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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Bystro #15: Warum ist Belarus wichtig für den Kreml?

    Bystro #15: Warum ist Belarus wichtig für den Kreml?

    Wird der Kreml das schwächer werdende Lukaschenko-Regime stabilisieren, oder eher auf einen neuen Kandidaten seines Vertrauens setzen? Ist es denkbar, dass Moskau in Belarus genauso interveniert, wie 2014 in der Ukraine? Was sind überhaupt Russlands Interessen in Belarus, und was denken die Menschen übereinander? Ein Bystro von Astrid Sahm in sechs Fragen und Antworten – einfach durchklicken.

    1. Wie bewertet der Kreml das Geschehen in Belarus? Politische Unruhen oder gar ein Machtwechsel können Putin doch nicht gleichgültig sein?

    2. Alles, was in Belarus derzeit passiert (und passieren kann), sei für Putin eine Win-Win-Situation. Auf diese Formel bringen es zahlreiche unabhängige Beobachter. Was steckt hinter dieser Einschätzung?

    3. 1999 schlossen Belarus und Russland einen Vertrag über die Schaffung eines Unionsstaats ab. Was steht da drin – und ist das mehr als ein Papiertiger?

    4. Wie schaut die russische Gesellschaft auf Belarus? Ist das Land in seiner Bedeutung für die russische Geschichte ähnlich aufgeladen wie etwa die Krim – die Russland 2014 angegliedert hat?

    5. Und umgekehrt: Wie steht man in Belarus zu Russland? Sind die Beziehungen zwischen den Ländern überhaupt Thema der Opposition oder bei den Protesten?

    6. Einige russische Beobachter halten es für denkbar, dass Russland in Belarus genauso interveniert, wie 2014 in der Ukraine. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit für dieses Szenario?


     

    1. Wie bewertet der Kreml das Geschehen in Belarus? Politische Unruhen oder gar ein Machtwechsel können Putin doch nicht gleichgültig sein?

    Der Kreml ist wie viele andere Akteure von den aktuellen Entwicklungen in Belarus überrascht worden. Ein Sieg Alexander Lukaschenkos bei der Präsidentschaftswahl am 9. August galt in Moskau stets als sicher. Dementsprechend gratulierte Wladimir Putin Lukaschenko bereits einen Tag später zu seiner Wiederwahl. Auf die wachsende gesellschaftliche Protestbewegung und das gewaltsame Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen die Demonstranten reagierte der Kreml zunächst zurückhaltend. Dies änderte sich erst am vergangenen Wochenende. Hierfür gibt es zwei Gründe: 1. Lukaschenko zeigte sich nicht in der Lage, die Situation unter Kontrolle zu bringen; 2. Moskau sieht seine geopolitischen Ansprüche seit der Verlautbarung von Vermittlungsangeboten aus Lettland, Litauen und Polen bedroht. Der Kreml verwahrt sich daher gegen jegliche Einmischung durch die EU oder die USA in Belarus. Nur wenn seine geopolitischen Interessen gewahrt blieben und kein innenpolitischer Fallout droht, könnte der Kreml einem Machtwechsel in Belarus zustimmen. Ein vorsichtiger Hinweis auf eine Kompromisssuche ist, dass Russlands Außenminister Lawrow am 19. August die belarussischen Wahlen als „nicht ideal“ bezeichnete und die Bereitschaft der Staatsführung zum Dialog mit ihren Bürgern hervorhob.


    2. Alles, was in Belarus derzeit passiert (und passieren kann), sei für Putin eine Win-Win-Situation. Auf diese Formel bringen es zahlreiche unabhängige Beobachter. Was steckt hinter dieser Einschätzung?

    Dies sehe ich anders. In Moskau ist man schon lange unzufrieden mit der Politik des belarussischen Präsidenten. Alexander Lukaschenko wollte sich bei den diesjährigen Wahlen als Garant der belarussischen Souveränität präsentieren. Bereits während der Covid-19-Pandemie, auf welche die Staatsführungen beider Länder ganz unterschiedlich reagierten, äußerte sich Lukaschenko kritisch über russische Einmischungsversuche. Auch im Wahlkampf gab es etliche russlandkritische Äußerungen. Der Höhepunkt war die offensichtlich inszenierte Verhaftung von 33 Söldnern der russischen Sicherheitsfirma Wagner in einem Sanatorium bei Minsk. Allerdings schloss Lukaschenko den Kreml explizit aus dem Vorwurf aus, russische Akteure würden versuchen, die Lage in Belarus zu destabilisieren. Der Kreml hielt sich daher mit Kommentaren zurück. 
    Die Annahme war, dass Lukaschenko aus der Präsidentschaftswahl so geschwächt hervorgehen würde, dass er gezwungen wäre, die russischen Integrationspläne zu akzeptieren. Stattdessen sieht sich der Kreml nun mit dem Risiko konfrontiert, die Kontrolle über Belarus zu verlieren. Hält sich Lukaschenkо an der Macht, kann er Moskau zwar nicht länger mit einer Westwende drohen. Allerdings dürfte dies antirussische Stimmungen in der belarussischen Gesellschaft stärken. 
    Im Falle eines Machttransfers ist unsicher, ob der Kreml einen Kandidaten seines Vertrauens lancieren kann. Zudem würde nach innen das Scheitern seiner bisherigen Belarus-Politik offensichtlich, da erneut eine „Revolution“ in der Nachbarschaft nicht verhindert werden konnte. Moskau steht daher vor einem Dilemma.


    3.1999 schlossen Belarus und Russland einen Vertrag über die Schaffung eines Unionsstaats ab. Was steht da drin – und ist das mehr als ein Papiertiger?

    Der Vertrag sieht unter anderem eine gemeinsame Verfassung, Währung, Zollbehörde, ein gemeinsames Gericht und einen Rechnungshof vor. Vor dem Hintergrund der Gründung der Eurasischen Wirtschaftsunion hatte die bilaterale Integration jedoch in den letzten Jahren an Bedeutung verloren. Erst Ende 2018 wurden die Pläne zum Aufbau des Unionsstaats überraschenderweise vom Kreml wieder aus der Schublade geholt. Im Laufe des Jahres 2019 verhandelten beide Seiten über 30 Integrationsfahrpläne. Besonders umstritten war die Roadmap Nr. 31, die die Gründung von supranationalen Organen vorsah. Aus diesem Grund wurde die für Dezember 2019 geplante Unterzeichnung des Integrationspakets verschoben. Allgemein wird angenommen, dass dem Kreml an der Bildung supranationaler Organe vor allem deshalb gelegen war, um eine Option für eine Führungsrolle Putins über 2024 hinaus zu haben. Diese Notwendigkeit ist nun entfallen mit der russischen Verfassungsänderung, die unter anderem eine Aufhebung der Amtszeitbegrenzung für Wladimir Putin vorsieht. Ein Integrationserfolg mit Belarus hätte zudem keinen derartigen Effekt für Putins Popularität wie die Krim-Annexion, die ein nationalpatriotisches Stimmungshoch auslöste. 


    4. Wie schaut die russische Gesellschaft auf Belarus? Ist das Land in seiner Bedeutung für die russische Geschichte ähnlich aufgeladen wie etwa die Krim – die Russland 2014 angegliedert hat?

    Die meisten Russen haben ein positives Bild von Belarus und hegen keine Zweifel an den engen freundschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern. Dies gilt auch für den belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko, den einer Umfrage vom Juli 2020 zufolge immerhin noch 52 Prozent der Befragten positiv bewerteten. Es gibt keine relevanten belastenden Ereignisse in der Vergangenheit, die konfliktfördernd wirken könnten, und in Belarus befinden sich keine Orte, die von besonderer mythischer Bedeutung für das nationale Selbstverständnis Russlands sind. Und so wird ein Zusammenschluss beider Staaten mit einer gemeinsamen Staatsführung nur von einer Minderheit gewünscht. Allerdings würden eine eventuelle Westwende von Belarus und ein Austritt des Landes aus den bestehenden Integrationsformaten mit Russland äußerst negativ wahrgenommen werden. Insgesamt sind die politischen Entwicklungen in beiden Ländern eng miteinander verwoben. Dies gilt auch für die politische Opposition. So berichteten der YouTube-Kanal von Alexej Nawalny und der unabhängige Fernsehkanal Doshd stundenlang über die Ereignisse in Belarus. Auch die Demonstranten in Chabarowsk brachten ihre Solidarität mit der belarussischen Protestbewegung zum Ausdruck. Insgesamt fragen sich in Russland viele Menschen, ob sie in Belarus derzeit die mögliche Entwicklung des eigenen Lands bei den Präsidentschaftswahlen 2024 beobachten können.    


    5. Und umgekehrt: Wie steht man in Belarus zu Russland? Sind die Beziehungen zwischen den Ländern überhaupt Thema der Opposition oder bei den Protesten?

    Die engen Beziehungen beider Länder stehen auch in Belarus nicht zur Disposition. Allerdings ist die Unterstützung der Belarussen für eine enge politische Integration beider Staaten in den vergangenen Jahren deutlich rückläufig. Dem belarussischen Soziologen Andrej Wardomatzki zufolge ist die Unterstützung für die Union von Belarus und Russland im Laufe des Jahres 2019 von 60,4 auf 40,4 Prozent gesunken. Anfang 2020 befürworteten nur 12,8 Prozent einen gemeinsamen Staat, während sich eine deutliche Mehrheit (74,6 Prozent) für freundschaftliche Beziehungen von zwei unabhängigen Staaten mit offenen Grenzen, das heißt ohne Visa- und Zollschranken, aussprach. 
    Die aktuelle Protestbewegung konzentriert sich ausschließlich auf innenpolitische Fragen. Sie ist in erster Linie gegen Präsident Lukaschenko gerichtet, der infolge seiner Verharmlosung der Covid-19-Pandemie einen massiven Vertrauensverlust erlitten hat. Ihre zentrale Forderung ist die Umsetzung des Rechts auf freie und faire Wahlen. Der vereinigte Wahlkampfstab der Alternativkandidatin Swetlana Tichanowskaja betont in seinen öffentlichen Statements zudem stets, dass sie keine grundsätzliche Änderung des außenpolitischen Kurses von Belarus und gleichermaßen gute Beziehungen zu allen Nachbarländern anstreben. Hierzu steht auch die Verwendung der Weiß-Rot-Weißen Flagge durch die Opposition nicht im Widerspruch.    


    6. Einige russische Beobachter halten es für denkbar, dass Russland in Belarus genauso interveniert, wie 2014 in der Ukraine. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit für dieses Szenario?

    Eine offene Intervention wäre für Russland mit hohen Kosten verbunden. So müsste der Kreml dann auch die Verantwortung für die wirtschaftliche Entwicklung von Belarus übernehmen, was angesichts der wirtschaftlichen Stagnation in Russland eine hohe Belastung wäre. Zudem müsste der Kreml in diesem Falle mit Widerstand aus der belarussischen Gesellschaft sowie mit neuen westlichen Sanktionen rechnen. Damit würde er sich international weiter isolieren. Wahrscheinlicher sind daher verdeckte Versuche der Einflussnahme. Damit könnten unterschiedliche Zielsetzungen verfolgt werden. So hat die belarussische Liberal-Demokratische Partei am 18. August zur Bildung eines Koordinationskomitees der „Volkspatriotischen Bewegung“ aufgerufen. Diese ist offensichtlich als Gegenbewegung zu den aktuellen Protesten gedacht und soll diese neutralisieren helfen. Hinter den Kulissen dürfte der Kreml nach geeigneten Personen und Wegen suchen, um einen geordneten Machttransfer im eigenen Sinne zu gewährleisten. Mit seinen jüngsten öffentlichen Äußerungen über die akute Gefahr einer westlichen Einmischung in Belarus und dem Vorwurf an den Koordinationsrat der Opposition, antirussische Ziele zu verfolgen, setzt Alexander Lukaschenko den Kreml allerdings unter Handlungsdruck. Eine weitere Eskalation, die zu einer direkten Intervention Russlands führt, kann daher nicht ausgeschlossen werden.

     

    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Autorin: Astrid Sahm
    Veröffentlicht am 21.08.2020

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    Der belarussische Ökonom Sergej Tschaly gehört dem Koordinationsrat von Swetlana Tichanowskaja an. In einem Radiointerview, das das unabhängige belarussische Online-Medium tut.by in Teilen verschriftlicht hat, erklärt er, wie er diese besonderen Tage in seiner Heimat erlebt und einordnet. 

    Tschaly spricht über die Rolle der Frauen, den Machtwillen Lukaschenkos, die Bedeutung der finanzkräftigen IT-Branche für den Protest und über die Frage, wie ein Übergang gestaltet werden könnte.

    „Es war unglaublich und sehr erbaulich“ – die Rolle der Frauen

    Nach der Wahl vom 9. August beobachteten wir eine Eskalation der Gewalt, die – das ist ganz offensichtlich – nirgendwo hinführt. Genauso offensichtlich ist, dass dies die Strategie der Machthaber war, der Plan der Silowiki.

    Der schlimmste Tag war der Mittwoch [es waren mehr als 6000 Menschen festgenommen und in Gefängnissen zum Teil brutal misshandelt worden – dek]. Da kam einem der Gedanke: Und was machen die am nächsten Tag? Wird es eine außergerichtliche Abrechnung geben? Wir hatten wirklich Angst, und eine organisierte Gegenwehr wie die Barrikaden rund um das Einkaufszentrum Riga gab es nicht mehr. Am nächsten Morgen dann die Frauenkette mit Blumen. Erst dachte ich, ich wäre ein wenig zu gefühlig, doch dann wurde mir klar: Das ist völlig in Ordnung. Ich habe wirklich geweint, weil mir bewusst wurde: Das war’s. Zum wiederholten Mal haben die Frauen unser Land gerettet. Mir ist bewusst, wie beängstigend es gewesen sein muss, dort zu stehen, nach all dem Schrecken. Es war unglaublich und sehr erbaulich!

    Das sind Frauen, die für ihre Männer einstehen. Und alle haben dasselbe Motiv: „Warum zum Teufel habt ihr unsere Männer eingelocht?!“ Das ist besonders schmerzlich in einem Land, in dem die Hälfte der männlichen Bevölkerung im Großen Vaterländischen Krieg gefallen ist und die Frauen ihren Platz einnehmen mussten. Das ist ein Archetyp, gegen den du nicht ankommst. Die Ereignisse in Belarus werden in die Geschichte eingehen als erste feministische Revolution. Feminismus im guten Sinne des Wortes. Und es ist schon jetzt klar, dass es ein Umbruch ist.


    Gewalt und fehlender Respekt

    Was die Belarussen erfuhren, als das Internet wieder eingeschaltet wurde [unmittelbar nach der Wahl war das Internet über mehrere Tage zu großen Teilen blockiert – dek], war für sie ein Schock. Die vielen Zeugnisse von Erniedrigungen, die Umwandlung des Okrestina-Gefängnisses zur Folter-Einrichtung, der barbarische Sadismus gegen das eigene Volk. Das wühlte alle enorm auf. Auch die Silowiki wirkten demoralisiert.

    Die Verzweiflung und Schwäche von Lukaschenko und seinen Leuten wird gut sichtbar, wenn sie versuchen, mit dem Volk in einen Dialog zu treten. Ob Roman Golowtschenko im Minsker Traktorenwerk MTZ oder Natalja Kotschanowa, die zur staatlichen Rundfunkanstalt BT kam – beide schafften es nicht, mit den Leuten zu reden. Die Arbeiter fragen, warum man sie als Schafe oder Drogensüchtige bezeichnet, warum man sie foltert, warum behauptet wird, es würden nur zwanzig Menschen streiken. Und als Antwort kam: „Nunja, wir geben euch doch Arbeit, zahlen euren Lohn.“ Die verstehen wirklich nicht, was die Leute wollen. Sie verstehen nicht die scharfe Ablehnung jenes respektlosen Tons, in dem der Präsident seinen Wahlkampf geführt hat, vor seinem „Völkchen“ – all dieses Genervtsein vom eigenen Volk.



    „Wo ist mein Volk?“ – Kundgebung von Lukaschenko und seinen Anhängern

    Ich habe bereits gesagt, dass man 80 Prozent Wählerstimmen einfach erdichten kann. Doch dann kommt es wie im Film Der Zar, als Iwan der Schreckliche nach draußen tritt, aber niemand ist zu seiner Krönung gekommen. Und da steht er dann verzweifelt: „Wo ist mein Volk?“ In unserem Fall musste man „sein Volk“ offensichtlich [mit Bussen – dek] herankarren, und selbst dann waren es noch wenige.  

    Es ist wie im Klischee über häusliche Gewalt. Da sagt der Mann: „Gut, dann lassen wir uns eben scheiden. Aber du Miststück wirst noch an mich denken! Du wirst doch eh keinen Besseren finden! Ich bin das Beste, das du je im Leben hattest!“ Das sind die Worte eines gekränkten Ehemannes, der von seiner Frau verlassen wird. „Verjagt ihr euren ersten Präsidenten, so wird es der Anfang vom Ende sein.“ Damit sagt Lukaschenko genau wie der gekränkte Ehemann: Ihr werdet noch lange an mich denken. Das werden die Belarussen vermutlich auch – aber nicht so, wie sich Lukaschenko das vorstellt. 


    „Ihr seid unglaublich“ – das neue Selbstbild der Belarussen

    [Beim Marsch der Freiheit am 16. August – dek] wirkte Minsk wie ein Urlaubsort, in dem Karneval gefeiert wird: überall Menschen, beim Heldenstadt-Obelisken, auf dem zentralen Prospekt, auf dem Unabhängigkeitsplatz. Keine grauen, düsteren Gesichter, kein allgegenwärtiger Pessimismus, den viele Gäste aus dem Ausland oft bemerkt haben. Wir hatten einfach nicht darauf geachtet, wie abstoßend diese klebrige Angst ist, in der wir leben mussten. Der diffuse Druck, der überall in der Luft lag. Man bemerkt das lange nicht und hält es für normal, aber wenn man davon befreit wird, dann sind die Veränderungen unglaublich. Du schaust dich um und denkst: Was sind die Leute alle schön!

    [Über Maria Kolesnikowas Slogan „Ihr seid unglaublich!“ – dek:] So funktioniert positive Verstärkung! Wenn man den Leuten sagt, wie armselig sie sind, dass sie ohne ihren Präsidenten nichts wert sind – dann erhält man ein bestimmtes Ergebnis. Wenn man aber sagt, wie toll sie sind, dann ist das Ergebnis ein anderes.

    Daher kommen auch die Spezifika des belarussischen Protestes: Dass sich die Leute ihre Schuhe ausziehen, bevor sie auf eine Sitzbank steigen, dass sie während der Proteste eine Müllsammlung organisieren, sich untereinander Wasser bringen oder einander im Auto nach Hause bringen. 

    Der belarussische Protest ist ein unglaublich starkes Phänomen. Belarus war in der letzten Zeit eines der brutalsten Regime in der Region. Und der Protest hat keine Anführer, anders als der ukrainische Maidan, wo es, wie man nicht vergessen darf, in Kiew einen oppositionellen Bürgermeister gab, der die Proteste unterstützt hat. 
    Wir sehen in Belarus eine Nation, die sich ihrer selbst bewusst wird. Die Grundlage sind all jene, die nicht vom Staat abhängig sind. Darum ist es so abstoßend, ständig von der Regierung zu hören: „Wir geben euch doch alles …“ Ja, ihr gebt den Leuten Arbeit – und vielen einen jämmerlichen Lohn. 


    Füttern allein reicht nicht mehr – die Aktivität der IT-Leute

    Viele Leute aus der IT-Branche [deren Unternehmen teilweise auch streiken – dek] haben in einer Enklave gelebt – im belarussischen Silicon Valley, auf der Hipster-Partymeile Sybizkaja oder im Barbershop. Diese Leute haben plötzlich verstanden, dass sie Teil des Geschehens werden wollen. Nicht einfach nur daneben stehen, sondern mitmachen. Die interessieren sich schon gar nicht mehr für die Übergangsphase, sondern für das, was danach kommt. 

    Die Logik ist folgende: Nehmen wir an, Lukaschenko bleibt. Das heißt, die IT-Branche würde geschröpft, anderswo ist nicht mehr viel zu holen im Land. Nehmen wir die Kosten für einen Umzug ins Ausland: Das ist nicht mehr so wie noch vor zehn Jahren, als alle noch als Ich-AG schwarz gearbeitet haben und mit dem Wegzug drohten. Heute sind das große Firmen mit großen Aufträgen. Ein Umzug würde gigantische Kosten für die Unternehmen bedeuten. Sie sind bereit Kapital zu investieren, damit dieses Szenario nicht eintritt.

    Das ist ein deutliches Anzeichen dafür, dass die Geburt einer Nation stattfindet. Das ist nicht mehr der dürftige Gesellschaftsvertrag à la „Wir füttern euch und schlagen euch nicht, dafür haltet ihr euch aus der Politik raus“.


    Swetlana Tichanowskaja als Gesicht der Revolution

    Wenn die Revolution schon feministisch ist, werde ich sie auch so nennen. Nehmen wir Swetlana Georgjewna Tichanowskaja: Ich weiß nicht, was passiert ist, aber sie hat den Mut gefunden und erklärt, dass sie bereit ist, die Führung für die Übergangszeit zu übernehmen. Es ist klar, dass sie gezwungen ist, sich zurückzuhalten: Offenbar gibt es einige Vereinbarungen mit den Sicherheitsbehörden, die sie außer Landes gebracht haben. Uns ist auch klar, dass ihr Mann als Geisel gehalten wird. Nichtsdestotrotz – als Gesicht des Wandels ist sie wieder da.


    „80 Prozent“ – der gestohlene Wahlsieg

    Ich schließe nicht aus, dass es einen Befehl geben wird, wieder alle Demonstranten zusammenzuschlagen. Ob er aber ausgeführt wird, ist fraglich. Wie recht doch Viktor Babariko hatte: Den Willen des Volkes kann man nicht fälschen, wenn die Waage so deutlich in eine Richtung ausschlägt. Es ist Wahlfälschung, wenn man aus 55 Prozent 79 macht. Und was hier passiert ist, ist schon keine Fälschung mehr – das ist ein gestohlener Wahlsieg. 

    Uns wird seit jeher die Angst eingeflößt, dass das Land zugrunde geht, dass wir wieder barfuß laufen und unter der Knute stehen werden. Doch wie beim Marsch am Sonntag alle gespürt haben, wie frei es sich atmen lässt, wenn man diese ewige klebrige Angst abgeschüttelt hat: Nun stellen Sie sich vor, dass das auch mit der Wirtschaft passieren wird: Der ewige Druck, die totale Kontrolle werden verschwinden, die Energie der kreativen Menschen wird freigesetzt. Ich war in den USA, ich habe gesehen, wie so etwas gehen kann. Das beeindruckt wahnsinnig. Nehmen wir Pittsburgh, das wie aus dem Nichts heraus zu einem Industrieriesen wurde. So geht es. Eine solche Zukunft haben wir vor uns – und keine Bastschuhe und keinen Schrecken der 1990er Jahre.


    Marathon und kein Sprint – der Übergang

    Jetzt geht es vor allem darum, sich auf eine friedliche Machtübergabe an die gewählte Präsidentin Swetlana Georgjewna Tichanowskaja zu einigen, die sich vorübergehend im Exil befindet. Sie ist vielleicht nicht die ideale Präsidentin, doch sie ist ideal für diesen Übergang. 

    Als Mensch verfügt sie über ein tadelloses moralisches Kapital und hat während der Kampagne unglaubliche persönliche Qualitäten bewiesen. Es ist offensichtlich, dass sie nicht Präsidentin werden will, und gerade darin liegt ihre Überlegenheit. Ich bin sicher, dass die nächste Wahl äußerst interessant wird. Es wird ein echter Zusammenprall von Programmen und geopolitischen Präferenzen. Ich denke, dass sogar eine Partei von Lukaschenkos Anhängern auftauchen könnte, die fordern wird, dass alles wieder so werden soll wie es war.

    Es geht jetzt darum, dass wir geduldig sind, nicht die Hoffnung verlieren und Liebe zeigen. Also das tun, was die weltweit erste feministische Revolution bislang getan hat. Wir laufen der ganzen Welt voraus. Und wie Lukaschenko einmal sagte: Am Ende beneiden uns alle Länder.

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    10 Gründe, warum es in Belarus keine russische Invasion geben wird

    Wird Russland in Belarus eingreifen? Und wenn ja: wie? Diese Fragen wurden in den vergangenen Tagen immer wieder diskutiert. Während Lukaschenko im Wahlkampf selbst vor einem ukrainischen Szenario in Belarus gewarnt hatte und sogar russische Söldner verhaften ließ, hat er inzwischen zwei Mal mit Putin telefoniert und um Beistand gebeten. Vermehrt versucht die Staatspropaganda, die Demonstranten, die gegen Wahlbetrug und für die Freilassung der Festgenommenen auf die Straße gehen, in die Nähe der vermeintlich vom Ausland gesteuerten Farbrevolutionen im postsowjetischen Raum zu rücken. Margarita Simonjan, Chefredakteurin des russischen Auslandssenders RT, twitterte, es sei an der Zeit, dass „höfliche Menschen“ für Ordnung sorgten in Belarus.

    In sozialen Netzwerken tauchten unterdessen Videos von schweren Lastwagen ohne Nummernschilder auf, die mutmaßlich zur russischen Rosgwardija gehören und in der Oblast Smolensk auf der Strecke von Moskau in Richtung belarussische Grenze unterwegs waren. Solche Nachrichten sorgten sogleich für Unruhe – doch Beobachter wiegeln ab: Das unabhängige belarussische Portal tut.by etwa wies darauf hin, dass es unlogisch sei, eine russische Invasion in Belarus mittels Lastwagen statt mit Hubschraubern durchzuführen. Zudem seien Truppen der Rosgwardija vor allem für den Einsatz im Inneren bestimmt. Der Journalist und Politologe Kirill Rogow geht davon aus, dass solche Bilder weniger die Demonstranten abschrecken, als den Machtapparat um Lukaschenko stärken sollten – indem sie ihn in dem Glauben wiegten, dass es zu früh sei, den Diktator abzuschreiben. Gleichzeitig weisen einzelne Experten – wie Jens Siegert, der ehemalige Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Moskau – darauf hin, dass Belarus in Russland nicht die gleiche mythisch aufgeladene Bedeutung habe wie Kiew, Odessa oder Charkiw. 

    Dennoch zeigt die Debatte, wie groß die Unsicherheiten und Ängste sind vor einem analogen Szenario wie auf der Krim 2014. Der bekannte belarussische Journalist und Carnegie-Autor Artyom Shraibman nennt auf Telegram zehn Gründe, warum es in Belarus keine russische Invasion geben wird.

    Eine Anfrage an Moskau genüge, so Lukaschenko, und er bekomme „vollumfängliche Hilfe, um die Sicherheit der Republik Belarus zu garantieren“. Er nannte in diesem Zusammenhang den Vertrag über die kollektive Sicherheit (OKVS). Im Folgenden genauer dazu, warum ich nicht an dieses Schreckgespenst glaube:

    1. Russland rettet kein zusammenbrechendes Regime mit Hilfe von Soldaten. Den Staatschef außer Landes bringen – ja, ein Regime retten, das keine Unterstützung im Volk hat – nein.
    Die einzige Ausnahme ist Syrien. Dort herrschte allerdings schon ein Bürgerkrieg, und die russischen Truppen haben keine Gebiete besetzt, sondern vorwiegend Luftangriffe geflogen. Wen sollte man bei uns bombardieren? Die Werkhallen des Minsker Traktorenwerks MTZ oder des belarussischen Automobilwerks BelAZ? Oder die streikenden Mitarbeiter der staatlichen Rundfunkanstalt Belteleradiokampanija

    2. Die Belarussen wollen keine Einmischung von außen und wollen auch nicht Teil Russlands werden. Hier die jüngste Umfrage der Akademie der Wissenschaften: Für einen Beitritt zur  Russischen Föderation sind weniger als sieben Prozent. Für eine engere Union unter 25 Prozent. Alle anderen sprechen sich für freundschaftliche Beziehungen unabhängiger Staaten aus. Belarus ist nicht die Krim, die angeblich irgendwie um Befreiung von den Faschisten gebeten habe. Hier wird keiner Rosen verteilen.

    3. Ein Volk, das nicht um Befreiung bittet, muss man mit massivem Truppeneinsatz im Zaum halten. Mit zehntausenden Besatzungssoldaten. Und wenn sich dann noch Partisanengruppen bilden – was in dem Fall und bei derartigem gesellschaftlichem Aufbegehren wohl unausweichlich wäre – mit hunderttausenden. Und tausenden Opfern. Eine sanftere Lösung gäbe es einfach nicht.

    4. Mit einer solchen Intervention würde Russland das belarussische Volk auf noch längere Zeit verlieren als das ukrainische. Ein Volk, das aktuell Russland gegenüber freundschaftlich eingestellt ist. Nach Umfragen des Wardomazki-Labors sind über 70 Prozent für den Erhalt der Beziehungen in ihrer jetzigen Form, ohne Grenz- und Zollkontrollen. Nur fünf bis sieben Prozent sind für einen Abbruch der Beziehungen.

    5. Dazu kommen noch Massen von Särgen Richtung Heimat und die Vorbehalte des eigenen Volkes, dem man zuvor nicht erklärt hat, dass in Minsk Bandera-Faschisten an die Macht drängen würden, plus Sanktionen des Westens in beispielloser Härte. 

    6. Und all das wozu? Um einen belarussischen EU-Beitritt zu verhindern? Die heutige Opposition wirbt gar nicht für einen solchen. Und es wäre auch absurd angesichts der derzeitigen belarussischen Abhängigkeit von Moskau. Ein Austritt aus der Eurasischen Wirtschaftsunion mit Verlust des Zugangs zum russischen Markt würde einen wirtschaftlichen Stillstand binnen eines Monats bedeuten. Mehr als 70 Prozent unserer Auslandsschulden haben wir gegenüber Russland.

    7. Eine Invasion löst auch nicht das Problem der inneren Stabilität. Die Arbeiter kehren deswegen nicht zurück in die Fabriken, ein Absturz des Bankensystems wäre die Folge, zig Milliarden müssten für humanitäre Bedürfnisse fließen. Und Belarus hat fünf Mal so viele Einwohner wie die Krim. Außerdem hat sich die russische Wirtschaft nach dem Coronavirus selbst noch nicht berappelt.  

    8. Die Demonstranten rufen keine anti-russischen oder pro-westlichen Losungen. Das steht überhaupt nicht zur Debatte. Der Kreml ist nicht blind und sieht das. Russland hat die Folgen der Revolutionen in Kirgisistan und Armenien akzeptiert, wo es auch keine außenpolitischen Ziele gab.
    Moskau orientiert sich immer an der gerade gewinnenden Seite. Und versteht vor allem, dass diese Seite nicht feindlicher ist als jene Regierung, die russische Staatsbürger zu Geiseln ihres Wahlkampfes gemacht hat.  

    9. Lest die Pressemitteilung des Kreml nach dem morgendlichen Gespräch mit Lukaschenko [am Samstag, 15. August – dek]. Da steht viel über Völkerfreundschaft und Feinde, aber kein einziges Wort der Unterstützung für den amtierenden belarussischen Präsidenten. Der Kreml hat eine abwartende Position eingenommen.

    10. Für Juristen. Die Satzung der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) sieht keine militärische Hilfe vor ohne eine äußere Aggression auf ein Mitgliedsland (ein bewaffneter Angriff, der die Sicherheit, Stabilität, territoriale Integrität und Souveränität bedroht). Lukaschenko hat während seines ganzen Wahlkampfs die Russen einer solchen Aggression bezichtigt und jetzt versucht er, eine Bedrohung durch den Westen zu inszenieren.
    Aber eine solche ist in der gegenwärtigen Situation gar nicht so leicht auszudenken. Den Gerüchten zufolge machen sich hochrangige Beamte aus Russland und Europa bereits untereinander lustig über solche Äußerungen. Ein hybrider Angriff, ausgehend vom Telegram-Kanal Nexta, ist nicht in der OVKS-Satzung erwähnt.

    PS: Um ein solches Szenario auch in Zukunft auszuschließen, sollte eine belarussische Übergangsregierung im Falle eines Sieges nicht sofort vor lauter Euphorie die sowjetischen Denkmäler antasten, die staatliche Symbolik ändern oder den Status des Russischen als Amtssprache annullieren. Aber: Es gibt viel zu tun und eine Mehrheit ist (allen verfügbaren Umfragen zufolge) gegen solche Maßnahmen – und so sehe ich keinen Grund zur Annahme, dass die Übergangsregierung austickt und solche Sachen überhaupt anfängt. Alles zu seiner Zeit.

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    Die Flagge des belarussischen Protests ist weiß-rot-weiß. Warum? Woher kommt sie? Ein Überblick von Dmitry Kartsev, Meduza.


    Foto © tut.by

    Woher kommt die weiß-rot-weiße Flagge?

    Die weiße Flagge mit dem roten Streifen in der Mitte war einige Jahre die offizielle Flagge von Belarus. Anfang des 20. Jahrhunderts verwendeten die ersten belarussischen nationalen Kreise und Vereinigungen ein Fahnentuch mit ähnlicher Farbgebung. Einige zeitgenössische Wissenschaftler vertreten die Ansicht, dass belarussische Einheiten schon zu Zeiten des Großfürstentums Litauen und Polen-Litauens unter Bannern mit derartigen Farben gekämpft hätten.

    Die russische Februarrevolution 1917 gab der belarussischen Nationalbewegung einen enormen Schub. Erstmals tagten nationale Organisationen legal unter dieser Fahne.

    Im März 1918 wurde die Belarussische Volksrepublik ausgerufen, das weiß-rot-weiße Banner wurde zur Staatsflagge. Die Volksrepublik existierte nur wenige Monate, ein Großteil des Staates wurde von Deutschen okkupiert, doch die Fahne etablierte sich endgültig als nationales Symbol. Die danach entstehende Belarussische Sowjetrepublik hatte offiziell zunächst eine rote Flagge, später eine rot-grüne mit einem Ornament auf der linken Seite. Doch in Emigranten-Kreisen wurde die weiß-rot-weiße Flagge weiter verwendet.

    Nach dem Zerfall der UdSSR wurde die weiß-rot-weiße Flagge erneut zur Staatsflagge des unabhängigen Belarus. Im Referendum von 1995 stimmte jedoch eine Mehrheit für die Wiedereinführung der Flagge der Belarussischen Sowjetrepublik, allerdings ohne Hammer und Sichel und mit anderen kleineren Veränderungen.

    Warum wählt die Opposition diese Flagge?

    Das Referendum von 1995 war für Alexander Lukaschenko, der gerade ein Jahr im Amt war,  ein wichtiger Schritt zur Festigung seiner Alleinherrschaft. Neben der Flaggenfrage und der Festschreibung des Russischen als zweite Amtssprache stimmten die Bürger auch für das Recht des Präsidenten, das Parlament aufzulösen, und für eine angestrebte Integration mit Russland. Lukaschenko nutzte aktiv die damalige Sowjetnostalgie und sah die größte Bedrohung für sich im belarussischen Nationalismus. Mit einem weiteren Referendum im Folgejahr wurde Belarus praktisch zur superpräsidentiellen Republik (die EU und andere westliche Länder haben die Ergebnisse des Referendums nicht anerkannt).  
    Seitdem wird die weiß-rot-weiße Flagge von der Opposition verwendet, zunächst aus der national-patriotischen Richtung, mit der Zeit jedoch von allen, die sich gegen Lukaschenko positionieren. Nach der Wahl 2020 ist die Opposition auf dem Höhepunkt ihrer Beliebtheit seit dem Amtsantritt von Lukaschenko. Daher ist es kein Wunder, dass die Flagge zum Symbol des Protests wurde. Interessanterweise sieht man – anders als bei den beiden ukrainischen Maidanprotesten oder den Protesten nach der belarussischen Präsidentschaftswahl 2010 – in diesen Tagen neben den weiß-rot-weißen Flaggen keine EU-Fahnen.

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  • „Rundherum lagen Menschen in Blutlachen“

    „Rundherum lagen Menschen in Blutlachen“

    Während der anhaltenden landesweiten Proteste in Belarus sind mehr als 6000 Menschen verhaftet worden. In sozialen Medien tauchten zahlreiche Fotos von großen Menschenmengen vor Gefängnissen auf, die Leute waren auf der Suche nach ihren Angehörigen. Derzeit häufen sich Berichte, wonach zahlreiche Festgenommene wieder aus den überfüllten Gefängnissen entlassen werden, viele davon mit Verletzungen. Hunderte Frauen, teilweise in Weiß gekleidet und mit Blumensträußen, bildeten in zahlreichen Städten Ketten, um ihre Solidarität mit Verhafteten und Verwundeten auszudrücken. Landesweit haben außerdem Mitarbeiter von Fabriken gestreikt und unter anderem faire Wahlen und die Freilassung der Festgenommenen gefordert. Auch Krankenhauspersonal versammelte sich und forderte ein Ende der Gewalt.

    Unterdessen häufen sich in unterschiedlichen Medien Augenzeugenberichte von grausamer Polizeigewalt, auch Folter. Auch der russische Znak-Korrespondent Nikita Telishenko war am 10. August in Minsk festgenommen worden. Sein Bericht über die Gewalt, die er danach gesehen und erfahren hat, wird derzeit in sozialen Netzwerken zehntausendfach geteilt und gelesen.

    Am Abend des 10. August wurde der Znak-Korrespondent Nikita Telishenko in Minsk festgenommen, ehe eine Protestaktion gegen die Wahlfälschungen losging. Er kam beruflich nach Belarus, im Auftrag seiner Redaktion. Nach der Festnahme gab es 24 Stunden keinen Kontakt zu ihm. Nikita wurde erst am Dienstagabend freigelassen.

    Inhaftierung 

    Ich wurde am 10. August festgenommen, als ganz Minsk an der zweiten Protestaktion gegen die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl in Belarus teilnahm. Die Aktion war in der Uliza Nemiga geplant, wo bereits Kampffahrzeuge und Lastwagen aufgefahren waren. In den Durchgängen und zwischen den Häusern waren viele Soldaten, Spezialkräfte der OMON und die Polizei. Ich bin da einfach langgelaufen und habe mir die Vorbereitungen für die Demonstration angeschaut. Ich sah Wasserwerfer, schrieb das an das Redaktionsbüro, und eine Minute später kamen Polizeibeamte auf mich zu, sie trugen normale Uniform. Sie baten mich, zu zeigen, was denn in meiner Tasche sei, sie erschien ihnen verdächtig. Ich zeigte ihnen, dass ich darin einen Pulli hatte. Danach ließen sie mich gehen.


    Dann sah ich an der Haltestelle Sportpalast, wie sich die OMON-Kräfte alle schnappten, die aus einem Bus ausstiegen, und sie in einen Gefangenentransporter steckten. Ich fotografierte das mit meinem Telefon und schrieb der Redaktion, berichtete über die ersten Verhaftungen bei der zweiten Protestaktion. Dann ging ich in Richtung des Heldenstadt-Obelisken [beim Museum des Großen Vaterländischen Kriegs – dek], wo sich am Tag zuvor Demonstranten und Ordnungskräfte eine regelrechte Schlacht geliefert hatten, und wollte sehen, wie der Ort nun aussah. Aber auf halbem Weg kam ein Minivan auf mich zu. Und schon waren bewaffnete OMON-Leute herausgesprungen. Sie rannten auf mich zu und fragten, was ich hier mache. Später wurde mir klar, dass sie die Koordinatoren der Aktion suchten, sie wussten, dass die Demonstranten per Telegram Informationen über die Bewegung der Polizei austauschten und über Hinterhalte berichteten. Sie haben mich wohl für einen von denen gehalten. Ich sagte ihnen: „Ich habe nicht einmal Telegram auf meinem Telefon, ich schreibe eine SMS, ich bin Journalist, ich schreibe an die Redaktion.“ Sie schnappten mein Telefon, lasen die Nachrichten und setzten mich dann ins Auto. Ich sagte ihnen, dass ich gegen nichts verstoßen, nicht an der Protestaktion teilgenommen habe, dass ich Journalist sei, worauf ich die Antwort bekam: „Setzen Sie sich, gleich kommen die Chefs und klären die Sache.“

    Bald kam eine GAZelle, die zum Gefangenentransporter umgerüstet war. Sie verdrehten mir die Arme und steckten mich da rein. Ich bat um ein Telefon, um die Redaktion darüber zu informieren, dass ich nun doch festgenommen wurde. 

    „Wir haben dich nicht festgenommen“, sagte mir einer der OMON-Männer. 

    „Nun, ich bin hinter Gittern“, antwortete ich.

    „Halt die Klappe“, parierte er. 

    Dann nahmen sie meinen Pass und sahen, dass ich russischer Staatsbürger bin. 

    „Und … was machst du [obszönes Wort für männliches GeschlechtsorganZnak] hier?“

    „Ich bin Journalist“, antwortete ich.

    An diesem Punkt war der Dialog mit den OMON-Leuten beendet. Ich saß in der GAZelle und wartete darauf, dass sie mit genau solchen Nicht-Festgenommenen wie mir gefüllt würde. Es dauerte eine halbe Stunde. Neben mir saß dann ein 62-jähriger Rentner. Sein Name war Nikolaj Arkadjewitsch. Er erzählte mir, dass er auf dem Weg zum Einkaufen festgenommen worden war: Er hatte gesehen, dass sich die OMON-Leute einen Jungen gegriffen hatten. „Ich bin für ihn eingetreten, habe versucht, ihn freizukriegen. Ich sagte ihnen: ,Er ist ein Kind, was tun Sie da?‘“ Schließlich rannte der Junge weg, und er wurde festgenommen. 

    Nikolaj Arkadjewitsch hatten sie seinen Angaben zufolge heftig in die Leber geschlagen. Er bat darum, einen Krankenwagen zu rufen, doch niemand reagierte auf seine Bitte. 

    16 Stunden Hölle bei der Polizei im Moskowski Bezirk

    Und so fuhren wir irgendwohin. Wohin, das wusste ich da noch nicht. Doch dann stellte sich heraus, dass es zur örtlichen Polizei im Moskowski Bezirk ging – 16 Stunden, die für uns alle die Hölle sein würden. Wir sind etwa 20 bis 30 Minuten gefahren. 

    Kaum hielten wir an, ertönte ein Schrei von OMON-Leuten in kugelsicheren Westen: „Gesicht auf den Boden!“

    Polizisten stürmten in den Transporter, banden uns die Hände so hinter den Rücken, dass wir fast nicht laufen konnten. 

    Ich bekam meinen ersten Hieb, weil ich mich nicht tief genug gebückt hatte

    Ein junger Mann vor mir wurde mit dem Kopf gegen die Eingangstür des Polizeireviers geschlagen. Er schrie vor Schmerzen. Daraufhin schlugen sie ihm auf den Kopf schrien ihn an: „Halt's Maul, Hurensohn!“ Ich bekam meinen ersten Hieb, als ich aus dem Auto stieg: Ich hatte mich nicht tief genug gebückt und bekam einen Schlag mit der Hand auf den Kopf und dann mit dem Knie ins Gesicht.


    Im Polizeigebäude wurden wir zunächst in einen Raum im vierten Stock gebracht.

    Die Leute dort lagen als lebender Teppich auf dem Boden, und wir mussten direkt auf ihnen entlang laufen. Es war ein schreckliches Gefühl, war ich doch jemandem auf die Hand getreten, aber ich konnte überhaupt nicht sehen, wohin ich ging, weil mein Kopf stark nach unten geneigt war. 

    „Alle auf den Boden, Gesicht nach unten“, schrien sie uns an. Und mir war klar, dass man sich nirgendwo hinlegen konnte, rundherum lagen Menschen in Blutlachen. 
    Es gelang mir, einen Platz zu finden, wo ich mich nicht als zweite Schicht auf Menschen legen musste, sondern neben sie. Auf den Bauch, Gesicht nach unten. Auch hier hatte ich Glück: Ich trug eine Maske, die mir den schmutzigen Boden erträglich machte. 
    Um mich herum wurde derbe geprügelt: Von überall hörte man dumpfe Schläge, Schreie, Wimmern. Mir schien es, dass einige der Gefangenen Arme, Beine oder Wirbelsäule gebrochen hatten, denn bei der geringsten Bewegung schrien sie auf vor Schmerzen.

    Werden die Schläge von heute wohl auch als besondere Verdienste gewertet?

    Die neuen Häftlinge wurden gezwungen, sich als zweite Schicht auf die anderen zu legen. Nach einer Weile müssen sie jedoch kapiert haben, dass das eine schlechte Idee ist, und jemand befahl, Bänke zu bringen. Ich gehörte zu denen, die darauf sitzen durften. Aber man durfte nur mit gesenktem Kopf sitzen, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Und erst dann sah ich, wo wir waren – es war die Aula der Polizeiwache im Moskowski Bezirk. Ich konnte einen Blick erhaschen und sah, dass an der Wand gegenüber Fotos von Polizisten mit besonderen Verdiensten hingen. Für mich war das böse Ironie: Werden die Schläge von heute wohl auch als besondere Verdienste gewertet?

    So haben wir 16 Stunden verbracht.

    Wer auf die Toilette wollte, musste die Hand heben. Einige der Wächter erlaubten es und brachten die Leute dorthin. Andere sagten: „Mach doch auf den Boden!“

    Ich spürte meine Arme und Beine kaum noch, der Nacken schmerzte schwer. Hin und wieder wurden die Plätze getauscht. Hin und wieder kamen neue Mitarbeiter und nahmen erneut all unsere Daten auf, den Namen, wann festgenommen … und so weiter.

    Wir hörten, wie Menschen in den Stockwerken unter und über uns geschlagen wurden

    Gegen zwei Uhr morgens wurden weitere Gefangene auf die Wache gebracht. Und da begann die echte Hölle. Die Polizisten zwangen die Festgenommenen, das Vater Unser zu beten. Wer sich weigerte, wurde mit allem, was nicht niet- und nagelfest war, verprügelt. Während wir in der Aula saßen, hörten wir, wie Menschen in den Stockwerken unter und über uns geschlagen wurden. Es fühlte sich an, als würden die Menschen praktisch in den Beton getrampelt. 

    Gleichzeitig konnten wir hören, wie Blendgranaten vor dem Fenster explodierten. Die Fenster und sogar Türen unserer Aula wackelten. Die Kämpfe fanden also direkt vor dem Polizeirevier statt. Mit jeder Stunde, mit jeder weiteren Charge von Gefangenen, die zur Polizei gebracht wurde, wurden die Vollzugsbeamten wütender und brutaler. 

    Die Polizisten waren von der Aktivität der Demonstranten tatsächlich überrascht. Ich hörte sie per Funk miteinander reden, dass zur Unterdrückung der Proteste Reserveeinheiten eingesetzt würden. Sie waren wütend, dass die Menschen nicht von der Straße verschwanden, trotz der brutalen Schläge, dass die Menschen keine Angst vor ihnen hatten, dass die Leute Barrikaden errichteten und Widerstand leisteten. 

    Du Wichser! Willst du Krieg?

    „Du Wichser, gegen wen hast du Barrikaden errichtet? Willst du gegen mich kämpfen? Krieg willst du?“, schrie ein Polizist während er einen Festgenommenen verprügelte. 
    Was mich wirklich fertig gemacht hat, ist, dass all diese Schläge vor zwei Frauen stattfanden, vor Mitarbeiterinnen des Polizeireviers, die die Festgenommenen und deren Eigentum dokumentierten. Vor den Augen der Frauen schlugen sie 15, 16-jährige Jugendliche und Kinder. Die zu schlagen ist das gleiche wie Mädchen zu verprügeln! Und die Polizeibeamtinnen reagierten nicht einmal …


    Fairerweise muss man sagen, dass nicht alle Mitarbeiter bei den sadistischen Gewaltexzessen mitgemacht haben. Es gab einen, der zu uns kam und fragte, wer Wasser brauche und wer auf die Toilette müsse. Aber er unternahm auch nichts gegen das, was seine jungen Kollegen auf dem Flur mit den Gefangenen machten. 

    In jeder Schicht fragten die neuen Mitarbeiter jeden von uns, wer wir sind, woher wir kommen und wann wir festgenommen wurden. Nachdem sie meinen russischen Pass gesehen hatten, wurden die Schläge schwächer als die, die ich erhielt, als sie dachten, ich sei Belarusse.
     
    Keiner von uns durfte auch nur einen einzigen Anruf tätigen, und ich bin sicher, dass viele Angehörige derjenigen, die in jener Nacht neben mir saßen, immer noch nicht wissen, wo sie sind.

    Sie kamen von den Minsker Straßen, wo Krieg herrschte

    Gegen sieben oder acht Uhr morgens trafen die Vorgesetzten ein. Man sah, dass sie nicht von zu Hause gekommen waren, sondern von den Minsker Straßen, wo Krieg herrschte.
    Sie begannen die Gefangenen durchzuzählen. Es stellte sich heraus, dass zwei fehlten. Die Leute liefen hektisch zwischen den Büros hin und her, sie versuchten herauszufinden, wohin die zwei verschwunden waren. Sie konnten es nicht herausfinden. 

    Als ich auf dem Boden lag, sah ich am Rande meines Blickfeldes eine Person, ich weiß nicht, ob Mann oder Frau, die auf einer Bahre weggetragen wurde. Die Person bewegte sich nicht, ich weiß nicht, ob sie noch am Leben war. 

    Danach wurden wir alle ins Erdgeschoss verlegt und in Zellen gesteckt. Die sind für zwei Personen konzipiert, bei uns haben sie 30 Personen in eine Zelle gestopft. Der Vorgang wurde von heftigen Mat-Flüchen und Prügeln begleitet. Man schrie uns an: „Enger zusammen! Noch enger!“ Unter meinen Zellengenossen waren sowohl Rentner als auch junge Leute. Ich traf dort Nikolaj Arkadjewitsch wieder. Er stand eine halbe Stunde lang bei uns, dann wurde er hinausgeführt und in eine leere Zelle nebenan gesteckt. 

    Es gab überhaupt keine Luft, Leute wurden ohnmächtig

    Nach einer Stunde waren Wände und Decke der Zelle mit Kondenswasser bedeckt. Jemand konnte nicht mehr stehen und setzte sich auf den Boden, aber es gab überhaupt keine Luft, Leute wurden ohnmächtig. Diejenigen, die standen, verzweifelten an der Hitze. So verbrachten wir dort zwei oder drei Stunden und warteten darauf, verlegt zu werden – wohin, wusste keiner … 

    Die Türen öffneten sich. „Gesicht zur Wand!“, schrien sie. Dann stürmten Vollzugsbeamte rein, drückten uns die Arme hinter den Rücken und schleiften uns über den Boden durch die ganze Polizeistation. Im Gefangenentransporter wurden wir wieder aufeinander gestapelt, als lebendiger Teppich. Sie schrien: „Das Gefängnis ist euer Zuhause!“ Diejenigen, die auf dem Boden lagen, rangen unter dem Gewicht der Körper nach Luft: Es lagen noch drei weitere Menschen-Schichten über ihnen.

    Der Weg von Schmerz und Blut 

    In dem Gefangenentransporter wurden die Leute weiter geschlagen: wegen Tätowierungen, wegen langer Haare. „Du alte Schwuchtel, im Gefängnis wird sich einer nach dem anderen dich vornehmen“, riefen sie.

    Menschen, die auf den Stufen lagen, baten darum, ihre Position ändern zu dürfen, doch stattdessen schlug man ihnen mit dem Gummiknüppel auf den Kopf. 

    In diesem Zustand verbrachten wir in dem Transporter eine Stunde. Ich erklärte mir die lange Zeit damit, dass sie wahrscheinlich nicht wussten, wohin mit uns, da es viele Häftlinge gab und alle Zellen der Polizeiwachen und Untersuchungsgefängnisse überfüllt waren. 

    Dann gab es wieder Gebrüll von OMON-Leuten mit dem Befehl: „Raus mit euch und in die Hocke!“ Die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Man durfte sich weder am Sitz abstützen noch aufrichten. Wer gegen diese Vorschrift verstieß, wurde gnadenlos geschlagen. Man durfte nur ab und zu das Gewicht verlagern: Dazu musste man die Hände heben, seinen Namen nennen, sagen, woher man kommt und wo man festgenommen worden war.

    Später haben sie gesagt, dass jeder Versuch, die Haltung zu ändern, einem Fluchtversuch gleichkomme – das bedeutet Erschießen auf der Stelle

    Wenn der Wache (damals dachte ich noch, dass wir von OMON eskortiert wurden, aber erst am Ende des Weges erfuhr ich, dass es sich um die belarussische Spezialeinheit SOBR handelte) deine Nase nicht gefiel, wurde dir verboten, die Haltung zu wechseln, und du wurdest wegen wiederholter Bitten geschlagen. Später haben sie gesagt, dass jeder Versuch, die Haltung zu ändern, einem Fluchtversuch gleichkomme – das bedeutet Erschießen auf der Stelle.

    Aufforderungen zum Anhalten, um zur Toilette zu gehen, wurden ignoriert. Wir sollen einfach auf den Boden machen, schlug man uns vor. Einige konnten es nicht aushalten, machten sogar großes Geschäft. Und so sind wir im matschigen Kot herumgefahren. Wenn unseren Begleitern langweilig wurde, zwangen sie uns Lieder zu singen, meist die belarussische Hymne, und nahmen alles auf Handy auf. Wenn ihnen die Interpretation nicht gefiel, schlugen sie wieder zu. Wenn jemand schlecht sang, ließen sie ihn wieder singen, und sie bewerteten, wer wie sang. „Wenn ihr glaubt, dass ihr Schmerzen habt: Das sind noch keine Schmerzen! Die bekommt ihr jetzt im Gefängnis. Eure Liebsten werden euch nicht mehr wiedersehen!“, sagten uns die Wächter.

    Ihr werdet nicht mehr lange leben

    „Ihr … [obszönes Wort für Vollidioten – Znak] sitzt jetzt hier, eure Tichanowskaja … hat sich aus dem Land verpisst. Und ihr werdet nicht mehr lange leben“, sagte einer der Begleiter. 

    Die Fahrt dauerte zweieinhalb Stunden. Das waren zwei Stunden voll Schmerz und Blut. 
    Während der Fahrt gelang es mir tatsächlich, einen unserer Wächter zum Sprechen zu bringen (irgendwann dann hatte ich erfahren, dass es SOBR-Leute sind). Natürlich habe ich dafür ordentlich kassiert, aber ich bereue es nicht, schließlich ließ er mich später eine bequemere Pose einnehmen. 

    Ich fragte ihn, weswegen ich festgenommen wurde, weswegen ich eins mit dem Schild in den Nacken bekam, weswegen mir in die Nieren geschlagen wurde. „Wir warten nur darauf, dass ihr auf der Straße irgendwas in Brand setzt“, sagte er mir. „Dann werden wir auf euch schießen, wir haben einen Befehl. Die Sowjetunion war ein großartiges Land, aber wegen solcher Schwuchteln wie euch, ist sie untergegangen. Denn niemand hat euch rechtzeitig in die Schranken gewiesen. Wenn ihr [Russen] glaubt, dass ihr hier eure Tichanowsjaka eingeschleust habt, dann hat sie euch einen Bären aufgebunden. Ihr sollt wissen, dass es hier keine zweite Ukraine geben wird, wir werden es nicht zulassen, dass Belarus ein Teil von Russland wird.“

     „Warum [obszönes Wort für Vollidioten – Znak] bist du hierher gekommen?“, fragte er mich.

    „Ich bin Journalist, ich bin gekommen, um über das zu schreiben, was bei euch los ist.“
    „Na und was hast du geschrieben, du Wichser? Das Material wird dir noch lange in Erinnerung bleiben.“

    Hört auf uns zu quälen, bringt uns einfach raus und erschießt uns

    „Hört auf uns zu quälen, bringt uns einfach raus und erschießt uns“, rief währenddessen ein junger Mann, der durch die Schläge und Schmerzen bereits die Nerven verloren hatte.

    „Fick dich! So leicht kommt ihr nicht davon“, antwortete einer der Begleiter. 

    Auf dieser langen Reise durch die Hölle wurde mir klar, dass unter den SOBR-Leuten, die uns begleiteten, sowohl offene Sadisten als auch Ideologen waren, die glaubten, dass sie ihr Heimatland wirklich vor äußeren und inneren Feinden retten würden. Mit denen kann man also durchaus reden.


    Auf dem ganzen Weg wussten wir nicht, wohin sie uns brachten: in ein Revier, in Untersuchtungshaft, in ein Gefängnis oder vielleicht auch nur in den nächsten Wald, wo wir entweder zu Tode geprügelt oder einfach getötet würden. Ich übertreibe in keiner Weise bei der letzten Option: Ich hatte das Gefühl, dass alles möglich ist. 

    Wir wurden auf allen Vieren in einen Keller mit Wachhunden gebracht

    Als wir an der Endstation ankamen (ich nenne es so, weil ich bis zum Schluss nicht wusste, wo wir waren), standen wir dort noch anderthalb oder zwei Stunden, denn es waren noch sieben weitere Lastwagen gekommen, wir standen Schlange. Als wir den Befehl bekamen, aus dem Transporter auszusteigen, wurden wir auf allen Vieren in einen Keller gebracht, da standen Leute, und es gab Wachhunde. 

    Davon wurde die Angst vor dem, was kommt, stärker, aber am Ende war nicht alles so schrecklich wie bei der Polizei im Moskowski Bezirk. 

    Wir wurden lange Zeit durch Korridore geführt, dann brachte man uns in den Gefängnishof – in Filmen sieht man immer, wie Gefangene an solchen Orten spazieren gehen. Für uns war es fast wie im Himmel. 

    Seine Kniescheibe war herausgesprungen und baumelte herum

    Zum ersten Mal seit 24 Stunden konnten wir die Arme hängen lassen, aufrecht gehen, uns hinlegen, und, was am wichtigsten war: Wir wurden erstmals nicht geschlagen. Einen Typen hatten sie an der Wirbelsäule verletzt, OMON-Leute waren draufgesprungen, und seine Kniescheibe war herausgeschlagen und baumelte herum. Er kam in diesen Hof und fiel um.

    Zum ersten Mal wurden wir wie Menschen behandelt: Sie brachten einen Eimer, damit wir endlich auf Toilette gehen konnten. Sie brachten uns eine 1,5-Liter-Flasche Wasser. Natürlich war das für 25 Leute nicht genug, aber trotzdem …

    „Wird heute nicht mehr geprügelt?“, fragte einer der Gefangenen den Mann, der den Eimer und das Wasser gebracht hatte.

    „Nein“, sagte der Aufseher. „Jetzt bringen wir euch nur noch in die Zellen, das ist alles.“

    Da waren Unternehmer, IT-Spezialisten, Schlosser, Ingenieure, …

    Zum ersten Mal seit 24 Stunden konnten wir miteinander sprechen. Außer mir waren da Unternehmer, IT-Spezialisten, Schlosser, zwei Ingenieure, ein Bauarbeiter und auch ehemalige Häftlinge. Einer von denen sagte, dies sei die Strafkolonie in Shodino, er wisse das, weil er hier gesessen habe. Bald wurde auch mein Freund Nikolaj Arkadjewitsch in den Hof gebracht. 
    Ein Mann in Uniform trat auf die Brücke über dem Gefängnishof. 

    „Telishenko?! Ist Nikita Telishenko hier?“, rief er. „Ja“, antwortete ich. Der Mann in Uniform sprach mit dem Mann, der neben ihm stand, und dann schrie er: „Nikita, komm zur Tür. Du wirst gleich abgeholt.“

    Meine Zellengenossen freuten sich sehr für mich. „Nun, holen sie dich endlich“, verabschiedete sich Nikolaj Arkadjewitsch von mir. 

    Der Heimweg

    Der Mann in Uniform entpuppte sich als Oberst des belarussischen Strafvollzugs namens Iljuschkewitsch. Er sagte, dass nun ich und ein anderer Russe (es stellte sich heraus, dass es ein Korrespondent von RIA Nowosti war) mitgenommen würden. Ich wusste nicht, wer uns abholen würde. „Jemand vom KGB oder von der Botschaft“, dachte ich. Sie gaben mir alle meine Sachen, und wir gingen durch die Gefängnistore hinaus. 

    Dort standen viele Menschen: Leute, die nach den Festnahmen ihre vermissten Angehörigen suchten, Menschenrechtler. Wir wurden von einer Frau empfangen, die sich als Mitarbeiterin des Migrationsamtes von Belarus vorstellte, sie brachte uns in die Stadt, wo unsere Fingerabdrücke genommen wurden und wir einen Abschiebebefehl erhielten, demzufolge ich und der Korrespondent von RIA Nowosti das Territorium von Belarus bis 24:00 Uhr dieses Tages verlassen sollten. Zu diesem Zeitpunkt war es bereits 22:30 Uhr. 

    Ihr zufolge sollte ich morgen vor Gericht gestellt werden, aufgrund welcher Anklage konnte sie nicht erklären (ich bekam keine Dokumente zu Gesicht, die mich zur administrativen oder strafrechtlichen Verantwortung zogen, es wurde keine Anklage gegen mich erhoben), sagte aber, ich könnte zwischen 15 Tagen und sechs Monaten ins Gefängnis gesteckt werden. 


    Dann kam ein Mitarbeiter der russischen Botschaft in Belarus. Er sagte, um uns zu finden, habe der russische Botschafter persönlich den belarussischen Außenminister angerufen. Der Diplomat setzte uns ins Auto und brachte uns nach Smolensk. 

    In den verbleibenden anderthalb Stunden schafften wir es, die Grenze zu Russland zu überqueren und kamen um 2:30 Uhr in Smolensk an. Der Konsul kaufte uns einen Burger, weil weder ich noch mein Kollege russisches Geld hatten, fuhr uns ins Hotel und ging.  
    Jetzt fliege ich nach Moskau, um von dort nach Jekaterinburg nach Hause zu fliegen.

    Die Redaktion von Znak dankt für die Hilfe bei der Freilassung von Nikita Telishenko dem russischen Außenministerium, der russischen Botschaft in Belarus, der Vertretung des russischen Außenministeriums in Jekaterinburg und dem Ministerium für Internationale und Außenwirtschaftliche Beziehungen der Region Swerdlowsk.

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    Zitat #8: Sanktionen gegen Lukaschenko?

    Aus Belarus dringen immer mehr Meldungen über die zunehmende Brutalität der OMON-Kräfte gegen Demonstranten im ganzen Land. Offiziell gab es schon mehr als 6000 Festnahmen, aus belarussischen Gefängnissen wird über massive Misshandlungen und Folter berichtet. Trotz dieser Drohkulisse gehen immer noch zahlreiche Menschen auf die Straße: Offenbar sind sie trotz steigender Brutalität entschlossen, gegen die massiven Wahlfälschungen zu protestieren.

    Vor diesem Hintergrund wollen die EU-Außenminister am Freitag Krisengespräche über Belarus führen. Zahlreiche zivilgesellschaftliche Initiativen fordern Sanktionen gegen das Regime Lukaschenko, auch weil sie sich dadurch ein Ende des Blutvergießens erhoffen. Auch einige Abgeordnete des Europaparlaments drängen auf einen Sanktionsbeschluss der EU-Außenminister. Ernsthafte Sanktionen sind jedoch unwahrscheinlich, argumentiert der stellvertretende Chefredakteur von Carnegie Maxim Samorukow. Denn die EU stecke in einem unauflösbaren Dilemma.

    [bilingbox]Weder die Europäische Union noch die Vereinigten Staaten haben Belarus derzeit etwas zu bieten, was seine Abhängigkeit von Russland zumindest irgendwie verringern könnte. Angesichts der gegenwärtigen Uneinigkeiten und Krisen ist dem Westen derzeit überhaupt nicht nach kühnen Projekten im postsowjetischen Raum. Das wichtigste Ziel ist, dass es nicht noch schlimmer wird. Doch noch Schlimmeres könnte der Sturz von Lukaschenko durchaus provozieren – zum Beispiel in Form einer russischen Intervention nach ukrainischem Vorbild von 2014

    Lukaschenko nährt diese Befürchtungen nicht besonders elegant, dafür aber fleißig. Noch nie zuvor hat er so scharf und so oft über die russische Bedrohung gesprochen wie in diesem Wahlkampf. Und die Verhaftung von Angehörigen der weltberühmten Firma Wagner dürfte die schlimmsten Befürchtungen des Westens bestätigt haben.

    Nach so etwas wäre es ungünstig, Sanktionen gegen das belarussische Regime zu verhängen, selbst als Reaktion auf die brutalste Unterdrückung von Protesten. Denn weiß der Kuckuck, wo Lukaschenko Menschenrechte verletzt, und wo er zu der gemeinsamen Sache beiträgt, die hybride russische Bedrohung zu bekämpfen.~~~Ни Евросоюзу, ни США сейчас нечего предложить Белоруссии, что могло бы хоть как-то уравновесить ее зависимость от России. С нынешними разладами и кризисами Западу вообще не до смелых проектов на постсоветском пространстве. Главная цель – не стало бы хуже. А свержение Лукашенко вполне может это хуже спровоцировать – например, в виде российской интервенции по украинской модели 2014 года. 
    Лукашенко эти страхи не особенно изящно, но старательно поддерживает. Никогда раньше он не говорил о российской угрозе так жестко и так часто, как в эту кампанию. А уж арест людей под всемирно известным брендом «Вагнер» должен был подтвердить самые мрачные опасения Запада.

    После такого накладывать санкции на белорусский режим будет неудобно даже в ответ на жэстачайшый разгон протестов. Потому что поди разбери, где тут Лукашенко нарушает права человека, а где вносит посильный вклад в общее дело борьбы с гибридной российской угрозой.[/bilingbox]

    In ganzer Länge erschien der Artikel am 10.08.2020 auf carnegie.ru unter dem Titel Dosrotschno spissanny. Schto shdjot reshim Lukaschenko posle wyborow (dt.„Verfrüht abgeschrieben. Was dem Regime Lukaschenko nach der Wahl droht“). Das russische Original lesen Sie hier.

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    Der Crowdsourcing-Protest

    In der dritten Nacht in Folge ist es in Minsk zu schweren Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften gekommen. Der österreichische Osteuropa-Korrespondent Stefan Schocher berichtet auf Facebook, dass schwere Armee-Einheiten ins Zentrum verlegt worden sind: „Ob das eine Eskalations-Stufe ist oder eine Machtdemonstration auf verlorenem Posten, ist unklar“, so Schocher. „Es gab bereits starke Anzeichen, dass die Loyalität der Armee zum Regime in Frage steht. Die Armee einzusetzen, könnte sich für Lukaschenko also als Bumerang erweisen – die meisten Soldaten sind Präsenzdiener, Jungs aus dem Volk.“ So wie Schocher berichten auch zahlreiche Augenzeugen, dass die Sicherheitskräfte bemüht waren, kleinere Protestansammlungen immer wieder schnell zu zerschlagen. Es kam zu zahlreichen Festnahmen, die Menschenrechtsorganisation Viasna zeigt Bilder von Menschenmassen vor einem Minsker Gefängnis, die versuchen, etwas über den Verbleib von Angehörigen herauszufinden.

    Wie organisiert oder unorganisiert sind die Proteste – auch im Vergleich zum Protest nach der Wahl 2010? Und haben die Demonstranten wirklich eine Chance – wie lange wird Lukaschenko noch an der Macht bleiben? 

    Meduza hat darüber mit verschiedenen belarussischen und russischen Experten gesprochen. Und zeigt außerdem Fotos von der ersten Protestnacht in Minsk.

    Foto © Maxim S.
    Foto © Maxim S.

    Auch 2010 war die Opposition nach der belarussischen Präsidentschaftswahl zu Protesten auf die Straße gegangen, die aber von den Sicherheitskräften schnell niedergeschlagen wurden. Warum ging es dieses Mal nicht genauso glatt?

    Rygor Astapenja, Politologe, Stipendiat der Robert-Bosch-Stiftung bei Chatham House (London) und Forschungsdirektor am Zentrum für neue Ideen (Belarus)
    Seit 2010 hat sich die Protestplanung stark verändert. Jetzt sind die Proteste unorganisiert, autonom, man könnte sagen, wie Crowdsourcing. Das Regime wiederum musste plötzlich erkennen, dass seine Ressourcen begrenzt sind und es nicht alle Kräfte zusammen einsetzen kann. Es war genötigt, erst auf den einen Protestherd zu reagieren, dann auf den nächsten, dann wieder den nächsten … Die Regierung war einfach nicht auf diese Art von Protesten vorbereitet, bei denen die Sicherheitskräfte über ganz Minsk verteilt werden müssen; und außerdem muss man sich nicht nur um Minsk kümmern, sondern um viele Städte in ganz Belarus.

    Jetzt sind die Proteste unorganisiert, autonom, man könnte sagen, wie Crowdsourcing

    Daher fiel die Reaktion des Regimes in mehrfacher Hinsicht sogar noch brutaler aus als früher. Wasserwerfer, Blendgranaten, Gummigeschosse – das hat es früher nicht gegeben. Doch letztendlich hat das den Unterschied zur Situation 2010 nur deutlicher gemacht: Lukaschenko ist nicht mehr der allgemein anerkannte, populäre Führer, vor allem seit gestern [dem Wahltag 9.8.2020 – dek] nicht mehr.

    Foto © Maxim S.
    Foto © Maxim S.
    Foto © Maxim S.
    Foto © Maxim S.


    Artyom Shraibman, politischer Beobachter aus Minsk
    2010 hatten es die Sicherheitskräfte einfacher, weil sich die Unzufriedenen alle an einem Ort im Minsker Stadtzentrum versammelt hatten, neben dem Parlamentsgebäude. Als die Demonstration aufgelöst werden sollte, hatten zwei Drittel der Menschen den Ort schon verlassen. 

    Diesmal waren die OMON-Einheiten und anderen Sicherheitskräfte nicht nur über Minsk verteilt, sondern im ganzen Land. Viele waren damit beschäftigt, die Menschen von den Wahllokalen wegzujagen, die dort eine ehrliche Stimmauszählung forderten. Der Widerstand war diesmal stärker: Ich kann mich nicht erinnern, dass 2010 ernsthaft versucht wurde, sich zu widersetzen. Jetzt liegen einige Dutzend Angehörige der OMON-Einheiten im Krankenhaus, auf vielen Videos ist zu sehen, wie Demonstranten andere Protestierende verteidigten oder sie den Sicherheitskräften wieder entrissen. Und wenn es mehr Demonstranten als OMON-Leute gab, gingen erstere zum Gegenangriff über: Als Antwort auf die Schlagstöcke flogen Flaschen.

    Foto © Maxim S.
    Foto © Maxim S.

    Die organisierte Opposition steht nur in mittelbarer Verbindung zu diesen Protesten. Die meisten Oppositionsführer sind schon vor den Wahlen hinter Gitter gewandert, der Wahlkampfstab von Swetlana Tichanowskaja nahm nicht Teil, koordinierte nicht, organisierte nicht und hat sich den Protesten jetzt nicht direkt angeschlossen. Wenn die Unzufriedenen auf die Straße gehen, dann folgen sie vor allem Aufrufen von Bloggern über Telegram. Die meisten Autoren dieser Kanäle haben das Land verlassen, also ist es nur schwer vorstellbar, dass sich diese Opposition neu organisiert, weil es eben keine Organisation gegeben hat. Es gibt Menschen, aber keine Strukturen. Also kein Szenario wie in der Ukraine.

    Insofern wird jetzt alles davon abhängen, wie und mit welcher Brutalität sich die Ereignisse weiter entwickeln werden, davon, ob es zu [weiterem] Blutvergießen kommt oder nicht. Wenn ja, könnte das dem Verhalten der Nomenklatura und der Radikalisierung der Bürger eine neue Dynamik geben. Bislang sieht es so aus, dass das Regime genügend Kraft hat. Und wenn die Opposition nicht noch einen beträchtlichen Erfolg erringt (schwer zu sagen, was das sein könnte, außer vielleicht der Besetzung eines Verwaltungsgebäudes), dann werden die Proteste wohl einfach allmählich niedergeschlagen.

    Foto © Maxim S.
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    Margarita Sawadskaja, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Politikwissenschaftlichen Fakultät der Europäischen Universität in Sankt Petersburg
    Das Wichtigste ist, dass es jetzt über Minsk hinaus Proteste gibt. In diesem Jahr gibt es ein Crowdsourcing, die Proteste stehen für sich, ohne Anführer. Selbst der gute Herr Lukaschenko hat eingestanden, dass er nicht versteht, wer hier gegen ihn kämpft. 2010 hatten die Proteste noch ausschließlich in der Hauptstadt stattgefunden und waren enger auf einen belarussischen Nationalismus ausgerichtet. 

    Jetzt ist es eine breitere Koalition, die aktiv ist, und alles wird davon abhängen, wie sehr der Oppositionsstab das Vorgehen erfolgreich koordiniert und wieviele Menschen auf der Straße sein werden. In den kleineren Städten waren Erfolge zu beobachten, als die OMON vor den Protestierenden zurückweichen musste. Das ist ein wichtiges Signal, dass vielleicht noch nicht alles entschieden ist, selbst wenn die Prognose der Experten dahin geht, dass das Regime sich noch eine gewisse Zeit halten wird.

    Das ist eine einzigartige Situation, Netflix sollte eine Serie darüber drehen

    Der Begriff Opposition ist jetzt weit gefasst und unscharf. Die Infrastruktur der Opposition ist potenziell sehr machtvoll: Es gibt die Telegram-Kanäle und das Bedürfnis der Menschen nach neuen Oppositionsführern. 2010 musste man sich um das Vertrauen der Bürger bemühen, musste Programme schreiben – 2020 ist das nicht mehr nötig. Jetzt muss man standfest und überzeugt sein und offen sagen, dass man einen Regimewechsel will. Das hat [Swetlana] Tichanowskaja getan: Sie hat kein Programm, keine politische Erfahrung, ist aber zu einem Symbol geworden. Wahrscheinlich haben am Wahltag die meisten Belarussen für sie gestimmt. Wir können das zwar nicht mit Sicherheit sagen, aber wenn wir davon ausgehen, dass in einigen Wahllokalen ehrlich ausgezählt wurde und Tichanowskaja dort gesiegt hat, hat sie wahrscheinlich überall gesiegt. Das ist eine einzigartige Situation; Netflix sollte eine Serie darüber drehen.

    Foto © Maxim S.
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    Wird Lukaschenko noch lange an der Macht bleiben?

    Margarita Sawadskaja
    Viele Experten sind sich einig, dass dies Lukaschenkos letzte Amtszeit sein wird, auch wenn die Statistik darüber, wie lange autoritäre Regime überleben können, bislang für ihn spricht. Solche Regime sind gewöhnlich langlebig. Politologen unterscheiden drei Typen moderner autoritärer Regime: Militärjuntas, Einparteiensysteme und personalistische Diktaturen. Letztere stellen in der jüngsten Geschichte die überwiegende Mehrheit, und sie leben am längsten, weil die Eliten koordiniert werden im Umfeld einer Person, der sie alle vertrauen. Es kommt nicht so sehr darauf an, über welche individuellen Fähigkeiten diese Person verfügt, die Qualitäten ändern sich mit der Zeit oder verlieren ihre Bedeutung. Für die Eliten ist es wichtig, Gewissheit über die Zukunft zu haben, insbesondere in autoritären Regimen, in denen formale Regeln keine sonderlich große Rolle spielen.

    Diese Regime sind in der Regel auf die Lebenszeit des Diktators beschränkt. Für den Diktator und seine Umgebung ist das alles sehr unsicher, da das Regime für sie praktisch die einzige Option darstellt. Selbst wenn der Diktator sehr amtsmüde werden sollte, wird er sich bis zum Schluss an seine Macht klammern, weil sonst niemand für seine persönliche Sicherheit garantieren kann. Kommt es dann zu einem Regimewechsel, geht die Gefahr von der Elite aus. Sogar in Belarus gibt es ein Urbild hiervon: Schließlich sind [Waleri] Zepkalo und [Viktor] Babariko ihrem Profil nach typische systemtreue Liberale und keineswegs Revolutionäre, sondern Menschen, die sehr wohl wissen, wie das Regime funktioniert. Es wäre verfrüht, das aktuelle Geschehen in Belarus als Spaltung innerhalb der Eliten zu betrachten, aber: Solche Regime beginnen zusammenzubrechen, wenn sich Teile jener Elite abspalten, auf die sich die Diktatoren stützen.

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    Jedes autoritäre Regime muss sich zur Stabilitätssicherung auf eine breite Basis in der Gesellschaft stützen; Lukaschenko selbst hat diesen Rückhalt jetzt geschmälert. Man darf das Volk nicht als „Völkchen“ bezeichnen, insbesondere dann, wenn der Wohlstand breiter Gesellschaftsschichten immer weniger garantiert wird. Allem Anschein nach stützt sich Lukaschenko jetzt allein auf die Sicherheitskräfte und die Bürokratie. Das ist keine allzu breite Basis, auch wenn der staatliche Sektor in Belarus sehr umfangreich ist. Doch auch dort sind Lebensstandard und Karriereaussichten in Gefahr.

    Das nennt sich Lahme-Enten-Syndrom, wenn nämlich von einem Diktator das Signal ausgeht, dass er politisch handlungsunfähig ist. Erscheint er mit einem Katheter, ist das ein direkter Hinweis auf gesundheitliche Probleme. Für personalistische Regime ist es extrem wichtig, einen gesunden politischen Führer zu haben, der Tatkraft zeigt und angemessene Entscheidungen trifft. Das bedeutet eine Erleichterung für die Eliten, die ja wissen wollen, auf wen sie sich zu stützen und mit wem sie sich zu arrangieren haben.

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  • „Ich hoffe, wir werden das nie verzeihen“

    „Ich hoffe, wir werden das nie verzeihen“

    Schon in der Nacht nach dem Wahlsonntag gingen die Menschen in ganz Belarus auf die Straße. Am gestrigen Abend und in der Nacht hielten die Proteste an. Tausende demonstrierten im ganzen Land gegen Wahlfälschung, sie riefen „Geh weg“, „Wandel“ und „Es lebe Belarus!“. Das Regime reagierte mit Härte, erneut kamen Gummigeschosse und Blendgranaten zum Einsatz. Es gab zahlreiche Festnahmen, staatlichen Angaben zufolge kam ein Demonstrant ums Leben, als er einen Sprengkörper auf die OMON-Truppen habe werfen wollen.

    Unterdessen hat die oppositionelle Präsidenschaftschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja das Land verlassen und ist in Litauen. Beobachter gehen davon aus, dass sie zu diesem Schritt gezwungen wurde. Der Protestbewegung fehlt ein politischer wie organisatorischer „Kopf“, vielmehr sind es viele kleine und dezentrale Protestaktionen. Da das Internet größtenteils blockiert ist und auch Messengerdienste nicht funktionieren, bekommen die Menschen in Belarus kaum Informationen über Ausmaß und Ablauf der Proteste. So stimmen sich die Protestierenden – die aus ganz unterschiedlichen Altersklassen und sozialen Gruppen kommen – über Mund-zu-Mund-Propaganda oder das Telefon ab.

    Nach der ersten Protestnacht hat Meduza mit Demonstranten im ganzen Land gesprochen: darüber, wie sie den Wahltag und die anschließenden Proteste erlebt haben, über ihre Wut und ihre Hoffnung.

    Maxim Solopow, Meduza-Korrespondent in Minsk, wird unterdessen vermisst. Die Redaktion hatte zuletzt am Montagmittag Kontakt zu ihm. Augenzeugen berichten, dass er am Montag von der Polizei angegriffen, zusammengeschlagen und festgenommen worden sei. Die Redaktion hat derzeit keinen Kontakt mehr zu ihrem Mitarbeiter und keine Nachricht über seinen Verbleib.

    „Das Furchtbarste ist die Gesetzlosigkeit“

    Elisaweta aus Minsk

    Ich bin in das Wahllokal in dem Gymnasium gegangen, in dem ich vor 20 Jahren selbst zur Schule ging. Ich war mit meiner Schwester da. Es war schon gegen 16 Uhr, mit uns ging eine weitere Person rein, dann sah ich noch eine … war nicht voll.

    Nachdem ich gewählt hatte, fuhr ich in eine Wohnung direkt im Zentrum in der Uliza Saslawskaja, um mich mit Freundinnen von der Uni zu treffen. Wir tauschten uns aus, wer wie wo gewählt hatte. Gewonnen hat die Geschichte, wo der Wahlzettel schon angekreuzt war – ratet mal, wo das Kreuz war? Gegen 20 Uhr gingen wir zum Wahllokal einer Freundin und warteten auf die Bekanntmachung des Wahlprotokolls. 

    Gegen 22 Uhr traten drei Menschen aus der Schultür und brummelten, dass es „kein Protokoll geben wird!“. Jemand der Wartenden sagte, dass die Wahlzettel schon aus dem Hintereingang rausgebracht worden seien. Später las ich auf [der unabhängigen belarussischen Internetseite – dek] tut.by über dieses Wahllokal, dass das wirklich so abgelaufen ist … 

    Gegen 22 Uhr gingen wir dann weiter, hinunter ins Zentrum zu dem Obelisken, um zu schauen, was in der Stadt los ist. Es wurden immer mehr Menschen, die meisten liefen in dieselbe Richtung, den Prospekt Mascherow entlang. Bald stießen wir auf die erste Menschenansammlung, die in die andere Richtung rannte, weg von dem Obelisken. Instinktiv wollten wir ihnen folgen und fragten einen Jugendlichen: „Warum rennt ihr weg?“ Er antwortete: „Die haben gesagt: Rennt!“ So eine Panikwelle gegen den Strom gab es dann später nochmal. 

    Wir liefen in die andere Richtung, den Hügel hinauf, um zu sehen, was bei dem Obelisken los war. Wir trafen Freunde auf Fahrrädern … die erzählten auch, dass sie weggerannt seien … Langsam ergab sich ein Bild: Menschen gingen Richtung Zentrum und bekamen Angst eingejagt. Wir sahen Gefangenentransporter und Leuchtfeuer – als gäbe es ein Feuerwerk mit Knallkörpern, die die Leute unweigerlich in die andere Richtung laufen ließen, eine mehr oder weniger große Anzahl von Menschen. Einen Schritt vor, zwei zurück … Das erinnerte alles mehr und mehr an das Treiben von Vieh, es wurde ekelig. Wir beschlossen abzuhauen und am nächsten Tag wiederzukommen [10. August].

    Das Furchtbarste ist die Gesetzlosigkeit. Dass man sich auf nichts verlassen kann, dass die einzig sinnvolle Taktik mittlerweile die Flucht aus dem Land ist. Meine Verwandten und Freunde haben entweder selber vor, mit der ganzen Familie auszureisen oder zumindest die Kinder zum Studium wegzuschicken. Das sind kluge, friedliche, arbeitsame Menschen. 


    „Wir saßen einfach alle da, alle unter Schock“

    Juri aus Mogiljow (belarus. Mahiljou)
     
    So etwas wie in Minsk hatten wir hier nicht. Sondern bei uns waren etwa tausend friedliche Menschen auf dem Platz in der Nähe des Einkaufszentrums Atrium, aber sie waren da nicht zur selben Zeit, und es haben auch nicht alle Tausend „Es lebe Belarus“ skandiert. Richtig aktiv waren nur so 500 von diesen Leuten. Von Seiten der staatlichen Organe kamen immer mehr und mehr, aber ich würde sagen, am Ende waren es 200 bis 300. Das war genug, denn die Menschen waren nicht auf Zusammenstöße mit der Polizei aus, sie sind einfach nur deswegen rausgegangen, um friedlich für ihre Wählerstimme einzutreten. 

    Dann gingen die Fangspiele los: Diejenigen, die Flaggen hatten, wurden zuallererst in die Gefangenentransporter gebracht – rund zehn Menschen haben die verhaftet. Wenn du ein weißes Bändchen trägst oder ein weißes Armband, dann kommen die einfach mit einem Schlagstock auf dich zu, quasi um klar zu machen, dass du nach Hause gehen sollst. Du rennst dann weg vor denen. Dann haben sich die Menschen in Cafés und Einkaufszentren versteckt. Zwischen neun und zehn Uhr abends haben sie alle vertrieben. Wie es weiterging, weiß ich nicht, wir sind alle nach Hause gefahren. Es ist nur so, dass die Medien von 120 Menschen schreiben, die in Mogiljow festgenommen wurden. Ehrlich gesagt, so viele festgenommene Menschen hab ich nicht gesehen. Vielleicht ging das aber nach 22 Uhr noch weiter.

    Dass die einen so mit Schlagstöcken verprügeln wie in Minsk, das hab ich nicht gesehen. Manche wurden geschnappt – solche die am aktivsten waren, laut skandiert haben oder die mit Flaggen – die haben sie einfach in den Gefangenentransporter gesteckt. Ich glaub, irgendwann wird es Videos davon geben, die Leute haben sich schon VPN eingerichtet. 

    Zwischen fünf Uhr abends und zehn Uhr morgens hatten wir einen kompletten Internet-Ausfall. Im Jahr 2020! Nichts ging, wir konnten nur rätseln, was gerade in Minsk los war. Die gewöhnlichen VPNs funktionierten nicht, da braucht man schon was Solideres. Die Leute haben sich dann gegenseitig mit Anwendungen über Bluetooth versorgt, Download geht ja nicht – weder aus dem AppStore noch aus dem PlayMarket. Wenn du das dann installiert hast, dann hast du Internet: Die Leute gucken dann auf Telegram, auf YouTube. Als ich das gesehen habe, war’s echt ein Schock, voll krass. 

    Es gibt keine Möglichkeit, nach Minsk reinzukommen: Gestern ab vier Uhr standen die da am Stadteingang mit Schusswaffen und haben entschieden, ob sie einen in die Stadt lassen oder nicht. Wenn du nicht in Minsk registriert bist, dann kommst du nicht rein. Keine Ahnung, ob man mit der Bahn oder in Marschrutkas reinkommt. Noch sind nicht alle wieder online, ich schätze so zehn Prozent: nämlich die, die schon vorher VPN hatten, sich darauf vorbereitet haben. 

    Unsere Clique hier ist echt im Schock, ich hab keine Ahnung, was ich tun soll. Wir haben uns gestern kurzgeschlossen, sind ins Schulstadion gegangen, da gibt es Bänke. Um nicht zu lügen, es waren so 200 Menschen im Stadion, die sind mit Autos gekommen. Haben Musik gehört, Zoi und so, und saßen da einfach, alle unter Schock.


    „Wer diese Menschenmassen gesehen hat, wird nie den offiziellen Zahlen glauben“

    Andrej aus Minsk

    Ich bin erst gegen 22 Uhr demonstrieren gegangen, bis dahin hatte ich versucht durch die abgeriegelte Stadt zu meiner Freundin zu gelangen. Einen Teil des Wegs konnte ich noch per Metro zurückzulegen, aber die Umsteigestation war geschlossen. Später machten sie noch mehr Stationen dicht. Sogar zu Fuß kam man nicht überall voran: Die Polizei sperrte Kreuzungen und ließ die Menschen nur in eine Richtung laufen. Wobei die Beamten freundlich waren, einer erklärte mir, welchen Umweg ich nehmen sollte. 

    Meine Freundin und ich gingen dann zu zweit los und hörten schon von weitem Lärm. Das war das Wahllokal in einer Schule, in der Tichanowskaja mehr Stimmen als Lukaschenko bekommen hatte, und alle freuten sich sehr darüber. An allen Wahllokalen hielten Leute Wache und forderten eine ehrliche Stimmauszählung – hier hatte das offensichtlich geklappt.

    Auf der Storoshowskaja Uliza waren schon viele Menschen und vor allem: ein Hupen von allen Seiten. Autos mit Belarus-Flaggen fuhren vorbei, Menschen zeigten das Victory-Zeichen und eine Faust. Dann zogen wir weiter zum Starostinski Slobida Park. Hier war eine kleine Brücke, die die OMON-Kräfte blockiert hatten, daneben noch eine, die von Menschen blockiert war, in Richtung Obelisk. 

    Die OMON stand uns zugewandt, aber als die Demonstranten die Taschenlampen ihrer Smartphones anschalteten, wurde klar, dass wir mehr sind als wir dachten und dass wir sie von allen Seiten umstellen. Die Menschen riefen „Es lebe Belarus“, „Polizei beim Volk dabei“, „Schande“ und Standartslogans mit Klatschkonzert.

    Immer wieder wurden wir mit Leuchtgranaten beworfen, so Schreckschussgeschosse, nicht gefährlich, wie mir schien. Erst am nächsten Tag sah ich auf einem Foto einen Jugendlichen, der durch so eine Granate seine Ferse verloren hatte.

    In der Menge traf ich zwei ältere Leute, die ihren Sohn suchten. Der war ohne Telefon aus dem Haus gegangen, damit man nichts bei ihm findet, sollte er gefasst werden. Ich hoffe, da ist alles gutgegangen.

    Dann begannen sie, die Protestierenden zurückzudrängen, es kam wohl ein Wasserwerfer zum Einsatz: Ich sah spritzendes Wasser, als alle wegliefen. Auf der Straße sahen wir, wie die Autofahrer mit den Verkehrspolizisten stritten, die die Straße absperrten. Die Polizisten zogen sich unter Applaus nach einer Weile zurück. 

    An der Ecke Dauman und Mascherow stießen wir wieder auf den Protestzug. Die Menschen versuchten die OMON-Einheiten davon zu überzeugen, die Schilde niederzulegen. Wir waren zahlenmäßig erheblich im Vorteil, regelmäßig verteidigten wir unsere Leute, wenn sie versuchten, sie sich zu schnappen. 

    Die OMON-Truppen setzten Granaten ein, ich glaube, auch mit Reizgas: Ich stand in der Nähe des Epizentrums und musste husten, neben mir haben mehrere andere Menschen gehustet. Das Gas schien aber keine ernsthaften Folgen zu hinterlassen. Nach einer der Explosionen wurde ein Mann verletzt, wir haben seine Wunde mit Wasserstoffperoxid gespült. Er weigerte sich, einen Verband anzulegen, weil die Wunde oberflächlich war. Bei den Protesten helfen sich die Menschen gegenseitig: Sie geben einem etwas zu Trinken, erzählen, was sie über andere [Protest-]Orte wissen.

    Nach einer Weile haben die angefangen, auch diesen Platz zu räumen, höchstwahrscheinlich weil da immer mehr Menschen hingeströmt sind. Die Miliz kam gleichzeitig aus drei Richtungen auf uns zu. Alle haben dann schnell die Flucht ergriffen. Wir trafen eine Gruppe im Park, sie gaben uns Wasser mit, weil sie mehrere Flaschen hatten. Wir haben mit allen, die wir getroffen haben, Informationen ausgetauscht. Alle waren bereit, morgen auf die Straße zurückzukehren.

    Wir haben dann keine weiteren Protestgruppen mehr gefunden. Einige Leute sagten, es sei schon vorbei, es war auch schon so gegen zwei, drei Uhr morgens. Ich hab eine SMS gekriegt, dass die OMON-Einheiten nun hinter kleineren Gruppen her sind. Uns wurde klar, dass es auf der Straße nichts mehr zu holen gibt, also haben wir versucht, nach Hause zu kommen.

    Da hatte ich schon den Verdacht, zu Hause war es mir dann aber ganz klar, dass die OMON-Einheiten einfach den Macker raushängen ließen, dass sie jeden verprügelten, der ihnen über den Weg lief. Sie wurden von der Kette gelassen und durften tun und lassen, was sie wollten. Ich hatte echt Angst um die Frau, mit der ich dort war. Ohne Internet kann man kein Taxi rufen, der öffentliche Nahverkehr ging nicht mehr. Wir sind dann zu Fuß nach Hause, über die Höfe, haben uns vor den Autos versteckt. Alle, die wir auf dem Weg getroffen haben, haben wir vor der Gefahr gewarnt. 

    Ich bin echt maximal beeindruckt vom Protest. Wer auf der Straße war, diese Menschenmengen gesehen hat, das Autogehupe gehört – als würde die Welt untergehen –, der wird nie den Zahlen glauben, die die Zentrale Wahlkommission erdichtet hat. Er wird nie glauben, dass die Belarussen sich das gefallen lassen werden. Das ist jetzt die wichtigste Etappe auf dem Weg zu einem neuen Selbstverständnis der Belarussen: Wir haben Initiativen, um denjenigen zu helfen, die wegen ihres bürgerschaftlichen Engagements ihre Arbeit verloren haben, wir retten die Menschen buchstäblich aus den Fängen des Staates, die Bürger wissen, dass es jemanden gibt, der sie unterstützt. Wir zerstören keine Geschäfte und plündern nicht wie unsere Freunde und Nachbarn. Unser Hauptfeind aber – der saugt den Lebenssaft unseres Landes aus. Ich habe kein Mitgefühl mehr für die OMON-Einheiten, die Lukaschenko beschützen. Das sind Verräter ihres eigenen Volkes, ich hoffe, wir werden das nie verzeihen.

    Ich werde auf jeden Fall zu Protesten gehen, es ist sehr wichtig dort zu sein – dann sind die Menschen mutiger und spüren die Stärke und Unterstützung. Sie halten jetzt Geiseln fest, die sie zu Prügelknaben machen werden – deshalb haben wir kein Recht aufzugeben. Lukaschenko hasst definitiv dieses Land und sein Volk, ich bin sicher, dass er in den Bürgerkrieg ziehen wird, um auf dem Thron zu bleiben.

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    Belarus hat gewählt. Es waren keine OSZE-Wahlbeobachter zugelassen, wie jedes Mal hat der autoritär regierende Amtsinhaber Alexander Lukaschenko, seit 26 Jahren an der Macht, laut offiziellen Zahlen die meisten Stimmen geholt, nämlich 80,23 Prozent. Und doch scheint diese Wahl noch längst nicht entschieden: „Lukaschenko mag zum Wahlsieger erklärt werden“, schreibt die belarussische Journalistin Hanna Liubakova, „aber dieser Sieg wird nicht lange dauern.“

    Schon im Vorfeld der Wahl hatte sich erstmals seit vielen Jahren landesweiter Protest geregt: Swetlana Tichanowskaja, Ehefrau des inhaftierten Präsidenschaftskandidaten Sergej Tichanowski, hatte die Kandidatur ihres Mannes übernommen. Tichanowskajas Wahlversprechen: Die Freilassung der politischen Gefangenen und faire Neuwahlen. Zu ihren Ansprachen in der Hauptstadt Minsk und in kleineren Städten des Landes strömten Zehntausende zusammen – ein Novum in der Geschichte von Belarus. 

    Am Wahltag machten in Sozialen Netzwerken Videos von Wahlfälschungen die Runde. Erste offizielle Zahlen sahen Lukaschenko deutlich vorne, es tauchten jedoch zahlreiche Fotos von Auszählprotokollen „ehrlicher“ Wahllokale auf, wonach Tichanowskaja deutlich mehr Stimmen als der Amtsinhaber bekommen hat. Noch in der Nacht kam es zu heftigen Ausschreitungen und Zusammenstößen zwischen Demonstrierenden und der Polizei, in Minsk wurden teils sogar Barrikaden errichtet, die Polizei setzte Gummigeschosse und Blendgranaten ein. Es gab Dutzende Schwerverletzte, nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Viasna sogar einen Toten. Laut offiziellen Zahlen wurden 3000 Menschen festgenommen, darunter auch drei Journalisten des unabhängigen russischen TV-Senders Doshd. Unterdessen hat sich Swetlana Tichanowskaja zur Wahlsiegerin erklärt und bot Lukaschenko Gespräche an.

    In Russland kommentieren zahlreiche Oppositionelle und Liberale das Geschehen im Nachbarland – und diskutieren vor allem, inwiefern es eine Blaupause für die Entwicklung in Russland sein könnte: Nimmt Belarus derzeit die Ereignisse im Russland von 2024 vorweg? Wir bringen Ausschnitte aus den Analysen und Kommentaren, die gleich in der Nacht unmittelbar nach der Wahl in Sozialen Medien gepostet wurden.

    Sergej Parchomenko: Schlüssel zum Erfolg liegt in den Regionen

    Journalist Sergej Parchomenko meint, dass den Regionen derzeit eine besondere Rolle zukomme:

    [bilingbox]Beim belarussischen Protest scheint der Schlüssel zum Erfolg jetzt nicht in Minsk zu liegen, sondern gerade in den kleinen Provinzstädten. Von dort wurden Miliz und OMON abgezogen, um Minsk abzusichern.
    Dort, in den kleinen Städten, wo alles übersichtlich ist und jeder jeden kennt, können die Menschen Druck ausüben auf die örtlichen Wahlkommissionen und Verwaltungen, sie können die Veröffentlichung der echten Wahlergebnisse fordern.
    Es müssten nur zwei, drei Städte auftauchen (ja, ganze Städte und nicht einzelne Wahlbezirke), in denen Tichanowskaja gewonnen hat und wo dieses Ergebnis offiziell festgehalten wird – und sofort würde eine Welle von Forderungen folgen, das echte Ergebnis im ganzen Land anzuerkennen. Das wird sich kaum unterdrücken lassen: Für die Verwaltungsleute und Offiziere ist es in der Provinz deutlich schwerer, das Plattmachen der eigenen Nachbarn zu befehligen, von Menschen, die man oft persönlich und beim Namen kennt.~~~Складывается такое впечатление, что ключ от успеха белорусского протеста сейчас оказался не в Минске, а наоборот, в небольших провинциальных городах. Оттуда забрали милицию и ОМОН […] и бросили на укрепление Минска.
    В такой ситуации люди там – в небольших городах, где все как на ладони, все друг друга знают, – могут надавить на местные избиркомы и на местные администрации и потребовать публикации реальных итогов голосования. 
    Если обнаружится хотя бы два-три города – именно не отдельных участка, а города, – где выиграла Тихановская, и результат этой победы будет зафиксирован официально, поднимется волна требований признать реальный результат по всей стране. Задавить его будет нечем и некому: администрациям и офицерам на местах гораздо труднее отдавать приказы жестко расправляться со своими соседями, с людьми, которых они часто знают по именам и в лицо.
    […] 
    Таким образом, судьба этой "льняной революции" в руках не столичной молодежи, а спокойных, простых, рассудительных, терпеливых людей в Лиде, Молодечно, Полоцке, Орше, Могилеве, Жлобине, Мозыре, Пинске и Гродно. 
    Пожелаем им успеха и будем надеяться на их храбрость и их терпение.[/bilingbox]

    erschienen am 09.08.2020, Original



    Tian'anmen von Brest

    Andrej Loschak: Die Angst besiegt

    Was unterscheidet die Demonstranten in Belarus von denen in Moskau im vergangenen Sommer? Journalist Andrej Loschak macht vor allem einen wesentlichen Unterschied aus, den die belarussischen den russischen Demonstranten (noch) voraus hätten:

    [bilingbox]Wissen Sie, was einem sofort auffällt in den zahlreichen Videos aus Belarus, die diese Nacht alle gucken? Die Menschen haben keine Angst mehr. Wenn der OMON aus jemandem Kleinholz machen will, dann laufen die Demonstranten zusammen und verteidigen ihre Leute. Letzten Sommer in Moskau hat die Bestie in Uniform ebenfalls Demonstranten zusammengeschlagen, aber niemand kam ihnen zu Hilfe. Einer warf einen Abfallkübel in Richtung der Bestie, und bekam dreieinhalb Jahre Gefängnis. Ein Zweiter hat gar nichts geworfen, und bekam dennoch eine Haftstrafe, damit die anderen gar nicht erst auf den Gedanken kommen irgendetwas zu tun. Sie bekamen ihre Strafen, weil alle dort nur rumstanden und zusahen. Ich stand auch rum und schaute zu.
    Vielleicht entwickelt sich dieser Mut, wenn du weißt, dass hinter dir nicht nur ein Häuflein Politaktivisten aus der Hauptstadt steht, sondern das ganze Land. Ich denke, genau so empfinden das die Belarussen, die heute auf die Straße gehen. Letzten Endes werden das auch die Jungs auf der anderen Seite der Barrikade spüren – und das war’s für den Schnauzbärtigen. Aber alles gut, wir haben noch vier Jahre, um so zu werden wie die Belarussen. Ich bin sicher, die Partei und die Regierung werden uns dabei helfen. Und bei den Belarussen ist wirklich alles möglich, denn sie haben die Angst besiegt.~~~Знаете, что бросается в глаза в многочисленных видео из Беларуси, которые все смотрят этой ночью? У людей пропал страх. Если ОМОН кого-то начинает пиздить, демонстранты бросаются скопом и отбивают своих. Прошлым летом в Москве зверье в униформе тоже избивало демонстрантов, но никто им на помощь не приходил. Один бросил в сторону зверья мусорную урну, не попал и получил 3,5 года. А кто-то ничего не бросал, но все равно получил – чтоб другим неповадно было. Они и получили, потому что все вокруг стояли и смотрели. Я тоже стоял и смотрел. Возможно, эта смелость приходит, когда ты знаешь, что за тобой – не кучка столичных политактивистов, а вся страна. Думаю, именно так ощущают себя беларусы, вышедшие сегодня на улицы. В конце концов, это почувствуют и парни по другую сторону баррикад – и тогда все, конец усатому. Но ничего, у нас еще есть 4 года, чтобы дойти до состояния беларусов. Уверен, партия и правительство помогут нам в этом. А у беларусов и вправду все может получиться, потому что они победили страх.[/bilingbox]

    erschienen am 10.08.2020, Original

    Olga Tschurakowa: Viele, unterschiedliche Leute vereint

    Einen ähnlichen Zusammenhalt vieler, sehr unterschiedlicher Menschen empfindet auch Journalistin Olga Tschurakowa von Projekt, die in der Nacht in Minsk vor Ort war und auf Facebook von ihren Eindrücken berichtet:

    [bilingbox]Ich habe NIE erlebt, dass Leute derart solidarisch in ihrer Haltung gegenüber dem Staat waren. Das sieht man auch gut daran, wer alles auf die Straße geht: Sogar in den Randbezirken von Minsk gehen die Leute auf die Straße, spontan organisiert, per Mund-zu-Mund-Propaganda statt Internet [das teilweise blockiert wurde – dek], ganze Familien, Mamas, Papas, alte Leute. […]
    Alle, die wir auf dem Heimweg getroffen haben, versicherten sich gegenseitig und uns, dass sie [wieder] auf die Straße gehen, anders ginge es nicht. Das waren völlig unterschiedliche Leute, die sich für mich in keiner sozialen Gruppen vereinen ließen. Viele haben den Montag vorab freigenommen, viele Cafés werden deswegen geschlossen sein. Das Internet funktioniert heute morgen überraschenderweise. Mir scheint, jetzt wachen alle auf und sind wahnsinnig wütend angesichts der nächtlichen Nachrichten, der Brutalität und Gemeinheit. Und sie werden wieder auf die Straße gehen, ja. ~~~я НИКОДА не видела, чтобы все были настолько солидарны в своём отношении к власти и это очень сильно видно по составу людей на улицах, выходят даже окраины Минска, по интуитивной организации и сарафанному радио вместо интернета. выходят семьями, мамами, папами, пожилые люди 
    […]
    Все, кого мы встречали по дороге домой, говорили друг другу и нам, что сегодня выйдут и иначе нельзя. Это были абсолютно разные люди и ни в какую соц группу они у меня не объединяются. Многие заранее брали на понедельник выходной, многие кафе будут сегодня из-за этого закрыты. Интернет на удивление утром работает, мне кажется, что сейчас все просыпаются и охереневают от ночных новостей, от жестокости и наглости. И снова пойдут на улицы, да. [/bilingbox]

    erschienen am 10.08.2020, Original

    Ekaterina Schulmann: Das belarussische 2020 ist unser 2024

    Es wurden zahlreiche Vorwürfe laut, dass bei der vorzeitigen Stimmabgabe zusätzliche Wahlzettel in die Urnen geworfen wurden. Politologin Ekaterina Schulmann sieht allein in den Zahlen deutliche Anzeichen von Wahlfälschung und fragt außerdem: Was bedeutet die belarussische Wahl für Russland? 

    [bilingbox]Abgesehen von allem anderen kommt auf Belarus nun das Problem zu, dass die Wahlbeteiligung auf über 100 Prozent steigt. Die haben schon bei der vorzeitigen Stimmabgabe eine Wahlbeteiligung von 40 Prozent verzeichnet (die vorzeitige Stimmabgabe ist das wichtigste Instrument der Wahlfälschung). Am eigentlichen Wahltag sind die Menschen aber tatsächlich in Massen an die Wahlurnen geströmt. Übrigens, man hört gar nichts davon, dass eine hohe Wahlbeteiligung die unehrlichen Wahlen ja nur legitimiert. […] Warum ist das aber für uns so wichtig? Weil das belarussische 2020 unser 2024 ist. ~~~Кроме всего прочего, в Беларуси сейчас будет та проблема, что явка начнет превышать 100%. Они сперва на своей досрочке (основной инструмент фальсификаций) 40% набросали, а в собственно день голосования народ взял да и пошел. Кстати, что-то не слышно разговоров, как высокая явка легитимизирует нечестные выборы. […] А нам почему всё это важно: потому что белорусский 2020-ый – это наш 2024-ый.[/bilingbox]

    erschienen am 09.08.2020, Original

    Konstantin Eggert: Vorletztes Kapitel des postsowjetischen Zeitalters

    Der Zerfall der Sowjetunion war einerseits eine einschneidende Zäsur, ist aber andererseits auch ein langanhaltender Prozess, der immer noch andauert – auf diese Formel haben es schon viele Beobachter in Russland gebracht. Wie weit ist es aber nun mit diesem Zerfallsprozess? Der Journalist und politische Analyst Konstantin Eggert kommentiert:

    [bilingbox]In Belarus schreiben sie gerade das vorletzte Kapitel des postsowjetischen Zeitalters. Das letzte wird in Moskau geschrieben werden.~~~В Беларуси прямо сейчас пишут предпоследнюю главу летописи «постсоветского» времени. Последнюю напишут в Москве.[/bilingbox]

    erschienen am 09.08.2020, Original

    Sergej Medwedew: Kartoffelrepublik?

    Manche Russen (gerade auch die liberal-demokratisch eingestellten) belächeln Belarus als eine Art Freakshow. Diese Arroganz ist jedoch blind, schreibt der Politologe Sergej Medwedew:

    [bilingbox]Wenn wir uns jetzt anschauen, was in den Straßen von Minsk und anderen Städten geschieht, sollten wir uns daran erinnern, dass Belarus, das viele hier von oben herab (ich würde sogar sagen kolonialistisch) als Kartoffelrepublik belächelt haben und als Freilichtmuseum der Sowjetzeit –, dass genau dieses Belarus seit zwanzig Jahren Modell steht für Russland. Alle Formen des reifen Autoritarismus sind dort einige Jahre vorher schon aufgetaucht: physische Ausschaltung der Gegner, Vertreibung der westlichen Organisationen, Säuberung der Medien, faktische Verstaatlichung der Wirtschaft durch den herrschenden Clan, Verdrängung von Protesten an die Stadtränder, gepaart mit der Forderung an die Organisatoren, selbst für die Polizei-Begleitung und Auflösung zu zahlen, Umschreiben der Verfassung, Stalins Comeback, totaler Wahlbetrug … außer, dass wir mit der Todesstrafe vorerst in Verzug sind. Und jetzt zeigen uns diese Straßenproteste wahrscheinlich unsere Zukunft – 2024 oder sogar noch früher –, deshalb sind die Ereignisse dieser Nacht und von morgen äußerst wichtig: nicht nur für Belarus, sondern für den gesamten postsowjetischen Raum, für die Schicksalsprognose von Resten des Imperiums.~~~Глядя сейчас на то, что происходит на улицах Минска и других городов, следует помнить, что Беларусь, на которую многие здесь снисходительно (я бы даже сказал колониально) смотрели как на картофельную республику и парк советского периода, […] а — эта самая Беларусь на протяжении двадцати лет была предиктивной моделью происходящего в России. Все формы зрелого авторитаризма появлялись там с опережением на несколько лет: физическое устранение оппонентов, изгнание западных организаций, зачистка СМИ, фактическая национализация экономики правящим кланом, отправка митингов на окраины с требованием организаторам оплачивать их сопровождение и разгон милицией, переписывание конституции, возвращение Сталина, тотальная фальсификация выборов… вот только со смертной казнью мы пока задержались. И вот теперь эти уличные протесты, возможно, показывают нам наше будущее — 2024 или даже ранее — поэтому события этой ночи и завтрашнего дня крайне важны: не только для Беларуси, но для всего постсоветского пространства, для предсказания судьбы остатков Империи.[/bilingbox]

    erschienen am 10.08.2020, Original

    Ilja Jaschin: Lukaschenko steht alleine da

    Der Oppositionpolitiker Ilja Jaschin glaubt, Lukaschenko habe es sich inzwischen mit zu vielen Leuten verscherzt: 

    [bilingbox]Außer den Silowiki hat Lukaschenko keine Verbündeten mehr und kann auch keine mehr haben. Für die westlichen Staatschefs wird er immer ein toxischer Abfall sein, mit dem man nichts zu tun haben sollte. Aber auch für Putin ist er inzwischen ein unberechenbarer Unmensch. Nicht nur wegen der gänzlich auf antirussische Rhetorik gebauten Wahlkampagne. Sondern auch, weil er die Wagner-Kämpfer festgenommen hat. Putin ist nun gezwungen, ihm lange Erklärungen zu schreiben, wie ein Schuljunge, der sich etwas hat zuschulden kommen lassen. Und Lukaschenko verkündet das den Journalisten mit Freude. Die Kreml-Propaganda macht keinen Hehl mehr daraus, dass der belarussische Diktator auf die Nerven geht.
    […]
    Aber so oder so: Der Wandel in Belarus wird nicht mehr lange auf sich warten lassen. Davon bin ich überzeugt.~~~Никаких союзников, кроме силовиков, у Лукашенко больше нет и быть не может. Для западных лидеров он всегда будет токсичным отбросом, с которым нельзя иметь никаких дел. Но и для Путина он теперь непредсказуемый отморозок. Мало того, что Лукашенко построил всю избирательную кампанию на антироссийской риторике, он еще и боевиков из ЧВК «Вагнер» арестовал. Путин теперь вынужден писать ему длинные объяснительные, как провинившийся школьник, а Лукашенко с удовольствием рассказывает об этом журналистам. Пропаганда Кремля уже не скрывает раздражения в адрес белорусского диктатора.
    […]
    Так или иначе, ждать перемен в Беларуси осталось недолго. В этом я уверен.[/bilingbox]

    erschienen am 10.08.2020, Original

    dekoder-Redaktion

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    „Nur nicht Lukaschenko!“

    Knapp zwei Wochen vor der Präsidentschaftswahl in Belarus am 9. August 2020 protestieren Tausende in belarussische Städten. Sie folgen dem Aufruf von Swetlana Tichanowskaja. Ihr Mann, der bekannte Blogger Sergej Tichanowski, sitzt derzeit in Haft. Tichanowski sei unter fadenscheinigen Vorwürfen verhaftet worden, sagt seine Frau. Zuvor hatte er bekanntgeben, bei der Präsidentschaftswahl kandidieren zu wollen. 

    Tichanowski ist nicht der einzige Kandidat, der unter Amtsinhaber Alexander Lukaschenko im Vorfeld der Wahl ins Gefängnis wanderte. So hat Tichanowskaja kurzerhand die Kandidatur ihres Mannes übernommen und ein Bündnis gebildet mit Veronika Zepkalo – deren Mann Waleri von der Wahlkommission nicht zugelassen wurde und sich inzwischen mit zwei Kindern nach Moskau abgesetzt hat – und Maria Kolesnikowa. Letztere hatte den Wahlkampf des Ex-Bankiers Babariko organisiert – bis der aussichtsreiche Kandidat wegen Vorwürfen der „Geldwäsche und Korruption“ im Juni 2020 ebenfalls in Haft kam. Tichanowskaja verspricht im Fall eines Sieges die Freilassung aller politischen Gefangenen – sowie freie und faire Neuwahlen. Die OSZE etwa hatte bereits die vier vergangenen Präsidentschaftswahlen in Belarus wegen Betrugs und Einschüchterungen nicht anerkannt. 

    Egal wer – Hauptsache, nicht Lukaschenko: Nach Jahren der organisierten Alternativlosigkeit dreht sich derzeit die Wählerstimmung in Belarus. Warum ausgerechnet jetzt? Eine Analyse von Dimitri Nawoscha.

    Swetlana Tichanowskaja (Mitte) ist die einzige verbliebene unabhängige Kandidatin / © Pressestelle Viktor Babariko
    Swetlana Tichanowskaja (Mitte) ist die einzige verbliebene unabhängige Kandidatin / © Pressestelle Viktor Babariko

    Maidan, Orange Revolution und anderes mehr. Wenn von den Ereignissen in Belarus die Rede ist, wird allenthalben zu oberflächlichen Analogien gegriffen. Besonders häufig macht das Präsident Alexander Lukaschenko, der im Schnitt jeden zweiten Tag an den Maidan erinnert. Diese Analogien sind jedoch ungenau.

    Vielmehr ähnelt alles dem Abgang der Sowjets. Lukaschenko hat nämlich ein eben solches Sowjetsystem errichtet, mit Planwirtschaft, mit unfreien Wahlen und Medien, mit Paternalismus und sogar mit den Symbolen der Belarussischen Sowjetrepublik BSSR (Flagge, Wappen und Hymne), die er 1996 wieder eingeführt hat. Im Grunde ist Belarus von den Kommunisten direkt zu Lukaschenko übergegangen. Jenes Jahrzehnt [die 1990er Jahre], das Russland zufiel, sodass wenigstens irgendeine Art Zivilgesellschaft, Parteien und Institutionen entstehen konnte, hatten die Belarussen nicht. Angesichts der Unterdrückung haben sie sich nur langsam herausgebildet; jeglicher Keim wurde zertrampelt und mit der Wurzel ausgerissen. Repressionen gegen die Opposition (auch gegen Herausforderer Lukaschenkos bei den Wahlen) – von gewaltsam aufgelösten Demonstrationen und Gefängnisstrafen bis hin zu Exmatrikulationen und Entlassungen – haben die Oppositionellen zu Dissidenten sowjetischer Art degradiert. 

    Im Unterschied zur UdSSR sind die Grenzen in Belarus offen, und für einen belarussischen Aktivisten oder eine Person des öffentlichen Lebens führt der Weg aus den Repressionen typischerweise nach Europa. Jenen, die nicht bereit sind auszuwandern, bleibt innere Emigration und Anpassung.

    Zwangsweise entpolitisiert

    Die belarussische Gesellschaft wurde zwangsweise entpolitisiert. 2020 ist das verbrannte Feld plötzlich wieder aufgeblüht: Der belarussische Autoritarismus ist über das Internet gestolpert.

    Am uninteressantesten und leichtesten vorauszusagen ist bei den belarussischen Wahlen gewöhnlich ihr Ausgang: In der Nacht zum 10. August wird Lidija Jermoschina, Vorsitzende der belarussischen Zentralen Wahlkommission und langjährige Mitstreiterin Lukaschenkos, sich anschicken, einen weiteren Wahlsieg Alexander Lukaschenkos mit einem Ergebnis im Bereich von 75 bis 85 Prozent zu verkünden (und die Regierung scheint eindeutig auf solche Werte abzuzielen – koste es, was es wolle). Doch dieser Prozess ist jetzt ziemlich spannend geworden.

    Um das nötige Ergebnis zu erzielen, kommen eine Reihe primitiver, aber reibungsloser Mechanismen zum Einsatz, etwa die vorzeitige Stimmabgabe (mit der man sich jetzt auch in Russland vertraut macht – wie auch mit vielen anderen in Belarus eingeübten autoritären Praktiken). Hinzu kommen das Verbot von Wählerbefragungen und die Untergrabung der Institution der Wahlbeobachter: Die dürfen im Wahllokal fast gar nichts mehr, die Stimmauszählung etwa bekommen sie nicht zu sehen.

    Nichtzulassung von Kandidaten und Repressalien

    Lukaschenko steht ein großes Repertoire bewährter Mechanismen zur Verfügung, um das Feld möglicher Herausforderer zu bereinigen: Nichtzulassung von Kandidaten und Repressalien aller Art. Bei den Wahlen sind nacheinander Nikolaj Statkewitsch, Sergej Tichanowski, Viktor Babariko, Waleri Zepkalo entweder nicht zugelassen worden oder ihre Registrierung als Kandidat ist widerrufen worden. Ersterer gehört zu den langjährigen dissidentischen Oppositionellen. Die anderen drei – ein Blogger, ein Banker und ein ehemaliger Bürokrat – sind erst kürzlich in die Politik gegangen und haben umgehend die seit Langem angestauten Hoffnungen der Menschen auf einen Wandel absorbiert.

    Lukaschenko war gezwungen, in kürzester Zeit alle vorhandenen Mechanismen zugleich in Gang zu setzen, um das vom Regime geplante Szenario zu wiederholen, das den Titel trägt: „Das politische Schwergewicht fährt einen triumphalen Sieg gegen die Liliputaner der Opposition ein“. Es wurden sämtliche Hebel in Bewegung gesetzt: der KGB, das Ermittlungskomitee [belarussische Strafverfolgungsbehörde – dek], die Propaganda, alle erdenklichen Aufsichtsbehörden und die vielen Sondereinheiten der Miliz, und hunderttausende Unterschriften für Herausforderer, die ohne viel Federlesen im Papierkorb landen.

    Drei der genannten vier Kandidaten sitzen jetzt hinter Gittern (Statkewitsch, Tichanowski, Barbariko); Zepkalo wird vom Innenministerium überprüft [inzwischen hat er zusammen mit seinen beiden Kindern das Land verlassen – dek]. Gegen mehr als 40 Personen, die während des Wahlkampfes festgenommen wurden, laufen Strafverfahren. Über tausend Personen sind während der im ganzen Land aufflammenden Protestaktionen wegen Ordnungswidrigkeiten verhaftet worden.

    Repressions-Quote eiligst abgearbeitet

    Die gewöhnlich für rund fünf Jahre geltende Repressions-Quote, wurde eiligst innerhalb von zwei Monaten abgearbeitet. Das bedeutet sogar für eine so eingespielte Polizeimaschinerie Turbulenzen und verhindert, dass alles zumindest den Anschein von Rechtmäßigkeit bewahrt.

    Jede Hausdurchsuchung und Verhaftung, jedes Strafverfahren hat anscheinend einem taktischen Ziel gedient: Lukaschenkos Herausforderer sollten aus dem Weg geräumt werden – und überhaupt alle Menschen, die in der Lage sind, Straßenproteste zu konsolidieren und ihnen eine Stoßrichtung zu geben. Doch die strategische Aufgabe bleibt ungelöst: Es ist nämlich nicht so, dass diese Maßnahmen den Rückhalt für Lukaschenko in der Gesellschaft stärken würde, eher umgekehrt. 

    Die einzige bislang „überlebende“ unabhängige Kandidatin ist Swetlana Tichanowskaja, die Frau des Bloggers Sergej Tichanowski, eine ganz normale Mutter und Hausfrau. 

    Als sie zu den Wahlen zugelassen wurde, war das für die Regierung Anlass zum Hohn, dass „bei uns eine Frau nicht gewählt wird“ (als Lukaschenko das sagte, hat er ganz bestimmt daran geglaubt). 

    Ihr Team ist zerschlagen und über diverse Gefängnisse verteilt. Nachdem aber die anderen Kandidaten von den Wahlen ausgeschlossen wurden, verkündete Tichanowskaja, dass sich deren Wahlkampfteams mit ihr zusammengeschlossen haben – und zwar ohne dass jemand untergebuttert würde: Tichanowskaja hat vor, im Falle eines Sieges sofort Neuwahlen anzusetzen, bei denen jeder Anwärter zugelassen werde (den derzeitigen „elektoralen Prozess“ erkennt sie nicht als Wahlen an). 

    Es ist nicht so, dass diese Maßnahmen den Rückhalt für Lukaschenko in der Gesellschaft stärken würden, eher umgekehrt

    „Wer, wenn nicht Lukaschenko?“ Es liegt auf der Hand, dass die Ausschaltung jedes seiner Herausforderer die Antwort auf diese Frage erschweren soll. Doch stattdessen hat Lukaschenko den Verfechtern eines Wandels die Antwort darauf nur leichter gemacht: „Wer auch immer, nur nicht Lukaschenko!“

    Bislang ist weiterhin unklar, was die Zentrale Wahlkommission daran hindern sollte, die traditionellen 75 bis 85 Prozent herzustellen. Doch diese Ziffern sind das Einzige, dessen sich Lukaschenko sicher sein kann. Mehr Gewissheiten hat er nicht.

    In früheren Jahren haben Gefängnisstrafen, zerschlagene Demonstrationen und andere Formen der Repression dafür gesorgt, dass in der belarussischen Gesellschaft schnell wieder Angst und Apathie herrschten, oder – wie die belarussischen Machthaber diesen Zustand bezeichnen – die „verfassungsgemäße Ordnung“. Jetzt nimmt das Engagement und die Politisierung der Belarussen jedoch zu. Was hat sich in der Gesellschaft getan?

    Aus dem künstlichen politischen Koma erwacht

    Das verbreitete Narrativ „sie ist aufgewacht“ vereinfacht die Dinge. Natürlich haben Viele keineswegs geschlafen und ihnen war seit langem bewusst, dass mit dem autoritären Regime etwas nicht stimmt. Belarus hält prozentual den Weltrekord bei der Anzahl an Schengen-Visa in der Bevölkerung – wobei viele in Europa keine neuen Eindrücke suchen, sondern zum Studium oder zur Arbeit dorthin fahren. Es handelt sich um eine urbane Bevölkerung – entgegen aller Stereotypen. Nach Angaben der UNO leben 78 Prozent der belarussischen Bevölkerung in Städten; das übertrifft sämtliche Werte in den Nachbarländern; nur neun Prozent der Bevölkerung sind in der Landwirtschaft beschäftigt. Der Zugang zum Internet ist stark verbreitet (über 80 Prozent), auch unter Personen im Rentenalter.

    Die Entpolitisierung dieser Bevölkerungsgruppe, die Lukaschenko gegenüber keine Hochachtung hegt oder ihm gegenüber deutlich negativ eingestellt ist, jedoch nicht zu Dissidenten werden wollte, war erzwungen. Um die Metapher des Schlafs fortzuführen: Dieser fortschrittliche Teil der Gesellschaft wurde in ein künstliches Koma versetzt.

    Spirale des Schweigens gebrochen

    Als die Gesellschaft mit dem Beginn des Wahlkampfes aus dem Koma erwachte, geschah das in der Tat abrupt und für alle unerwartet. Der Grund war, dass man sich plötzlich bewusst wurde, dass es eine klare Mehrheit gibt, die Veränderungen will. Das ist ein interessanter Umstand, zu dem die Psychologen, die sich mit der Macht der vermeintlichen Mehrheit oder mit der Schweigespirale befassen, vieles erzählen können. Wenn die Spirale des Schweigens gebrochen wird, kann man zusehen, wie sich Konformismus und das Gefühl der Machtlosigkeit verflüchtigen.

    Als Reaktion auf das repressive Vorgehen der Behörden kam es zu Straßenprotesten. Darauf folgten weitere Repressionen, was wiederum eine neue Welle von Protestaktionen auslöste, die jetzt noch massiver ausfiel. Eine derartige geographische Ausbreitung von Protesten hat es in Belarus noch nie gegeben: In 20 Städten kam es zu Verhaftungen und Gerichtsverfahren. Die Protestwelle [nach der Nicht-Zulassung einzelner Oppositionskandidaten am 14. Juli – dek] wurde zwar unterdrückt, wobei Minsk nahezu unter Kriegsrecht gestellt wurde (im Stadtzentrum wurden zwei Tage lang Straßen abgesperrt, U-Bahneingänge geschlossen, das Internet blockiert und es wurden mit äußerster Härte Verhaftungen vorgenommen). Sie war aber auch von ersten Versuchen eines gewaltsamen Widerstandes gegen die OMON geprägt. So etwas hatte man in Belarus seit den 1990er Jahren nicht mehr gesehen.

    Zustrom Unzufriedener

    Wie kam es zu diesem Zustrom Unzufriedener, durch den das Blatt sich gewendet hat? Einer der wichtigsten Gründe ist sicher der immer rapidere Niedergang der Wirtschaft. Die Mankos des belarussischen Modells vom Sowjetstaatsplan wurden eine gewisse Zeit lang durch versteckte oder offene Subventionen aus Russland sowie durch Anleihen aus Europa und China verschleiert. Diese Mängel lassen sich jetzt nicht mehr verhehlen. Das belarussische Bruttoinlandsprodukt ist heute geringer als vor zwölf Jahren. Die Auslandsverschuldung ist um fast das Dreifache gestiegen (und das zu hohen Zinsen, die belarussischen Euro-Obligationen sind auf „Trash-Niveau“). Unter Lukaschenko gibt es keinerlei Aussichten auf Reformen oder eine Umkehr dieser Tendenzen.

    Die versprochene ‚Ruhe und Sicherheit‘ hat sich als Fiktion herausgestellt

    Ein anderer offensichtlicher Grund war, dass Lukaschenko die Corona-Epidemie ignoriert oder gar verlacht hatte. Dadurch ist Belarus jetzt in Europa das Land mit den zweithöchsten Fallzahlen pro Million Einwohner. Und das laut den offiziellen Statistiken, die, wie es aussieht, nach unten „korrigiert“ wurden. Die Dysfunktionalität der Regierung ist für einen zu großen Teil der Bürger spürbar geworden; die versprochene „Ruhe und Sicherheit“ hat sich als Fiktion herausgestellt.

    Interessant ist auch, dass es die gleichen Mechanismen sind, die früher die Diktatur gestärkt haben, die nun dem tektonischen sozialen Umbruch diese Kraft und Geschwindigkeit verleihen. Zum einen ist da die langjährige Unterdrückung unabhängiger Medien. Sie hat eine massive Nachfrage nach unzensierten Informationen und Meinungen erzeugt, die jetzt von YouTube– und Telegram-Kanälen befriedigt wird. Letzten Endes ist deren Nutzung nicht mehr nur eine Frage des Geschmacks, sondern auch ganz banal des physischen Überlebens. Das belarussische Agitprop hat das ganze Frühjahr über Lukaschenko folgend den Leuten weiszumachen versucht, dass das Coronavirus „nicht schlimmer als eine Grippe“ und überhaupt eine „Psychose“ sei. Und nach dem Unfall, durch den das Wasser in Minsker Leitungen vergiftet wurde, wurde behauptet, dass es trotzdem trinkbar sei. YouTube und Telegram sind in Belarus noch populärer als in Russland und haben letztlich die Wirksamkeit der Propaganda drastisch reduziert. Daher konzentriert sich die repressive Maschinerie auf Blogger: Bereits sieben Blogger sitzen wegen fingierter Strafverfahren in Haft und noch mehr wegen Ordnungswidrigkeitsverfahren; zwei Blogger versuchen sich der Verfolgung zu entziehen und konnten ins Ausland fliehen.

    Die gleichen Mechanismen, die früher die Diktatur gestärkt haben, verleihen nun dem tektonischen sozialen Umbruch diese Kraft und Geschwindigkeit

    Der zweite Faktor ist das zwar nicht formale, doch faktische Verbot von unabhängigen Umfragen. Das hat jahrelang die schwindende reale Unterstützung für das Regime verschleiert. Und so haben die Beliebtheitswerte der Präsidentschaftskandidaten, die auf den größten Internetportalen veröffentlicht wurden, den Herausforderern wieder Hoffnung gemacht: Lukaschenko hatte dort nur rund drei Prozent. Sie sind zu einem nationalen Meme geworden. Allerdings sind nun auch diese Umfragen verboten. Es gibt keine anderen unabhängigen Zahlen. Lukaschenko selbst hat sie unmöglich gemacht. Und ganz gleich, welche Ergebnisse die Zentrale Wahlkommission schließlich zusammenrechnen mag – eine Mehrheit wird diesen Ziffern keinen Glauben schenken.

    Als drittes ist die Hürde von 100.000 Unterschriften zu nennen, die eine Voraussetzung für die Nominierung eines Präsidentschaftskandidaten sind und die man in sehr kurzer Zeit zusammentragen muss. Früher hatte diese Praxis Lukaschenko ermöglicht, sich seine Herausforderer quasi auszuwählen. Jetzt ist dieses Werkzeug detoniert, dank der Mobilisierung von Wählern, die Veränderung wollen: Es haben sich in vielen Städten kilometerlange Schlangen von Menschen gebildet, die für einen der Herausforderer unterschreiben wollen.

    Die Menschen haben mit eigenen Augen gesehen, wie viele es sind. Selbst in verschlafenen Kreisstädten.

    Empörung und Solidarität statt Angst

    Der neue gesellschaftliche Konsens sorgt für eine Gegenreaktion auf die unverhältnismäßige, fast barbarische Gewalt, die chaotischen Festnahmen und die absurden Strafverfahren. Anstelle der gewohnten Angst zeigen sich Empörung und Solidarität. Früher bedeutete fehlende Loyalität den Verlust des Einkommens und eine Marginalisierung. Jetzt verliert man zwar immer noch sein Einkommen, aber man gehört zur Mehrheit und das eigene Handeln wird rundum gutgeheißen. Das ist eine für Belarus neue Situation.

    Lukaschenko setzt auf Charisma und Silowiki

    Lukaschenko hofft auf sein Charisma, dem er einst seinen Aufstieg verdankte, und hat seine Reisen in die belarussischen Regionen verstärkt. Zugleich überschüttete er die Wähler mit der doppelten Menge an Versprechen, etwas zu erhöhen, umzusetzen, sicherzustellen oder zu lösen. Zudem ist er in Bezug auf Russland aktiver geworden, das sich bei ihm zugleich zum wichtigsten Schreckbild („die russischen Oligarchen wollen Belarus destabilisieren“, „die Strippenzieher von Gazprom und weiter oben“, „Bedrohung für die Unabhängigkeit“) wie auch zur wichtigsten Hoffnung entwickelt (zwei Besuche bei Wladimir Putin innerhalb einer Woche, sein schmeichlerisches „Ich bin in die Hauptstadt der Heimat gefahren“). 

    Am meisten achtet er jedoch auf den Block der Silowiki. Die Hälfte seiner Treffen, die im Fernsehen gezeigt werden, sind mit Leuten in Uniform. Und auch der vor einem Monat neu ernannte Ministerpräsident Roman Golowtschenko ist ein Silowik. Beim KGB und bei den Inlandstruppen sind sämtliche Urlaube gestrichen worden, bei den Silowiki wurde ein spezielles Regime der Dienstausübung ausgerufen und sogar die Militärdoktrin der belarussischen Armee ist eilig um einen Passus über die Bekämpfung innerer Gefahren erweitert worden.

    Ich habe selbst in der belarussischen Armee gedient und eine recht gute Vorstellung davon, wie sie zerfällt. Ich glaube nicht, dass es dem Präsidenten irgendwie helfen würde, Rekruten in einen Kampf gegen jene hineinzuziehen, die mit ihm nicht einverstanden sind. Eher im Gegenteil. Der KGB, die OMON und die anderen Spezialeinheiten aber sind unter Hochdruck tätig – obwohl jeder ihrer Schläge gegen Unzufriedene einen Schlag gegen Lukaschenkos Umfragewerte bedeuten könnte. Nach Einschätzung von Experten liegt Belarus hinsichtlich der Zahl an Sicherheitskräften pro 100.000 Einwohnern weltweit mit an der Spitze. In Minsk hat es zwar nie Barrikaden gegeben, dafür aber mehr als genug Spezialgeräte, um Barrikaden zu durchbrechen. Hätte es in der späten UdSSR eine derartige Unterdrückungsmaschinerie gegeben und die entsprechende Bereitschaft, diese einzusetzen, hätte sich der Kommunismus wohl noch ein paar Jahre länger über Wasser halten können.

    Lukaschenko könnte wohl dazu in der Lage sein.

    Falls seine neuen Versprechungen nicht verfangen (und so wird es kommen), dann wird er sich nur und ausschließlich auf Gewalt stützen können.
    Allerdings hängt die gesamte jahrelang gehegte und gehätschelte Maschinerie der Silowiki jetzt schon in der Luft. Ihr fehlt jede Stütze.

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