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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Der belarussische Sonderweg

    Der belarussische Sonderweg

    Auch nach der Erlangung ihrer Unabhängigkeit hält die Republik Belarus überwiegend an planwirtschaftlichen Methoden der Wirtschaftslenkung fest. Marktwirtschaftliche Elemente halten nur schrittweise Einzug, ein großer Teil der Arbeitnehmer ist in staatseigenen Betrieben angestellt und die autoritäre Regierung ist nach wie vor der größte Investor des Landes. Doch obwohl das System von Krediten abhängig ist und die Betriebe teilweise massiv veraltet und nicht konkurrenzfähig sind, ist die belarussische Wirtschaft eine zentrale Stütze von Präsident Alexander Lukaschenko – der ökonomische Sonderweg ermöglicht also den politischen.

    Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion unternahmen die meisten osteuropäischen Staaten in den 1990er Jahren Wirtschaftsreformen, die sich mit der Abschaffung der staatlichen Preis- und Mengenplanung am marktwirtschaftlichen Modell orientierten.1 Die Folge waren zunächst starke Einbrüche in Produktion und Beschäftigung. Im Unterschied dazu wandte sich die in Belarus im Amt verbliebene sowjetische Partei- und Wirtschaftsnomenklatura gegen eine „Schocktherapie“ und wählte einen schrittweisen, graduellen Transformationsweg, wodurch Produktionskapazitäten, Lieferverbindungen und Arbeitsplätze möglichst bewahrt werden sollten. Diesen Sonderweg hatte seit 1990 Ministerpräsident Wjatschaslau Kebitsch eingeschlagen, der Gorbatschows Perestroika-Politik ablehnte. Seinen Kurs setzte Alexander Lukaschenko fort, dem es 1996 gelungen war, die auf demokratische und marktwirtschaftliche Reformen dringenden Kräfte endgültig auszuschalten.2

    Die großen Staatsbetriebe, die über 60 Prozent des jährlichen Gesamtumsatzes und fast 50 Prozent der Beschäftigten auf sich vereinen, werden in Belarus bis heute von staatlichen Behörden kontrolliert und gelenkt.3 Sie haben Entlassungen zu vermeiden und die Löhne regelmäßig zu erhöhen. Das ihnen vorgegebene Geschäftsmodell setzt auf große Produktionsmengen. Vorprodukte müssen sie von ihnen zugewiesenen Lieferanten beziehen, bei denen es sich vorwiegend ebenfalls um Staatsbetriebe handelt. Dies gilt auch für die rund 1500 landwirtschaftlichen Großunternehmen, in denen Getreide angebaut und Viehzucht betrieben wird.4

    Quellen5

    Die wegen ihres nicht mehr zeitgemäßen Produktsortiments und des hohen Personalbestands überwiegend unrentablen Staatsbetriebe – Ausnahmen sind die Lieferanten von Erdölprodukten und Kalidünger – erhalten verbilligte Kredite von staatlichen und privaten Banken, für deren Kapitalausstattung wiederum der Staat sorgt. Doch nicht nur Betriebe, die sich vollständig in Staatsbesitz befinden, sondern auch halbstaatliche und rein private Unternehmen mussten bis 2007 staatlichen Stellen Bericht erstatten. Sie alle hatten staatliche Entwicklungspläne hinsichtlich Produktionsvolumen, Exporten und Lohnsteigerungen zu erfüllen.

    2007: Teilweise Deregulierung der Wirtschaft

    Erst als sich die Wirtschaftslage zunehmend verschlechterte, entschloss sich die Staatsführung 2007 zu einer schrittweisen Deregulierung von Teilen der Wirtschaft.6 Staatlich festgesetzte Preise wurden jetzt nur noch für Produkte aufrechterhalten, die der Staat als sozial wichtig einstufte, etwa Lebensmittel oder Medikamente. Die Registrierung neuer Unternehmen wurde vereinfacht, die Berichtspflicht für private und halbstaatliche Unternehmen abgeschafft. Die staatseigenen Großbetriebe der verarbeitenden Industrie erhalten jedoch weiter formelle staatliche Anweisungen. Auch werden bis heute Privatbetriebe – ausgenommen ist die vom Regime umworbene IT-Branche – mit Hilfe von administrativem Druck, oktroyierten Vereinbarungen und informellen Absprachen gelenkt.

    Zur angespannten Wirtschaftssituation des Jahres 2007 hatte auch der russisch-belarussische Energiestreit beigetragen. Hatte Russland Belarus bis dahin Erdgas weit unter Weltmarktpreisen verkauft und das Land somit stark subventioniert, drängte Gazprom nun auf eine Verdreifachung des Gaspreises. Auch sollte ein Zoll auf Öleinfuhren nach Belarus erhoben werden. In den folgenden Verhandlungen wurde jedoch der Zwiespalt deutlich, in dem sich der Kreml gegenüber der belarussischen Führung befand: Einerseits wollte Russland seine Wirtschaftsbeziehungen zum „Nahen Ausland“ marktwirtschaftlich gestalten und somit deren Subventionierung abschaffen, andererseits wollte es die Hinwendung dieser Länder zum Westen aus militärischen und politischen Gründen nicht tolerieren. Lukaschenko verstand es damals wie auch später, diese Zwangslage für seinen Machterhalt auszunutzen. Der Gaspreis wurde lediglich verdoppelt, wodurch die Subventionen zwar reduziert, aber nicht beendet wurden, und auch in Bezug auf den Ölzoll konnte ein Kompromiss mit Moskau erzielt werden.

    Ergebnisse des wirtschaftlichen Sonderwegs

    Obwohl die politische Führung insbesondere bei der Privatisierung der Staatsbetriebe und bis Mitte der 2000er Jahre auch bei der Preisliberalisierung eine andere Wirtschaftspolitik betrieb als Russland, folgte die Dynamik der Wirtschaftsentwicklung in Belarus in den vergangenen 30 Jahren weitgehend derjenigen seines östlichen Nachbarn. Zwischen 1991 und 1995 verzeichnete Belarus wie nahezu alle Staaten des postsowjetischen Raums einen starken Produktionseinbruch. Allerdings gelang in Belarus, früher als in Russland, zwischen 1996 und 2000 eine deutliche Erholung mit durchschnittlichen Zuwachsraten des Bruttoinlandsprodukts von sieben Prozent pro Jahr. Zwischen 2000 und 2008 erlebte Belarus dann – parallel zu Russland – ein stürmisches Wirtschaftswachstum und ab 2011 ebenfalls im Gleichschritt mit Russland nahezu eine Stagnation der gesamtwirtschaftlichen Produktion.

    Als sich im Jahr 2007/2008 eine weltweite Finanzkrise abzuzeichnen begann, setzte die Regierung auf die Erhöhung der Investitionen in Maschinen und Gebäude. So wurde der Anteil der Investitionen zwischen 2007 und 2014 auf über 35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gesteigert. Doch diese Maßnahmen konnten den Rückgang der Wachstumsraten nicht verhindern. Bezahlt wurde das Manöver durch niedrig verzinste Kredite inländischer Banken sowie durch Kreditaufnahme im Ausland, was zu einer erheblichen Steigerung der Außenverschuldung führte. Die Kredite kamen vor allem aus Russland, der Eurasischen Wirtschaftsunion und China. Auch niedrige Preise für Energielieferungen aus Russland sowie der Verkauf der Gastransitleitungen an Russland fingen die Finanznöte des Landes auf; allein der Preisnachlass auf Öl- und Gasimporte aus Russland summierte sich zwischen 2001 und 2016 auf etwa 100 Milliarden US-Dollar.

    Doch der Staatskapitalismus führte das Land in eine institutionelle Falle, weil er die überkommene Wirtschaftsstruktur konservierte. Die Orientierung an der Erfüllung zentraler Anweisungen und die Stärkung der Kontroll- und Strafverfolgungsbefugnisse der staatlichen Verwaltung schränkten die wirtschaftliche Flexibilität ein. Die Folge war eine Vergrößerung des Rückstands gegenüber Ländern mit funktionierenden Marktmechanismen, die sich schneller an die Herausforderungen und Realitäten der globalen Wirtschaft anpassen konnten.7

    *Polen: 2018
    **Je höher der Index, desto geringer ist die wahrgenommene Korruption Quellen8

    Sonderweg: Das Herrschaftssystem

    In Belarus existiert wie in Russland und in den zentralasiatischen ehemaligen Sowjetrepubliken ein neopatrimoniales politisches System, was bedeutet, dass Herrschaft durch eine Kombination von persönlicher Macht und bürokratischer Regelung ausgeübt wird.Der oberste Patron – hier Lukaschenko – steht an der Spitze einer Pyramide von Netzwerken, die von untergeordneten Patronen kontrolliert werden.10 Die Machtelite schöpft ökonomische Renten vorzugsweise aus dem Rohstoff- und Energiegeschäft ab. Das patrimoniale Herrschaftsmodell in Belarus beruht aber anders als jenes in Russland nicht auf einem Arrangement des obersten Patrons mit Oligarchen, noch wie jenes in Zentralasien auf informellen Abkommen zwischen der Staatsführung und regionalen Clanstrukturen. Lukaschenko bedient sich vielmehr einer Schicht hoher Funktionäre, die er in Behörden und Betrieben eingesetzt hat und nach Belieben austauscht.

    Korruption wird in Belarus weniger geduldet als in anderen neopatrimonialen Herrschaftssystemen des postsowjetischen Raums. Häufige Antikorruptionsprozesse dienen der Kontrolle der Eliten. Wenn hochrangige Funktionäre entlassen werden, kann Lukaschenko sich als Kämpfer für den Volkswillen und gegen die „habgierige Elite“ profilieren. Jedoch werden die in Ungnade gefallenen Akteure später oft auf andere gutbezahlte Posten versetzt.11

    Lukaschenko muss keine Rücksicht auf Interessengruppen nehmen und kann politische und wirtschaftliche Entscheidungen unter dem alleinigen Gesichtspunkt des Machterhalts treffen.12 Dank dieser Methode ist der im internationalen Vergleich extrem große Sektor der Staatsbetriebe neben dem Sicherheitsapparat sein wichtigstes Herrschaftsinstrument. Gerade in der Provinz kann über Staatsbetriebe besonders effektiv politische Kontrolle ausgeübt werden, da sie dort mitunter die einzigen Arbeitgeber sind. Auch aus diesem Grund sind keine tiefgreifenden Reformen der belarussischen Wirtschaft zu erwarten, solange Lukaschenko an der Macht ist.


    Anmerkung der Redaktion:

    Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.

     

    Zum Weiterlesen
    Osteuropa, Heft 10-11, 2020, insbesondere mit den Beiträgen von Astrid Sahm, Petra Stykow, Fabian Burkhardt/Maryia Rohava, Valerij Karbalevič und Roland Götz.

    1. Dieser Text beruht in Teilen auf Götz, Roland (2020): Staatskapitalismus à la Belarus: Sonderweg, Umweg oder Sackgasse, in: Osteuropa, 10-11, 2020, S. 35–60 ↩︎
    2. Timmermann, Heinz (1997): Belarus: eine Diktatur im Herzen Europas?, in: Berichte des BIOst, 10/1997, Köln, S. 17–21 ↩︎
    3. International Monetary Fund: IMF Country report 17/384, Washington D.C. 2017, S. 33 ff.. Unter Staatsbetrieben werden hier Betriebe verstanden, die entweder vollständig oder mehrheitlich in Staatseigentum stehen. Die amtliche belarussische Statistik zählt dagegen Beschäftigte in Betrieben, an denen Privatpersonen oder private Firmen Anteile halten, als Beschäftigte im privaten Sektor, und nennt daher nur einen Anteil der staatlich Beschäftigten von 39 %, siehe das Statistische Jahrbuch zu Arbeit und Beschäftigung in Belarus, Minsk 2020, S. 61. Ebenso verfährt die amtliche Statistik beim Ausweis der industriellen Produktion. Sie rechnet nur 13 % der staatlichen Industrie zu, nicht jedoch die Produktion in Industriebetrieben, die auch private Anteilseigner haben. Addiert man beide Werte, so erhält man einen staatlichen Anteil von 66 % an der Industrieproduktion, siehe das Statistische Jahrbuch der Republik Belarus, Minsk 2020, S. 240 ↩︎
    4. Takun, Anatoli (2018): Agricultural sector in Belarus ↩︎
    5. Quelle: Wikipedia; für Zahlen für 2019 vgl. Zautra.by ↩︎
    6. Lindner, Rainer (2007): Blockaden der „Freundschaft“: Der Russland-Belarus-Konflikt als Zeitenwende im postsowjetischen Raum, in: SWP-Aktuell 3/2007, Berlin ↩︎
    7. Havrylyshyn, Oleh (2007): Fifteen Years of Transformation in the Post-Communist World: Rapid Reformers Outperformed Gradualists, Washington D.C. ↩︎
    8. The World Bank: Indicators; Belstat: Vybrosy parnikovych gazov; Umweltbundesamt; Transparency International: Corruption perceptions index ↩︎
    9. Der Regimetyp des Neopatrimonialismus wurde, ausgehend von Max Webers Unterscheidung von patrimonialer und bürokratischer Herrschaft, 1973 von Shmuel Eisenstadt eingeführt und zunächst zur Charakterisierung lateinamerikanischer und afrikanischer Regime verwendet. Neopatrimoniale Strukturen im postsowjetischen Raum erläutert Hale, Henry (2015): Patronal Politics: Eurasian regime dynamics in comparitive perspective, New York, S. 95 ff. ↩︎
    10. Leukavets, Alla (2016): Machtgruppen in der belarussischen Politik, in: Belarus-Analysen 29, 20.12.2016, S. 2–5 ↩︎
    11. ebd. ↩︎
    12. Frear, Matthew (2018): Belarus under Lukashenka: Adaptive Authoritarianism, London/New York, insbesondere S. 49–62 ↩︎

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    Zitat #10: „Lukaschenko kapiert nicht, wie massiv er die Belarussen verprellt hat“

    „Die Belarussen sind wirklich aufgewacht!“

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    „Belarus wird zum kranken Mann Europas“

    Bystro #21: Volksversammlung in Belarus – Demokratie oder Maskerade?

  • Bystro #21: Volksversammlung in Belarus – Demokratie oder Maskerade?

    Bystro #21: Volksversammlung in Belarus – Demokratie oder Maskerade?

    Minsk ist aktuell in ein rot-grünes Farben- und Flaggenmeer getaucht. Am morgigen Donnerstag, 11. Februar,  beginnt in der belarussischen Hauptstadt die Allbelarussische Volksversammlung (russ. Wsebelorusskoje narodnoje sobranije). Alexander Lukaschenko hat ein solches Forum schon Mitte August in Aussicht gestellt, als die Protestwelle nach dem 9. August 2020 ihren Höhepunkt erreichte. An zwei Tagen werden 2700 Delegierte über Fragen der Wirtschaft, Gesellschaft und Politik debattieren. Angeblich sollen auch Vorschläge zur Verfassungsreform vorgestellt werden. Wie legitim ist diese Versammlung? Wer genau nimmt daran teil? Was hält die Opposition von der Veranstaltung? Ein Bystro von Ingo Petz in fünf Fragen und Antworten.

    1. 1. Was genau ist die Allbelarussische Volksversammlung?

      Die Allbelarussische Volksversammlung wurde 1996 von Alexander Lukaschenko per Präsidialerlass ins Leben gerufen. Sie findet seitdem alle fünf Jahre statt. Die Delegierten, die aus allen Landesteilen stammen, sowie aus Verwaltung, Politik, Wirtschaft, Bildungswesen oder Kirche, haben in der Vergangenheit vor allem wirtschaftliche Entwicklungsfragen debattiert. Dabei wurden auch Kernziele für die jeweils nächsten fünf Jahre festgelegt, was an die Fünfjahrespläne der Sowjetunion erinnert, wie auch die ganze Aufmachung und Ästhetik an Parteitage der KPdSU erinnert. Entsprechend bezichtigen Kritiker die Veranstaltung als „Theater“ oder „Show von Lukaschenko“. Vertreter des Machtapparats halten die Versammlung dagegen für ein „demokratisches Forum“. Man kann sagen, dass es für Lukaschenko in seiner Vorstellung als „Landesvater“ ein wichtiges Legitimationsinstrument seiner Macht ist.

    2. 2. Wie läuft die Auswahl der Delegierten?

      Der Präsidialerlass (ukas) Nummer 492, mit dem Lukaschenko am 28. Dezember 2020 die Organisation der Versammlung veranlasst hat, gibt vor, dass die Abgeordneten von den Bezirks- und Stadträten in den sechs Oblasts des Landes nominiert werden. Dabei sollen sie ein möglichst breites Spektrum unterschiedlicher gesellschaftlicher Bereiche abdecken. Jeder Oblast entsendet 310 Personen. Aus Minsk sollen nicht mehr als 370 Personen teilnehmen. Nach welchen Kriterien ausgewählt wird, ist allerdings völlig unklar. Der Prozess an sich ist höchst intransparent. Er wird zudem von der Präsidialverwaltung geleitet, also dem Kontrollinstrument der Machtvertikalen. Auf Grund der Erfahrung in der Vergangenheit kann man sagen, dass die Versammlung fast ausschließlich mit Pro-Lukaschenko-Leuten besetzt wird. Bei vergangenen Versammlungen gab es immer wieder Versuche von Oppositionellen, eine Teilnahme durchzusetzen. So 2006: Als der Präsidentschaftskandidat Alexander Kosulin Einlass begehrte, wurde er am Ort der Versammlung von der Miliz brutal zusammengeschlagen.

    3. 3. Wie verbindlich sind die Entscheidungen der Volksversammlung?

      Die Beschlüsse der Versammlung werden in Form von Resolutionen, also von Empfehlungen verfasst. Bedeutet: Es obliegt dem Ermessen von Lukaschenko, diese Empfehlungen an bestimmte Ausschüsse im Parlament oder an andere Gremien und Verwaltungsorgane weiterzugeben. Juristen wie Michail Kiriljuk halten die Versammlung grundsätzlich sogar für verfassungswidrig, weil sie als Organ oder Gremium in der Verfassung nicht erwähnt und eben nur über den Präsidialerlass geregelt sei. Auch deswegen sind Zweifel und Skepsis angebracht, ob die angekündigten Vorschläge zur Verfassungsreform – die eine Einschränkung der Vollmachten des Präsidenten und die Stärkung von Parlament und Regierung vorsehen sollen – je umgesetzt werden. Man kann aber auch annehmen, dass sie wohl kaum große Überraschungen liefern werden, in dem Sinne, dass man möglicherweise versucht, die Macht Lukaschenkos tatsächlich einzuhegen. 

    4. 4. Welchen Sinn hat die aktuelle Versammlung in Anbetracht der politischen Krise im Land?

      Gute Frage, über die man nur spekulieren kann. Die Versammlung findet zu einem Zeitpunkt statt, an dem sich das Land offensichtlich in einer tiefen Krise befindet. Allerdings kann man sagen, dass Lukaschenko wohl davon ausgeht, dass er die Proteste besiegt hat. Demzufolge dürfte die Versammlung eine Art Versuch sein, die aktuellen Machthaber – die allein durch ihr brutales Vorgehen eigentlich jegliche Legitimation verloren haben – weiter zu legitimieren und ihnen mit Hilfe einer Propagandashow den Rücken zu stärken. Was durchaus Sinn macht in der Logik Lukaschenkos, der sich für den einzigen potenten Garanten der belarussischen Souveränität hält. Auf der Versammlung werden wohl auch deshalb Leute wie Wadim Gigin sprechen. Er ist Dekan der Fakultät für Philosophie und soziale Wissenschaften der Belarussischen staatlichen Universität. Ein rhetorisch versierter Redner und Vertreter des Systems Lukaschenko, der aber zumindest für Teile der Öffentlichkeit eine Art Scharnierfunktion einnimmt und nicht unbedingt als Hardliner gesehen wird. 

    5. 5. Was sagt die belarussische Opposition zu der Versammlung?

      Die Demokratiebewegung lehnt die Versammlung weitgehend ab. Franak Wetschorka, Berater der Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja, beispielsweise hält das Gremium für einen „Festtag für Beamte und Komplizen des Regimes“, wo alle Probleme schon gelöst seien. Pawel Latuschko, der wie viele andere Mitglieder des oppositionellen Koordinationsrates ins Ausland fliehen musste, hat angekündigt, alle Namen der „Marionettendelegierten“ identifizieren zu wollen, um sich bei der EU dafür einzusetzen, sie auf die aktuelle Sanktionsliste zu setzen. Ob es zu größeren Protesten während der Versammlung in Minsk kommt, darf allerdings bezweifelt werden, da die Hauptstadt aktuell einer von OMON und Miliz bewachten Festung gleicht. 



    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Text: Ingo Petz
    Stand: 10. Februar 2021

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    „Rundherum lagen Menschen in Blutlachen“

  • Janka Kupala

    Janka Kupala

    Am 28. Juni 1942 stürzte der belarusische Volksdichter Janka Kupala im Treppenhaus des Moskauer Hotel Moskwa zehn Stockwerke in die Tiefe. Die genauen Todesumstände sind bis heute ungeklärt: Der offiziellen Version zufolge handelte es sich um einen Unfall, manche vermuten jedoch einen Suizid und wieder andere nehmen an, dass der Geheimdienst seine Hände im Spiel hatte. So setzt sich noch in der Bewertung von Kupalas Tod eine Zwiespältigkeit fort, die bereits sein Leben und Schreiben charakterisiert hatte. Wer war Janka Kupala?

    Geboren wurde Kupala 1882 als Iwan Daminikawitsch Luzewitsch auf einem kleinen Bauernhof in Wjasynka, einem Weiler nordwestlich von Minsk. Das belarusische Gebiet, das bis Ende des 18. Jahrhunderts Teil der Polnisch-Litauischen Adelsrepublik gewesen war, gehörte damals zum Russischen Reich. Es hatte im 19. Jahrhundert einer massiven Russifizierung unterlegen, die die Entwicklung einer belarusischen Nationalbewegung verhinderte. Die einzige offizielle Sprache war das Russische. Die breite belarusische Bevölkerung lebte auf dem Land, war überwiegend bäuerlich, orthodox, weitgehend ungebildet und sprach Belarusisch. In den Städten überwog dagegen die jiddischsprachige jüdische Bevölkerung. Die dünne Schicht der einheimischen regionalen Elite wiederum war mehrheitlich katholisch und sprach Polnisch.

    Kupalas Familie gehörte der besitzlosen Szlachta an, der untersten Schicht dieser regionalen Elite – so konnte Kupala immerhin Lesen und Schreiben lernen (zunächst Polnisch, dann Russisch). Der öko­nomische Status und das Arbeitsleben der Familie entsprachen jedoch denen einfacher Bauern; аls Pächter bewirt­schaftete der Vater ver­schiedene Kleinhöfe, und die Familie war gezwungen, alle paar Jahre umzuziehen.

    Dieser doppelten Prägung verdankte Kupala sein scharfes Bewusstsein für soziale Ungerechtig­keit, seine Identifikation mit dem belarusischen Bauern, die Empörung über das eigene und über das gesamtbelarusische „Entwürdigt-Sein“, die Bindung an Volksmythologie und Folklore, an den Ackerboden und den Kreislauf der Natur. Sie dominierten sein frühes Werk und trafen literarisch den Nerv seiner Zeit. Gleichzeitig bot diese Herkunft den Impuls und die Möglichkeit für den Sprung aus dem bäuerlichen Dasein in die Kreise der intellektuellen Elite.

    Belarusischer Nationaldichter

    Im Fahrwasser der Russischen Revolution trieb diese Elite ab 1905 die belarusische Wiedergeburtsbewegung voran, deren wichtigstes Organ die Wochen­zeitung Nascha Niwa war. Kupala, der zunächst auf Polnisch gedichtet hatte, wechselte zum Belarusischen, schloss sich dieser Bewegung an und wurde ihre litera­rische Galionsfigur.

    Sein literarisches Pseudonym war poetologisches Programm: Die belarusische Koseform Janka des christ­lichen Namens Johannes (Ivan) in Verbindung mit der Referenz auf die heidnische Tradition des Mitt­sommerfestes Kupalle in der Nacht auf den Johannitag (Kupalas Geburtstag) verorteten den Dichter im „einfachen Volk“, wiesen ihn aus als Träger christlicher Werte und heidnischer Mythologie, romantischer Symbolik und Utopie – und nicht zuletzt als ‚Prophet‘. Kupala inszenierte sich als glücklosen und schlichten Sänger „vom Dorf“, dem „das Elend Mutter war“1, und der das Glück seines Volkes mehr suchte als persönlichen Dichterruhm.

    Sein erster Gedichtband Shaleika (Die Schalmei, 1908) thematisierte in einfacher, an Volkslieder angelehnter Stilistik den bäuerlichen Alltag: den Bauer, das Mädchen, die Sense, die Ernte, den Zyklus der Natur – jedoch nicht als Idylle, sondern aus der Perspektive sozialer und nationaler Entrechtung. Der Gedichtband, der in einen literarisch weitgehend brachen Raum vorstieß, wurde als nationalliterarische Initial­zündung euphorisch begrüßt: Kupala avancierte zum Nationaldichter. Eine entscheidende Rolle spielte dabei, dass als lyrisches alter ego häufig der Bauer selbst auftrat („Ich bin Bauer, dummer Bauer“)2, daneben aber auch die Belarusen erstmals literarisch als Kollektiv­subjekt gefasst wurden:

    Was tragen ihre mageren Schultern,
    zerschundenen Hände und Füße in Bast?
    − ihre Kränkung. […]
    Was aber, was wünschen sie,
    die Blinden und Tauben, ewig Geschmähten?
    − Menschen zu heißen.3

    Vilnius und Petersburg

    Kupala, 1911 © CC BY-SA 3.0
    Kupala, 1911 © CC BY-SA 3.0

    Der Erfolg und seine Rolle als Nationaldichter bahnten Kupala den Weg in die Zentren der belarusischen Wiedergeburtsbewegung: 1908 ging er nach Vilnius, wo er unter anderem als Literaturredakteur der Zeitung Nascha Niwa tätig war, und ein Jahr später nach Petersburg, wo er sich weiterbildete. Mit dem Eintritt in die Öffentlichkeit wurde Kupalas zwie­spältige Autor-imago offenbar, die zur Authentizität des Nationaldichters in einem Spannungsverhältnis stand: Die Selbstinsze­nierung des im Namen des entrechteten Bauern sprechen­den Dichter-Ichs ‚aus dem Volk‘ war nicht deckungsgleich mit der adretten Erscheinung, die den Betrachter aus Kupalas Portrait dieser Zeit anblickte.

    Die Vilniuser und Petersburger Jahre waren extrem produktiv. Mit zwei weiteren Gedicht­bänden, zahlreichen Poemen, der Komödie Paulinka (1913) und dem Drama Raskidanaje hnjasdo (Das zerstreute Nest, 1913) erweiterte und entwickelte Kupala das Gattungsspektrum der jungen belarusischen Literatur. Das Thema seiner Werke bildete die Notwendigkeit der belarusischen nationalen, sozialen und kulturellen Emanzipation, für deren literarische Inszenierung Kupala unterschiedliche Formen, Verfahren und Modi erprobte. In Paulinka entwarf er mit der selbstbewussten Titelheldin eine Symbolfigur der „neuen Belarus’“ (Belarus ist im Belarusischen weiblich), die beherzt – wenn auch letztlich erfolglos − die Wahl ihres eigenen Weges verteidigt; mit Raskidanaje hnjasdo schuf er die düster-dystopische Schilderung der Zerstörung einer Familie, die ihr Land an einen Großgrund­besitzer verliert und aus dem Haus getrieben wird. Auch hier ruht die Hoffnung auf der jungen Generation.

    1913 kehrte Kupala nach Vilnius zurück und übernahm 1914 die Redaktion von Nascha Niwa, bis die Zeitung eingestellt wurde. Während des Ersten Weltkriegs und der Revolution verschlug es Kupala an verschiedene Orte, 1919 ließ er sich dauerhaft in Minsk nieder; seinen Kriegsdienst leistete er hinter der Front. Das literarische Leben kam in jenen Jahren weitgehend zum Erliegen − auch Kupala schwieg. Erst 1918 begann er wieder zu dichten:

    Ich nehm die schon verstummte Flöte wieder
    Die Hirtenflöte. Ob sie wohl noch singt? […]
    Ein dunkles Bangen will mein Spiel begleiten:
    Wie hörn’s Verwandte auf den Heimatfluren,
    Wie Nachbarn? Werden sie es segnend lieben,
    Zertreten sie’s als einen eitlen Tand?
    Ich aber irre trauernd auf den Spuren
    Und spiele, von geheimem Wahn getrieben
    Für Mutter-Heimat, für das Vaterland.4

    Belarusischer Volksdichter

    Die Hoffnungen auf die dauerhafte Realisierung eines souveränen Staates schienen sich 1919 zu erfüllen, wurden aber bald wieder zerschlagen. Dafür ging die Gründung der BSSR als Teil der Sowjetunion zunächst mit der Förderung nationaler Kultur einher: Im Zuge der Belarussisazyja wurde neben der Gründung zahlreicher Kulturinstitutionen der Status des Belarusi­schen angehoben und begonnen, die Sprache zu kodifizieren. Belarusische Literatur, Kultur und Wissen­schaft erhielten erstmals eine solide institutionelle Basis.

    Kupalas Position indessen geriet unter Spannung. Die Verbindung nationaler und sozialer Anliegen, die sein Werk kennzeichnete, wurde durch das offiziell verbindliche Modell proletarischer Literatur zunehmend diskreditiert. Zudem geriet er als Verfechter der Wieder­geburt unter den Generalverdacht „national-demokratischer“ und „anti­sowjetischer“ Gesin­nung. Als Kupala 1925 sein zwanzigjähriges Dichterjubiläum feierte, wurde ihm von höchster Stelle der Titel „Volksdichter“ verliehen – verbunden mit einer ansehnlichen Pension auf Lebenszeit. Mit dieser Überschreibung der inoffiziellen Rolle des National­dichters durch den offiziellen Titel des (proletarischen) Volksdichters wurde Kupalas herausragende Position pervertiert und sein Selbstverständnis paradox; er wurde in direkte Abhängigkeit von einem System gebracht, das das bekämpfte, was den Kern seines Schaffens ausmachte.

    Tuteischyja

    1924 erschien Kupalas 1922 entstandene Tragikomödie Tuteischyja (Die Hiesigen). Mit den „Hiesigen“ als Belarusen ohne nationales Bewusstsein („Auch-Belarusen vom Stamm der Renegaten und Degeneraten“)5 thematisierte die im Minsk der Jahre 1918 bis 1920 angesiedelte Handlung die Neutrali­sierung der belarusischen Identitätsbildung durch externe Machtan­sprüche. Im opportunistischen Protagonisten Mikita Znosak, der sich als Proto­typ degenerierten belarusi­schen Selbstverständnisses in Namens­form, Sprache, Kleidung, häus­licher Einrichtung, Wäh­rung und Profession jeweils an die deutsche, polnische und bolschewistische Besatzung anpasst, sich in der Abfolge wechselnder Regimes in zunehmend prekären Allianzen verstrickt und schließlich von den Bolschewiki verhaftet wird, führte Kupala den totalen belarusischen Identitätsverlust vor Augen:

    Ich verstehe nicht, was, nebenbei gesagt, meine Weltanschauung damit zu tun hat. Man kann eine Weltanschauung haben, etwas Anderes denken, etwas Drittes sagen, und etwas Viertes tun.6

    Die Subversivität von Tuteischyja lag und liegt in der tiefgreifenden Ambivalenz der grotesk gezeichneten Hauptfigur Mikita, dessen ethische Korrumpiertheit sich in seinem naiv-komi­schen (Sprach-)Verhalten aufhebt: er ist Verräter und Opfer gleichermaßen.7

    Diese Ambivalenz trat in der Uraufführung 1926 offen zutage, und die Zensurbehörde nahm das Stück, dem man nun vorwarf, „voller national-demokratischer Elemente“ zu sein, auf der Stelle vom Spielplan. Bis in die 1980er Jahre erschien dieses hochpolitische, „märtyrer­hafteste Werk der belarusischen Literatur“8 in Belarus weder im Druck, noch auf der Bühne. Nicht zuletzt aufgrund seiner zahlreichen Verbote (einigermaßen regelmäßig lief das Stück nur zwischen 1990 und 2010 am Kupala-Theater in Minsk) ist Tuteischyja für viele Belarusen bis heute Symbol der immer wieder verhinderten nationalen Selbstfindung.

    ‚Kajan Lupaka‘

    Fortan war Kupala im Visier der ideologischen Kontrolle. Im Zuge der „Säuberung“ der künstlerischen und wissenschaftlichen Intelligenz von „konterrevolutionären“ und „national-demokratischen“ Tendenzen ab 1929 wurde er der Mitgliedschaft in der Vereinigung zur Befreiung von Belarus beschuldigt (einer Organisation, deren Existenz nicht belegt ist) und wiederholt von der Geheimpolizei verhört. Unter dem Druck der Repressionen unternahm er im November 1930 einen Suizidversuch. Innerlich gebrochen, unterschrieb er nach seiner Genesung ein öffentliches Schuld- und Reueeinge­ständnis.

    Danach schrieb Kupala vornehmlich ‚Dienstlyrik‘ – Gedichte anlässlich von Jubiläen und Jahrestagen, Werke auf die Sowjetunion, die Partei und Stalin, auf die Kollekti­vierung und den Komsomol, gegen Polen (von 1921 bis 1939 war nahezu die Hälfte des belarusischen Territoriums als Teil Ostpolens unter polnischer Herrschaft), Kriegsgedichte gegen Hitlerdeutschland und ähnliches. Kupalas lyrisches Ich, das 1926, im letzten Jahr authentischen Dichtens, noch die Kraft hatte, „mich der Schmähung nicht zu beu­gen, mich zu wehren“9, kapitulierte vor dem ideologi­schen Terror der 1930er Jahre. Es zog sich meist hinter ein unper­sönliches Kollektivsubjekt zurück, greifbar bleibt Kupalas ehemalige imago in dieser Zeit einzig in seinen Übersetzungen des ukrainischen Dichters Taras Schewtschenko.

    Kupalas Perversion zum „Holzsoldaten“ des Regimes beschrieb der Schriftsteller Alhierd Bacharevič mit dem aus Kupalas Pseudonym gebildeten Anagramm „Kajan Lupaka“: Kupala habe sich „irgendwann aus der Welt der echten Literatur verflüchtigt, wie Gas durch ein Loch im Mantel. […] Ohne aufzuhören zu schreiben, gedruckt zu werden und als Dichter zu gelten.“10 Tatsächlich tut man sich in Belarus mit dem späten Kupala schwer – wohl auch deshalb, weil die Autor-persona dort bis heute eine Kategorie bleibt, die am durch Kupala mitbegründeten Authentizitätspostulat gemessen wird.

    Kupala heute

    Kupalas Bedeutung für die belarusische Literatur, aber auch für das kollektive Bewusstsein, lässt sich kaum überschätzen. Sein Werk gilt als „Enzyklopädie des Lebens des belarusischen Volkes“11, als „stärkster Ausdruck der belarusischen nationalen Mentali­tät“12; mit ihm sind die Begründung der modernen belarusischen Literatur, die Entwick­lung der Literatursprache, die Ausdifferenzierung und Entwicklung des Gat­tungssystems verbunden. Vor allem aber wird Kupala, dessen Werk für die nationale, soziale und kulturelle Würde der Belarusen stritt, gewissermaßen als Metonymie eines Landes begriffen, dessen Selbstbestimmung immer noch aussteht. So erklärt sich auch seine Aktualität in der gegenwärtigen Krise – angefangen bei der Losung Belarus’ lebt bis hin zur neuen Popularität der Tuteischyja.13


    Anmerkung der Redaktion:

    Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.

     


    Zum Weiterlesen
    McMillin, Arnold (1977): Kupała, in: ders.: Die Literatur der Weißrussen: A History of Byelorussian Literature, Gießen, S. 175-195
     
    Moskalik, Michael (1961): Janka Kupała: Der Sänger des weissruthenischen Volkstums, München


    1.„Ja ne paėta“ („Ich bin kein Dichter“, 1908)
    2.„Ja mužyk“ („Ich bin Bauer“, 1908)
    3.„A čto tam idze?“ („Wer geht da einher?“, 1908)
    4.„Dlja Bac’kaŭščyny“ („Für das Vaterland“, 1918, Übersetzung: Uwe Grüning)
    5.Tutėjšyja („Die Hiesigen“, 1924)
    6.Tutėjšyja („Die Hiesigen“, 1924)
    7.ausführlicher zu Kupala und Tutėjšyja vgl. Kohler, Gun-Britt (2019): Feldgrenzen, Dissimilation und das Ringen um kulturelles Kapital: Selbst- und reziproke Fremdkonzeptualisierungen polnischer und belarussischer Literatur zu Beginn des 20. Jh., in: Die Welt der Slaven, Internationale Halbjahresschrift für Slavistik 64 (2019) 1, S. 34-66 
    8.tut.by: Pinihin: „Sastarėlyja dėkaracyi ŭ Tutėjšych – hėta chlus‘nja“ 
    9.„Ёsc‘ ža jaščė …“ („Noch hab ich Kraft …“, 1926)
    10.Bacharėvič, Al’herd (2021): Hamburski rachunak bacharėviča, Minsk, S. 109
    11.Navumenka, Ivan (2003): „Janka Kupala“: Historyja belaruskaj litaratury XX-ha stahodzzja, t. 1, Minsk, S. 121 
    12.Žuk, Ihar, zit. n. Skobla, Pinihin: „Sastarėlyja dėkaracyi ŭ Tutėjšych – hėta chlus‘nja“
    13.Youtube: Tuteišyja: Spektakl‘ nezaležnaj teatral’naj grupy KUPALAYZY 

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  • Protestflagge: Verbot als Heiligsprechung

    Protestflagge: Verbot als Heiligsprechung

    Die Generalstaatsanwaltschaft in Belarus plant, die weiß-rot-weiße Flagge als Symbol des Extremismus einzustufen, was de facto ein Verbot bedeuten würde. Das wurde vergangenen Freitag bekannt. Die Flagge ist vor allem seit Beginn der Proteste gegen Machthaber Alexander Lukaschenko am 9. August 2020 zum Symbol für die demokratische Bürgerbewegung geworden. Das Bekanntwerden der Verbotspläne entfachte empörte Debatten und neuerliche Protestaktionen, bei denen Belarussen weiß-rot-weiße Flaggen zeigten oder Gebäude damit dekorierten. Der Koordinationsrat der Opposition initiierte eine Petition gegen das Verbot und wandte sich mit einem Statement an die Öffentlichkeit: „Wir glauben, dass das Verbot der Verwendung von weiß-rot-weißen Symbolen unbegründet ist. Es wird nur dadurch motiviert, dass politischer Druck auf Bürger ausgeübt wird, die weit von der Linie der Regierung entfernt sind.“

    In einem Kommentar, den Artyom Shraibman in seinem Telegram-Kanal veröffentlichte und der schließlich vom belarussischen Medium Nasha Niva übernommen wurde, prognostiziert der politische Analyst: Ein Verbot der weiß-rot-weißen Flagge könnte einen Bumerangeffekt für die Machthaber haben.

    Das Verbot der weiß-rot-weißen Flagge und ihre Einstufung als Extremismus ist ein wichtiger Schritt zur weiteren Sakralisierung der Flagge. Die war zu Beginn des Jahres 2020 ein Symbol der national-demokratischen Gesellschaftsschicht – die etwa 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung ausmacht. Zum  Jahresende hin war sie bereits – ohne Bezug zur historischen Bedeutung – ein Symbol des breiten bürgerlichen Protests.

    Am Sonntag nach der Wahl im August 2020 protestierten hunderttausende Menschen in Minsk gegen die Machthaber / Foto © Nadseja Bushan/Nasha Niva
    Am Sonntag nach der Wahl im August 2020 protestierten hunderttausende Menschen in Minsk gegen die Machthaber / Foto © Nadseja Bushan/Nasha Niva

    Jetzt wird sie zu einem heiligen Symbol, zur verbotenen Frucht, zu etwas, das man nachts an Wände malt, das in verborgenen Winkeln versteckt und wodurch die emotionale Bindung an dieses Symbol immer mehr gefördert wird. 

    Die Machthaber unterschätzen ihre Beliebtheit und verbauen sich so einen weiteren Weg für eine Kompromissfindung, indem sie Millionen ihrer Gegner zu Kriminellen machen, nicht nur für ihre Taten, sondern auch für ihre Zeichen. 

    Der Awtosak (Gefangenentransporter) gilt als Inbegriff für staatliche Repressionen bei den Protesten in Belarus / Foto © Homoatrox/Wikimedia unter CC-BY SA 3.0
    Der Awtosak (Gefangenentransporter) gilt als Inbegriff für staatliche Repressionen bei den Protesten in Belarus / Foto © Homoatrox/Wikimedia unter CC-BY SA 3.0

    Die rot-grüne Flagge hatte immer mehr Unterstützung als die belarussische Staatsmacht und sie hätte diese ganz bestimmt überleben können. Jetzt wird der Gesellschaft angetragen sich aufzuteilen. Sich neben einer rot-grünen Flagge zu zeigen ist mittlerweile Ausdruck einer politischen Position.

    Solch eine Politisierung eines Symbols und seine Bindung an eine konkrete Position ebnet den Weg dahin, dass das Verschwinden der Machthaber auch das Verschwinden seiner Attribute bedeuten wird. Die rot-grüne Flagge hatte Chancen, kein solches Attribut zu werden, aber nun wird sie es ganz bestimmt. 

    Mit dem Verbot der weiß-rot-weißen Flagge gewährleisten die Machthaber, dass sie zum Staatssymbol werden wird, weil sie nun keine Subkultur mehr darstellt. Ein bedeutender Tag.

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    „Belarus wird zum kranken Mann Europas“

    Mittlerweile sind die Massenproteste in Belarus nahezu zum Erliegen gekommen. Die Gründe dafür sind vielfältig: Kälte, Corona, Erschöpfung und die anhaltenden Repressionen. Dennoch gibt es jede Woche dutzende kleinere Protestaktionen im ganzen Land, auf die der Machtapparat Alexander Lukaschenkos weiterhin mit rigorosen Festnahmen reagiert. Zudem geht das System gezielt gegen die Symbolik der Proteste wie beispielsweise der weiß-rot-weiße Flagge vor. Es dürfte klar sein: Das Land befindet sich in einer tiefen Krise, deren Lösung noch nicht absehbar ist. 

    Der bekannte politische Analyst Waleri Karbalewitsch seziert in seinem thesenartigen Beitrag für die Zeitung Swobodnyje nowosti Plus die Ereignisse seit der Präsidentschaftswahl am 9. August 2020, erklärt ihre Bedeutung für das politische System Lukaschenkos und die Auswirkungen auf gesellschaftspolitische Dynamiken. Dazu wagt er einen Ausblick in die Zukunft.

    1. Der Hauptgrund für den revolutionären Ausbruch ist, dass das belarussische Gesellschaftsmodell, das Alexander Lukaschenko vor einem Vierteljahrhundert erschaffen hat, seine Ressourcen aufgebraucht hat und zu einer Bremse für die Entwicklung des Landes geworden ist.
    Innerhalb der belarussischen Gesellschaft hat sich ein großes Protestpotential angestaut, das sich im Sommer 2020 entladen hat. Hier kamen mehrere Faktoren zusammen, die eine Situation des „perfekten Sturms“ geschaffen haben. In den 26 Regierungsjahren Lukaschenkos hat ein Generationenwechsel stattgefunden. Die Gesellschaftsstruktur hat sich gewandelt. Die Zahl der Menschen, die in privaten Strukturen arbeiten, ist gestiegen. Soziologische Umfragen zeigen, dass die Belarussen heute eine der marktfreundlichsten Nationen Europas sind.

    2. Der belarussische Frühling ist eine Revolution der wachsenden Erwartungen. Während das Durchschnittseinkommen in Belarus in den letzten zehn Jahren faktisch gesunken ist, sind die Ansprüche der Gesellschaft gestiegen. Lukaschenko wurde für die meisten Belarussen zum Symbol der Stagnation und der Ausweglosigkeit.

    3. Der Prozess, der in den Staatsmedien als Transformation von Belarus zum IT-Land gezeichnet wurde, hatte unerwartete, weil politische Folgen. Neue Technologien und damit neue Wirtschaftszweige, zum Beispiel die IT-Branche, brachten Arbeitnehmer mit anderen Werten und einem anderen Lebenswandel hervor. Sie beförderten einen Konflikt, einen stilistischen Bruch zwischen denjenigen, die in der digitalen Sphäre mit einer horizontal organisierten Netzkultur leben, und der im Land vorherrschenden autoritären Machtvertikale. Unter anderem führte das zu einer anderen Wahrnehmung der Rolle der Frau in Gesellschaft und Politik.

    4. Der Machtapparat hat sein Informationsmonopol eingebüßt. Das Internet, neue Medien und soziale Netzwerke haben das alte Kommunikationssystem des herrschenden Regimes mit der Gesellschaft zerstört. Das war ein wichtiger Faktor für den gesellschaftlichen Aufbruch.

    Das Regime hat seine moralische Autorität verloren

    5. Genau wie die autoritären Herrschaftsmethoden stößt das archaische sozioökonomische und politische System bei den meisten auf Ablehnung. Wir haben eine sich modernisierende Gesellschaft, die Veränderungen und sich vom Staatspaternalismus befreien will, und auf der anderen Seite ein Regime, das den Status quo konserviert. Die Gesellschaft ist über den Staat hinausgewachsen, seine Rahmen sind ihr zu eng geworden. Lukaschenko ist nicht einmal aufgefallen, dass er und das Land in verschiedenen historischen Epochen leben.

    6. Das seit einem Vierteljahrhundert bestehende belarussische Modell basiert nicht auf dem Vertrauen der Gesellschaft in die politischen Institute, sondern auf dem Vertrauen in Lukaschenko. Die Legitimität des Regimes gründete in vielerlei Hinsicht auf dem persönlichen Charisma des Staatsoberhaupts. So führte die Krise des Vertrauens in seine Person zu einer heftigen politischen Krise. 

    7. Das Ergebnis der jüngsten Ereignisse war die Desakralisierung der Macht als solche. Bisher waren in Belarus die staatlichen Institute der einzige Mechanismus, der die Belarussen zu einer Gesellschaft vereinte. Andere Mechanismen wie Nation oder Zivilgesellschaft gab es nicht im vollumfänglichen Sinn. Jetzt weigert sich der Staat, diese einigende Funktion zu erfüllen. Im Gegenteil, die Regierung hat die Gesellschaft ganz bewusst gespalten und einem Großteil der Bürger faktisch einen Bürgerkrieg erklärt. Der Staat ist zu einer Gefahr für die Gesellschaft geworden.

    8. Das Regime hat seine moralische Autorität verloren. Die Ereignisse des vergangenen Jahres haben bei dem Großteil der Bevölkerung die Illusionen hinsichtlich dessen zerstört, was der Staat Lukaschenkos in Wahrheit ist. Die Belarussen sehen die Macht nun als ungerecht und unmoralisch. Auf diese Weise wurde die belarussische Revolution, genau wie die ukrainische Revolution von 2014, zu einer Revolution der Würde.

    9. Innerhalb weniger Monate, im Eiltempo, hat sich die Gesellschaft enorm entwickelt. Die Philister sind zu Bürgern geworden, mit dem metaphorischen Beinamen die „Unglaublichen“. Das Volk wurde zum politischen Subjekt, das das Regime sich weigert anzuerkennen.

    10. Im Laufe der letzten Monate hat sich in Belarus eine Zivilgesellschaft formiert, horizontale Verbindungen wurden geknüpft. Eine große Infrastruktur der sozialen Bewegung ist entstanden, ganze Häuser und Viertel haben sich zusammengeschlossen und kommunizieren über Chats. Anstelle von staatlich initiierten Korporativen haben sich spontan selbstorganisierte Berufsverbände gebildet. Es gibt Chatgruppen von Medizinern (Die weißen Kittel), Sportlern und so weiter. Dieser Prozess findet zu einem wesentlichen Teil auf den digitalen Plattformen statt, das heißt auf einer postindustriellen Basis.

    Die Proteste haben nicht zu einer Spaltung der Eliten geführt

    11. Der Werdungsprozess der belarussischen Nation ist abgeschlossen. Gewöhnlich formiert sich eine Nation im Kampf gegen einen äußeren Feind (ein Imperium, ein Mutterland). Im Fall von Belarus formierte sich die Nation im Kampf gegen das herrschende Regime – ein weiteres Paradox der belarussischen Revolution. So ist es kein Zufall, dass traditionelle Symbole zum Symbol der Revolution wurden: die weiß-rot-weiße Flagge und das Pahonja-Wappen.
    Und wir haben in diesen Monaten erstmals gesehen, dass es eine belarussische Diaspora gibt (als Teil der belarussischen Nation), die den Protest aktiv unterstützt.

    12. Das korporative Staatsmodell hat eine Niederlage erlitten. Die Belegschaften von Staatsunternehmen haben sich den Protesten angeschlossen – die stellen ein Schlüsselelement des belarussischen Gesellschaftsmodells und ein wichtiges Kontrollinstrument für die politische Loyalität der Arbeitnehmer dar.


    13.  Der prinzipiell friedliche Charakter des Protests, der im Gegensatz zur ausnehmenden Brutalität des herrschenden Regimes steht, ist ein weiteres Phänomen der belarussischen Revolution. Wenn es gelingt, ein hartes, konsolidiertes politisches Regime auf friedlichem Wege zu besiegen, wäre das eine einzigartige Erfahrung einer demokratischen Transformation.

    14. Die Proteststimmung in der Gesellschaft, der „Aufstand der Massen“, hat allerdings nicht zu einer „Krise der Obrigkeit“, einer Spaltung der Eliten geführt, was nach sämtlichen Theorien eine notwendige Voraussetzung für den Sieg der Revolution ist. Die Erwartung, dass der Staatsapparat unter dem moralischen und psychologischen Druck des Volkes zu bröckeln beginnt oder auf die andere Seite der Barrikaden wechselt, hat sich nicht erfüllt. Warum?

    a) Weil wir in Belarus ein starkes und konsolidiertes autoritäres Regime haben. Nicht ein einziges staatliches Institut ist vom Volk gewählt, ist dem Volk Rechenschaft schuldig oder untersteht seiner Kontrolle. Alle Institute sind gänzlich unempfänglich für abweichende Gesinnungen. Für Gegner des Regimes gibt es im Staatsapparat und dem politischen System als Ganzem keinerlei Anknüpfungspunkte. Seit einem Vierteljahrhundert existiert die Opposition im Modus vom Status her außerhalb des Systems. Es gibt eine feste Machtvertikale, die Lukaschenko von oben persönlich bestimmt. Der Staatsapparat existiert unabhängig vom Volk und reagiert deshalb nicht auf dessen Forderungen, sondern bleibt loyal gegenüber dem, der ihn geschaffen hat.

    b) In Belarus ist der Staat in allen Bereichen des öffentlichen Lebens überaus präsent. Er dominiert nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch die soziale Sphäre (Wohnungs- und Kommunalwirtschaft, Medizin und Bildung), die Medien, die Kultur und so weiter. Der Staat ist der größte Arbeitgeber. Das ermöglicht der Regierung eine staatliche Kontrolle der Gesellschaft. Politische Repressionen werden nicht nur durch die Rechtsschutzorgane und die Sicherheitsdienste umgesetzt, sondern durch alle staatlichen Strukturen. Dabei steht die Umsetzung der Repressionen, und nicht die Erfüllung der eigentlichen Funktionen, heute im Mittelpunkt der Arbeit der Staatsorgane.

    Der Staat wird auf das politische Regime reduziert

    15. Die einzige Antwort des herrschenden Regimes auf die neue Herausforderung ist es, auf nackte Gewalt und präzedenzlose politische Repressionen zu setzen. Alle, die gegen Lukaschenko sind, werden zum Freiwild deklariert. Gesetze gelten für sie nicht.

    16. Der Kult der rohen Gewalt charakterisiert sehr gut das Unvermögen des herrschenden Regimes, sich an die neue Realität anzupassen. Das Regime hat kein Narrativ für die Zukunft, außer der Erhaltung des Status quo, der auf Angst und Gewalt beruht. Lukaschenko versteht nicht einmal die Notwendigkeit eines Zukunftsnarrativs.

    17. Seit Monaten befindet sich das Land psychologisch im Zustand eines Bürgerkriegs. Und der Krieg ist nicht einmal mehr kalt. Mehrere Menschen wurden getötet, Hunderte waren Prügel und Misshandlungen ausgesetzt, mehr als dreißigtausend wurden verhaftet.

    18. In der Konfrontation des Regimes mit der Revolution gab es einen Komplettausfall der staatlichen Funktionen. Die Staatsorgane haben aufgehört, ihre Pflichten zu erfüllen. Die belarussische Außenpolitik ist de facto dabei, zerstört zu werden, das Land verliert seinen internationalen Subjektstatus. Die radikale außenpolitische Kursänderung innerhalb von wenigen Tagen hat eindrücklich gezeigt, dass die Außenpolitik in einem autoritären Regime nicht dem Schutz der nationalen Interessen dient, sondern lediglich ein Mittel zum Zweck ist, ein Instrument der Macht eines einzelnen Menschen. Mehr nicht.
    Vollständig zerstört sind das Rechtssystem und die Organe der Rechtsprechung, ohne die die Existenz eines intakten modernen Staates unmöglich ist.
    Nach und nach werden im Land Unternehmens-, Kultur- (z. B. das Kupala-Theater) und Sportstrukturen zerstört, die im Verdacht stehen, gegenüber dem herrschenden Regime nicht loyal zu sein. 
    Auf diese Weise entledigt sich der Staat seiner Funktionen und bewahrt nur die, die dem Machterhalt dienen: die Straforgane. Staatliche Institute, die gesellschaftliche Bedürfnisse erfüllen sollen, richten sich auf Selbstbedienung ein, um die eigenen Interessen vor den Forderungen der Gesellschaft zu schützen. Der Staat wird auf das politische Regime reduziert.

    19. Lukaschenko, der seit einem Vierteljahrhundert als Garant für Stabilität galt, ist paradoxerweise zu einem der Hauptfaktoren für die Destabilisierung des Landes geworden. 

    20. Bisher richtete sich Lukaschenko über den Kopf der staatlichen Institute und der Nomenklatura hinweg an das Volk, dabei fußte seine Alleinherrschaft auf der Unterstützung des Volkes. Jetzt, da die Unterstützung der Gesellschaft weg ist, ist er auf den Staatsapparat angewiesen. Das bedeutet, dass die Rolle, das politische Gewicht der Nomenklatur, zunimmt.

    Eine Niederlage für die letzte postsowjetische Utopie

    21. Das Regime wird zunehmend militarisiert. Die Sicherheitsstrukturen sind zum systembildenden Element des Lukaschenko-Staats geworden. Und sie werden ihren Anteil an der Macht einfordern. Ein Anzeichen für diesen Trend ist die Tatsache, dass Lukaschenko mit dem Beginn des Revolution die Schlüsselpositionen im Sicherheitsapparat neu besetzt hat.

    22. Die belarussische Gesellschaft hat ein tiefes psychologisches Trauma erlitten. Mit diesem Trauma wird auch das Regime leben müssen. Wir sind eine traumatisierte Gesellschaft. In den kommenden Jahren wird sich das Land im Zustand eines posttraumatischen Syndroms befinden.

    23. Die belarussische Revolution hat der letzten postsowjetischen Utopie einen vernichtenden Schlag versetzt. Sie zerstörte ein Projekt, das auf der Illusion beruhte, man könne Fortschritt ohne demokratische Transformation gewährleisten, und zwar indem man die grundlegenden Elemente der sowjetischen Vergangenheit konserviert. 

    24. Die Stärke des Staatsapparats hat Lukaschenko geholfen, an der Macht zu bleiben. Aber rohe Gewalt kann weder seine persönliche Legitimität oder die Legitimität des herrschenden Regimes gewährleisten noch die politische Krise überwinden. Der Großteil der Bevölkerung ist Lukaschenko gegenüber äußerst negativ gestimmt, und ihr aktiver Teil demonstriert Bereitschaft, den Protest fortzusetzen. Die Metapher, Lukaschenko sei Präsident des OMON, beschreibt die momentane Situation sehr gut.

    25. Der Überdruss am Autoritarismus à la Lukaschenko hat dazu geführt, dass das Pendel der öffentlichen Stimmung weit in die andere Richtung ausgeschlagen ist. Belarus ist reif für eine vollwertige Marktwirtschaft und eine liberale Demokratie.

    26. Mit den früheren Methoden wird sich Lukaschenko nicht an der Macht halten können. Es entsteht eine Situation, die der Klassiker der Revolutionsliteratur auf die Formel gebracht hat: Die Obrigkeit kann nicht wie einst regieren. Das heißt, um zu überleben, muss das autoritäre Regime in Belarus notwendigerweise härter und undemokratischer werden als bisher.

    27. Das Ergebnis ist, dass sich im Land zwei entgegengesetzte, auseinanderstrebende Tendenzen zeigen. In den nächsten Monaten werden wir ein noch härteres autoritäres Regime erleben, und auf der anderen Seite eine politisierte, revolutionisierte, in Bewegung gekommene Gesellschaft, die den Geschmack der Freiheit gekostet hat. Der Deckel auf dem brodelnden Kessel gerät immer mehr unter Druck. Das heißt, der Konflikt wird sich zuspitzen und unversöhnlicher werden, die politische Krise wird sich verschärften.

    28. Belarus wird von der Insel der Stabilität in absehbarer Zukunft zum „kranken Mann Europas“ und des ganzen postsowjetischen Raumes werden. Das ist der unausweichliche Preis für ein Vierteljahrhundert lähmender Stagnation.
    Wir können schon heute sagen, dass die belarussische Revolution in die Geschichte eingegangen ist und entscheidenden Einfluss auf die weitere Entwicklung des Landes haben wird. Schließlich geht eine Revolution nie spurlos vorüber. Die belarussische Gesellschaft steht vor großen Veränderungen.         

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    Und jetzt kehren wir zum normalen Leben zurück?

  • Und jetzt kehren wir zum normalen Leben zurück?

    Und jetzt kehren wir zum normalen Leben zurück?

    Viktor Martinowitsch gehört zu den bekanntesten Schriftstellern seines Landes. In seinen Romanen befasst er sich mit den Mechanismen autoritärer Macht und ihren Auswirkungen auf den Lebensalltag der Menschen. In dieser Woche ist sein neuer Roman Revolution in der deutschen Übersetzung von Thomas Weiler erschienen. Anders als der Titel vermuten ließe, geht es in dem Roman allerdings nicht um die Protestbewegung, die Belarus seit dem 9. August 2020 in Atem hält. Vielmehr beschäftigt er sich mit dem, was Macht ist, wie sie in zwischenmenschlichen Beziehungen wirkt und wie sie Menschen letzten Endes zum Schlechten verändert. Über sein neues Buch und über die Proteste in seiner Heimat hat Martinowitsch unlängst in einer Veranstaltung des Literarischen Colloquiums Berlin (LCB) gesprochen.

    Auch in Kolumnen und Interviews äußert sich der Schriftsteller immer wieder zu politischen Ereignissen in Belarus. So auch in diesem Beitrag, der sich mit dem aktuellen Stand der Protestbewegung beschäftigt und den Blick in deren nahe Zukunft wagt. Geschrieben hat Martinowitsch den Artikel für die Internetseite des Kulturprojektes Budzma, veröffentlicht wurde er schließlich auch auf der Seite des belarussischen Mediums Nasha Niva.

    Wahrscheinlich stecke ich schon zu lange da drin. 

    Und erinnere mich an sehr viel. 

    Jedenfalls sehe ich keinen Anlass für Optimismus. 

    Ihr könnt das als Denkanstoß nehmen. 

    Als Einladung zur Desillusionierung. 

    Zur Planung dieses Jahres und eures Lebens. 

    Als Entscheidungshilfe, wie ihr leben und was ihr ändern wollt. 

    Ihr meint, die Proteste leben im Frühjahr 2021 wieder auf? 

    Die Proteste sind nicht das Coronavirus, da gibt es keine erste und zweite Welle. Die Menschen, die im Sommer und Herbst in Massen auf die Straße gegangen sind, haben dafür gebüßt, haben gesessen, haben Repressionen unvorstellbaren Ausmaßes erlebt – wieso sollten sie wiederkommen? 

    An diesem Punkt waren wir schon mal. 

    Und es hat zu nichts geführt. 

    So war das in den 2000er Jahren: Im Herbst schlug die Opposition vor, bis zum Frühling zu warten. Und dann, nach dem traditionellen Tag der Freiheit und dem Tschernobyl-Marsch, wollte sie auf den Herbst warten, in dem sich die „wirtschaftliche Lage verschlechtern“ sollte. Im Herbst wiederholte sich dann das Ganze. Schon der Ausdruck „traditionelle Protestaktion“ ist ein Oxymoron. Ebenso die „geheime Protestaktion“. 

    Es ist doch offensichtlich, aus der Situation „Eine Million an der Stele“ wurde die Situation „Flashmob in der Metro: Menschen tragen weiß-rot-weiße Strümpfe und fotografieren sich ohne Gesichter“. 

    Ihr meint, Elite und Nomenklatura würden sich aufspalten lassen? 

    Die Krise des Jahres 2020 ist nicht mit der Krise des Jahres 1996 vergleichbar. Als ein Mann nur einen Schritt von einem Amtsenthebungsverfahren entfernt war und die Hälfte der Parlamentsabgeordneten und ein Teil der Verfassungsrichter, wenn nicht gegen ihn, so doch wankelmütig waren. Bei vergleichbarer Lage auf den Straßen und Plätzen … Und wie endete es? Mit einer Beschränkung der Sitze „im neuen Parlament“ und einer Verfassungsänderung, nach der eine Amtsenthebung schwieriger zu bewerkstelligen ist als eine Oscar-Nominierung für einen staatlich produzierten Kinofilm. 

    Ihr hebt auf die wirtschaftliche Lage ab? Da kann ich nur sagen: Ja, ja! Warten wir den Herbst ab! Sie wird sich verschlechtern und … (das hatten wir schon). 

    Ihr seid überzeugt, Putin sei enttäuscht, dass die Zusagen von Sotschi, einen Dialog zu starten und die Machtbefugnisse neu zu ordnen, nicht eingehalten wurden? Was kann der denn schon, dieser Putin? Sie sehen ja, Nawalny zu vergiften, haben sie auch nicht geschafft. Und hier haben wir es mit einem geopolitischen Gambitspiel zu tun, einer komplizierten Geschichte. Außerdem dürfte es im Frühjahr aller Voraussicht nach auch in Russland hoch hergehen, weshalb sollte man also die unzufriedenen Russen noch damit ermuntern, dass man die Proteste bei den Nachbarn in Veränderungen münden lässt? 

    Ich weiß, was das Regime getan hat und was es tun wird. Mit der Zusage, die Verfassung ändern zu wollen, hat es sich Zeit erkauft, die Proteste zu ersticken. Und nun, da die Spannungen unter den Ofen gekehrt sind, packt es den Stier beim Euter, schleppt das Ganze bis zum Jahr 2025 und erklärt, die Zeit sei „noch nicht reif für Veränderungen“ (wie gehabt). 

    Es wird vorschlagen, dass wir „die aktuelle Seite umblättern“ und „zum normalen Leben zurückkehren“. 

    Und manch einer wird tatsächlich zurückkehren zu diesem Leben. 

    Wird für die belarussische Sprache auf Etiketten kämpfen. Stets darum bemüht zu verschweigen, dass man diese Sprache binnen drei Tagen zurückhaben könnte, würde sich etwas Größeres ändern. 

    Manch einer wird für die Verteidigung von Kurapaty trommeln — ein Heiligtum, wenn man bedenkt, dass der aktuelle Furor dort seinen Ursprung hat, in Kurapaty, in der ausgebliebenen nationalen Einigung um dieses Unglück. Aber hätten sich die Dinge 1996 anders entwickelt, stünde in Kurapaty längst ein großes Denkmal und die umliegenden Hektar Land wären unantastbar. 

    Manch einer wird seine Bemühungen und seine Rhetorik auf die Erneuerung der Paläste lenken, jener Paläste, in deren Fenstern unlängst noch alle Scheiben ganz waren und die alten Eichentüren intakt, die aber zusehends verfallen und weiter verfallen werden, wenn der Staat sie wieder an sich reißt, da man hier nichts vollständig besitzen kann, unterstehen wir doch alle dem Kreisexekutivkomitee. 

    Diejenigen, die sich weiter erinnern, werden weiter schreien. 

    Weiter stöhnen. 

    Sie werden sich an internationale Organisationen wenden, die immer gleichgültiger reagieren werden, da an Belarus als Transitland das große Kapital derjenigen hängt, die hinter europäischen Politikern stehen. 

    Bald werden diese gramgebeugten Rechtschaffenen selbst bei den Menschen hier im Land kein Gehör mehr finden. Auch bei denen, die alles gesehen haben und überall dabei waren, denen die Erinnerung daran aber zu schmerzhaft ist. Dann doch lieber shoppen gehen und Serien schauen, außerdem ist es einfach eine Riesengaudi, im Gummireifen die vereiste Tubingbahn in Silitschy runterzusausen … 

    Wir werden uns zerstreiten darüber, wer was falsch gemacht hat. Wieso es gekommen ist, wie es gekommen ist. Wir werden den ehemaligen Führungsfiguren Vorhaltungen machen, besonders jenen, die ins Ausland gegangen sind (dabei hätten sie in erster Linie unser Mitgefühl verdient). Wir werden uns wundern über die Blumen, die manche weiterhin an den Orten ablegen, wo Taraikowski ermordet und Bondarenko zusammengeschlagen wurden. 

    Ich bin einer von denen, die sich erinnern und sich immer erinnern werden. 

    Nicht nur an 2020. 

    Sondern auch an 2010 (Blutlachen im Schnee, schwarze Phalangen in der Dunkelheit, das Aufblitzen der Lichter auf den Helmen). 

    Und an 2006 (oh, dieser Schneesturm!). 

    Und an 1996 und 1999 (hat einer behauptet, die ersten Todesopfer gab es erst seit letztem Sommer). 

    Meine Erinnerung ist es, die mir die Freude nimmt. 

    Aber dieselbe Erinnerung verbietet mir auch, wieder normal zu werden. 

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  • Debattenschau № 82: Lager für politische Gefangene in Belarus?

    Debattenschau № 82: Lager für politische Gefangene in Belarus?

    Am 15. Januar 2021 veröffentlichte die belarussische Initiative Bypol einen brisanten Audiomitschnitt: Eine männliche Stimme spricht dort vom Schusswaffengebrauch gegen Demonstranten, über die Einrichtung eines Lagers mit Stacheldrahtzaun „für besonders Aufsässige“, und darüber, dass man Angreifern eine Lektion erteilen müsse: „Entweder verkrüppeln, verstümmeln oder umbringen.“  

    Die Stimme wird dem stellvertretenden Innenminister Nikolaj Karpenkow zugeschrieben. Karpenkow gilt als ausgesprochener Hardliner; als damaliger Leiter der Spezialeinheit GUBOPiK trat er bei Protesten im Herbst des öfteren selbst mit Gummiknüppel in Erscheinung. Im September machten Bilder die Runde, auf denen Karpenkow die Tür eines Minsker Cafés zertrümmert – dort hatten Protestierende zuvor Zuflucht vor den Sicherheitskräften gesucht.

    In der nun aufgetauchten Aufnahme spricht die besagte Stimme auch über Alexander Taraikowski, der am 10. August 2020 in Minsk bei den Protesten von der Miliz erschossen worden war. „Ja, Taraikowski, dieser Trunkenbold und Schwachkopf. Er starb natürlich durch ein Gummigeschoss, das seine Brust erwischt hatte.“ Über die Demonstranten sagt der Mann: „Denn eigentlich sind alle, die heute auf die Straße gehen, um bei diesem Schienenkrieg mitzumachen, diejenigen, die Straßen blockieren, die Polizei angreifen, Molotow-Cocktails werfen, auch Terroristen. Das sind überflüssige Menschen in unserem Land.“ Auch Aussagen von Lukaschenko werden in der Aufnahme wiedergegeben. Unter anderem soll der Autokrat von den Sicherheitskräften gefordert haben, dass sie mit den Unruhen fertig werden sollen, „und zwar mit aller Härte“. In Bezug auf den Schusswaffengebrauch, so wird Lukaschenko zitiert, seien OMON und Miliz abgesichert. 

    Laut Bypol soll der Mitschnitt, den es auch in einer vollständigen deutschen Übersetzung gibt, im Oktober 2020 bei einem Abschiedstreffen von Karpenkow und Mitgliedern seiner GUBOPiK-Einheit entstanden sein. Das belarussische Innenministerium bezeichnete die Aufnahme nach der Veröffentlichung als Fake. In den Staatsmedien wurde der Mitschnitt indes überhaupt nicht thematisiert. Unter belarussischen Politikern, Journalisten und in der belarussischen Gesellschaft sorgte er für Wut und Entrüstung und entfachte eine Diskussion über die moralische Verkommenheit des Machtapparats Lukaschenko. dekoder bringt eine Auswahl von Stimmen aus dieser Debatte.
     

    Facebook/Dimitri Nawoscha: Alles soll vernichtet werden

    Der Belarusse Dimitri Nawoscha ist Mitgründer des einflussreichen russischen Sportportals Sports.ru, das unter anderem auch das Portal Tribuna in Belarus betreibt. Seiner Meinung nach zeigt die Aufnahme schonungslos die Geisteshaltung von Lukaschenkos Helfern.

    [bilingbox]Lukaschenko ist es gelungen, eine Bande erstaunlichen Abschaums um sich zu versammeln, die bereit ist, Unbewaffnete zu verstümmeln und zu töten, die bereit ist, nicht nur moralische Grenzen zu überschreiten (hier gab es eh keine Illusionen), sondern auch jedwede Gesetze – sogar die eigenen diktatorischen. Bereit, in dem von den Lukaschisten ausgedachten ‚hybriden Krieg‘ alles Lebendige zu vernichten.~~~Лукашенко удалось собрать под себя банду удивительных выродков, готовых калечить и убивать безоружных, преступать не только через мораль (тут иллюзий особо не было), но и через любые законы – даже свои, диктаторские. Уничтожать всё живое в придуманной лукашистами «гибридной войне.[/bilingbox]

    erschienen am 15.01.2021, Original

    tut.by/Swetlana Tichanowskaja: Leben oder Konzentrationslager?

    Für Swetlana Tichanowskaja, die führende Figur der belarussischen Oppositionsbewegung, sind die Aussagen in der Aufnahme ein Zeichen dafür, dass Lukaschenkos Abgang bevorsteht.

    [bilingbox]Lukaschenko bereitet sich auf seinen Abgang vor. Er weiß, dass sich Belarus mit ihm in einen geächteten Staat verwandeln wird. Er weiß, dass er verloren hat. Die Frage ist nur, was er zurücklassen wird. Und jetzt möchte ich allen am Bildschirm eine Frage stellen, allen, die dieses Video sehen. Es spielt keine Rolle, für wen Sie gestimmt haben oder welche Ansichten Sie vertreten. Es spielt keine Rolle, welche Flagge oder welches Wappen Ihnen gefällt. Ich möchte jedem Belarussen eine Frage stellen: Was haben wir verdient – ein Land zum Leben oder ein Konzentrationslager?~~~Лукашенко готовится к уходу. Он знает, что с ним Беларусь превратится в страну-изгоя. Он знает, что проиграл. Вопрос лишь в том, что он оставит после себя. И сейчас я хочу задать вопрос каждому человеку у экрана, всем, кто смотрит это видео. Неважно за кого вы голосовали и каких взглядов придерживаетесь. Неважно, какой флаг и герб вам нравится. Я хочу задать вопрос каждому беларусу. Что мы заслужили: страну для жизни или концлагерь?[/bilingbox]

    erschienen am 15.01.2021, Original

    Facebook/Pjotr Kusnjazou: Blick in die dunkle Vergangenheit

    Pjotr Kusnjazou, Direktor der regionalen Informationsplattform Gomel – Silnyje Nowosti, fühlt sich durch die Aufnahme an die schlimmsten Zeiten seines Landes erinnert.

    [bilingbox]Hier sind nun also die Pläne, im Land ein politisches Konzentrationslager zu errichten – das hat selbst vor dem Hintergrund der bestehenden Realität für enorme Verwunderung gesorgt. So deutlich weht damit der Wind von den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts herüber, dass einen eine Gänsehaut überzieht. Wir ziehen hier Parallelen zum Stalinismus, erfassen Gemeinsamkeiten, während die da diese Gemeinsamkeiten gezielt planen und organisieren. Was heißt hier Stalinismus. Unter Stalin waren die Menschen nicht „überflüssig“ – alle waren gut dafür, den Weißmeer-Ostsee-Kanal zu bauen. „Überflüssige Menschen“ ­– das stammt aus dem Repertoire einer völlig anderen Figur, der all der Lebensraum nicht reichte; „die Überflüssigen“ konnten buchstäblich verwertet werden, was auch gemacht wurde: Goldkronen – auf den einen Haufen, Haare zum Polstern von Möbeln ­auf einen anderen, Organe und Blut für Medizin ­wieder irgendwo anders hin und so weiter. ~~~Но вот планы создать в стране политический концлагерь – это удивило сильно даже на фоне имеющейся реальности. Так чётко повеяло 30-ми годами прошлого столетия, что аж мурашки по коже. Мы тут проводим параллели со сталинизмом, улавливая общие черты, а они в это время эти общие черты целенаправленно планируют и организовывают. Да ладно, сталинизм. При Сталине „лишними“ люди не были – все годились Беломорканал строить. „Лишние люди“ – это из репертуара совершенно другого персонажа, которому все жизненного пространства не хватало, а „лишних“ можно было утилизировать в буквальном смысле, что и делалось: золотые коронки – отдельно, волосы для набивки мебели – отдельно, органы и кровь для медицины – отдельно и т.д.[/bilingbox]

    erschienen am 15.01.2021, Original

    Telegram/Pawel Latuschko: Befehlsgewalt von oben 

    In seinem Statement betont Pawel Latuschko, ein zur Opposition übergelaufener Funktionär und Politiker, die umfassende Macht Lukaschenkos.

    [bilingbox]Nach Karpenkows Aussagen wird niemand mehr die geringsten Zweifel haben: Alle Gräueltaten in Belarus geschehen auf Befehl Lukaschenkos und mit seinem Wissen. Er benennt direkt die wesentliche Aufgabe der Miliz – nein, das ist nicht der Schutz des Volkes, sondern der Schutz des Nichtlegitimierten und seiner Familie.~~~После заявлений Карпенкова ни у кого не останется ни малейших сомнений: все злодеяния в Беларуси творятся по приказу Лукашенко и с его ведома. Он прямо называет основную задачу милиции – нет, это не защита народа, а защита нелегитимного и его семьи.[/bilingbox]

    erschienen am 15.01.2021, Original

    Radio Svaboda: Lenin als absurde Argumentationshilfe

    In der Aufnahme bezieht sich die Stimme, die Karpenkow zugeordnet wird, auch auf Lenin. Jury Drakachrust, politischer Kommentator beim Sender Radio Svaboda, weist auf die bittere Ironie dieser Argumentation hin.

    [bilingbox]Laut Karpenkow hat „Großväterchen Lenin“ gesagt, dass nur der Staat das Recht hat, Waffen zu benutzen, und dass alle anderen, die sie benutzen, Banditen und Terroristen sind. Die Ironie der Situation besteht darin, dass Karpenkow sich auf eine Person bezieht, die selbst ein prominenter, patentierter Bandit und Terrorist war. Es ist schwierig, in der Geschichte eine andere Figur zu finden, die ähnlich radikal wie Lenin die Tradition, die Sitten, die alte Hierarchie ablehnt – alles, was Herrn Karpenkow angeblich so am Herzen liegt. Herr Karpenkow hat in dieser Hinsicht einfach nichts zu bieten. Absolute, ideale Leere als Ideologie, mit Lenin als Prophet des Bestehenden und der Unveränderlichkeit – eine absurdere und widersprüchlichere Rechtfertigung kann man sich nicht vorstellen.~~~

    По словам Карпенкова „дедушка Ленин“ говорил, что право на применение оружия имеет только государство, а все другие, кто его применяет – бандиты и террористы.

    Ирония ситуации заключается в том, что Карпенков сослался на личность, которая как раз и была выдающимся, патентованным бандитом и террористом. Поискать в истории другого персонажа, который бы столь радикально, как Ленин, отвергал традицию, обычаи, прежнюю иерархию – все то, что якобы такое дорогое сердцу господина Карпенкова.

    У господина Карпенкова нет в этом смысле просто ничего. Абсолютная, идеальная пустота как идеология, Ленин как пророк охранительства и неизменности – нарочно не придумаешь более абсурдного и противоречивого обоснования.[/bilingbox]

    erschienen am 15.01.2021, Original

    Belorusski Partisan: Für Geld oder Freischein

    Lew Margolin, Ökonom und stellvertretender Vorsitzender der Vereinigten Bürgerpartei, spekuliert in einem Interview, wer die Aufnahme Bypol zur Veröffentlichung übermittelt haben könnte.

    [bilingbox]Das machen natürlich deren Kollegen. Dafür könnte es zwei Gründe geben. Der erste Grund ist möglicherweise der Wunsch, Geld zu verdienen. Es ist die Information durchgedrungen, dass bestimmte Leute Geld für solche Aufnahmen verlangen. Der zweite Grund ist der Wunsch, in der Zukunft eine Art Ablass zu erhalten. Später wird man sagen: Obwohl dieser Mann dort gedient hat, war er in nichts verwickelt, mehr noch: Er hat uns als Kämpfer im Untergrund geholfen.~~~Делают, конечно, их коллеги. А причины могут быть две. Первая причина – возможно, желание заработать. Проходила информация, что кое-кто хочет денег за какие-то записи. Вторая причина – желание получить индульгенцию в будущем. Потом будет сказано: хоть этот человек и служил там, но он ни в чем не замешан и более того, он как подпольщик помогал нам.[/bilingbox]

    erschienen am 18.01.2021, Original

    dekoder-Redaktion

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  • Bystro #19: Wie frei sind die Medien in Belarus?

    Bystro #19: Wie frei sind die Medien in Belarus?

    Journalisten in Belarus leben gefährlich. Vor allem seit dem Beginn der Proteste am 9. August 2020 sind sie fast täglich staatlichen Repressionen ausgesetzt. Auch Festnahmen gehören zum Alltag. 

    Wie aber sieht die belarussische Medienlandschaft aus? Wie frei können Medien berichten? Woher beziehen die Menschen ihre Informationen? Und sprechen belarussische Medien immer nur po-russki? Ein Bystro von Ingo Petz in neun Fragen und Antworten – einfach durchklicken.

    1. 1. Wie sieht die belarussische Medienlandschaft generell aus? 

      Die ist zumindest auf dem Papier recht breit gefächert. Das Fernsehen spielt dabei immer noch eine wichtige Rolle, wird aber immer mehr von Internetmedien und seit vergangenem Jahr zunehmend von Messenger-Diensten abgelöst. Die Rolle von Radio und gedruckten Medien nimmt – wie in den meisten Ländern – deutlich ab. Die wichtige Unterscheidung für Belarus liegt darin, ob die Medien unabhängig oder staatlich sind. Dabei bedeutet staatlich nicht öffentlich-rechtlich. Das heißt: Gerade die wichtigsten TV-Sender oder -Unternehmen wie ONT, BT oder CTV gehören direkt dem Staat oder Holdings, an denen Ministerien oder andere staatliche Strukturen beteiligt sind. Diese Medien werden aus dem Staatshaushalt finanziert. Die Präsidialverwaltung oder das Informationsministerium haben mitunter direkten Einfluss auf die Zusammensetzung der Redaktionen und vor allem auf die politische Berichterstattung, die in erster Linie für Propagandazwecke genutzt wird.

    2. 2. Gibt es überhaupt unabhängige Medien?

      Was heißt „unabhängig“? Natürlich gibt es privatwirtschaftlich finanzierte Medien – als Fernsehen, Radio, Zeitung oder Zeitschrift, und vor allem im Internet; nicht alle, aber viele davon sind auch inhaltlich unabhängig. Eine echte Unabhängigkeit ist in autoritären Staaten eh nur schwer umzusetzen, wenn bei heiklen Themen Gefängnis oder Geldstrafen drohen. Stichwort: Selbstzensur. Zudem arbeiten sogenannte oppositionelle Medien nicht unbedingt nach journalistischen Standards, sondern betreiben nicht selten eine Art Gegenpropaganda. Dennoch ist die kritische journalistische Berichterstattung in den vergangene Jahren deutlich professioneller geworden. Und das, obwohl die Medien einer restriktiven Registrierungsregelung unterliegen. Damit Medien arbeiten können, müssen sie sich nämlich beim Informationsministerium anmelden. Diese Registrierungspflicht ist ein mächtiger Kontrollmechanismus für die autoritäre Staatsführung. Unter den sogenannten (finanziell) unabhängigen Medien befinden sich aber vor allem TV-Unterhaltungsprogramme, kommerzielle Radiosender, Tierzeitschriften, Tourismusportale oder sonstige unverfängliche Formate. 

    3. 3. Aus welchen Medien holen sich die Belarussen ihre Informationen?

      Vor allem aus dem Fernsehen und aus dem Internet. Die ältere Generation guckt laut Umfragen immer noch sehr viel Fernsehen. Dabei sind die populärsten Informationskanäle ONT, RTR Belarus, Belarus 1, NTV Belarus, Belarus 2 oder CTV staatlich und somit Teil der offiziellen Propaganda. 60 bis 74 Prozent der Belarussen informieren sich Umfragen zufolge auch im Netz. Online haben die unabhängigen Medien eine wesentlich stärkere Präsenz als offline. Unter den Top Ten der wichtigsten Online-Informationsportale finden sich mit tut.by, Naviny, Belsat, CityDog und The Village Belarus vor allem kritische, journalistische Formate, zu deren Nutzern hauptsächlich jüngere und mittelalte Menschen gehören. Je jünger die Menschen also sind, desto weniger nutzen sie die klassischen Medien wie Fernsehen oder Zeitungen, und: Je jünger sie sind, desto weniger vertrauen sie laut Meinungsumfragen staatsnahen Medien und Informationsportalen. 

    4. 4. Welche Bedeutung haben die russischen Staatsmedien in Belarus?

      Zentrale Programme des russischen Staatsfernsehens sind in Belarus Teil des landesweit empfangbaren Fernsehens. Teilweise werden die Inhalte eins zu eins übernommen, teilweise für das belarussische Publikum anders zusammengestellt, wie bei den Sendern NTW und RTR Belarus. Der Sender ONT ist eine Art belarussisch-russisches Joint Venture, das Inhalte der russischen Sender Perwy Kanal oder Wremja nutzt. ONT und RTR Belarus gehören zu den reichweitenstärksten Kanälen des Landes: Damit finden die Sichtweisen des Kreml in Belarus eine weite Verbreitung. Die belarussischen Ableger der Zeitungen Komsomolskaja Prawda und Argumenty i Fakty gehören zudem zu den meistgelesenen Zeitungen. Und Sputnik.by – Teil der gleichnamigen staatlichen russischen Nachrichtenagentur – ist  eines der populärsten Internetmedien in Belarus. Hinzu kommt die Kreml-Finanzierung von deutlich prorussischen Portalen im Internet. Russland hat also grundsätzlich einen großen Einfluss auf die Meinungsbildung in Belarus.

    5. 5. Wie frei können unabhängige journalistische Medien arbeiten?

      Als Alexander Lukaschenko 1994 an die Macht gekommen ist, hat er sofort damit begonnen, die unabhängige Presse an die Kandare zu nehmen. Zunächst wurden Zeitungen und Zeitschriften über findige Rechtswege verboten, Journalisten festgenommen und mit Geld- oder Gefängnisstrafen belegt. Die Zensur war indirekt: über fingierte Vorwürfe und Anklagen wegen angeblicher Steuerhinterziehung. Die Methode wird auch aktuell angewandt: Wie beispielsweise bei der Initiative Press Club Belarus, deren führende Koordinatoren im Dezember 2020 aufgrund angeblicher Steuerhinterziehung festgenommen wurden.
      Zudem gibt es mittlerweile sehr viele Gesetze, die nur den Sinn haben, die Arbeit von Journalisten und Medien zu behindern. Während der aktuellen Proteste sind Journalisten direktes Ziel von OMON und Spezialeinheiten: Seit August 2020 gab es fast 400 Festnahmen von Journalisten. Internetseiten werden blockiert und gestört, bei investigativen Beiträgen spricht das Informationsministerium Warnungen gegen Medien aus, was zur Schließung führen kann. Reporter ohne Grenzen führt Belarus auf Platz 153 im aktuellen Index für Pressefreiheit.

    6. 6. In welcher Sprache senden und veröffentlichen die Medien in Belarus?

      Überwiegend auf Russisch. Es gibt Medien, die beide Sprachen – also Russisch und Belarussisch – nutzen. Wie beispielsweise die unabhängige Zeitung Narodnaja Wolja (dt. Volkswille), die älteste, noch als klassisches Druckerzeugnis erscheinende sogenannte Oppositionszeitung. Aber auch Internetmedien für ein jüngeres Publikum wie 34Mag, CityDog oder The Village Belarus nutzen dieses sprachliche Zwitterformat. Selbst die älteste belarussische Zeitung Nasha Niva, die allerdings nicht mehr als gedruckte Zeitung erscheint, veröffentlicht ausgewählte Beiträge seit ein paar Jahren auch in einer russischen Übersetzung. Nur der in Prag ansässige Sender Radio Svaboda, der von Geldern der US-Regierung finanziert wird, oder das Internetmedium Novy Chas publizieren auschließlich auf Belarussisch. Die Internetseite des in Warschau ansässigen Senders Belsat, den vor allem der polnische Steuerzahler finanziert, gibt es auf Russisch und auf Belarussisch. Im Fernsehen von Belsat sprechen zumindest Moderatoren nur Belarussisch; im belarussischen Staatsfernsehen wird fast durchgehend Russisch gesprochen, und im staatlichen Radio teilweise auch Belarussisch.

    7. 7. Welche Rolle spielen die jungen Nischenmedien im Internet? 

      Unabhängige Medien wie 34Mag, CityDog oder Kyky haben in den vergangenen 15 Jahren sowohl zur Diversifizierung und Professionalisierung des belarussischen Journalismus beigetragen als auch zu einer Professionalisierung des Medienmanagements. Das zeigt, dass man mit Nischenmedien auch unter schwierigen wirtschaftlichen und politischen Bedingungen eine nachhaltige Entwicklung erreichen kann. Allein das Stadtmagazin CityDog hat pro Monat laut eigenen Angaben über 650.000 Nutzer. Hinsichtlich gesellschaftspolitisch relevanter Informationsaufbereitung darf man diese Medien nicht über-,  aber auch nicht unterschätzen: Schließlich liefern sie den Echo- und Reflexionsraum für die Selbstentfaltungs- und Freiheitssehnsucht junger Menschen, die autoritären Systemen grundsätzlich ein Dorn im Auge ist. Zudem zeigen diese Medien einen generellen Trend: Gerade im Internet sind in den vergangenen Jahren auch zahlreiche neue, auch lokale Medien entstanden, wie beispielsweise das Portal Hrodna.Life. Diese jungen Medien setzen auf eine enge regionale Bindung zu ihrem Publikum. 

    8. 8. Haben die aktuellen Proteste die belarussische Medienlandschaft und die Mediennutzung verändert?

      Infolge der Proteste, aber auch infolge der Coronakrise, die der belarussische Staat miserabel managt, lassen sich ein paar Trends ausmachen: Die staatlichen Medien haben Umfragen und Analysen zufolge grundsätzlich einen massiven Vertrauensverlust erlitten. Die Leute machen sich auf die Suche nach alternativen Informationsmöglichkeiten, vor allem im Internet, was den unabhängigen Informationsmedien und journalistischen Kanälen zugute kommt. Die deutlich gestiegene Politisierung in der Gesellschaft führt unter anderem dazu, dass auch Sport- oder Lifestyle-Medien nun gesellschaftspolitische Beiträge liefern. Trotz der gezielten Attacken und Repressionen leisten Journalisten und Medien weiterhin eine Arbeit auf hohem journalistischen Niveau. Zudem scheint die in autoritären Systemen bei unabhängigen Journalisten stark verankerte Selbstzensur im Moment kaum noch eine große Rolle zu spielen.

    9. 9. Kann man in Bezug auf die Proteste von einer Telegram-Revolution sprechen?

      Der Messenger-Dienst Telegram spielt aufgrund seiner Verschlüsselungstechnik sicherlich eine sehr große Rolle bei den Ereignissen in Belarus, vergleichbar zu den sozialen Medien während des Arabischen Frühlings. Journalistische Medien betreiben längst alle ihre eigenen Telegram-Kanäle. Zudem findet man dort Kanäle von Initiativen, Organisationen oder Fachexperten, die der Informationsverbreitung und Meinungsbildung dienen. Vor allem für die visuelle Abbildung der Proteste und der Verbreitung von Videos hat der von Exil-Belarussen aus Polen betriebene Kanal Nexta eine gewaltige Bedeutung. Da ausländische Korrespondenten so gut wie gar nicht vor Ort sind, der Staat belarussischen Korrespondenten ausländischer Medien die Akkreditierung entzogen hat und die Arbeit vor Ort grundsätzlich schwierig ist, fehlen häufig visuelle Eindrücke. Vor allem diese Funktion übernimmt Nexta. Der Kanal hat über 1,7 Millionen Abonnenten. Insgesamt kann man sagen: Ohne Telegram wüssten die Belarussen und auch die Menschen in Westeuropa sicherlich wesentlich weniger über die Vorgänge in Belarus.



    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Text: Ingo Petz
    Stand: 12. Januar 2021

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  • Mit der Angst um den Hals

    Mit der Angst um den Hals

    Seit Anfang Dezember 2020 befindet sich Alhierd Bacharevič zusammen mit seiner Frau, der Dichterin Julia Cimafiejeva, in der steirischen Stadt Graz. Beide haben von Anfang an die Proteste in ihrer Heimat gegen das autokratische System Alexander Lukaschenkos unterstützt. In einem Interview für Radio Svaboda sagte Bacharevič, nachdem er in Österreich angekommen ist: „Ich habe Belarus psychisch gebrochen und krank verlassen, voller Hass auf den Staat, voller Schmerz und Schuld. Ich denke, diese Wunde wird niemals heilen. Aber meine persönlichen Wunden sind nichts im Vergleich zu den Wunden derer, die körperlich gefoltert und zerstört wurden … Wir leben zwischen einem schrecklichen Trauma und einer hellen Hoffnung.“

    Die protestierenden Belarussen bezeichnen diejenigen, die im Namen von Lukaschenko Gewalt anwenden, als „Faschisten“. Auf der anderen Seite diffamiert Lukaschenkos Machtapparat die Protestierenden als „Faschisten“. Ein Wort also mit einer schaurigen, wechselvollen Geschichte, auch in Belarus. In einem Essay für die belarussische Wochenzeitung Swobodnyje nowosti Plus befasst sich Bacharevič mit dem Faschismus, der ihn seit seiner Kindheit begleitet.

    Ihre Gesichter bleiben dir sofort in Erinnerung, du prägst sie dir förmlich ein, wider den eigenen Willen – so wie Kinder Schimpfwörter auf der Straße lernen. Ihre müden Zungen sind behäbig wie ihre staatseigenen Fahrzeuge. Dafür kennen sie die wichtigsten Wörter.

    „Nicht wir sind die Faschisten“, erklärt ein hoher Polizeibeamte siegessicher in einem Interview. „Ihr seid die Faschisten!“

    Punkt. Er hat alles gesagt. Etwas huscht über sein müdes Gesicht. Ein Ausdruck von . . . etwas Kindlichem, Lebendigem. Das ist doch eine Beleidigung! Eine einfache kindliche Beleidigung. Und eine genauso kindliche, sture Argumentation, eine genauso ausgefeilte Formulierung. Wie hieß es doch in der Kindheit: „Was man sagt, ist man selber!“, „Selber, selber, lachen alle Kälber.“ Kurz gesagt: „Nicht wir sind das. Ihr seid das. Selber schuld.“

    Ihr, die Faschisten.

    Es ist klar, an wen er sich damit wendet. An uns. Das Volk. Das ist alles, was er uns nach den zwei Monaten andauernden Straßenprotesten sagen kann. Er ist doch auch ein Teil dieser Proteste: Er nimmt daran aktiv teil, wenn auch auf der anderen Seite. Aber er weiß sehr gut, wie die Bevölkerung ihn und seine Befehlsempfänger nennt. Man nennt sie bereits offen so, ohne Angst zu haben; man schreit dieses treffende Wort, spuckt es ihnen hinterher.

    „Faschisten!“

    Es ist gar nicht so leicht, ein Faschist zu sein. Besonders in Belarus

    Wir riefen es ihnen in den Neunzigern zu. Ihnen, den Menschen in Uniform. Wir riefen es ihnen sechsundzwanzig Jahre lang zu. Ich rief ihnen dieses Wort zu, als ich noch ganz jung war: Und es war das erste Wort, das uns damals in den Sinn kam. Ich sang in einer Punk-Band über den Faschismus, und als ich über die „Braunen“ ins Mikrofon kreischte, meinte ich keinesfalls irgendwelche rechtsradikalen Glatzköpfe, die mir in einem Hinterhof auflauerten. Ich meinte sie – die vom Volk gewählte Staatsmacht – und auch dieses unglückselige, blinde, verachtete Volk selbst.

    Faschisten.

    Du riefst ihnen dieses Wort im Sommer zu, als wir machtlos beobachten mussten, wie diese vermummten Wesen auf einem Platz Radfahrer festnahmen, einfach nur, weil sie Radfahrer waren. Sie schnappten sie und stießen sie in die fahrenden Blechgefängnisse hinein. Du riefst es ihnen zu, als sie wehrlose Menschen neben dem Hotel Minsk jagten und Hotelgäste diese Jagd von ihren Fenstern aus mitverfolgten. Sie schauten zu und hatten das Gefühl, als wären sie in einer Zeitmaschine gelandet. Es gibt derzeit so viele Fahrzeuge auf den Minsker Straßen . . . Panzerwagen, Wasserwerfer, Gefängnistransporter, Absperrsysteme, Kastenwagen des Militärs, unheilbringende Minibusse für die Jagd auf Menschenfleisch . . . Zeitmaschinen. Maschinen der gestohlenen Zeit.

    Es schien, als hätten sie sich schon längst daran gewöhnt. Hätten schweigend zugestimmt: Ja, wir sind Faschisten, was soll's. Aber dem ist nicht so. Es ist gar nicht so leicht, ein Faschist zu sein. Besonders in Belarus.

    Hier ist ein „Faschist“ mehr als nur ein Faschist. 

    Manchmal ist es einfach nur ein Job, „Faschist“ zu sein. Man muss doch sein Brot verdienen. Faschisten möchten auch essen. Und Kinder von Faschisten weinen auch. Ein Faschist braucht auch seine Pension. Der Sozialstaat vergisst niemanden. 

    Wer war er nur, dieser schreckliche Faschist unserer sowjetischen Kindheit? 

    Diejenigen, die in der UdSSR geboren und aufgewachsen sind, haben das Wort „Faschist“ bereits in ihrer frühen Kindheit zum ersten Mal gehört. Seitdem begleitet es uns wie eine Impfnarbe auf dem Oberarm. Auch in unserem Bewusstsein setzte sich dieses Wort wie eine Impfung fest. „So etwas darf nie wieder passieren“, „Niemand ist vergessen und nichts ist vergessen“, „Wir sind das Land, das den Faschismus besiegt hat“ – so wurden wir großgezogen. Uns wurde der ewige Hass auf den Feind anerzogen, oder genauer gesagt, auf das Wort, welches den Feind bezeichnete. Der Feind war weit weg, wir wurden aus irgendeinem Grund von niemandem bedroht, und für alle Fälle brachte man uns bei, Wörter zu hassen.

    Ah, diese herrlichen Wörter . . . „USA“, „BRD“ . . . „Spione“, „Verräter“, „Militärclique“ . . . „Kapitalismus“, „Revanchismus“, „Zionismus“, „Wettrüsten“ . . . „Faschisten“ . . . Wer war er nur, dieser schreckliche Faschist unserer sowjetischen Kindheit? Also erstens war er Deutscher. Die sinnlose Wendung „Befreiung von den deutsch-faschistischen Eroberern“ hat in unserer Kindheit niemanden erstaunt. Vom italienischen Faschismus erzählte man uns in der Schule nicht. Zweitens ist der Faschist ein Folterer, ein Sadist. Drittens muss er eine schöne Uniform tragen. Viertens ist es jemand, der nicht hier unter uns leben könnte. Unter sowjetischen Kindern und Erwachsenen. Er hat überhaupt kein Recht, unter Menschen zu leben. Und in unserem Land kann er sowieso nicht leben, da das kein Land ist, in dem Faschisten am Leben gelassen werden.

    Ein guter Faschist ist ein toter Faschist.

    Mit der Zeit lösten sich all diese Bedeutungen auf, wurden schwammiger und verschwanden. Bis auf eine. Ein Faschist ist zuallererst ein Sadist, der Inbegriff von Grausamkeit. Das Böse schlechthin. Ein Wort, das eines Tages aus der reinen Politik in die trübe Pfütze der sowjetischen Moral stürzte – und dann auch dortblieb.

    Einmal, als ich ungefähr fünfzehn war, musste ich einen ganzen Tag auf einen kleinen Jungen aufpassen, der viel jünger war als ich. Er war ein verwöhntes, lautes Bürschlein. Er dachte, ich habe ihm nichts zu sagen, und wollte das Haus verlassen. Ich verbot es ihm, immerhin war ich verantwortlich für ihn. Er schrie und zappelte mit den Beinen, ich hielt ihn an den Armen fest. Er fing an zu schreien: „Du bist ein Faschist! Faschist! Umbringen sollte man dich!“ Trotzdem ließ ich ihn nicht hinaus. So wurde ich zum ersten Mal in meinem Leben Faschist genannt. Damals erschrak ich. Weil ich außer Empörung und Ärger noch etwas spürte. Eine seltsame Freude, eine Aufregung und – eine Befreiung. Für ein paar Minuten war ich ein echter Faschist; und sei es nur für diesen einen Lümmel. Also stark und mit Macht ausgestattet. Ich bin über mich selbst hinausgewachsen. Ich stand über allen anderen. Über allen Moralvorstellungen, über den Menschen. Das einzige Gesetz war meine Macht. Ich verachtete dieses plärrende Kind, und ich hatte große Lust, es zu schlagen. Genau in diesem Augenblick, als er mich zum Faschisten erklärt hatte, wusste ich, dass ich – ein gewöhnlicher Teenager – alles darf.

    Alles innerhalb der Grenzen meiner kleinen Welt.

    Tatsächlich gab es in der Kindheit eine Menge „Faschisten“ rund um uns. Filme und Bücher, Zeitungen und Museen, unsere Spiele und sogar unsere sadomasochistischen Träume, in denen sich Eros, Thanatos und Geschichtsstunden so wonnig vereinten, waren voll mit ihnen. Sogar das Wort „Faschist“ war eindrucksvoll in seinem Klang und Aussehen: Es war kurz, widerwärtig und schön. Es ist interessant, dass das Recht auf gendergerechte Sprache hier nie infrage gestellt wurde. Eine strenge Lehrerin, eine hysterische Direktorin, eine ungeliebte Verwandte, einfach ein böses Weib auf der Straße konnte eine „Faschistin“ sein. Vor allem aber besitzt ein Faschist: Macht und Uniform. Man erkennt ihn sofort. Und er muss Waffen haben – seien es auch nur das Alter, die Stimme, das Dienstalter oder die Amtsbezeichnung. 

    Es waren die Erwachsenen, die uns den Faschismus beibrachten. Sie vergaßen dabei allerdings, was das ist. Und wiederholten, wie einen Zauberspruch, dass der Faschismus nie zurückkommen würde.

    Nein, nein, nein, er kommt nicht zurück. Schlaf ein.

    Der kyrillische Faschismus ist das einundzwanzigste Jahrhundert

    Ja, ein Faschist in meinem Land ist nicht dasselbe wie ein „Fascist“.

    Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, wie man dieses Wort in andere Sprachen übersetzt. Wahrscheinlich sollte es in Übersetzungen nur kyrillisch geschrieben werden. Faschismus auf Kyrillisch ist nicht das gleiche wie Faschismus in lateinischen Buchstaben mit seinen nostalgischen Erinnerungen an schwarze Hemden, staatlichen Korporatismus und den römischen Gruß. Nein, es ist kein Fascism. Der kyrillische Faschismus ist das einundzwanzigste Jahrhundert, die glänzenden Titelblätter des neuen Völkischen Beobachters, die eleganten Anzüge und einheitlichen Köpfe der Staatsbediensteten, der Schrecken, der im Netz Kreise zieht, die täglichen Lügen wie vom Fließband und die in der EU erstandenen Gummigeschosse für Andersdenkende. Er ist nah, man kann sogar Tickets dafür bestellen. Er ist irgendwo unweit der Wörter Unesco und UNO. Faschisten – das sind die, die man gestern noch Geschäftspartner nannte. Das sind die, die man de facto anerkannte und deren Hände geschüttelt wurden. Der Faschismus ist autonom und abergläubisch – wie ihr, unsere europäischen Freunde.

    Aber westlich und nördlich von Belarus liest kaum jemand fließend Kyrillisch. Dort meint man, dass der „Faschismus“ (in lateinischen Buchstaben) in Europa zurzeit undenkbar ist. Und der kyrillischen Schrift im Osten darf man ohnehin nicht glauben. Dort ist alles verdreht und verzerrt: Schaut euch nur ihre Buchstaben an, das sind Parodien auf die anmutigen Buchstaben des lateinischen Alphabets. 

    Von der kyrillischen Schrift geht immer eine Bedrohung aus. Ständig ist bei denen irgendetwas nicht in Ordnung. Weil sie . . . Weil dort drüben einfach nicht Europa ist. 

    Und jetzt schon wieder.

    Jedes Mal, wenn wir jemanden Faschist nennen, stehlen wir dieses Wort von jenen, die darauf einmal stolz waren.

    Die zugängliche Kunst mochte das Wort „Faschismus“ immer

    Natürlich ist „Faschist“ ein Wort aus dem Arsenal der Propagandisten. Es ist immer bei der Hand. Wie ein auf der Straße herumliegender Pflasterstein. Heb ihn auf und wirf! Schmeiß ihn auf die Faschisten, da triffst du auf jeden Fall jemanden. Du hast schon getroffen – in dem Augenblick, in dem du deinen Feind erfunden hast.

    Faschist – das ist ein Passwort aus acht Buchstaben. Wie oft du es auch eingibst, es wird jedes Mal passen. Der Zugang zum Feind ist gewährt. Auch wenn du ein paar Buchstaben auslässt.

    Die antifaschistische Propaganda ist gewiss auch Propaganda. Aber wenn unbewaffnete Menschen bis an die Zähne Bewaffneten gegenüberstehen und Worte in die Hand nehmen – ist das schon etwas Größeres. Eine Anschuldigung. Denn Worte sind unsere einzigen Waffen. Der Terror der Bewaffneten gegen die Unbewaffneten – ist das denn nicht Faschismus? Wie viele Opfer braucht es noch, damit das Wort aufhört, ein einfaches Lexem zu sein? Wie viel Schmerz und Grauen, Entführungen und Folter, damit „Faschismus“ das Gewicht und die Form seiner echten Bedeutung erlangt?

    Ein Faschist, das ist einer, der alles Menschliche hinter sich gelassen hat. Ein Übermensch. Einer, der nicht mehr zu uns zurückkommen kann. Wir, wir leben doch zwischen Tod und Leben. Der Faschist aber – zwischen Tod und Rache. Zwischen sich – und sich. Einen Weg zurück zu den Lebenden gibt es nicht mehr. Wenn Faschisten an der Macht sind, musst du es ihnen unbedingt sagen. Aber zuerst musst du es dir selbst eingestehen.

    Da gibt es einen Augenblick, in dem alle Farbspektren verblassen und nur zwei Farben bleiben. Sie nicht zu unterscheiden ist eine lebensbedrohende Krankheit. Nur zwei: Schauder und Hoffnung. Das Schwarz der Faschisten und unser Weiß. Ein schwarz-weißer Film über die Faschisten von damals, die quälen und töten, schwarz-weiße Aufnahmen der Kriegsjahre, von Okkupanten gemacht – all das ist jetzt, 2020, wieder Realität geworden. Aufnahmen von 1942 und 2020, nebeneinandergestellt, erschüttern uns in Belarus.

    Wie sehr sie sich ähneln – die, die damals quälten, und die, die jetzt quälen. Fast Zwillinge. Und wie sehr sind wir uns nahe, als hätten wir uns auf einer historischen Brücke zufällig getroffen: die, die damals gequält wurden, und die, die heute gequält werden. Deine Vorfahren, das sind vermutlich jene, die dir einmal auf so einer Brücke begegnet sind. Und du hast dabei nicht weggeschaut.

    Die Revolution ist eine Kampfansage an den Faschismus, die Revolution ist die Zeit der Einfachheit. Leider ist das so, sage ich, weil Kunst nicht einfach gestrickt sein kann. In der Kunst locken ja viele Versuchungen, eine davon – zugänglich zu werden. Die zugängliche Kunst mochte das Wort „Faschismus“ immer. Die Kunst spielt damit, wie mit einem Ball. Denn der Faschismus bietet klare und eingängige Bilder, die Künstler von der Verpflichtung zur Komplexität befreien. Die Literatur mag dieses Wort auch. Wenn du „Faschismus“ schreibst, musst du gar nichts mehr erklären. Gewalt und Macht sind ein endgültiges, universelles und auch das zugänglichste Bild.

    Wenn sie uns sagen, dass wir Faschisten sind, ist das ein Verfahren, das aus der alten sowjetischen Propaganda stammt. Für Tausende Menschen wurde dies zu einer Erinnerung, die sie sich selbst ausgedacht haben.

    Wenn wir ihnen sagen, dass sie die Faschisten sind, ist es ein von Millionen von Menschen geschriebenes Urteil. 

    Wenn die Macht jemanden einen Faschisten nennt, dann ist es eine faschistische Macht.

    Das Recht zu entscheiden, wo Faschismus ist und wo nicht, darf nie der Macht gehören.

    Alles ganz einfach.

    Es war lächerlich, von den aussterbenden Sowjets Freiheit zu erwarten

    In meinen fünfundvierzig (nur fünfundvierzig!) Jahren habe ich mehrere Regime erlebt. Ich bin unter dem Totalitarismus geboren und aufgewachsen, geriet dann in die Perestroika. Ich sah die Ratlosigkeit der Erwachsenen, die nie in einer anderen Epoche gelebt hatten. Dann gab es die Unabhängigkeit und vereinzelte zaghafte Blicke der neuen-alten Machthaber in Richtung demokratischer Ordnung. Das war noch keine Freiheit. Das war der Anfang der 1990er Jahre, und es war lächerlich, von den aussterbenden Sowjets Freiheit zu erwarten – aber es war zumindest ein Versuch, zumindest die Hoffnung auf Freiheit. Und dann begann die Diktatur. Und ich zog los nach Hamburg. Die sechs Jahre, die ich dort verbrachte, sind die einzigen Jahre in meinem Leben in einer Demokratie. Dann kehrte ich nach Minsk zurück. Und jetzt leben wir beide hier unter dem Faschismus.

    Gratuliere.

    Ebenfalls.

    Wir werden sterben. Solche, wie wir, werden unter dem Faschismus nicht überleben. Sie ersticken. 

    Aber ist das tatsächlich Faschismus?

    Damals wie jetzt: Angst und Brutalität

    „Die Kunst der Dichtung erfordert Wörter“, meinte Brodsky. Aber pfeif auf die Dichtung. Wir brauchen doch immer Wörter. Wir Menschen sind zu Wörtern verdammt. Wir können dem Tod nicht ruhig entgegenschreiten, uns dem Tod nicht nähern, wenn wir nicht wissen, wie unser Leben heißt. Wir fragen uns immer: Wer sind wir? Wo sind wir? Wohin gehen wir? Wir ahnen, dass es keine Antworten gibt. Aber anstatt der Antworten gibt es Wörter. Es gibt Namen, und wir suchen sie. Das kann uns nicht einmal der Faschismus verbieten. Diskussionen darüber, wohin Belarus 2020 gekommen ist, fingen noch vor der Wahl am 9. August an. Was ist das für ein System, wie kann man es nennen, klassifizieren? Die Antwort hängt natürlich von vielen Faktoren ab, und einer davon ist, wo sich der Klassifizierende befindet. Internationale Analytiker sind stolz auf ihre Unparteilichkeit. Nein, das ist noch kein Faschismus, sagen sie. Viele formale Merkmale fehlen. Seltsam, aber mir scheint, sie würden ihre Meinung ändern, wenn sie nur für ein, zwei Wochen hier leben würden.

    Das ist eine Junta aus Armee und Polizei, sagen die einen. Eine typische lateinamerikanische Erscheinung, die plötzlich in Osteuropa aufgetaucht ist. Nein, das ist gewöhnlicher Autoritarismus im Stadium der Agonie, sagen die anderen. Das ist ein hybrides Regime, erklären wieder andere. Mir kam einmal folgende Definition in den Sinn: Es ist wie im Jahre 1937, aber mit Internet. Damals, 1937, gab es Telegramme, die vom Staat genau unter die Lupe genommen wurden; für verdächtige Telegramme konnte man erschossen werden oder in Straflagern enden. Jetzt haben fast alle Telegram, und dafür, dass man „falsche“ Kanäle abonniert, kann man auch strafrechtlich verfolgt werden. Damals wie jetzt: Angst und Brutalität, Polizei-Einsatzwagen neben den Hauseingängen und Menschen, die mit Schrecken auf die Schritte im Treppenhaus hören. Gehst du auf die Straße, kann es sein, dass du einfach nicht mehr zurückkommst. Menschen verschwinden am helllichten Tag und werden erst später wiedergefunden. Man findet sie im Gefängnis – und freut sich noch: Er ist am Leben, sie ist am Leben. Gott sei Dank!

    Einmal, damals noch im früheren Leben, sagte ein Freund von mir, ein Deutscher: Ihr habt in Belarus eine postmoderne Diktatur. Um die Gefahr, die von ihr ausgeht, zu verstehen, muss man erstens wissen, was die Postmoderne eigentlich ist. Zweitens braucht man einen guten Sinn für Humor und eine die Kapazitäten eines Menschen übersteigende Ironie. Drittens darf man nicht nach den Gesetzen der traditionellen Logik leben.

    Heute schlagen wir schlaue Bücher auf und suchen nach Definitionen für das, was bei uns passiert. Wir suchen nach Parallelen. Geschichtsliebhaber und ältere Menschen wurden an die haitianischen Tontons Macoutes, an Pinochet, Salazar, Paraguay und vieles mehr erinnert. Wir tauschen im Netz gefundene Definitionen des Faschismus untereinander aus. Faschismus nach Nolte und nach Arendt, nach Payne oder nach Griffin . . . Nicht alle Punkte sind gleich. Wir streiten. Politologen runzeln die Stirn. Sie können Dilettanten nicht ausstehen. Nein, das kann nicht sein. Wie soll es im Jahr 2020 Faschismus geben? Wir aber lesen und erkennen unsere Realität wieder. Genau die Realität, die nicht nur draußen vor dem Fenster ist, nein, sie befindet sich sogar gleich unter dem Schädeldach. Ja, das ist Faschismus. Ganz besonders, wenn du über ihn liest und dich dabei mitten in ihm befindest. Ein Mensch mit einem Buch in einer durchsichtigen Kugel, aus der es keinen Ausweg gibt. Wir stehen vor dem Gefängnis in Schodsina, rauchen und warten auf jemanden. 

    „Faschisten! Deutsche Schweine! Ihr vergast uns! Juden und Freimaurer! Umbringen sollte man euch!“, ruft uns eine nette alte Frau an die 90 zu, die direkt gegenüber dem Gefängnis wohnt.

    Unterstreichen Sie bitte die Wörter und Ausdrücke, die aus der bekannten Assoziationskette fallen.

    Unsere Texte bedeuten nichts. Es gibt nur die Kugel. Durch ihre Wände hört man alles, sieht aber nichts.

    Belarus hat den Faschismus nicht für sich entdeckt, es hat sich wieder an ihn erinnert

    Was Faschismus ist, wussten wir hauptsächlich aus Büchern und Filmen. Die Massenkultur verschlang und verdaute den Faschismus schon vor so langer Zeit, dass wir glaubten, alles darüber zu wissen. Das Einzige, was uns überraschte: Wie man unter dem Faschismus überhaupt leben konnte. Ein menschliches Wesen zu sein und normale Bedürfnisse, Träume, Wünsche, Emotionen zu haben. In Zeit und Raum zu existieren. Konnte man sich so etwas unter dem Faschismus denn leisten? Der Protagonist in Nabokovs Erzählung Wolke, Burg, See gibt zu, dass er „keine Kraft mehr hat, Mensch zu sein“. Er lebt unter dem Faschismus, dem deutschen Nationalsozialismus der 1930er Jahre, aber in dieser Erzählung spricht Nabokov weder über die totale politische Kontrolle noch über die Gestapo. Der Faschismus zeigt sich über den Alltag, das sind die einfachen Menschen rund um uns – und das ist das Schrecklichste am Faschismus.

    Wir lasen diesen Text als eine Warnung. Und jetzt hat es sich herausgestellt, dass wir in ihm leben. Es war plötzlich klar, dass man auch unter Faschismus Sushi essen oder Wein trinken, Sex haben, Kinder großziehen, etwas arbeiten, vor dem Einschlafen lesen oder spazierengehen kann. Unter Faschismus gibt es auch Musik. Man kann alles. Nichts ist erlaubt. Es gibt kein Gesetz, es gibt nur physische Bedürfnisse, Hass, Rebellion, Hoffnung – und das, was Czesław Miłosz „eine glühende Kugel der Angst“ nannte. Er erinnert sich an seine Jugend im besetzten Warschau und schreibt, dass er zu jener Zeit viel arbeitete, Gedichte schrieb, verliebt war, sogar manchmal tanzte, sich versteckte, anderen half, sich über das Essen freute, Wodka trank . . . Aber jeden einzelnen Augenblick, schreibt Miłosz, sah und spürte er diese „glühende Kugel“ gleich in seiner Nähe. Nichts konnte sie verjagen.

    Wir spüren dasselbe. Außer dass manche Grenzen noch offen sind. Noch kann man die Kugel einpacken – und mitnehmen.

    Die belarussische Dichterin Julia Cimafiejeva schreibt in ihrem Gedicht Der Stein der Angst über die Angst, die wie ein Edelstein von Generation zu Generation weitergegeben wird. In diesem Text wird unsere belarussische Angst zu einem seltsamen Schmuckstück, das man wie eine Halskette trägt. Ein Erbstück, mit dem man achtsam umgeht. Belarus hat den Faschismus nicht für sich entdeckt, es hat sich wieder an ihn erinnert. Das Land trug ihn immer bei sich. Warum? Wahrscheinlich aus Angst. Angst aufzuhören, man selbst zu sein.

    „Wir sind doch keine Faschisten. Ihr seid Faschisten“

    Belarus ist das erste europäische Land geworden, in das der Faschismus zurückgekehrt ist. Schwein gehabt. Nun sind wir wieder ein Teil der europäischen Geschichte. Warum kam es dazu?

    Weil wir vorher nicht dort waren. Irgendwie wollten wir nicht. Wir hofften, heil davonzukommen.

    „Menschen, seid wachsam!“, schrieb in seinem Buch Reportage unter dem Strang geschrieben der tschechische Journalist Julius Fučík kurz vor seinem Tod. Er wurde 1942 von Faschisten gefangengenommen und hingerichtet. Als ich in Westeuropa lebte, habe ich mit Erstaunen festgestellt, dass nur ganz wenige Menschen wissen, wer das war. Fast gar niemand.

    Manchmal scheint es, dass sich nur die sowjetischen Kinder, die einst „Faschisten“ und „Russen“ spielten – so wie die belarussischen Kinder heutzutage „Menschen“ und „Schlägertrupps“ spielen –, noch an ihn erinnern. Und eigentlich können sich nur die sowjetischen Kinder, die gut in der Schule waren, an ihn erinnern. Den Namen von Fučík – gemeinsam mit einigen anderen – verwendete die sowjetische Propaganda ohne Ende. Aber niemand glaubte an Propaganda, und niemand nahm diesen geheimnisvollen Fučík ernst. Ja, er hatte da etwas gesagt. Von mir aus unter dem Strang. Diese Fučíks haben doch schon alle satt. Diese Geschichte, die niemand braucht . . . Sie bringt nur noch mehr Verwirrung.

    Wir sind doch keine Faschisten. Ihr seid Faschisten. Ich höre förmlich die Stimme des Ermittlers, der das zu Fučík sagt – ruhig, bestimmt, müde, etwas gekränkt.

    Julius Fučík wurde im Berliner Gefängnis guillotiniert. Nach geltendem Recht. Nach einem Gerichtsurteil. Unter Beachtung aller vom Gesetz vorgeschriebenen Abläufe. Die Schuld war bewiesen. Der Staat hat keinen Fehler gemacht. Der Staat muss sich doch schützen. Fučík war sein Feind und hat dafür bezahlt. 

    Man sagt, er hatte sogar einen Anwalt. 


    Alhierd Bacharevič ist aktuell im Rahmen des Programms Writer in Exile zu Gast in Graz, das in Kooperation von der Stadt Graz (Kulturressort) und der Kulturvermittlung Steiermark seit 1997 kontinuierlich bespielt wird. Die deutsche Übersetzung des Textes erschien am 24. Dezember 2020 erstmals in Die Presse.

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    Die Silowiki-Strukturen scheinen nach wie vor loyal zum Machtapparat von Alexander Lukaschenko zu stehen. Nur vereinzelt kündigen Leute der Spezialeinheit OMON, Milizionäre und andere ihre Arbeit auf. Häufig, weil sie die brutale Gewalt, die von den Sicherheitsleuten ausgeht, nicht mehr mittragen wollen.

    Dass auch für sie die ständige Belastung und der psychische Druck hoch sind, zeigt dieses Interview, das das Medienportal tut.by mit einem ehemaligem Mitarbeiter der Truppen des Inneren geführt hat. Er bat darum, anonym zu bleiben. Das Gespräch mit ihm zeigt auch, welche Rolle Korpsgeist und ideologische Schulung in den Reihen der Silowiki spielen und mit welchen Folgen derjenige rechnen muss, der die Loyalität aufkündigt.

    N.N.: Die, die gehen, versuchen es leise zu tun, damit ihnen nichts Schlimmeres widerfährt.

    Nach den Wahlen schrieb ich ein Entlassungsgesuch. Es dauerte mehrere Wochen, bis die Formalitäten abgewickelt waren und ich offiziell vom Dienst befreit war. Währenddessen wurde ich meines Amtes enthoben und war irgendwann bereits nicht mehr an Einsätzen beteiligt [Auflösung von Demonstrationen – Anm. der Redaktion]. Jetzt kann ich über mich sagen: Ich war in einer Führungsposition tätig. Ab dem 9. August wurden wir bei den Protesten eingesetzt. Natürlich waren wir immer darauf vorbereitet – schließlich waren wir Einsatzkräfte des Innenministeriums. Aber die Vorbereitung erfolgte im Rahmen der Gesetze. In den ersten Tagen waren das gesamte Innenministerium, die Einsatztruppen des Inneren und das Militär, das heißt die Offiziersschüler der Militärakademie, an der Auflösung der Demonstrationen beteiligt. Wir hatten sie schon vor der Wahl geschult und ganz gezielt vorbereitet. Aber niemand hätte gedacht, dass es so weit kommen würde. Am späten Abend des 9. August war ich auf der Nemiga Straße, wir waren in Uniform, trieben die Leute auseinander, nahmen aber niemanden fest. In den nächsten Tagen, als ich noch im Dienst war, war unsere Einheit in Bereitschaft, wir saßen im Zentrum von Minsk und warteten auf unseren Einsatz. Zu diesem Zeitpunkt wussten wir noch nicht, dass es zu einem solchen Ausmaß an Gewalt kommen würde.

    Wir erfuhren es einige Tage später, als Berichte darüber im Internet erschienen. Und ich hörte viel von meinen Kollegen, die an anderen Standorten eingesetzt waren. Nach dem Dienst kam ich gegen drei Uhr nachts ins Revier, schaltete das Telefon ein, sah mir alles an, analysierte die Lage. Und mir war sofort klar: Das war erst der Anfang. So viel ungerechtfertigte Gewalt! In dem Moment verlor das Ganze für mich seinen Wert, unsere Abzeichen waren mit Schande befleckt, und ich entschied, dass ich nicht länger Teil davon sein wollte. Die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit war für mich die Grundlage meines Dienstes, aber, wie sich herausstellte, „ist manchmal nicht die Zeit für Gesetzmäßigkeit“. Ich habe das damals nicht verstanden und verstehe es bis heute nicht.

    tut.by: Denken Sie, dass die Gewalt geplant war? Sind die Einsatzkräfte einem Befehl gefolgt oder geriet die Situation einfach außer Kontrolle?

    Es kann sein, dass in der Okrestina Straße und an ähnlichen Orten die Leute absichtlich geschlagen und gedemütigt wurden. Was das Verhalten der Einsatzkräfte betrifft, so denke ich, dass das Verhältnis wohl 50 : 50 war. In jedem Fall gab die politische Führung ihr stillschweigendes Einverständnis und versuchte nicht, die Gewalt zu verhindern. Sogar als alles schon an der Öffentlichkeit war: Es war geschehen, und man verschloss davor die Augen. Und natürlich war die gesamte Miliz nun auf  der Seite der Regierung, von der man sich Schutz versprach. Sie sehen ja selbst, es gibt kein einziges Strafverfahren gegen Einsatzkräfte. Dazu kommt, dass viele über keinerlei juristische Bildung verfügen. Einige glauben allen Ernstes, dass sie sich in einer Kriegssituation befinden, dass die Proteste von Drahtziehern (aus dem Ausland) gesteuert werden und sie das Land verteidigen. Einer versicherte mir: „Du hast gar nichts verstanden, später wirst Du es verstehen.“

    Sie können Eigentum beschlagnahmen oder ein Auslandsreiseverbot verhängen

    Sie werden von Ideologen geschult. Die Soldaten befinden sich überhaupt in einer Informationsblase. Abends schauen sie im Fernsehen die Nachrichten. Man bringt ihnen bei, dass an allem die westlichen Drahtzieher Schuld seien. Einige verstehen einfach überhaupt nicht, was vor sich geht. Sie denken über ihre Versetzung in die Reserve nach und wie sie nach dem Wehrdienst leben werden. Alles andere kümmert sie nicht. Und selbst wenn es jemand versteht – wenn du rund um die Uhr in einer in sich abgeschlossenen Welt lebst, wirst du es kaum wagen, deine Meinung laut kundzutun, denn du weißt nicht, was dann mit dir passiert.

    Ich hatte einen festen Vertrag, aber auch für mich war es riskant zu gehen, sie hätten mich durchaus schnappen können, oder alles durchsuchen. Die Jungs von der Direktion kamen zu mir, Untersuchungsbeamte, um mit mir zu reden. Auch andere Offiziere sprachen mit mir. Aber letztlich gaben sie mir ein paar Tage Bedenkzeit, und stimmten der Entlassung zu.

    Ich wandte mich an Stiftungen und fand zunächst einen Mentor und dann einen Job. Auch ehemalige Kollegen halfen mir. Aber viele glauben nicht ernsthaft daran, dass ihnen irgendwelche unbekannten Menschen helfen können, daher trauen sie sich nicht zu gehen. Insgeheim beklagen sie sich untereinander über den Dienst und die Vorgesetzten, aber sie verlassen sich nur auf sich selbst und halten weiterhin aus. 

    Wie viele Menschen haben wie Sie den Dienst quittiert? Und was hält die Übrigen davon ab?

    Aus meiner Einheit sind nur wenige gegangen, die anderen sind nach wie vor im Dienst. Was sie am meisten hält, ist das Geld. Nehmen wir zum Beispiel einen jungen Offizier mit einem Fünfjahresvertrag. Hat er die Zeit nicht abgeleistet, muss er das Geld für die Ausbildung und seinen Unterhalt zurückzahlen. In welcher Höhe hängt davon ab, wann er geht. Der Betrag beläuft sich auf etwa 1000 Rubel für jeden Monat, den er nicht gedient hat. Von einem Bekannten, der einer anderen Abteilung angehörte, haben sie 80.000 Rubel [knapp 26.000 Euro – dek] verlangt. Das sind utopische Summen, man weiß nicht, woher man die nehmen soll. Aber bezahlen muss man innerhalb eines halben Jahres, dann schreitet das Gericht ein, und es kommt zu Zwangsvollstreckungen, sie können einem vorübergehend Rechte entziehen, Eigentum beschlagnahmen oder ein Auslandsreiseverbot verhängen. Einige Zeit später beginnt die Indexierung  [die Anpassung an die Inflation – dek] und die Summe steigt schneeballartig. Nicht jeder hat Verwandte und Freunde, die ihm helfen können. Deshalb halten die Leute still. Der zweite Grund liegt in der langjährigen Betriebszugehörigkeit. Gehst Du, verlierst du deine gesamten Arbeitsjahre [für spätere Rentenansprüche – dek]. Dann sagen sie: Ihr wusstet doch, worauf ihr euch einlasst. Wir wussten es nicht. Es ist immer noch eine Art Frondienst und nicht so rosig, wie es bei der Aufnahme in die Akademie dargestellt wird.

    Wie viel haben Sie verdient?

    Unsere Gehälter lagen zwischen 900 und 1100 Rubel [300 und 350 Euro – dek]. Bei mir gingen 400 Rubel [130 Euro – dek] für die Miete drauf, weitere 200 Rubel [gut 60 Euro – dek] für Sprit, um zur Arbeit zu kommen, da bleibt nicht mehr viel zum Leben. Es stimmt nicht, dass für die Arbeit bei den Protesten viel Geld gezahlt wurde. Ja, im August gab es einmalige Boni – 500 Rubel [rund 160 Euro – dek] zusätzlich zum normalen Gehalt. Aber selbst beim OMON verdient man keine exorbitanten Summen – viele machen es wirklich aus Überzeugung.

    Wie pflichteifrig jemand bei den Verhaftungen ist, hängt weitgehend von der Person ab. Auch hier ist das Verhältnis meiner Meinung nach 50 : 50. Der eine glaubt an westliche Drahtzieher und ist besonders aktiv. Aber die Hälfte tut nur so. Sie denken, ich werde in der Kette stehen mit meinem Schild, aber ich werde nichts tun. Glauben Sie, dass unsere Verwandten nicht festgenommen werden? Doch, das werden sie. Eine Verwandte von mir wurde festgenommen, sie stand da mit Blumen in der Hand. Sie nahmen ihr den Schmuck, das Telefon und sogar den Ehering ab und erklärten, sie bekäme es zurück, wenn sie die Strafe bezahlt.

    Wer gehen will, geht leise, damit es keine Probleme gibt

    Wie ist es für die Sicherheitsbeamten, erkannt zu werden? Ist das ein schmerzhafter Moment?

    Einige schämen sich, andere haben Angst um ihre Familien. Diejenigen, die sich im Recht fühlen, werden einfach wütend. Aber es gibt sicherlich niemanden, dem es egal ist. Das ist echt belastend. Das weiß ich von mir selbst: Ich wollte die Maske nicht abnehmen, und wir haben immer gegenseitig darauf geachtet, dass unsere Gesichter bedeckt waren. Viele haben Angst zu gehen, weil sie nicht wissen, was sie dann tun sollen. Wenn einer nach der Schule zur Militärakademie geht oder sich nach dem Wehrdienst verpflichtet, hat er nichts anderes gelernt. Natürlich hat er dann Angst, etwas Neues anzufangen und sein Leben von Grund auf zu verändern. Viele haben Familie, Kinder, Kredite, Staatsbedienstetenwohnungen – und wo sollen sie dann hin?

    Wer gehen will, geht leise, damit es keine Probleme gibt. Für die Hälfte meiner Kollegen bin ich ein Verräter, vor allem für die Führung. Sie werden bis zum Ende für dieses Regime ihren Kopf hinhalten. Viele von ihnen sind über 40. Die haben durch den Dienst vieles erreicht, warum sollten sie es aufs Spiel setzen?

    Die Armee wurde geschaffen, um äußere Feinde zu bekämpfen. Nach der Logik derer, die dem System besonders treu ergeben sind, kämpft sie auch jetzt gegen westliche Drahtzieher, die die Leute für ihre Teilnahme an Protestaktionen bezahlen. Ein Teil von ihnen denkt, dass Lukaschenko eine starke Führungspersönlichkeit ist und an der Macht bleiben wird. Der andere Teil glaubt, dass Russland uns bezwingen wird. Aber diese Option ist ihnen auch recht. Wie mir einmal ein Kommandant sagte: „Na und? Führen die Offiziere in Russland etwa ein schlechtes Leben?“

    Stimmt es, dass wegen der ständigen Proteste die Einsatzkräfte in Kasernen leben?

    Am Anfang lebten wir, das heißt die, die unter Vertrag standen und die Offiziere, tatsächlich in Kasernen. Jetzt sitzen sie hauptsächlich an den Wochenenden in den Kasernen, weil die Proteste am Samstag und Sonntag stattfinden. Und die freien Tage wurden auf Mitte der Woche verlegt, wenn keine Demos stattfinden. Die Kollegen sind sehr müde, sie sehen ihre Familien nicht und können sich nicht wirklich ausruhen. Niemand hatte damit gerechnet, dass sich das Ganze Monate hinziehen würde. Am 10. und 11. August, als es zu größeren Gewaltausbrüchen kam, waren wir in Bereitschaft, aber wir hörten die Explosionen um uns herum. Als ich später all diese Bilder sah, diese Lawine von Gewalt, war ich mir sicher, dass es niemals enden würde. Ich dachte, Lukaschenko würde das Kriegsrecht einführen und alles würde noch schlimmer. Und das war der Moment, an dem ich anfing, darüber nachzudenken, dass ich aussteigen muss.

    Haben Sie die Videos im Internet gesehen, in denen die Leute den Einsatzkräften zurufen: „Miliz mit dem Volk“​? Wie wird das wahrgenommen?

    Mir selbst haben die Leute das entgegengerufen. Aber in dieser Situation funktioniert das überhaupt nicht. Die Stimmung ist sehr angespannt, man passt auf, dass niemand etwas wirft, und dann schreien sie einem ins Gesicht. Jeder muss selbst erkennen, was er tut, und für sich eine Entscheidung treffen. Das kritische Denken muss an das Gewissen appellieren und die Scheuklappen öffnen.

    Vor jedem Einsatz stellen sie die Frage: „Wer ist nicht bereit? Vortreten“. Niemand tritt vor. Vortreten ist das Schlimmste. Was kommt dann? Man wird bestraft oder gefeuert oder wer weiß, was passiert. Lieber man fährt mit, irgendwie wird man den Einsatz schon überleben.

    Als wir nach Minsk fuhren, hupten uns alle zu. Ich erinnere mich, wie ein Kollege sagte: „Wie sie uns alle hassen“. Aber man denkt: Ich bin ja ein normaler Mensch, ich habe niemanden geschlagen, und dann siehst du die Bilder von der Okrestina … Jetzt verstehe ich, warum die Leute uns so hassen, weil wir die Grenze des Gesetzes übertreten haben, denn das Gesetz gilt jetzt nur noch in eine Richtung, und wenn Du Dich gegen die Herrschenden stellst, hast Du keinerlei Schutz. Und das ist schlimmer als im Krieg. Du lebst und denkst, dass sie jeden Moment kommen und dich für irgendeine abfällige Bemerkung mitnehmen können. Und das Gefühl dieser permanenten Ungerechtigkeit raubt dir nachts den Schlaf.

    Die, die dem System treu bleiben, glauben nicht, dass Lukaschenko geht, und sollte er doch gehen, sind sie überzeugt, dass die Armee unter jeder Regierung gebraucht wird. Sie denken, ach, das sitzen wir aus, und dann wird es wie vor der Wahl. Ich glaube, die Regierung wird sich noch ein, zwei Jahre halten. Und dann ist Zahltag.

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