10. Als Wappen und Fahne der Republik Belarus bestimmte er die Symbolik der zur Sowjetunion gehörigen BSSR in leicht abgeänderter Form. Die Namen von Straßen und Plätzen sowie die Denkmäler sind seit der Sowjetzeit unverändert geblieben. Belarus ist das einzige postkommunistische Land, in dem der KGB noch immer KGB heißt.  

    Lukaschenko lehnte von Anfang an die Ideologie des belarussischen ethnokulturellen Nationalismus ab. Mit Hilfe eines Referendums drängte er die belarussische Sprache an den Rand und tauschte die weiß-rot-weiße Flagge und das Wappen in Folge eines weiteren umstrittenen Referendums aus. Die staatliche Propaganda setzt belarussischen Nationalismus mit Nazismus gleich. Und das nicht nur, weil Lukaschenko Moskau nicht reizen will, dem jeglicher Nationalismus in seinen Nachbarländern ein Dorn im Auge ist. Lukaschenkos traditionelle Wählerschaft ist russischsprachig, für sie existiert ohnehin keine belarussische Identität. Sein wichtigster politischer Gegner war lange die Partei BNF mit ihren nationalistischen Losungen.  

    Der Hauptgrund für Lukaschenkos Aversion gegen Nationalismus ist aber, dass man damit eine Gesellschaft mobilisieren kann. Er formt eine Zivilgesellschaft, fördert horizontale Verbindungen, stimuliert die Solidarität. Lukaschenko aber braucht eine atomisierte Bevölkerung, die nur durch staatliche Institutionen zusammengehalten wird. Er braucht keine Gesellschaft als selbständiges Subjekt, das Verantwortung für das Schicksal ihres Landes übernimmt. 

    Insgesamt kann man wohl sagen, dass dieses System keine greifbare Ideologie zu bieten hat. Die Narrative der Propaganda sind eklektisch, da mischen sich Elemente der sowjetischen Vergangenheit mit Ideologemen von Russki Mir, mit der Ablehnung von Liberalismus und westlichen Werten und so weiter. In gewissem Sinne ist dieser Mangel an Ideologie dem Regime sogar zuträglich, denn so kann es seine politische Linie je nach Konjunktur verändern. In Belarus gibt es keine Regierungspartei, die eine faktische Macht ausübt. Denn Lukaschenko hatte immer die Sorge, sie könnte eine von ihm unabhängige Elite konsolidieren. 

    Gründe für die lange Herrschaft 

    Wie ist es Lukaschenko gelungen, so lange an der Macht zu bleiben? Hier sind mehrere Faktoren zu bedenken. Erstens entsprach das belarussische Gesellschaftsmodell lange Zeit den Bedürfnissen und Vorstellungen, die die Mehrheit der Bevölkerung in Bezug auf Politik hatte. Es basierte auf staatlicher Dominanz in Wirtschaft und Sozialwesen – ein wirksames Instrument zur Kontrolle über die Gesellschaft, zur Umgehung der Gewaltenteilung und zur Herrschaft eines Einzelnen –, auf einer Partnerschaft mit Russland und einem Konflikt mit dem Westen. Der Großteil der Bevölkerung (Staatsbedienstete, Angestellte staatlicher Betriebe, Rentner) war finanziell vom Staat abhängig. Die Hemmung marktwirtschaftlicher Reformen führte zur Konservierung sozialer Strukturen.  

    Zweitens spielte Lukaschenkos ausgeprägte politische Intuition eine Rolle, sein angeborenes Gespür, mit dem er das richtige Vorgehen oder eine Bedrohung erkennt, sein Charisma und auch sein Populismus, sein Talent, zum Volk in einer für sie verständlichen Sprache zu sprechen. Dem politischen Triumph des Diktators liegt in hohem Maße seine erstaunliche Fähigkeit, ja geradezu Kunstfertigkeit zugrunde, die Menschen zu manipulieren. Er ist ein begabter Schauspieler mit vielen Rollen im Repertoire, ein faszinierender Verwandlungskünstler. Je nachdem, wem er gerade gefallen will, kann er äußerst liebenswürdig sein. Seinen hauseigenen Stil macht aus, dass er bei ein und derselben Gelegenheit, oft sogar im selben Satz, widersprüchliche, manchmal sogar einander ausschließende Thesen formuliert. Und jeder Zuhörende hört das heraus, was ihm lieber ist, was ihm besser gefällt. 

    Drittens hat Lukaschenko alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden, sie beeinflussen nichts, und ihr Ergebnis ist im Voraus bekannt. Auf legalem Weg kann es in Belarus keinen Machtwechsel mehr geben. Und zu einer Revolution war die belarussische Gesellschaft vor 2020 nicht bereit. Außerdem hat Lukaschenko jede politische Konkurrenz in den Machtorganen verunmöglicht. Sobald irgendein Beamter an politischer Bedeutung gewann, wurde er seines Amtes enthoben.    

    Lukaschenko hat alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden /Foto © Natalya Talanova/Tass Publication/Imago

    Lukaschenkos politische Stütze ist der Staatsapparat. Während der akuten politischen Krise im Jahr 2020 kam es nicht zu einer Spaltung der Eliten, was eine wichtige Bedingung für den Sieg der Revolution gewesen wäre. Und zwar deswegen, weil es in Belarus keine einzige staatliche Institution gibt, die vom Volk gewählt wird, dem Volk Rechenschaft schuldet, vom Volk kontrolliert wird.  

    Und natürlich verlässt sich Lukaschenko auf seine Silowiki. Daraus macht er auch keinen Hehl: „Die Vertikale ist stabil. Sie stützt sich auf den KGB und das MWD11. „Der KGB ist die Basis für eine starke Präsidialmacht.“12 

    Viertens kann das wirtschaftlich ineffiziente belarussische Gesellschaftsmodell nur dank der Unterstützung aus Russland überleben. In manchen Jahren betrug die russische Wirtschaftshilfe rund 15 bis 20 Prozent des belarussischen BIP.  

    Der Ego-Kult 

    Lukaschenko hat ein Selbstbild, als verfügte er über übernatürliche Fähigkeiten. Er suhlt sich in Größenwahn und Überlegenheitsgefühl. Immer wieder erzählt er bei öffentlichen Auftritten Geschichten davon, wie jahrelang bettlägerige Kranke dank ihm, dem Führer, wieder gesund wurden. So erzählt er über Boris Jelzin, den ehemaligen Präsidenten Russlands: „In Jelzins Umfeld hieß es immer: Boris Nikolajewitsch fehlt irgendwie der Elan, wir sollten wieder mal den belarussischen Präsidenten einladen. Der verleiht dem russischen Präsidenten dann wieder für drei, vier Monate Flügel. Es hieß, Jelzin würde von mir eine ordentliche Ladung Energie bekommen.“13 Lukaschenko begann von sich zu sprechen wie von einem Heiligen: „Ich bin makellos“14; „Ich bin der (seelen)reinste Präsident der Welt!“15 

    Die bizarrsten Formen nimmt Lukaschenkos Drang zum Größenwahn an, wenn er an Sportwettkämpfen und Eishockeyspielen teilnimmt und immer den Sieg davonträgt. Sein Kindheitstraum, Sportstar zu werden, ein Idol für Tausende Fans, die ihn von den Tribünen herunter bejubeln, wird nun auf groteske Weise wahr. Dank der staatlichen Behörden sind diese Wettkämpfe Ereignisse von nationaler Bedeutung. Es werden Unsummen ausgegeben, um berühmte Sportler einzuladen. Und um den Präsidenten mit vollbesetzten Tribünen zu erfreuen, werden Schüler und Studenten vom Unterricht befreit und reihenweise unter Aufsicht ihrer Lehrer ins Stadion oder in die Eishalle gekarrt. Die ganze Führungsriege des Landes wohnt solchen Events bei. Und die staatlichen Medien berichten darüber mit einer Ernsthaftigkeit, als ginge es um wichtige politische Nachrichten.  

    Lukaschenkos Hang zum Populismus und der Wunsch, seiner anspruchslosen Wählerschaft zu gefallen, führen dazu, dass er nie ein Blatt vor den Mund nimmt und Sachen sagt, die so gar nicht zu einem Staatsoberhaupt passen. Sein politischer Stil lässt sich nicht ins Konzept von Political Correctness zwängen.     

    Ein Protestmarsch im August 2020 in der belarussischen Hauptstadt Minsk / Foto © Homoatrox/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0

    Das Jahr des Umbruchs  

    Zu Beginn seiner Präsidentschaft wurde Lukaschenko tatsächlich von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Doch während seiner 30-jährigen Amtszeit ist eine neue Generation herangewachsen. Die Massenproteste 2020 zeigten, dass das archaische sozioökonomische und politische System sowie die autoritären Regierungsmethoden bei den meisten Leuten Abscheu erregen. In Belarus haben wir heute auf der einen Seite eine immer moderner werdende Gesellschaft, die auf Veränderungen abzielt und sich vom staatlichen Paternalismus befreien will, und auf der anderen Seite die Staatsmacht, die am Status quo festhält. Die Gesellschaft wächst über den Staat hinaus, in dessen Rahmen es ihr zu eng geworden ist. Doch Lukaschenko merkt nicht einmal, dass er und sein Land in unterschiedlichen historischen Epochen leben.

    Und auch hier ist passiert, was praktisch allen Diktatoren passiert, die zu lange an der Macht sind: Die Staatsmacht hat den Draht zur Gesellschaft verloren. Im Laufe dieser 30 Jahre hat Lukaschenko es nicht geschafft, mit seinem Volk und dessen Problemen wirklich in Berührung zu kommen. Begegnungen mit der Bevölkerung werden gründlich vorbereitet und durchinszeniert, die Teilnehmer sorgfältig ausgewählt. So verliert selbst ein talentierter Politiker das Gefühl für das Volk. Seine Wahrnehmung der Welt wird inadäquat. Und dann sind ihm in Krisenzeiten, sei es aufgrund der Covid-Pandemie oder im Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen, ein Fehler nach dem anderen unterlaufen. In jenem denkwürdigen Jahr 2020 traf er die schlechtesten aller möglichen Entscheidungen. Zum Beispiel ließ er alle Präsidentschaftsanwärter, die ihm gefährlich werden konnten, verhaften, die vermeintlich „schwache“ Swetlana Tichanowskaja jedoch kandidieren, in der festen Überzeugung, es würde sowieso keiner eine Frau wählen, schon gar nicht eine Hausfrau. Der Protest wurde mit roher Gewalt niedergeschlagen. Lukaschenko erlitt selbst wohl ein psychisches Trauma: Zerstört war sein Image als „Volkspräsident“, das er jahrzehntelang so gepflegt hatte. Dabei hatte er ernsthaft an seine Mission geglaubt, das Volk zu vertreten. „Ich glaube, dass nichts und niemand in der Lage ist, einen Keil zwischen den Präsidenten und das Volk zu treiben, das ihn gewählt hat“16, sagte er mal zu Beginn einer neuen Amtszeit.   

    Wahrscheinlich dachte er, sein Volk hätte sich von ihm abgewandt. Hatte er doch in den letzten Jahrzehnten immer wieder seine enge Beziehung zum belarussischen Volk betont. Als die Proteste gegen ihn begannen, hatte Lukaschenko ein paar Wochen lang Angst, im Auto durchs Land zu fahren, und flog mit dem Hubschrauber. Als sich seiner Residenz eine Menschenmenge näherte, zog er sich eine kugelsichere Weste an, nahm ein Maschinengewehr, stieg mit Sohn Kolja in einen Hubschrauber und flog von dannen. Die Bilder des flüchtenden Präsidenten sah ganz Belarus. 
     

    Lukaschenkos Rache: Oppositionelle wie Maxim Snak und Maria Kolesnikowa wurden zu drakonischen Haftstrafen verurteilt / Foto © Imago/Itar-Tass

    Die erlittene seelische Verletzung drängte auf Revanche. Diese entlud sich in politischem Terror. In Belarus gibt es heute rund eineinhalb tausend politische Gefangene. Es gibt Folter. Im ganzen Land gibt es weiterhin Razzien, Verhaftungen und Strafverfahren. Die Menschen werden nicht wegen oppositioneller Tätigkeiten festgenommen, sondern weil sie eine andere Meinung haben und entsprechende Kommentare oder auch nur Likes in sozialen Netzwerken hinterlassen. Viele Oppositionelle werden zu Haftstrafen von über zehn Jahren verurteilt, wie es unter Stalin üblich war. Lukaschenko gibt offen zu, dass auf seinen Befehl hin Verwandte von Oppositionellen oder politischen Häftlingen verfolgt werden. Die Evolution eines autoritären hin zu einem totalitären System läuft. Um an der Macht zu bleiben, unterstützt Lukaschenko in vollem Umfang Russland im Krieg gegen die Ukraine und macht Belarus damit zum Beteiligten der Aggression. Für die Präsidentschaftswahlen 2025 hat Lukaschenko seine abermalige Kandidatur bereits angekündigt.


    1. Imja, 6. November 1997 ↩︎
    2. Belorussija i Rossija: obschtschestwa i gossudardstwa, Moskau 1998, S. 260 ↩︎
    3. Sowerschenno sekretno, 1997, Nr 9 ↩︎
    4. Nemiga, 2000, Nr. 2, S. 35 ↩︎
    5. Sowetskaja Belorussija, 1. September 1994 ↩︎
    6. Femida, 22. Januar 1996 ↩︎
    7. Swaboda, 12. November 1996 ↩︎
    8. https://news.tut.by/economics/695690.htm ↩︎
    9. Nasha Niva: Abstrukcyja, zroblenaja Lukašėnku rabotnikami MZKC, stala najmacnejšym psichalagičnym udaram ↩︎
    10. Komsomolskaja prawda w Belorussiji, 20. Juni 2006 ↩︎
    11. Femida, 1995, Nr. 3 ↩︎
    12. Belorusskaja delowaja gaseta, 23. Dezember 1996 ↩︎
    13. Sowerschenno sekretno, 1997, Nr. 9 ↩︎
    14. Belorusskaja delowaja gaseta, 6. März 2002 ↩︎
    15. Fernsehauftritt am 17. September 2002 ↩︎
    16. Sowetskaja Belorussija, 20. Oktober 1996 ↩︎

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