In der europäischen Geschichte vollzog sich der Prozess der Nationalstaatsbildung primär im Zeitraum zwischen der Französischen Revolution 1789 und dem Ersten Weltkrieg 1914. Das nationale Projekt der Belarus trat hingegen mit gehöriger Verspätung auf die politische Bühne: Es begann mit der Ausrufung einer kurzlebigen Belarusischen Volksrepublik (BNR) im Jahre 1918 und kam mit der Unabhängigkeitserklärung der Republik Belarus im Jahre 1991 zum Abschluss. Dazwischen lagen rund 70 Jahre der Zugehörigkeit zur Sowjetunion, welche die belarusische Gesellschaft nachhaltig prägten. Im Hinblick auf die gegenläufigen Prozesse der Belarusifizierung in der Zwischenkriegszeit und der Russifierung in der Nachkriegszeit lässt sich von einer Zweiteilung der sowjetisch-belarusischen Epoche sprechen, vielleicht sogar von einer Unterscheidung in eine „Belarusische“ und eine „Belorussische“ Sowjetrepublik. Vor diesem Hintergrund gilt es, die Metamorphosen aufzuzeigen, welche die Belarus im Laufe des 20. Jahrhunderts im Eiltempo vollzog.
Die Gründung einer kommunistischen Republik auf dem Gebiet der Belarus erfolgte unter turbulenten Bedingungen. Nachdem die deutschen Truppen infolge der Novemberrevolution die westlichen Gebiete der Belarus verlassen hatten, rückte die Rote Armee vor und zwang die Rada (dt. Rat), das Leitungsorgan der Belarusischen Volksrepublik (BNR), Anfang 1919 ins Exil. Inmitten des anschließenden Polnisch-Sowjetischen Krieges und des andauernden russischen Bürgerkrieges kam es in der Folge zweimal, zunächst am 1. Januar 1919 in Smolensk und dann am 31. Juli 1920 in Minsk, zur Ausrufung einer Sozialistischen Sowjetrepublik Belarus (SSRB). In der Zwischenzeit existierte von Ende Februar bis Mitte Juli 1919 außerdem eine Belarusisch-Litauische Sowjetrepublik (LitBel). Im Frieden von Riga musste Sowjetrussland 1921 schließlich mit dem Wilnagebiet, dem westlichen Polesien, mit Wolhynien sowie Galizien und den beiden Städten Grodno (belarusisch: Hrodna) und Brest die westlichen Landesteile des ehemaligen Zarenreichs abtreten. Sie bildeten von nun an die „östlichen Gebiete“ der Zweiten Polnischen Republik, deren Grenze bis 30 Kilometer an die belarusische Hauptstadt Minsk heranreichte. Bei der Gründung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken am 30. Dezember 1922 bestand die Belarusische Sozialistische Sowjetrepublik (BSSR) daher zunächst nur aus einem unscheinbar kleinen Gebiet um die Hauptstadt Minsk.
Dies änderte sich in den Jahren 1924 bis 1926, als sich die Fläche der BSSR auf Kosten der Russischen Sozialistischen Sowjetrepublik (RSFSR) mit der Angliederung der Gebiete um Wizebsk (russ. Witebsk) und Mahiljou (russ. Mogiljow) verdoppelte. Damit kristallisierte sich aber auch der künstliche Charakter der belarusischen Staatsbildung heraus. Normalerweise stiften Nationalbewegungen ein Gemeinschaftsgefühl, das auf ethnischen oder sprachlichen Kriterien beruht. Erst danach beginnen sie, die geografischen und politischen Grenzen abzustecken. Im belarusischen Fall war es genau umgekehrt. Für die belarusischen Bauern, die als „Hiesige“ (tuteischyja) nicht daran gewöhnt waren, über den Horizont des eigenen Dorfes hinauszublicken, wurde erst ein Gebiet definiert und dann eine Identität imaginiert. Zum Abschluss gelangte der Prozess der Territorialisierung durch die im Hitler-Stalin-Pakt festgelegte Vereinigung der BSSR mit den „polnischen Ostgebieten“, die eine abermalige Verdoppelung der Fläche bedeutete.
Die Konsolidierung der BSSR verlief bis zum Zweiten Weltkrieg ganz im Zeichen einer zunehmenden Sowjetisierung. Dabei bildeten die 1920er Jahre zunächst eine Phase der sprachlichen Belarusifzierung und des kulturellen Pluralismus. So entsprach etwa die Gründung des Instituts für Belarusische Kultur 1921 der sowjetischen Politik der Indigenisierung (korenisazija), die auf die Einbindung der Eliten in das System von Staat und Partei abzielte. Dazu zählte auch die Kodifizierung der belarusischen Sprache, die 1918 mit der Grammatik Branislau Taraschkewitschs, der sogenannten Taraschkewiza, einsetzte.1 Jenseits der Religion öffneten sich auch Freiräume für die jüdische Kultur. Ein Ausdruck der belarusisch-russisch-polnisch-jiddischen Mehrsprachigkeit war die Inschrift „Minsk“, die in vier Sprachen und drei Alphabeten am Bahnhof der Hauptstadt prangte.2
Allerdings führte der Stalinismus an der Schwelle von den 1920er zu den 1930er Jahren zu einer Trendwende, aus der ‚belarusischen‘ wurde in en folgenden Jahren zunehmend eine ‚belorussische‘ Sowjetrepublik. So folgte auf die Belarusifizierung eine Phase des Sowjetpatriotismus, in der die Taraschkewiza von der Narkamaukaabgelöst wurde. Auch in der BSSR wurden sogenannte Kulaken verfolgt und die Landwirtschaft kollektiviert. Die Maßnahmen wurden allerdings langsamer und moderater durchgeführt als andernorts, da die Belarus nicht zu den fruchtbaren Schwarzerderegionen gehörte.3 Dem Großen Terror fielen schließlich zahlreiche Angehörige der Intelligenzija zum Opfer, die als nationale Trägerschicht verfolgt wurde. Zu den Zeugnissen jener Jahre zählt die Erschießungsstelle Kuropaty am östlichen Stadtrand von Minsk.
Als Folge der deutschen Besatzung der Sowjetunion in den Jahren 1941 bis 1945 waren auf dem Territorium der BSSR rund zwei Millionen zivile Opfer zu beklagen – insgesamt rund ein Viertel der Gesamtbevölkerung. Dabei waren etwa 600.000 der Ermordeten Juden, womit die BSSR zu einem der wichtigsten Schauplätze des Holocaust geriet. Doch ungeachtet der enormen Bevölkerungsverluste ging die Sowjetunion aus dem Zweiten Weltkrieg als eine Siegermacht hervor, die ihre territoriale Verschiebung nach Westen im Protokoll von Jalta und im Potsdamer Abkommen im Februar und August 1945 legitimieren konnte. Im gleichen Monat wurde in einem separaten sowjetisch-polnischen Abkommen auch die endgültige Westgrenze der BSSR festgelegt. Die ehemaligen polnischen Ostgebiete wurden in der Folge sowjetisiert, wozu auch ein 1944 mit der Volksrepublik Polen aufgenommener Bevölkerungsaustausch beitrug.4
Abgesehen von diesem außenpolitischen Akzent stand die Entwicklung der BSSR in der Nachkriegszeit ganz im Zeichen des sozioökonomischen Fortschritts. Phasenverschoben zur Gesamtentwicklung der Sowjetunion setzte die Industrialisierung der landwirtschaftlich geprägten BSSR erst nach 1945 ein.5 Fortan wurden alle Ressourcen auf die Hauptstadt Minsk konzentriert, die somit eine Sogwirkung entfaltete. 1947/48 wurden dort ein Traktorenwerk und ein Lastkraftwagenwerk errichtet, die jeweils unionsweite Bedeutung hatten.
Jedoch wirkte sich der Fortschrittsoptimismus der belarusischen Parteiführung im Hinblick auf die Beherrschung der Natur in mancherlei Hinsicht kontraproduktiv aus. In der am Prypjat-Fluss gelegenen Landschaft Polesien wurde – als Pendant zu der in den 1960er Jahren auf ukrainischer Seite errichteten Atomindustrie – eine Trockenlegung der Sümpfe betrieben. Diese führte jedoch zu einer Versandung von weiten Arealen und trug damit zum Aussterben der Dörfer bei. Sowjetischerseits wurde dafür bezeichnenderweise der Ausdruck „Auswaschen“ (wymywanije) geprägt. Gemeint war die Landflucht junger Fachkräfte, die über Bildungsanstalten und Arbeitsstätten einen dauerhaften Verbleib in den Städten anstrebten.
Die demografische Konsolidierung des Landes nach dem Zweiten Weltkrieg zog sich bis in die 1970er Jahre hin. 1970 wurde mit einer Bevölkerungszahl von 9,1 Millionen der Stand der Gesamtbevölkerung der östlichen und der westlichen Landeshälften vor dem Zweiten Weltkrieg erreicht, wobei die Einbußen durch die Arbeitsmigration nach Sibirien und Zentralasien auch in Betracht gezogen werden müssen.
Unter dem Ersten Sekretär des Zentralkomitees der belarusischen Kommunistischen Partei, Pjotr Mascherow, entwickelte sich die BSSR ab 1965 nicht nur zu einer Musterrepublik, die wirtschaftlich schwarze Zahlen schrieb. Sie trat mit Blick auf den historischen Sieg über den Nationalsozialismus unter dem Slogan der Partisanenrepublik auch selbstbewusst gegenüber dem Kreml auf – womit sie in Konflikt mit einigen Angehörigen der Moskauer Nomenklatura geriet. Diese fürchteten einerseits das Emanzipationsstreben der belarusischen Partisanenfraktion in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und damit einen eigenen Machtverlust, andererseits warfen sie der BSSR den Umstand der deutschen Besatzungsherrschaft im Zweiten Weltkrieg vor.6 Dass Minsk erst 1974 mit dem prestigeträchtigen Ehrentitel einer „Heldenstadt“ ausgezeichnet wurde, war Ausdruck dieser Spannungen. Widerstände im Kreml trugen dazu bei, dass sich Leonid Breshnew nur verspätet 1978 bereit erklärte, den entsprechenden offiziellen Festakt in Minsk zu vollziehen.
Im gleichen Jahr wurde in der BSSR auch der Verstädterungsgrad von 50 Prozent überschritten, was den Wandel vom Agrarland zum Industriestaat dokumentierte. Kehrseite dieses Sprungs nach vorn war die Preisgabe der Landessprache. Zwar wurde bildungspolitisch auf Zweisprachigkeit gesetzt, doch bevorzugten die von der sowjetischen Moderne profitierenden Eltern das Russische als Unterrichtssprache für ihre Kinder. In den 1970er Jahren verschwanden die belarusischsprachigen Schulen aus den Städten. Gleichzeitig hatten die Landflucht und die Anpassung bäuerlicher Schichten an urbane Milieus das Phänomen der „gemischten Sprache“ hervorgebracht, ein Mischmasch aus Heu und Stroh oder eben aus Belarusisch und Russisch.7
Im Unterschied zur übrigen Sowjetunion konnte in der BSSR nicht von einem gesellschaftlichen Stillstand während der Breshnew-Ära die Rede sein. Die Republik befand sich weiterhin in einem Prozess der nachholenden Modernisierung. Gerade deswegen wurde sie von der wirtschaftlichen Rezession, die die Perestroika der 1980er Jahre mit sich brachte, umso härter getroffen. Außerdem zog der radioaktive Niederschlag des Reaktorunfalls von Tschernobyl am 26. April 1986 ein Viertel des Territoriums der BSSR in Mitleidenschaft. Zwei Jahre später wurden in der Zeitschrift Literatura i Mastaztwa (dt. Literatur und Kunst) schließlich die stalinistischen Massenerschießungen im Wald Kuropaty am Stadtrand von Minsk bekannt gemacht, was breite Debatten auslöste. Einer der Verfasser des Textes war der Archäologe Sjanon Pasnjak, ein führender Akteur der sich neu formierenden belarusischen Nationalbewegung. Als Konsequenz dieser Enthüllungen erfolgte im Juni 1988 die Gründung der Belarusischen Volksfront (BNF), die sich hinter die weiß-rot-weiße Flagge der Belarusischen Volksrepublik von 1918 stellte. Bereits im Dezember 1986 und Juni 1987 hatten erst 28 und dann noch einmal 134 prominente belarusische Intellektuelle in einem offenen Brief an Gorbatschow den Verlust der belarusischen Sprache im Zuge der kulturellen Russifizierung beklagt. Im Hinblick auf Kuropaty und Tschernobyl sprachen radikalere Stimmen sogar von einem sowjetischen Genozid am belarusischen Volk.8
Ungeachtet dessen erfolgte die Unabhängigkeitserklärung der Republik Belarus am 25. August 1991 im Nachgang zu entsprechenden Verlautbarungen anderer Sowjetrepubliken eher beiläufig. Von einer weit um sich greifenden belarusischen Identität konnte zu diesem Zeitpunkt jedenfalls nicht die Rede sein. Für die Belarusen war das 20. Jahrhundert sowohl ein Zeitalter der Staatsbildung und Territorialisierung als auch ein Zeitalter der demografischen Katastrophen, der nachholenden Industrialisierung und der Urbanisierung. Diese Entwicklungen, die durch den Katalysator des Zweiten Weltkriegs noch beschleunigt wurden, hatten für eine Metarmorphose gesorgt: Aus den in ihren dörflichen Welten verhafteten Hiesigen waren urbane Sowjetmenschen geworden, die sich vom Lebensstil der sozialistischen Moderne überzeugen ließen. Die rapiden Transformationen der belarusisch-sowjetischen Epoche waren also keinesfalls von einem Auseinandertreten von Staat und Gesellschaft begleitet. Im Gegenteil: Der sowjetische Fortschrittsglaube und die sowjetische Parteiöffentlichkeit hatten nicht nur dafür gesorgt, dass die Belarusinnen und Belarusen ihre Nationalsprache aufgaben. Neben der Marginalisierung des jüdischen Erbes ist bis in die Gegenwart auch ein Defizit an Arbeiterbewegung und bürgerlicher Kultur als historische Hypothek zu beklagen.
Anmerkung der Redaktion:
Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.
Zum Weiterlesen:
Bohn, Thomas M. (2008): Minsk – Musterstadt des Sozialismus: Stadtplanung und Urbanisierung in der Sowjetunion nach 1945, Köln
Brakel, Alexander (2009): Unter Rotem Stern und Hakenkreuz: Baranowicze 1939 bis 1944. Das westliche Weißrussland unter sowjetischer und deutscher Besatzung, Paderborn
Einax, Rayk (2014): Entstalinisierung auf Weißrussisch: Krisenbewältigung, sozioökonomische Dynamik und öffentliche Mobilisierung in der Belorussischen Sowjetrepublik 1953–1965, Wiesbaden
Gerlach, Christian (1999): Kalkulierte Morde: Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944, Hamburg
Kouida, Artem (2019): Melioration im Belarussischen Polesien: Die Modernisierung der sowjetischen Peripherie (1965–1991), Wiesbaden
Rudling, Per Anders (2015): The Rise and Fall of Belarusian Nationalism 1906–1931, Pittsburgh ↩︎
Bemporad, Elissa (2013): Becoming Soviet Jews: The Bolshevik Experiment in Minsk, Bloomington ↩︎
Siebert, Diana (1998): Bäuerliche Alltagsstrategien in der Belarussischen SSR (1921–1941), Stuttgart ↩︎
Ruchniewicz, Małgorzata (2015): Das Ende der Bauernwelt: Die Sowjetisierung des westweißrussischen Dorfes 1944–1953, Göttingen ↩︎
Kashtalian, Iryna (2016): The Repressive Factors of the USSR’s Internal Policy and Everyday Life of the Belarusian Society (1944–1953), Wiesbaden ↩︎
Urban, Michael E. (1989): An Algebra of Soviet Power: Elite Circulation in the Belorussian Republic 1966–1986. Cambridge/New York ↩︎
Hentschel, Gerd (2014, Hrsg.): Trasjanka und Suržyk – gemischte weißrussisch-russische und ukrainisch-russische Rede: Sprachlicher Inzest in Weißrussland und der Ukraine? Frankfurt am Main ↩︎
Astrouskaya, Tatsiana (2019): Cultural Dissent in Soviet Belarus (1968–1988): Intelligentsia, Samizdat and Nonconformist Discourses, Wiesbaden ↩︎
Am Morgen des 18. Mai 2021 drangen Mitarbeiter der staatlichen Abteilung für Finanzermittlung (DFR) in die Redaktionsräume des unabhängigen Medienportals Tut.by in Minsk ein. Sie durchsuchten die Räumlichkeiten sowie einige regionale Büros des Unternehmens und auch die Wohnung von Chefredakteurin Marina Solotowa. Im Laufe des Tages wurden die Webseite sowie zahlreiche Spiegelserver blockiert. Am Ende des Tages wurde schließlich bekannt, dass zwölf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Tut.by inhaftiert wurden.
In einer offiziellen Verlautbarung des Informationsministeriums zum Vorgehen gegen das größte unabhängige Medienunternehmen des Landes heißt es: „Die Generalstaatsanwaltschaft stellte zahlreiche Sachverhalte von Verstößen gegen das Gesetz über Massenmedien fest, die die Platzierung von verbotenen Informationen in einer Reihe von Veröffentlichungen auf der Internetressource Tut.by betreffen.“ Zudem wird Tut.by Steuerhinterziehung vorgeworfen. Gegen die Inhaber des Unternehmens wurde ein Strafverfahren eingeleitet.
Tut.by wurde in den vergangenen Jahren immer wieder Ziel von staatlichen Attacken. Journalistinnen und Journalisten, die für unabhängige Medien in Belarus arbeiten, leben seit den Protesten infolge des 9. August 2020 ohnehin gefährlich.
Schon in den ersten Stunden nach Bekanntwerden des Vorgehens gegen Tut.by schwappte eine Welle der Empörung in den belarussischen sozialen Medien auf sowie zahlreiche Bekundungen der Solidarität. Zudem entfachte sich eine Debatte über die Frage, wie der Schlag gegen Tut.by einzuordnen sei und wie weit die Machthaber um Alexander Lukaschenko hinsichtlich der ohnehin weitreichenden Repressionen noch gehen werden. dekoder bringt eine Auswahl von Stimmen aus dieser Debatte.
Nasha Niva: Abhängiger von Russland?
Das älteste belarussischsprachige Medium Nasha Niva hält das Vorgehen gegen Tut.by für einen schweren Schlag, der die belarussische Medienlandschaft insgesamt betrifft.
[bilingbox]Durch die Sperrung von Tut.by ist ein Strich unter die bisherige Existenzweise von Medien in Belarus gezogen worden. Die Zerschlagung des Medien-Flaggschiffs wirft die nationalen Medien um Jahrzehnte zurück und macht den Staat hinsichtlich der Information noch abhängiger von Russland. Es ist nun notwendig, die Gesellschaft für die Unterstützung der Medien zu mobilisieren, die es noch gibt – innerhalb des Landes und im Ausland.~~~Блакаванне Тут.бая таксама падводзіць рысу пад ранейшым этапам існавання СМІ ў Беларусі. Разгром флагмана медый адкідвае нацыянальныя СМІ на дзесяцігоддзі і зробіць дзяржаву яшчэ больш інфармацыйна залежнай ад Расіі. Спатрэбіцца мабілізацыя грамадства на падтрымку тых беларускіх СМІ, якія застаюцца — унутры краіны і за яе межамі. [/bilingbox]
Narodnaja Wolja/Pjotr Kusnjazou: „Die Machthaber machen einen riesigen Fehler“
Pjotr Kusnjazou, Direktor der regionalen Informationsplattform Gomel – Silnyje Nowosti, urteilt in einem längeren Kommentar für die Zeitung Narodnaja Wolja, dass die ständigen Repressionen gegen unabhängige Medien vor allem die Hoffnungen auf ein demokratisches Belarus zerstören.
[bilingbox]Kann man in diesem Kampf siegen? Für vernünftige Menschen ist offensichtlich, dass man das nicht kann, wenn solche Methoden zum Einsatz kommen. Darüber hinaus ist noch etwas anderes offensichtlich: Jegliche folgerichtige Bewegung in die vorgegebene Richtung „alle zu erwürgen“ kann lediglich dazu führen, dass im Informationsraum von Belarus eine gähnende Leere entsteht. Eine Leere – kein Vakuum. Ein Vakuum kann es in diesem Bereich nicht geben, denn wenn ihnen das gelingt, was sie wollen, dann wird diese Leere unmittelbar gefüllt werden mit einem Produkt von völlig anderem Niveau und völlig anderer Qualität. In diesem Sinne bedeutet der Tod des unabhängigen Mediensektors einen Schlag nicht nur und gar nicht so sehr gegen den demokratisch denkenden Teil der Gesellschaft als vielmehr gegen Belarus als zivilisiertes Land.~~~Возможно ли победить в этой борьбе? Здравомыслящим людям очевидно, что такими методами – нет. Больше того, очевидно и другое: последовательное движение в заданном направлении «всех придушить» может привести лишь к тому, что в информационном поле Беларуси появятся зияющие пустоты. Пустота – не вакуум, вакуума в этой среде быть не может, поэтому, если у них получится сделать то, что они хотят, пустоту эту, неминуемо, заполнит продукт совершенно другого уровня и качества. В этом смысле гибель существующего независимого медиасектора будет означать удар не только и не столько по демократически мыслящей части общества, сколько по Беларуси как цивилизованной стране как таковой.[/bilingbox]
SB. Belarus segodnja/Alexander Schpakowski: „Apotheose der Unverschämtheit und Unmoral“
In seiner Einschätzung für die staatliche Zeitung SB. Belarus segodnja hält der Politologe Alexander Schpakowski das Vorgehen des Staates gegen Tut.by aufgrund mutmaßlicher Steuervergehen für völlig legitim. Zudem wirft er ein, dass Unternehmen, die Teil des Minsker Hi-Tech-Parks sind und damit von Steuervergünstigungen profitieren, sich dem Staat gegenüber loyaler zeigen sollten.
[bilingbox]Für all diese IT-Unternehmen sind sehr hohe Zuwendungen vorgesehen. Ganz ehrlich – meiner Ansicht nach ist das eine Apotheose der Unverschämtheit und Amoral. Einerseits als Flaggschiff im Informationskrieg gegen den Staat und gegen den Präsidenten persönlich aufzutreten. Gegen Lukaschenko. Denn sie bekämpfen ihn ja nicht nur als politischen Führer, sondern auch als Menschen, beleidigen und diskreditieren ihn mannigfach. Und andererseits sind sie sich gleichzeitig nicht zu fein, Zuwendungen anzunehmen, die ihnen vom belarussischen Staat gewährt werden, und Erlasse dieses Staatsmannes, des Präsidenten der Republik Belarus zu nutzen. Das ist meiner Ansicht nach die Apotheose der Doppelmoral, der Unverschämtheit, der Amoral, die ich rein menschlich nicht verurteilen würde, doch meine Bewertung fällt negativ aus.~~~Вот для этих всех IT-компаний предусмотрены очень серьезные льготы. И, на мой взгляд, если честно, это апофеоз наглости и аморальности. С одной стороны, выступать флагманом информационной войны против государства и против Президента лично. Против Лукашенко. Ведь они в том числе борются именно с ним не только как с политическим лидером, но как с человеком, всячески его оскорбляя и дискредитируя. Но при этом не стесняются пользоваться льготами, предоставленными белорусским государством и указами этого государственного деятеля — Президента Республики Беларусь. Вот это, на мой взгляд, апофеоз двойных стандартов, наглости, аморальности, который чисто по-человечески я не берусь осуждать, но моя оценка этого негативная.[/bilingbox]
Lavon Volski gilt als Ikone der alternativen Musikszene in Belarus. Er ist der Meinung, dass die ständigen Repressionen das Fass zum Überlaufen bringen könnten.
[bilingbox]Ich verstehe, dass das Niveau gehalten werden muss. Das Level darf nicht gesenkt werden. Immer wieder muss deutlich gemacht werden, wer hier der Herr im Hause ist. Alle müssen in Angst gehalten werden. Das ist eine einfache Bauernregel: Angst haben – das bedeutet: jemanden zu achten. Nur wächst mit jedem neuen Druck nicht die Angst, sondern der Hass. Und der erfasst mit jedem Tag, mit jedem neuen „kriminellen“ Fall mehr und mehr Leute. Er sammelt sich immer weiter an, er staut sich auf in diesem geschlossenen Raum. Der Zeiger schlägt schon längst aus dem roten Bereich, und sie kippen immer mehr Zündstoff hinein, immer mehr … Je suis Tut.by~~~Я разумею, што ўзровень трэба трымаць. Не зьніжаць градус. Раз за разам дэманстраваць, хто тут гаспадар. Трымаць усіх у страху. Такі просты мужыцкі разьлік: баяцца — значыць паважаюць. Толькі ад кожнага новага ціску расьце ня боязь, а нянавісьць. І яна з кожным днём, з кожнымі новымі “крымінальнымі” справамі ахапляе ўсё болей і болей людзей. І яна ўсё назапашваецца, усё расьце ў гэтай замкнёнай прасторы. Стрэлка даўно на чырвонай зоне, а яны ўсё падкідаюць паліва, болей і болей… Je suis TUT.by[/bilingbox]
YouTube/Swetlana Tichanowskaja: „Sie töten die Presse“
Für Swetlana Tichanowskaja, die führende Figur der belarussischen Oppositionsbewegung, ist es völlig klar, welches Ziel die belarussischen Machthaber mit der Abschaltung von Tut.by verfolgen.
[bilingbox]Wir alle sind heute Zeugen des vorsätzlichen Mordes an dem Medium und unabhängigen Portal Tut.by. 20 Jahre hat es den Belarussen einwandfrei seriöse Nachrichten vermittelt und war ein Paradebeispiel für die unabhängige Presse. Viele haben befürchtet, dass es so kommen wird. Doch es ist ein völlig anderes Gefühl, wenn man die konsequente Zerstörung der Freiheit mit eigenen Augen sieht. Die Zusammenrottung von Leuten, die in Belarus die Regierungsmacht fest in ihren Händen halten – das ist ein wahres Besatzerregime: Sie töten die Presse, töten Parteien und Gruppierungen, sie töten uns – auf der Straße und in den Gefängnissen.~~~Сегодня мы все – свидетели умышленного убийства медиа и независимого портала TUT.by. Он 20 лет исправно сообщал беларусам честные новости и был образцом независимой прессы. Многие опасались, что так и произойдет, но это совсем другое чувство, когда смотришь на последовательное уничтожение свободы собственными глазами. Сборище людей, которые удерживают власть в Беларуси, – это и есть настоящий оккупационный режим: они убивают СМИ, убивают партии и сообщества, убивают нас – на улицах и в тюрьмах.[/bilingbox]
Tribuna/Maxim Beresinski: „Sie können nicht alle zum Schweigen bringen“
Maxim Beresinski, der für das populäre Online-Sportmedium Tribuna die belarussische und ukrainische Sparte verantwortet, fragt sich, wen die Staatsmacht als nächstes ins Visier nehmen könnte.
[bilingbox]Wir sind schon daran gewöhnt: Jeden Tag gibt es einen neuen Tiefpunkt. Und trotzdem ist es jedes Mal ein Schock … Alles läuft genau so, wie es Pastor Niemöller auf dem Höhepunkt im Kampf mit den Nazis in Deutschland gesagt hat: Politiker, Geschäftsleute, Anwälte, Studenten, Pfarrer, kinderreiche Mütter haben sie schon geschasst. Jetzt sind die Journalisten dran. Wenn sie jetzt kommen und dich holen, wird niemand mehr da sein, dem du es erzählen kannst. Wir wissen nicht, was der nächste Trigger sein wird, aber der einzige Weg ist nun die maximale Öffentlichkeit. Alle Stimmen werden sie nicht schaffen abzuwürgen.~~~Мы уже привыкли к тому, что каждый день – новое дно. Но все равно каждый раз шок. Все идет ровно так, как говорил пастор Нимёллер в разгар борьбы с нацизмом в Германии. Они уже пришли за политиками, бизнесменами, адвокатами, студентами, священниками, многодетными мамами. Теперь они пришли за журналистами. Теперь, когда придут за тобой, некому будет об этом рассказать. Мы не знаем, что станет новым триггером, но максимальная гласность сейчас – единственный путь. Все голоса им не заткнуть.[/bilingbox]
RuBaltic/Wsewolod Schimow: Faustpfand in Verhandlungen mit dem Westen?
In einem Beitrag für das Kaliningrader Online-Portal RuBaltic hält der belarussische Politologe Wsewolod Schimow beim Vorgehen gegen Tut.by eines für sicher: die weitere Verschlechterung der Beziehungen mit dem Westen.
[bilingbox]Die Idylle endete am 9. August 2020, als das „herzliche Einverständnis“ zwischen der Regierung und den Kräften, die Tut.by verkörpern, innerhalb von einer Sekunde zerstört war. Die ganze Frage ist, wie weit die belarussischen Machthaber in diesem Spiel zu gehen bereit sind. Die Zerschlagung von Tut.by bleibt ja im Westen nicht unbemerkt und senkt die Chancen auf eine Normalisierung der Beziehungen weiter. Andererseits ist nicht ganz auszuschließen, dass das Schicksal von Tut.by vielleicht ein Faustpfand wird in den Verhandlungen zwischen den belarussischen Machthabern und dem Westen.~~~Идиллия закончилась после 9 августа 2020 года, когда «сердечное согласие» между властью и теми силами, которые олицетворяет tut.by, было в момент разрушено. Весь вопрос в том, насколько далеко готова белорусская власть идти в этой игре. Ведь разгром tut.by не останется незамеченным на Западе и еще больше снизит шансы на нормализацию отношений. С другой стороны, нельзя исключать, что судьба tut.by как раз-таки станет элементом торга в переговорах между белорусской властью и Западом.[/bilingbox]
Facebook/Yahor Lebiadok: Die Förderung der russischen Agenda
Der Militärhistoriker Yahor Lebiadok bringt die Zerschlagung der unabhängigen belarussischen Medien in einen außenpolitischen Zusammenhang. Er glaubt, dass hinter dem Vorgehen gegen Tut.by eine Konzession Lukaschenkos an Wladimir Putin und dessen Politik erkennbar sei.
[bilingbox]Was Tut.by angeht, kann man unterschiedlicher Meinung sein. Aber was das Portal ausmacht: Es stellt eine gewisse Barriere zu russischen Inhalten in den Köpfen der Belarussen dar. Ich habe es bereits mehrfach gesagt und wiederhole es hier noch einmal: Während alle auf die Verhandlungen zu Krediten, Öl und Integrations-Roadmaps schauen, gibt Lukaschenko zur Unterstützung Putins (oder unter seinem Druck) viel Belarussisches auf – von der Kultur bis zu dringlichen Themen. Das merken die Menschen angesichts der vielen Nachrichten gar nicht, und es sind Dinge, um die es Lukaschenko aus seiner Perspektive nicht schade ist. Für Lukaschenko bedeutet die Säuberung solcher Medien, die Bewahrung der Regierung vor Kritik – auch im Zusammenhang mit möglichen politischen Kampagnen zu einer neuen Verfassung. Für Putin bedeutet sie die Säuberung des belarussischen Informationsraumes von allem Belarussischen und gleichzeitig die Förderung der russischen Agenda. ~~~К TUT.BY может быть различное отношение, но что свойственно этому порталу — это определенный барьер на пути российского контента в головы беларусов. Говорил ни раз и здесь повторю — пока все смотрят на торг по кредитам, нефти, интеграционным картам Лукашенко за поддержку Путиным (или под давлением) сдает беларуское — от культуры до повестки дня. Это людям мало заметно в объеме новостей, и это то, что Лукашенко не жалко сдать, на его взгляд. Для Лукашенко зачистка такого рода СМИ — это удержание власти от критики, в том числе и в контексте возможных политических кампаний по Конституции (что и для РФ, вероятно, нужно). Для Путина — это зачистка беларуского информационного пространства от всего беларуского с продвижением российской повестки[/bilingbox]
Von allen Politikern, die im Zuge von Gorbatschows Perestroika und dem Zerfall der Sowjetunion ins öffentliche Leben von Belarus traten, ist Sjanon Pasnjak zweifellos die schillerndste Figur.
Nach der Krise und dem Zusammenbruch des totalitären kommunistischen Systems entstand die Nachfrage nach einem neuen, in der Sowjetunion bis dahin unbekannten Beruf: dem des öffentlichen Politikers. Pasnjak wurde dieser Nachfrage in vollem Umfang gerecht. Als kompromissloser Kämpfer für ein unabhängiges Belarus ist er in die Geschichte eingegangen. Wer ist dieser radikale Politiker? Was hat ihn geprägt? Welche Rolle spielt er im heutigen Belarus?
Sjanon Pasnjak wurde 1944 in einer katholischen Familie im Gebiet Hrodna geboren. Sein Großvater, Jan Pasnjak, war einer der Anführer der christlich-demokratischen Bewegung in West-Belarus, das in der Zwischenkriegszeit zu Polen gehörte. Pasnjaks Vater fiel im Zweiten Weltkrieg.
Bereits in jungen Jahren tat sich Pasnjak als Dissident hervor. Hier setzte sich offenbar die Familientradition des Großvaters fort, die der nationalen Wiedergeburt eine große Bedeutung beimaß und damit im Widerspruch zur offiziellen sowjetischen Politik der Verschmelzung aller Nationen um das russische Volk stand. Nach dem Schulabschluss studierte Pasnjak an der Minsker Hochschule für Theater und Kunst, von der er zwei Mal aufgrund „politischer Unzuverlässigkeit“ ausgeschlossen wurde. Er arbeitete als Fotograf und Archäologe, promovierte trotz allem in Kunstgeschichte. Nebenbei gab er Texte im Samisdat heraus. Seit den 1960er Jahren setzte er sich aktiv für den Erhalt der historischen Bausubstanz in Minsk ein, dessen Altstadt von der Sowjetmacht Stück für Stück zerstört wurde.
Der Erneuerer der belarussischen Nationalbewegung
Pasnjaks Sternstunde kam mit Gorbatschows Perestroika. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde sein Name zum ersten Mal bekannt, als er am 3. Juni 1988 in der Zeitschrift Litaratura i mastaztwa [dt. Literatur und Kunst] den Artikel Kurapaty – Daroha smerci [dt. Kurapaty – Straße des Todes] veröffentlichte, in dem es um die Erschießung tausender Bürger in einem Minsker Vorort während der Stalinära ging.
Zur Zeit der Perestroika war die Enthüllung der stalinistischen Verbrechen zur ideologischen Grundlage für die Diskreditierung des sowjetischen Systems überhaupt geworden. Die Befürworter von demokratischen Reformen nutzten die Tatbestände aktiv, um die Notwendigkeit eines Wandels zu begründen. Pasnjak verstand, dass seine Zeit gekommen war und es eine reelle Chance gab, seine Ideen in die Praxis umzusetzen. Also trat er aktiv in den politischen Kampf ein. Er wurde zu einem der Organisatoren der Belarussischen Volksfront (BNF), der wichtigsten Oppositionskraft in Belarus Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre. Gorbatschows Perestroika eröffnete die Möglichkeit, verhältnismäßig freie Wahlen durchzuführen. Die Unionsrepubliken der UdSSR erhielten mehr und mehr Souveränität. Die reale Macht ging auf die Parlamente der Republiken über, die Obersten Sowjets. 1990 fanden in Belarus die Wahlen zum 12. Obersten Sowjet der BSSR statt, erstmals unter den neuen Bedingungen. Die BNF konnte mit rund 30 Abgeordneten ins Parlament einziehen, darunter auch Pasnjak, der in seinem Wahlkreis in Minsk gesiegt hatte. Er übernahm den Vorsitz der Oppositionsfraktion der BNF im Obersten Sowjet der BSSR. Die Fraktion setzte sich nicht nur für die rasche Umsetzung demokratischer Reformen ein, sondern auch für den Austritt aus der Sowjetunion und damit für die vollkommene Unabhängigkeit von Belarus.
Im Rahmen der von Michail Gorbatschow ausgerufenen Politik der Glasnost wurden damals die Parlamentsdebatten live im Fernsehen übertragen, wodurch Pasnjaks Name in Belarus weite Bekanntheit erlangte. Mehrere Jahre lang war er der unbestrittene Führer der Opposition, Symbol der antikommunistischen Bewegung und der nationalen Wiedergeburt.
Unter den Bedingungen der akuten politischen Krise und der Ratlosigkeit der kommunistischen Nomenklatura, die Belarus regierte, konnte die kleine Fraktion der BNF die Tagesordnung im Obersten Sowjet bestimmen und initiierte immer neue Schritte in Richtung Demokratisierung der Republik und der Unabhängigkeit von der UdSSR. Die Rolle der BNF und Pasnjaks bei der Demontage des totalitären Systems und der Proklamierung der belarussischen Souveränität kann nicht hoch genug bewertet werden. Als begabter Redner und Publizist erschuf er sich ein Image des kompromisslosen Kämpfers für ein unabhängiges Belarus. Er formulierte das Konzept des belarussischen Nationalismus und der belarussischen Staatlichkeit. Der bekannte belarussische Schriftsteller Wassil Bykau sagte auf dem 3. Parteitag der BNF: „Die Nation kann sich glücklich schätzen, dass Gott ihr Sjanon Stanislawowitsch Pasnjak als Anführer gesandt hat.“
Nach dem Zerfall der UdSSR und der Ausrufung der Unabhängigkeit von Belarus blieb die Macht in den Händen der alten Nomenklatura. Die BNF blieb in der Opposition. Wie alle neu entstandenen Staaten im postsowjetischen Raum steckte auch Belarus in einer tiefen sozialen Krise. Unter diesem Vorzeichen fanden 1994 die Präsidentschaftswahlen statt. Sechs Personen kandidierten damals für das Amt des Präsidenten, darunter auch Sjanon Pasnjak. Er erhielt 12,82 Prozent der Stimmen. Die Wahl gewann Alexander Lukaschenko.
Im Kampf gegen die Rückkehr der Diktatur
Nach seinem Amtsantritt begann Lukaschenko, die demokratischen Institutionen, die nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems geschaffen worden waren, wieder zu demontieren und den Übergang zur Diktatur, dem Regime der persönlichen Macht, zu vollziehen. Am 11. April 1995 trat Sjanon Pasnjak gemeinsam mit 18 weiteren Abgeordneten der oppositionellen BNF in den Hungerstreik, um gegen das von Lukaschenko initiierte Referendum zu protestieren, das die Wiedereinführung des Russischen als zweite Staatssprache und die Wiederkehr der sowjetischen Staatssymbolik vorsah. Die Protestierenden sahen darin einen Gesetzesbruch und blieben nach Ende des Arbeitstages im Parlamentsgebäude. Nachts kamen Spezialeinheiten der Miliz und Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes des Präsidenten ins Gebäude. Sie schlugen die Abgeordneten und zerrten sie mit Gewalt hinaus. Dabei versuchten sie, Pasnjak die Augen auszustechen, traten ihm vor die Brust und schlugen seinen Kopf gegen die Wand. So erfuhren die Abgeordneten der Opposition am eigenen Leibe, wie die Diktatur Form annahm.
1995 fanden die Wahlen zum 13. Obersten Sowjet statt. Kein einziger Abgeordneter der BNF schaffte es ins Parlament. Obwohl Pasnjak in seinem Wahlkreis 47 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnte, während sein Gegner 40 Prozent holte und 13 Prozent gegen beide Kandidaten stimmten. Nach dem Gesetz ist derjenige gewählt, der mehr als 50 Prozent der Stimmen erhält. Später stellte sich heraus, dass die Wahlergebnisse gefälscht wurden, wie die Zentrale Wahlkommission auch zugab. Dass eine so große Zahl von Wählern gegen beide Kandidaten stimmte, war zu auffällig. Normalerweise stimmen ein bis zwei Prozent gegen beide Kandidaten. Der Einzug von Pasnjak in den Sowjet sollte also verhindert werden.
Nachdem sie den Rückhalt im Parlament verloren hatte, rief die BNF das Volk zu Protestaktionen auf den Straßen auf. Pasnjak war einer der Hauptorganisatoren dieser Proteste. Der Frühling 1996 wurde sehr turbulent, es gab ernsthafte Zusammenstöße zwischen den Demonstranten und der Miliz. Eine ernste politische Krise zeichnete sich ab, die von Lukaschenkos Bestrebungen, ein autoritäres Regime zu errichten, nur noch verschärft wurde. Er fürchtete die organisierte politische Kraft, die die BNF damals darstellte, und ihren beliebten charismatischen Anführer. Lukaschenkos Antwort darauf waren politische Repressionen.
Pasnjak sollte für die Organisation „gesetzwidriger“ Kundgebungen strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Um einer Verhaftung zu entgehen, musste Pasnjak im Frühjahr 1996 Belarus verlassen und erhielt schließlich gemeinsam mit seinem Oppositionskollegen Sjarhei Nawumtschyk politisches Asyl in den USA. Es war das erste Mal seit dem Zerfall der UdSSR, dass Staatsangehörige aus dem postsowjetischen Raum diesen Status aus politischen Gründen erhielten. Seitdem lebt Sjanon Pasnjak im Exil.
Insgesamt bedeuteten die Präsidentschaftswahlen 1994 und die Parlamentswahlen 1995 eine schwere Niederlage für die Belarussische Volksfront. Die belarussische Gesellschaft der 1990er Jahre war nicht bereit, die Ideologie des ethnokulturellen Nationalismus anzunehmen, den die BNF vertrat, sondern hing nostalgisch der Sowjetzeit nach. Parallel dazu hatten einige Besonderheiten in Pasnjaks Charakter – als Mensch wie als Politiker – eine negative Rolle gespielt. Der Vorsitzende der BNF war ein klassischer Idealist, ein Ideenfanatiker, ein Prophet, aber kein pragmatischer Politiker. Er war eher zum Vorsteher einer orthodoxen religiösen Sekte geeignet als zum Anführer einer politischen Partei. Der Glaube an die eigene Messiasrolle und Unfehlbarkeit, die Nichtakzeptanz von Andersdenkenden, das Kategorische gegenüber seinen Opponenten stießen viele Menschen ab. Alle, die nicht seiner Meinung waren, betrachtete Pasnjak als Agenten des belarussischen KGB oder des russischen FSB. Seine Unfähigkeit zu Kompromissen verhinderte die Bildung breiter Allianzen.
Charakteristisch für Pasnjaks Ideologie ist die Fetischisierung, die Absolutsetzung der nationalen Idee, ihre Erhebung zum Kult. Er stellt eine direkte Verbindung zwischen der belarussischen Wiedergeburt und dem Grad der gesellschaftlichen Moral her („Wo man Belarussisch spricht, gibt es keine Halunken“1). Pasnjak ist zudem für seine schroff ablehnende Haltung gegenüber Russland bekannt. 1994 schrieb er seinen bekannten ArtikelÜber den russischen Imperialismus und seine Gefahren, in dem er Russland als das absolut Böse zeichnete. Seiner Meinung nach gingen alle Nöte und Leiden von Belarus, vom Bolschewismus bis zur Inflation [der 1990er Jahre – Anm. dek], von der Russischen Föderation aus. Pasnjak zufolge habe der „verkommene, zerstörerische imperiale Osten“ negative Eigenschaften wie „Rüpelei, Unzucht, Sauferei, russische Fäkalsprache, Faulheit, Hass und Lüge“2 nach Belarus gebracht. In seiner Charakterisierung der russischen Politik als der eines „feindlichen Staates, der sich im Kriegszustand mit Belarus befindet“, nahm Pasnjak kein Blatt vor den Mund und bezeichnete Russland als „blutige Bestie“3. Weil jedoch in Belarus prorussische Einstellungen überwogen, wurde eine derart harte antirussische Position von der Mehrheit der Belarussen schlecht aufgenommen.
Der radikale Oppositionelle im Exil
Aber Pasnjak war nicht nur Russland gegenüber negativ eingestellt, sondern auch dem Westen und seinen Werten gegenüber, vor allem dem Liberalismus. Er lehnte das Prinzip des Vorrangs der Menschenrechte vor den Rechten der Nation ab und vertrat die Meinung, das habe den westlichen Staaten geschadet. Sein radikaler Konservatismus erlaubte auch keine Toleranz gegenüber der LGBT-Bewegung. „In einer normalen, zivilisierten Gesellschaft kann und wird es keine Erotik geben“, konstatierte Pasnjak. Im belarussischen patriarchal geprägten Dorf habe sich der Mann nachts mit der Frau „mit der natürlichen Fortführung des Menschengeschlechts beschäftigt, ohne irgendwelche Erotik“, all das sei „Teufelszeug“.4 Auch in der Außenpolitik der USA und der EU-Staaten erkannte er eigennützige Motive. Er sah eine „Ruchlosigkeit der Politik, wie im Osten, so auch im Westen“5 gegenüber Belarus. Konfrontiert mit der Ablehnung seiner Ansichten in der Gesellschaft, bezeichnete Pasnjak die Belarussen schließlich selbst als „ein krankes Volk“6.
Den größten Teil seiner Zeit im Exil verbrachte Pasnjak in Polen. Nach seiner Ausreise schrumpfte sein politischer Einfluss sehr schnell. Lediglich in einer kleinen Gruppe von Unterstützern konnte er seine Popularität aufrechterhalten. Die vielen politischen Niederlagen und die Emigration ihres Vorsitzenden riefen in der BNF eine Krise hervor. 1999 kam es zur Spaltung der Partei. Pasnjak wurde von seinen früheren Mitstreitern Autoritarismus vorgeworfen. Gemeinsam mit einem Teil der BNF-Mitglieder gründete er die Konservativ-Christliche Partei – BNF (KChP-BNF) und übernahm deren Vorsitz.
In den vergangenen 20 Jahren boykottierten Pasnjak und seine Partei so gut wie alle Wahlen, die in Belarus stattfanden. Die KChP-BNF lehnte jegliche Bündnisse und Koalitionen ab. Pasnjaks Treffen mit europäischen Politikern reduzierten sich auf ein Minimum. Man kann von einer Selbstisolation der Partei und ihres Vorsitzenden sprechen. Pasnjaks gesamte politische Tätigkeit im Exil bestand im Grunde aus Artikeln, Erklärungen und Kommentaren auf der Internetseite der Partei. Er erinnerte mehr an einen politischen Beobachter als an einen Politiker. Nebenbei veröffentlichte er eine Sammlung publizistischer Texte sowie Gedicht- und Fotobände.
Den Ausbruch der nationalen Proteste im Jahr 2020 bewertete Pasnjak widersprüchlich. Lukaschenkos wichtigsten Gegner zu Beginn der Präsidentschaftswahlkampagne, den Chef der Belgazprombank Viktor Babariko, bezeichnete er als russischen Agenten und postulierte: „Babariko ist heute ein potentiell gefährlicherer Feind für die belarussische Nation als Lukaschenko“7. Swetlana Tichanowskaja erhielt zunächst positive Beurteilungen von Pasnjak, er nannte sie den „einzigen positiven Menschen“ unter den Kandidaten. Er rief sie dazu auf, die Wahlen zu boykottieren. Später machte Pasnjak Tichanowskaja für alles Mögliche verantwortlich. Im Interview mit dem Portal Zerkalo am 26. April 2023 äußerte er sich beispielsweise folgendermaßen: „Was Swetlana Tichanowskaja angeht, so ist das zunächst einmal ein Moskauer Projekt“; „sie wurde von Spezialkräften angeworben“; „Tichanowskaja hat damals die Wahlen durch Tricksereien gefälscht“; „ihr Handeln verursacht nicht nur politischen Schaden, sondern stellt eine kriminelle Ansammlung von Verbrechen dar“; „sie ist Belarus feindlich gesinnt“; „die politischen Gefangenen haben ihre Haft größtenteils Swetlana Tichanowskaja und ihren Leuten zu verdanken“.8
Pasnjak bezieht andererseits entschieden Position gegen die westlichen Sanktionen gegen Lukaschenkos Regime, da sie seiner Ansicht nach Belarus in Russlands Arme drängen. Zuletzt interessierte sich die demokratische Bewegung in Belarus wieder stärker für Pasnjak. Einige bekannte Persönlichkeiten schüttelten ihm medienwirksam die Hand. Das hängt damit zusammen, dass die Niederschlagung der Proteste, die Festigung des Lukaschenko-Regimes und die Ausweitung der massenhaften Repressionen ein Interesse an Radikalisierung in der Gesellschaft wachgerufen haben; die friedlichen Methoden des Kampfes werden zunehmend in Frage gestellt und Pasnjaks Radikalität ist wieder gefragt. Doch dabei handelt es sich um ein temporäres Phänomen. Denn Sjanon Pasnjak ist für Belarus eher eine Person der Geschichte als der zeitgenössischen Politik.
Posnjak. Ein politisches Porträt. – Jewropeiskoje wremja, 6/1994 ↩︎
Am 10. Mai 2021 hat Alexander Lukaschenko das Dekret „Zum Schutz der Souveränität und der verfassungsmäßigen Ordnung“ unterschrieben, über das bereits in den vergangenen Wochen in der belarussischen und internationalen Presse spekuliert worden war. Das Dekret regelt einen neuen Machtübergang, abseits des Weges, den die Verfassung vorsieht. Im Falle eines gewaltsamen Todes von Lukaschenko übergeht die präsidiale Macht nun nicht mehr an den Premierminister, sondern an den Sicherheitsrat. Dieser kann dann beispielsweise den Kriegszustand ausrufen, der die Durchführung von Demonstrationen oder Streiks unmöglich macht. Der Sicherheitsrat hat neben dem Präsidenten aktuell acht weitere Mitglieder, so unter anderem den Premierminister, den Vorsitzenden des KGB, den Chef der Präsidialverwaltung sowie Innen- und Verteidigungsminister. Der Politologe Waleri Karbalewitsch beispielsweise sieht in der neuen Regelung eine klare Stärkung der Silowiki.
Aber natürlich braucht es nicht nur Beamte der Sicherheitsstrukturen, um den autoritären Staatsapparat am Laufen zu halten. In einem Interview für das belarussische Medium Belorusy i rynok befasst sich der politische Analyst und Journalist Artyom Shraibman mit dem Beamtenapparat des Lukaschenko-Staates und mit Fragen, die für das weitere Überleben des Systems eine immanent wichtige Rolle spielen.
Nach welchen Kriterien erfolgt in Belarus die Auswahl von Staatsbeamten?
In politisch sensiblen Strukturen wie dem KGB, dem operativ-analytischen Zentrum OAZ oder dem Innenministerium war das Hauptkriterium schon immer die Loyalität zur Regierung. In anderen Behörden war die politische Komponente früher weniger wichtig: Im Gesundheitsministerium, dem Katastrophenschutzministerium oder dem Außenministerium war bis vor kurzem noch ein gewisses Ausmaß an Freigeist zulässig. In diesen Behörden wurde mit dem Aufstieg auf der Karriereleiter immer stärker ausgesiebt. Ein solider Fachmann konnte beispielsweise bis zum Posten des Verwaltungschefs aufsteigen, danach wurden seine Karrierechancen mit dem KGB, der Präsidialadministration und anderen Behörden abgestimmt. Menschen mit einem „falschen“ politischen Lebenslauf blieb der Aufstieg verwehrt.
Ich denke, das war der entscheidende Faktor, warum sich die Regierung nach den Ereignissen im August halten konnte: Das System hatte den Aufstieg der meisten unabhängig denkenden Menschen verhindert. In höheren Ämtern haben nur einige wenige offen oder halboffen Kritik geäußert. In der Mitte und dem unteren Teil des Staatsapparates sah es schon ganz anders aus.
Derzeit werden alle Anwärter für Staatsämter unabhängig von der Stellung und Behörde danach durchleuchtet, ob sie politisch vertrauenswürdig und loyal zur gegenwärtigen Regierung sind. Aus zuverlässigen Quellen weiß ich, dass Mitarbeiter des Innenministeriums und des Ermittlungskomitees unter Einsatz eines Lügendetektors befragt werden, um diejenigen auszusieben, die bei den Wahlen für den „falschen“ Kandidaten gestimmt hatten – ihre Verträge werden nicht verlängert. Die Regierung hat die enorme Bedeutung der politischen Loyalität von Beamten auf allen Ebenen klar erkannt.
In diesem Jahr rechne ich nicht mehr mit einem Zusammenbruch
Aber das trifft nicht nur auf Ministerien zu. Sogar in kleineren Staatsunternehmen werden Geschäfts- und Abteilungsleiter ersetzt.
Da greift aber ein anderes Prinzip. Ich denke nicht, dass diese Menschen sich in irgendeiner Form als illoyal gezeigt hatten. Vielmehr waren sie nicht aktiv genug bei der Verfolgung von Dissidenten in ihren Unternehmen. Sie hatten ihre Unternehmen nicht von „aufwieglerisch Denkenden“ gesäubert und mussten den Preis dafür zahlen. Würde sich der August wiederholen, würde es zu Streiks kommen und sich ein Fabrikleiter seinen Arbeitern anschließen, wäre das katastrophal für die Regierung. Wenn sie mich also nach einer Tendenz fragen, dann lässt sich eine Abwanderung von qualifizierten Fachkräften und von Menschen mit einem Gewissen beobachten, und an ihre Stelle treten Aufseher.
Welche Konsequenzen hat es, wenn erfahrene Fachleute durch einfach nur regimetreue Menschen ausgetauscht werden?
Auf kurze Sicht stärkt es das Regime. Das System besteht nur noch aus besonders gehorsamen und loyalen Menschen, die keine Bedenken bei der Ausführung jedweder Anweisungen haben. Aber langfristig sägt man damit den Ast ab, auf dem man sitzt, denn solche Leute sind vor allem darauf bedacht, sich anzudienen und berücksichtigen keine langfristigen Konsequenzen. Sie treffen realitätsferne Entscheidungen, sie glauben, das Recht zu haben, ideologisch Druck auf Menschen auszuüben, ihre Mitarbeiter dreist zu behandeln, harte Entscheidungen zu treffen, ohne sie mit der Belegschaft abzustimmen. Letztendlich verliert das gesamte System an Kompetenz und macht einen Fehler nach dem anderen.
Außerdem zerstört diese „negative Selektion“ jegliche Chancen auf einen positiven politischen Wandel in Belarus. Je mehr sich das System abschottet, desto weniger Möglichkeiten hat es, in Krisenzeiten vernünftige Entscheidungen zu treffen. Unter diesen Umständen wird ein Wandel nicht als eine Evolution, sondern durch eine politische Katastrophe passieren, sprich durch einen Zusammenbruch der gesamten politischen Struktur.
Wann wird die kurzfristige Phase enden, und wann werden die Konsequenzen eintreten, von denen Sie sprechen?
Das hängt davon ab, wann der Regierung die Mittel für die brutale autoritäre Kontrolle von jedem gesellschaftlichen Bereich ausgehen und davon, wie sehr sie die Daumenschrauben noch anzieht.
In diesem Jahr rechne ich nicht mehr mit einem Zusammenbruch. Die Regierung hat sich potentieller Überläufer entledigt, und sie hat finanzielle Reserven, zumindest für die nächste Zeit. Ich denke, die Konsequenzen werden zutage treten, sobald es konstitutionelle Veränderungen gibt – selbst wenn die Regierung davon überzeugt ist, den Nachfolger oder die führende Partei vollkommen unter Kontrolle zu haben. In diesem System reicht eine Prise Freiheit und es bricht wegen seiner flächendeckenden Inkompetenz und seiner Unfähigkeit, vorauszudenken, in sich zusammen.
Ich erwarte von dieser Regierung hingegen keinerlei demokratische Reformen
Was motiviert die Fachleute derzeit noch in diesem System zu bleiben? Denen ist ja sicher klar, wie falsch alles war, was in den letzten sieben Monaten passiert ist?
Teilweise hält sie dort die Angst um ihre eigene Zukunft, um die Zukunft ihrer Familien, die materielle Abhängigkeit von der Anstellung, vielleicht auch Kredite oder Wohnraum, der ihnen als Beamten im Staatsdienst zur Verfügung gestellt wird.
Denkbar ist auch, dass manche von ihnen noch hoffen, das Regime würde sich von selbst reformieren. Sie reden sich ein, dass es besser sei, Teil des Staatsapparates zu bleiben, denn „wenn wir gehen, nehmen völlige Obskuranten unsere Plätze ein, wir lenken das Land wenigstens in die richtige Richtung“. Mit solchen Illusionen beruhigen sie ihr Gewissen. Sie glauben, Alexander Lukaschenko wäre allen Ernstes zu demokratischen Reformen und Fortschritt bereit, und wollen ihn darin unterstützen. Solche Menschen gibt es noch im Innenministerium und in den Finanzbehörden. Ich erwarte von dieser Regierung hingegen keinerlei demokratische Reformen. Wenn es zu einer Demokratisierung kommt, dann aus Versehen. Die Regierung wird mit Veränderungen experimentieren und die Kontrolle über diese Vorgänge verlieren. So etwas ist in vergleichbaren Fällen auch in anderen Ländern passiert.
Die andere Möglichkeit ist, dass die Demokratisierung durch einen Zusammenbruch kommt: Wenn es zu einer neuen Welle der Gewalt oder einem Wirtschaftskollaps kommt – dann fegt der Sturm alles weg. Diese zwei Varianten halte ich für wahrscheinlich. Aber eine gesteuerte Modernisierung, die sich diese Menschen womöglich erhoffen, wird es ganz sicher nicht geben.
Die Oppositionsführer haben einen offenen Brief im Namen der Staatsbeamten aufgesetzt, den sie veröffentlichen wollen, wenn über 5000 Unterschriften zusammenkommen. Wie stehen die Chancen, dass die Opposition die Unterstützung so vieler Beamter bekommt?
Es ist schwer, das Ausmaß des Dissidententums innerhalb des Systems zu beurteilen. Viele Menschen, bei denen der August wirklich dauerhafte Spuren hinterlassen hat, hatten im letzten halben Jahr genug Gelegenheit zu gehen. Manche taten es leise, ohne großes öffentliches Aufsehen. Wie der stellvertretende Finanzminister Andrej Belkowez, der seinen Posten verließ, ohne dass es medial Beachtung fand. Er stellte an dem Tag, als Roman Bondarenko starb, in den sozialen Netzwerken eine Kerze als Profilbild ein; da war allen klar, dass er seinen Posten nicht einfach so aufgegeben hatte. Ich denke, es gab einige solche Menschen auf verschiedenen Regierungsebenen, die ohne viel Aufsehen ihre Stellung verlassen haben.
Das Volk ist gewachsen, während sich die Regierung zurückentwickelt hat
Den anderen ist es irgendwie gelungen, sich selbst davon zu überzeugen, dass sie in diesem System weiterarbeiten sollten: Das geht uns nichts an; wir sind nicht dafür verantwortlich, was die OMON-Kräfte machen; die andere Seite trägt eine Mitschuld und so weiter. Da greifen dann psychologische Schutzmechanismen. Und ein Mensch, bei dem die einsetzen, hat keine Zweifel mehr: Wozu soll er denn so einen Brief unterschreiben? Er hat doch seinen Seelenfrieden schon erreicht oder ist auf dem besten Weg dorthin. Deswegen bin ich mir nicht sicher, ob sich im Beamtenapparat noch 5000 Menschen finden, die ihr Gewissen plagt, die aber noch im Amt sind. Wir werden es an den Unterschriften sehen.
Es heißt oft, ein Volk hätte den Herrscher, den es verdient – das ließe sich doch auch auf die Beamten übertragen. Was denken sie darüber?
Jedes Volk, auch das belarussische, verdient es, seine Regierung und seine Amtsträger frei zu wählen. Würde das Volk auch bei freien Wahlen weiterhin Populisten und inkompetente Leute wählen, könnte man vermutlich sagen, es habe sich dafür entschieden und dementsprechend seine Wahl verdient. Aber es ist nun mal so, dass das belarussische Volk schon lange keine Wahl mehr hatte.
In den 1990er Jahren entsprach das Wertesystem der Regierung den durchschnittlichen Forderungen der Belarussen, deswegen konnte sich Lukaschenko mit seinen Werten bei fairen Wahlen durchsetzen. Aber das belarussische Volk ist gewachsen, es hat ein Generationswechsel und eine Werterevolution im Bewusstsein der Belarussen stattgefunden, wie einige Umfragen belegen. Die Ansichten der Belarussen über Marktwirtschaft, Toleranz und Meinungsfreiheit haben sich geändert. Das Volk ist gewachsen, während sich die Regierung zurückentwickelt hat.
Wann haben wir aufgehört, diese Regierung zu verdienen? Wann sind wir über sie hinausgewachsen? Diese Fragen zu beantworten ist unmöglich. Genau wie die Frage, wann ein Junge zu einem Mann wird. Das kann niemand sagen. Solche Prozesse haben nicht den einen Wendepunkt. Man kann ja auch nicht sagen, am Morgen vor dem Fall der Berliner Mauer hatten die Ostdeutschen die kommunistische Regierung noch verdient und am Tag darauf sind sie ein Volk gewesen, dass eine bessere Regierung verdient. So funktioniert das nicht.
Verdient Maria Kolesnikowa, die ihren Pass an der Grenze zerrissen hat, etwa unsere Regierung? Oder Dimitri Daschkewitsch, der für seine Überzeugungen insgesamt mehr Zeit im Gefängnis gesessen hat als die meisten unserer Abgeordneten an der Universität? Verdienen all die anderen politischen Gefangenen und Menschen, die bei friedlichen Protesten festgenommen wurden, etwa diesen Umgang? Ich denke, unser Volk verdient viel bessere Verwaltungsbeamte als die, die es gerade hat.
Am 9. Mai wird in Belarus wie in anderen ehemaligen Sowjetrepubliken der Tag des Sieges begangen. Auch in Minsk wird mit einer Parade an das Ende des Großen Vaterländischen Krieges, beziehungsweise des Zweiten Weltkriegs in Europa, und an den Sieg über den Faschismus erinnert. Zu dem Feier- und Gedenktag gehört auch, dass Veteranen am 9. Mai kostenlos Telefonate über den staatlichen Dienstleister Beltelekom führen können. Wie aber hat sich die Erinnerungskultur zum Tag des Sieges in den Jahren seit der Unabhängigkeit der Republik Belarus gewandelt? Wird die junge Generation von den sowjetischen Mythen überhaupt noch erreicht? Ein Bystro von Historiker Alexey Bratochkin in acht Fragen und Antworten.
1. Wie wird der Tag des Sieges aktuell in Belarus begangen und wie hat sich das seit der Unabhängigkeit im Jahr 1991 verändert?
In den Jahren der Unabhängigkeit hat sich der politische Kontext der Erinnerung verändert: Das Erinnern in den Familien, das individuelle Gedenken entfernt sich immer weiter von der offiziellen Version, es ist nuancierter geworden und längst nicht mehr schwarz-weiß, auch wenn die Idee vom Sieg über den Faschismus weitergetragen wird.
Das offizielle Erinnern ist endgültig zu einem Stereotyp geworden, das nicht auf Veränderung ausgerichtet ist. Zum 75. Jahrestag des Kriegsendes im Jahr 2020 lief in allen belarussischen Staatsmedien das Projekt Belarus erinnert sich, dessen Analyse zu verstehen hilft, was diese Erinnerung ausmacht: Betont werden die heroische, idealisierte Selbstaufopferung und die Heldentaten der Soldaten und Partisanen auf der einen, und die Tragödie der zivilen Bevölkerung auf der anderen Seite. Alle anderen Themen werden in keiner Weise kritisch oder realistisch beleuchtet (beispielsweise die Themen Kollaboration, Alltag unter der Besatzung, Holocaust und jüdischer Widerstand oder Kriegsgewalt auf beiden Seiten).
Die Erinnerung an den Krieg steht grundsätzlich nicht mehr im Zentrum des offiziellen Projekts, eine kollektiven Identität zu erschaffen, wie es in den 1990er Jahren und früher der Fall war. Sie bildet lediglich den Hintergrund für die Versuche, den Autoritarismus und seine Praktiken zu legitimieren. Denken wir beispielsweise an die Militärparade in Minsk zum 9. Mai 2020 – auf dem Höhepunkt der Corona-Epidemie, die von der Staatsmacht ja mehr oder weniger ignoriert wurde.
2. Sie nutzen den Begriff Zweiter Weltkrieg. Ist Großer Vaterländischer Krieg nicht mehr gebräuchlich in Belarus?
In Belarus wird zwar immer noch vorwiegend der Begriff „Großer Vaterländischer Krieg“ verwendet, aber er gerät zunehmend in die Kritik und ist Gegenstand von Diskussionen. Der Feiertag wird ja auch mittlerweile zum großen Teil von Menschen begangen, die lange nach Kriegsende geboren sind. Man kann es so sagen: Die Verwendung des Begriffs „Zweiter Weltkrieg“ ist typisch für diejenigen, die sich von der sowjetischen Erinnerungskultur distanzieren wollen oder, wie die jüngere Generation, die Geschichte des Krieges von vornherein außerhalb des sowjetischen Kontextes wahrnehmen, als eine Geschichte, an der viele Länder beteiligt waren.
3. Wie nehmen jüngere Generationen, die die Sowjetunion nicht mehr bewusst erlebt haben, diesen Gedenktag überhaupt wahr?
Die sowjetische Interpretation der Geschichte des Krieges hat sich in den Jahren der Unabhängigkeit gewandelt. Mittlerweile haben wir es mit einem Hybrid aus dem sowjetischen Narrativ und den Versuchen der Staatsideologen zu tun, dieses Narrativ zu nationalisieren. Es wird nicht mehr die sowjetische Identität der Kämpfenden betont, sondern die belarussische. Gleichzeitig werden alle unangenehmen Fragen ausgeblendet.
Auf junge Menschen wirkt das alles wie ein überholtes Ritual. Sie wollen eine „Belebung“ des Gedenkens, persönliche Geschichten, Offenheit, ein Verständnis für die Schattenseiten des Krieges. Die Erinnerung muss in für sie verständlichen Medien präsentiert werden – Youtube, Instagram, digitalen Projekten und so weiter, mit der Möglichkeit zur Interaktion. Die Jugend will die Geschichte des Krieges „von unten“ sehen, als Erzählung einer persönlichen Erfahrung, nicht als Ansammlung stereotyper Propaganda-Parolen.
4. Inwiefern widerspiegeln kritische Haltungen gegenüber den aktuellen Machthabern andere Auffassungen von diesem Feiertag?
Natürlich wird in Belarus über verschiedene Interpretationen des Krieges gesprochen. Manche sehen in der Verehrung des Sieges eine spezifische Fortsetzung: die Rückkehr zum Stalinismus und seiner Vorkriegsatmosphäre. Manchen liegt die Idee von den zwei totalitären Systemen näher – dem nationalsozialistischen und dem sowjetischen und vor diesem Hintergrund dann die nationale Tragödie.
Mainstream in unserer Gesellschaft ist aber, dem Krieg die entscheidende Rolle für die Geschichte des 20. Jahrhunderts zuzuschreiben, für die Geschichte von Belarus und die kollektive Identität. Gerade deshalb hat die Gesellschaft den Machthabern lange alle Manipulationen verziehen – denn sie waren populistisch und verstärkten die Vorstellung vom Alleinanspruch auf Kriegserinnerung. Heute haben Manipulationen an der kollektiven Erinnerung einen gegenteiligen Effekt – man assoziiert das Regime mit den Manipulationen und nicht mit dem Bedürfnis nach Identität.
5. Gerade der Mythos der „Partisanenrepublik“ war lange mit der Identität von Belarus verbunden. Welche Bedeutung hat dieser Mythos heute noch?
Der Mythos ist tatsächlich erhalten, obwohl man schwer sagen kann, was wir mit dem Wort Partisanen überhaupt meinen. Zum Beispiel gab es während der Proteste sogenannte „Cyberpartisanen“, die die Internetseiten der staatlichen Behörden zu hacken versuchten. Oder wenn wir über die „Partisanen“-Taktik der Proteste sprechen.
Ich denke, wichtig sind hier weniger die Bezüge zum Zweiten Weltkrieg, obwohl es sie gibt (und die Partisanen-Bewegung ist in diesem Zusammenhang eines der komplexesten Themen), sondern vielmehr der Gedanke, dass „wir das schaffen“, die Idee, ein Subjekt zu sein, aktiv zu sein, zu handeln.
Ich denke außerdem, dass man schon lange aufgehört hat, das Wort „Republik“ im sowjetischen Sinne zu gebrauchen – als Terminus, der ein Teilgebiet der UdSSR beschreibt und nichts mit der politischen Bedeutung von res publica zu tun hat: einer gemeinsamen Sache, mit Solidarität, den Werten politischer Teilhabe.
6. Zeigt sich in den aktuellen Protesten eine politische Haltung der Bevölkerung, die möglicherweise der offiziellen Erinnerung zum Tag des Sieges kritisch gegenübersteht?
Die Proteste begannen im Zusammenhang mit politischem Betrug, sie hatten nichts mit der Interpretation der Geschichte des Zweiten Weltkriegs zu tun. Die erste Massendemo fand nach dem 9. August 2020 statt, rund um das Museum des Großen Vaterländischen Krieges in Minsk. Erst später ging das Regime dazu über, die Demonstrierenden fast schon zu Faschisten zu erklären, die die heiligen Werte mit Füßen treten würden – und bei allen späteren Protesten wurde das Museum durch das Militär abgeriegelt. Es war das Regime, das die Erinnerung an den Krieg instrumentalisierte. So versuchen die Ideologen der Staatsmacht, die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg für den Kampf gegen die politische Opposition zu instrumentalisieren (wie schon Mitte der 1990er Jahre), indem sie die Proteste von 2020 und ihre Symbolik mit dem Kollaborationismus zur Zeit des Zweiten Weltkriegs in Verbindung bringen.
7. Der Holocaust, der Belarus nahezu vollständig seiner jüdischen Bevölkerung beraubte, gehörte eigentlich nie zur offiziellen Erinnerungskultur zum Tag des Sieges. Gibt es dahingehend Wandlungsprozesse?
Ich sehe heute keine einheitliche Erinnerungskultur, die für alle gelten würde. In den staatlichen Medien spielt das Thema Holocaust während der Feierlichkeiten zum 9. Mai eine untergeordnete Rolle. Es gibt zwar noch andere Gedenktage, die dem Holocaust gewidmet sind, aber selbst dann wird nicht viel darüber geschrieben. Ich denke, dieses Jahr werden sich die Staatsmedien darauf konzentrieren, den Kollaborationismus der Kriegszeit mit den Protesten in Verbindung zu bringen. Aber viele haben kein Interesse an den staatlichen Medien, sie informieren sich stattdessen zum Beispiel in den sozialen Netzwerken. Dort sieht man viele Fotos, Familiengeschichten, darunter auch Erinnerungen an den Holocaust. Aber das ist die Mikroebene des Gedenkens.
8. Gibt es Debatten darüber, wie ein Tag des Sieges in Zukunft begangen werden könnte?
Öffentlich wird das Thema in Belarus kaum diskutiert. Ich erinnere mich zum Beispiel aber an die Präsentation der Publikation Kriegsgedenken als Event: Der 9. Mai 2015 im postsozialistischen Europa, die sich zum 70. Jahrestag des Kriegsendes mit dieser Frage beschäftigte. Darin wurden für alle betroffenen Länder verschiedene Szenarien gezeichnet: Dass der Feiertag zu „einem von vielen“ werden oder im Zuge der zunehmenden politischen Instrumentalisierung des Kriegsgedenkens in Belarus und Russland mehr und mehr profanisiert werden wird. Ich denke, die Instrumentalisierung des Gedenkens könnte auch zu einer Reaktualisierung der Erinnerung führen und den gegenteiligen Effekt haben, dass es da noch Diskussionen geben wird. Der Einsatz von Militärtechnik beispielsweise während der Niederschlagung der Proteste in Minsk hat eine große Debatte darüber ausgelöst, inwiefern wir die Erfahrung der Gewalt in unserem Land historisch reflektiert haben, unter anderem auch die zur Zeit des Zweiten Weltkriegs.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.
Text: Alexey Bratochkin Übersetzerin: Jennie Seitz Veröffentlicht am 06.05.2021
Eine der wichtigsten Entscheidungen seiner gesamten Amtszeit – so nannte Alexander Lukaschenko am 17. April eine Neuerung, die er eine Woche später verkündet hat: Sollte dem Präsidenten etwas zustoßen, soll seine Macht einem neuen Dekret zufolge an den belarussischen Sicherheitsrat übertragen werden.
Ebenfalls am 17. April hatten der belarussische KGB und der russische FSB verkündet, ein angeblich geplantes Attentat auf Lukaschenko vereitelt zu haben. Dem Politologen Alexander Feduta und zwei weiteren Männern wird vorgeworfen, einen Umsturz in Belarus geplant zu haben. Lukaschenko vermutet dabei eine Beteiligung amerikanischer Geheimdienste. Auch Putin erwähnte den Fall in seiner Rede zur Lage der Nation. Im belarussischen Staatsfernsehen sprach ein ehemaliger KGB-Mitarbeiter sogar von einer geplanten Invasion aus Litauen, mit Geländefahrzeugen und Maschinengewehren.
Fürchtet Lukaschenko ernsthaft um sein Leben? Während der genaue Wortlaut des Dekrets noch nicht bekannt ist, wird derzeit viel spekuliert, was es damit auf sich hat: Eine Art Lebensversicherung für Lukaschenko, wie Iryna Chalip in der Novaya Gazetameint? Oder handelt es sich womöglich um Vorbereitungen auf einen Machttransfer nach kasachischem Szenario, wie Artyom Shraibman auf Telegram vermutet?
Für den belarussischen Politologen Waleri Karbalewitsch ist das Dekret vor allem eins: verfassungswidrig und damit hochgefährlich. Ein Kommentar auf SN Plus.
Was unmittelbar ins Auge springt, ist der absolut verfassungswidrige Charakter dieser Entscheidung. Schließlich schreibt die geltende Verfassung genau vor: Wenn der Präsident seine Verpflichtungen nicht erfüllen kann, werden seine Vollmachten an den Premierminister übergeben. Das ist alles klar und deutlich.
Ein präsidiales Dekret kann nicht die Verfassung ersetzen, das ist nicht rechtmäßig. Außerdem möchte ich daran erinnern, dass Abschnitte der Verfassung, die die Tätigkeit der Regierungsorgane regeln, nur mit einem Volksentscheid beschlossen werden können und nicht anders.
Selbst in Monarchien kann der Monarch nicht einfach nach eigenem Gutdünken entscheiden, wer nach seinem Abgang auf dem Thron sitzen soll. Es gibt ein Gesetz zur Regelung der Thronfolge.
Demnach ist das geplante Dekret mit einem solchen Inhalt ein Sabotageakt an der Verfassung. Erstmals seit 1996 beabsichtigt Lukaschenko derart klar und offensichtlich die Verfassung zu verletzen. Da im Sicherheitsrat die Silowiki überwiegen, schlägt Lukaschenko quasi vor, den Militärs die Macht zu übertragen. Damit würde eine Struktur zum höchsten Regierungsorgan, die von niemandem gewählt und von der Verfassung nicht vorgesehen ist.
Sabotageakt an der Verfassung
Unter diesen außergewöhnlichen Umständen wird besonders deutlich, dass im Land ein Regime der persönlichen Macht herrscht, ein personalisiertes Regime. Gewichtige Entscheidungen über den Staatsapparat trifft ein einzelner Mensch, ausgehend von seinen persönlichen Interessen. Alle weiteren staatlichen Organe sind reine Dekoration. Niemand kann Lukaschenko sagen, er breche die Verfassung. Weder das Verfassungsgericht, noch die Staatsanwaltschaft, noch die zwei Kammern der Nationalversammlung würden wohl auf irgendeine Weise auf den offensichtlich verfassungswidrigen Sabotageakt reagieren.
Es stellt sich natürlich die Frage: Warum so plötzlich? Warum wollte Lukaschenko nicht auf die neue Verfassung warten (das Referendum ist für Anfang 2022 angesetzt), um diese Neuerung darin festzuschreiben, warum ändert er das Regierungssystem stattdessen mit solchen Sondermethoden?
Es stellt sich natürlich die Frage: Warum so plötzlich?
Allem Anschein nach glaubt Lukaschenko wirklich an diesen Verschwörungsmythos und leidet an einer traumatischen Störung. Es sagt etwas über seinen Geisteszustand aus, dass ihn sogar die Karikatur eines Umsturzes zu hektischem Handeln bewegt, zu verzweifeltem Herumzerren an diversen Regierungshebeln, um die Situation unter Kontrolle zu halten. Einen Menschen, der sich in einem solchen Zustand befindet, kann man leicht manipulieren – was der KGB offenbar auch tut.
All das passiert zu einem Zeitpunkt, wo sich scheinbar alles beruhigt hatte: Die Hauptgefahr für das Regime ist gebannt, der Protest auf ein Minimum heruntergefahren, die Regierung hat die Situation im Lande unter Kontrolle und nichts zu fürchten. Lukaschenko sieht das jedoch anders, wie sich zeigt. Er lebt jeden Tag in Erwartung eines Anschlags auf seine Machtstellung. Nur in so einem Zustand kann man sich solche Dekrete ausdenken. Mit dieser Entscheidung zeigt Lukaschenko, dass die politische Krise im Land noch nicht überwunden ist, auch wenn die Staatsmedien seit Monaten den Sieg verkünden. Aber Sieger verhalten sich anders.
Verzweifeltes Herumzerren an diversen Regierungshebeln
Sollte Lukaschenko dem aktuellen Premierminister (Roman Golowtschenko) misstrauen, dann müsste er, so könnte man meinen, einen anderen ernennen, dem er vertraut. Aber nein. Lukaschenko setzt mehr Hoffnung auf ein Kollektivorgan (den Sicherheitsrat) als auf eine konkrete Person. Schon früher hat er mehrfach behauptet, dass man seinem Nachfolger nicht so viel Macht übertragen darf, dass man die Vollmachten des Präsidenten unbedingt auf mehrere Zweige der Staatsgewalt aufteilen muss. Hier gilt die gleiche Logik.
Doch hier ergibt sich noch ein Problem. Mit dem geplanten Dekret demonstriert Lukaschenko, dass die Verfassung an Geltungskraft verliert. Und wenn das so ist, dann besteht – „wenn es morgen keinen Lukaschenko mehr gibt“ – eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die politischen Prozesse unkontrolliert und außerhalb des rechtlichen Rahmens ablaufen werden. Warum geht Lukaschenko davon aus, dass im Sicherheitsrat Entscheidungen per Abstimmung und nicht durch Gewalt getroffen werden? Wenn es kein Gesetz gibt, ist alles erlaubt. Mit dem Verfassungsbruch öffnet Lukaschenko die Büchse der Pandora, und entlässt einen gefährlichen Geist aus der Flasche.
Der Alltag in Belarus ist weiterhin von Festnahmen und Gerichtsurteilen geprägt. Mittlerweile gibt es 359 politische Gefangene, es wurden infolge der Proteste seit dem 9. August 2020 über 3000 Strafprozesse in die Wege geleitet. Zudem sind die Machthaber um Alexander Lukaschenko bedacht, durch schärfere Gesetze und Verordnungen jegliche Protest- und Kritikmöglichkeit zu bekämpfen und die Berichterstattung über Protestaktionen und Repressionen durch den Staat zu erschweren. Das Parlament hat kürzlich eine Erweiterung und Verschärfung der Extremismus-Gesetze beschlossen. Auch der Sender Euronews wurde in Belarus blockiert.
Was passiert mit dem Alltag, mit dem Leben, wenn man in einem politischen System lebt, dass die eigene Entfaltungsmöglichkeit immer mehr einschränkt? Der belarussische Schriftsteller Viktor Martinowitsch lotet diese Fragen in einem Beitrag für die Internetseite des Kulturprojektes Budzma aus, veröffentlicht wurde der Text schließlich auch auf der Seite des belarussischen Mediums Nasha Niva.
Zeiten wie diese habe ich noch nicht erlebt.
Dabei dachte ich, ich hätte schon alles mitgemacht und wäre von Anfang an dabei gewesen.
Bislang hatten die unsicheren Kantonisten durchgehalten, weil es immer noch irgendwo eine Nische gab.
Wenn sie die Leute wegen der Kundgebungen in Kurapaty einbuchteten, konntest du noch zum Michalok-Konzert im Gorki-Park gehen. Wenn sie dann auch noch Michalok und Kulinkowitsch verboten (das hatten wir schon mal), gingst du eben in eine Kunstausstellung, die dich daran erinnerte, dass da noch jede Menge Andersdenkende waren wie du.
Zeiten wie diese habe ich noch nicht erlebt
Ich weiß noch, wie erstaunt ich war, als ich bei einer Lesung in Deutschland vorsichtig gefragt wurde, ob wir, die Bewohner aus dem Land des Glücks, eigentlich einfach so für Reisen durch den Eisernen Vorhang kämen. Damals fand ich, die Deutschen würden übertreiben.
Es war ja nicht alles schlecht.
Ich weiß noch, wie ich erklärte, ein Buch könne man ja im 21. Jahrhundert nicht mehr komplett verbieten, ein starker Text bezwinge jedes Verbot.
Und jetzt stehen wir hier.
In einer Welt von Texten, die als extremistisch eingestuft werden.
In einer Welt von Kunstausstellungen mit unpolitischen Themen (Medizin und Ärzte, come on!), die geschlossen werden, nicht von der Kommission zur Bekämpfung von Pornografie, sonst wäre es ja noch Kunst, sondern vom Ministerium für Katastrophenschutz.
Noch vor einem Jahr betete jeder Theaterregisseur, jede Organisatorin einer Kulturveranstaltung und jeder Schriftsteller vor einer Signierstunde: „Hoffentlich kommt jemand, hoffentlich kommt jemand.“
Denn Zuschauer, Publikum, Leserinnen waren wählerisch angesichts des reichhaltigen kulturellen Angebots und kamen nicht zu jedem.
Auch jetzt wird gebetet.
Nur anders.
Nämlich: „Hoffentlich kommt keiner.“
Gemeint sind damit natürlich nicht Zuschauer, Publikum und Leserinnen.
Und vor allem lässt sich unmöglich vorhersagen, wo, an welchem Punkt, das Signal gegeben wird.
Da denkst du, du bist Künstler. Oder Eigentümer einer Kultureinrichtung. Wo ist da der Grund zu Verhaftung? Der Anlass für ein Strafverfahren?
Es ist wie in dem bekannten Spruch: Als sie die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen, weil ich kein Kommunist war. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen, weil ich kein Gewerkschafter war. Als sie mich geholt haben, war niemand mehr da, der für mich hätte sprechen können.
Zum ersten Mal gibt es keine Nischen mehr.
Was immer du tust – es gibt keine Sicherheitsgarantie. Wenn du in Krewa Masleniza gefeiert hast, hast du immer noch die Chance, dass sie später nicht mal ein Strafverfahren gegen dich einleiten.
Nur will niemand mehr riskieren, das auszuprobieren.
Was immer du tust – es gibt keine Sicherheitsgarantie
Die aktivsten Leute sind gegangen. Das sind so viele, dass ich kürzlich gemerkt habe: Inzwischen sind wirklich sämtliche belarussischen Bands, die ich jahrelang im Auto gehört habe (Nizkiz gab es damals noch nicht, sorry), im Ausland. Die letzten Verbliebenen haben versucht sich zu bewegen, als hätte sich die Lage nicht geändert. Doch sie sind schnell an ihre Grenzen gestoßen.
Niemand ist mehr unschuldig.
Es ist ganz offensichtlich: Sie wollen ganze Tätigkeitsbereiche „mit einem glühenden Eisen ausbrennen“. Da kannst du tschechische Autos oder Nivea-Creme verkaufen, das allgemeine Verbotsregime wird auch dich erreichen. Es ist nur eine Frage der Zeit.
Nach der nächsten lauten Unterredung. Die selbst jene erstarren lässt, die das Ganze ausführen sollen.
Das allgemeine Verbotsregime wird auch dich erreichen. Es ist nur eine Frage der Zeit
Musiker sind schuld, weil sie die falschen Lieder singen.
Sportlerinnen sind schuld, weil sie die falschen Aufrufe gestartet haben.
Werbeleute sind schuld, weil sie den falschen Leuten Platz einräumen.
Händler sind schuld, weil sie angeblich nicht mit belarussischen Waren handeln (stimmt das denn)?
Sogar Theaterleute sind schuld! Theaterleute, hört ihr?! Überall, auf der ganzen Welt sind Theaterleute seit Shakespeares Zeiten noch nie für etwas verantwortlich gewesen. Höchstens dafür, dass niemand über ihre Scherze lachte. Und jetzt haben sie sich der Illoyalität schuldig gemacht.
Und müssen ausgemerzt werden.
Du, eine freie, selbstbewusste Person, die nichts als einen guten Lime-Coffee möchte, bist nur ein einziges falsches Wort von einem feuchten, vergitterten Keller entfernt.
Eine einzige Tat, die vor einem Jahr noch niemand wahrgenommen hätte.
Das Leben hier wird zum Tanz über dem Abgrund.
Und erfordert viel Mut.
Jeder neue Morgen ist eine Herausforderung: Bist du noch Mensch? Bist du noch frei?
Alles ist verboten, selbst Reportagen über die Aktivitäten auf den Straßen.
Es ist verboten, am falschen Tag vor die Tür zu gehen.
Du hast Gleichgesinnte angehupt? Du hast gute Chancen, den Führerschein zu verlieren.
Und ich denke Folgendes.
Die Nischen.
Die von früher.
Die gab es nicht aus Gutmütigkeit.
Denn das Sowjetsystem kannte keine Gutmütigkeit. Und die jetzt, die haben einfach alles aus den früheren, totalitäreren, aber auch wesentlich durchdachteren Zeiten übernommen.
Und die Typen von früher mit ihren Hornbrillen und aufgedunsenen Gesichtern waren komischerweise davon ausgegangen, dass der Pöbel (also Menschen wie du und ich) doch ein Ventil braucht, um seinen ästhetischen Dampf ablassen zu können. Sie haben keinen Krieg geführt, sie wollten einfach ewig regieren. Und sie taten alles dafür, diese Herrschaft zu ermöglichen.
Deshalb gab es in der UdSSR auch die Schestidesjatniki. Wosnessenski, Wyssozki, das Taganka-Theater, Mark Sacharow, Andrej Tarkowski, Andrej Sacharow, Ales Adamowitsch, Uladsimir Karatkewitsch.
Was jetzt geschieht, ist der Versuch, das Atmen zu verbieten.
An ein derartiges Experiment haben sich nicht einmal die großen, müden Vorgänger herangewagt, die das Fundament jener Angst gelegt haben, die hier nun wieder alles beherrschen soll.
Seit dem 9. August 2020 protestieren die Belarussen gegen Machthaber Alexander Lukaschenko. Sie fordern die Durchsetzung ihrer Grundrechte und Neuwahlen. Was war der Auslöser für die historischen Proteste? Warum hat die autokratische Staatsführung derart Vertrauen in der Gesellschaft eingebüßt? Wie gespalten ist das Land? Welche Rolle spielen Russland und die EU für die Haltung der Belarussen?
1. Man sagt, dass der Wahlbetrug bei der Präsidentschaftswahl ein wesentlicher Antreiber für die Proteste war. Bestärkt die Umfrage diesen Eindruck?
Der eklatante Wahlbetrug war der unmittelbar entscheidendste Faktor für die Massenproteste. Aber bereits im Vorfeld der Wahl fand eine breite gesellschaftliche Mobilisierung statt, die sich quer durch die Altersgruppen und Regionen des Landes zog. Diese Unterstützung – beispielsweise in Form von solidarischen „Menschenketten“ – galt insbesondere den unabhängigen potentiellen Präsidentschaftskandidaten: Viktor Babariko und Waleri Zepkalo. Beide galten als aussichtsreiche Kandidaten, wurden aber von der Wahlkommission Mitte Juli nicht zur Wahl zugelassen. Nach dieser massiv kritisierten Entscheidung wandelten sich die kleineren Märsche und Versammlungen zu Massenveranstaltungen für die einzige unabhängige Kandidatin, Swetlana Tichanowskaja, und ihre beiden Unterstützerinnen: Veronika Zepkalo und Maria Kolesnikowa. Die Umfrage verdeutlicht zudem die Wichtigkeit der exzessiven Polizeigewalt für die Teilnahme an den Protesten. Menschen gingen verstärkt auf die Straße, weil sie von der Gewalt schockiert waren. In unserer Umfrage geben annähernd 80 Prozent der Protestierenden dies als Grund an.
2. Wie geschlossen stehen die Belarussen hinter den Protesten, und wie hoch ist der Anteil derjenigen, die nach wie vor die Machthaber unterstützen?
Die Einschätzung der Proteste ist vielfältig. Die Umfrage verdeutlicht jedoch, dass es die Protestbewegung nicht geschafft hat, die breite gesellschaftliche Frustration über das Regime hinter sich zu vereinen. 29 Prozent der von uns befragten Belarussen geben zwar an, dass sie vollständig mit den Protesten übereinstimmen. 20 Prozent sagen aber auch, dass sie dies überhaupt nicht tun. Weitere 19 Prozent sind unschlüssig und geben an, dass sie nicht wissen, wie sie auf diese Frage antworten sollen. Einigkeit gibt es hingegen darüber, dass die Proteste weiterhin gewaltfrei bleiben sollen. Das Vertrauen in die Institutionen, nicht nur in den Präsidenten, war Ende 2020 ausgesprochen gering. Etwas mehr als 40 Prozent der von uns befragten Menschen haben gar kein Vertrauen, weitere 15 Prozent eher kein Vertrauen in den Präsidenten und 18 Prozent beantworten diese Frage nicht. Diese Zahlen sehen für andere staatliche Institutionen recht ähnlich aus. Man kann davon ausgehen, dass knapp 30 Prozent der Bevölkerung den Machthaber weiter unterstützen.
3. Lukaschenko genoss bei einer Mehrheit der Bevölkerung über viele Jahre großes Vertrauen. Warum war das so?
Der Rückhalt für den Präsidenten lässt sich aufgrund der unklaren Datenlage eigentlich nicht verlässlich ermitteln. Die ritualisierten Wahlsiege mit 80 Prozent bilden die öffentliche Meinung nicht ab. Aber auch die tatsächliche Beliebtheit der Oppositionskandidaten der vergangenen Jahrzehnte ist unklar. Größere Proteste folgten bereits auf frühere Präsidentschaftswahlen (2001, 2006 und insbesondere 2010) und sind ein Indiz dafür, dass die Unterstützung für den Staatsapparat seit einiger Zeit auf tönernen Füßen stand. Durch eine Kombination aus Zuckerbrot und Peitsche versuchte man, den Rückhalt für den Präsidenten sicherzustellen. Und das Regime hat eine gewisse Weitsicht im Umgang mit potentiellen Herausforderungen unter Beweis gestellt – früher als in Russland schikanierte Belarus unabhängige NGOs oder versuchte, jugendlichem Missmut durch eine loyale Jugendorganisation den Wind aus den Segeln zu nehmen. Darüber hinaus gab es keine glaubhafte und öffentlich wahrnehmbare politische Opposition – es fehlt an unabhängigen Parteien und bis 2020 auch an charismatischen Gegenkandidaten, die die weitgefächerte Frustration mit dem Präsidenten hinter sich vereinen konnten. Stattdessen konnte Lukaschenko vermeintliche Erfolge im wirtschaftlichen und sozialen Bereich auf seinem Konto verbuchen und mit einer Rhetorik der Stabilität und Warnungen vor Chaos Teile des Landes hinter sich vereinen.
4. Was hat dazu geführt, dass die Belarussen ihr Vertrauen in die Staatsführung verloren und sich letztlich von den staatlichen Institutionen entfremdet haben?
Ein ganz wichtiger Katalysator, ein externer Schock für das System, war die gravierende Auswirkung der Covid-19-Pandemie und der gesellschaftliche Missmut, wie mit dieser umgegangen wurde. Eine von uns im Juni 2020 durchgeführte Umfrage hat ergeben, dass knapp die Hälfte der jungen Menschen die offizielle Politik der Regierung, keinerlei Einschränkungen als Antwort auf die Pandemie einzuführen, ablehnten. Menschen verloren also bereits vor der Wahl massiv an Vertrauen in die Staatsmacht. Der Umgang mit Covid-19 verdeutlichte einem breiten Teil der Bevölkerung, dass sich der belarussische Gesellschaftsvertrag auflöste. Darüber hinaus ist die Situation 2020 besonders, da die Menschen in den Selbstorganisationsprojekten im Zuge der Pandemie bereits die gemeinsame Erfahrung der Mobilisierung machten und so vor der Wahl ein Gefühl dafür hatten, wie weit verbreitet der Missmut über den Amtsinhaber war. Bei früheren Wahlen dagegen konnten die Menschen durch die annähernd perfekte Kontrolle der Medien kaum einschätzen, wie die tatsächliche Stimmungslage war. Auch mit der rapiden Verbreitung der sozialen Medien hatte man 2020 jedoch ein anderes Gefühl für die gesellschaftliche Stimmung. Das erste vom Staat verkündete Ergebnis am 9. August 2020 stand dann in einem massiven Missverhältnis zu den eigenen Erwartungen. In unserer Umfrage geben 65 Prozent an, dass die Wahl ihrer Meinung nach gefälscht war.
5. Lässt sich etwas über eine Veränderung von gesellschaftlichen Werten im Zuge der Proteste sagen?
Im Augenblick lässt sich beispielsweise feststellen, dass es ein neues Selbstbewusstsein dafür gibt, dass man eine belarussische Nation ist: Es hat sich eine Art gesellschaftliches „wir“ entwickelt. Durch die Proteste wurde dieses Gefühl sicherlich bestärkt; was sich besonders in dem symbolischen Kampf um die weiß-rot-weiße Fahne zeigt. Protestierende begreifen die Farben als Ausdruck belarussischer Identität, wohingegen der Amtsinhaber sie aus der Öffentlichkeit verbannen möchte und als faschistisches Symbol der Kollaboration diffamiert. Darüber hinaus sind Menschen, die an Protesten teilgenommen haben, eher pro-demokratisch eingestellt und haben eine Präferenz für marktwirtschaftliche Ideen, also wie beispielsweise Wettbewerb oder wirtschaftliche Chancengleichheit. Von einem Wandel durch Proteste zu sprechen wäre jedoch verfrüht. Zudem bleibt es fraglich, wohin sich das gegenwärtige Momentum entwickelt. Die traumatisierende Erfahrung von Gewalt kann auch dazu führen, dass sich 2020 als Warnsignal in den Köpfen der Menschen verankert, was dann eher ein Hindernis für eine zukünftige Mobilisierung darstellt.
6. Es heißt ja immer, der Protest sei nicht geopolitisch ausgerichtet. Welche Rolle aber spielen die EU und Russland in der Haltung der Belarussen?
Insbesondere junge Menschen wenden sich von Russland ab und Europa zu. Unsere Umfragen zeigen, dass in der Altersgruppe der 18–34-Jährigen mehr als die Hälfte der Meinung ist, dass engere Beziehungen mit der EU erstrebenswert sind, selbst wenn dadurch Beziehungen zu Russland leiden würden. In der allgemeinen Bevölkerung sind knapp 40 Prozent dieser Meinung. Protestteilnehmer sind besonders pro-europäisch eingestellt. Ein knappes Viertel der von uns Befragten hofft, dass die EU in Zukunft die Visavorschriften erleichtert. Gleichzeitig ist klar, dass die engen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Verbindungen zwischen Belarus und Russland fortbestehen bleiben sollen. Russisch ist die den öffentlichen und privaten Alltag dominierende Sprache, selbst wenn knapp 28 Prozent der Befragten angeben, dass sie gerne mehr Belarussisch sprechen würden. Darüber hinaus findet die Idee eines russisch-belarussischen Einheitsstaates kaum Unterstützung in der allgemeinen Bevölkerung – bei uns befürworten dies nur knapp sieben Prozent der Befragten.
7. Mit welchen Herausforderungen hat man zu kämpfen, wenn man eine Umfrage in einem autoritären Land und dazu unter schwierigen politischen Bedingungen durchführt?
Bei einer solchen Umfrage gibt es praktische und inhaltliche Herausforderungen. Rein praktische Schwierigkeiten wurden durch Covid-19 verstärkt, denn mit der Pandemie ist es unmöglich geworden, persönliche (face-to-face) Umfragen durchzuführen. In Belarus kommt noch hinzu, dass Telefonate systematisch abgehört werden. Mit Telefonumfragen würde man die Teilnehmer also gefährden. In Folge der zunehmenden Repressionen seit Dezember 2020 bleiben online-Umfragen die einzige Möglichkeit, um an Daten zu gelangen. Diese haben den Vorteil, dass sie die Anonymität der Befragten schützen und somit auch kritische Fragen ermöglichen. Rein praktisch ist das größte Problem, dass man wenig Vergleichswerte und somit Orientierung für eigene Fragen hat. Darüber hinaus ist die Formulierung der Fragen in autoritären Kontexten kniffelig. Eigene Ideen können nicht direkt in eine Frage übertragen werden, da diese mitunter mit der Lebenswelt der Befragten nichts zu tun hat und man unmotivierte Antworten erhält. Schlussendlich gilt es in der Analyse, gerade in einem autoritären Kontext, ein besonderes Augenmerk auf die Option „möchte nicht antworten“ zu haben. Sie könnte ein Hinweis auf eine mögliche Selbstzensur sein.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.
Die Beleidigung von Oppositionellen durch staatliche Medien sowie durch den Staatschef persönlich hat in Belarus Tradition. Bereits in früheren Jahren nannte Alexander Lukaschenko, dessen Machtinstrument eine gelenkte Staatswirtschaft ist, private Unternehmer „von Läusen befallene Flöhe“. Seit dem Beginn der Proteste am 9. August 2020 greifen staatliche Medien wieder verstärkt auf diffamierende Tiervergleiche zurück. Am 21. März 2021 sorgte einmal mehr Grigori Asarjonok für einen Skandal, der in seiner TV-Sendung bekannte Oppositionelle als Ratten bezeichnete. Asarjonok gehört zu den bekanntesten Moderatoren in den Staatsmedien. Im Fernsehen präsentiert er nicht selten einen Galgenstrick in Verbindung mit Fotos von führenden Oppositionellen wie Swetlana Tichanowskaja oder Pawel Latuschko.
Die belarussische Journalisteninitiative mediaIQ gibt in einem Stück für das Medium The Village Belarus Einblicke in das verbale und illustrative Diffamierungsarsenal, das staatliche Medien gegen die Demokratiebewegung verwenden.
Grigori Asarjonoks neuester Beitrag über „Volksverräter“ wurde am 21. März ausgestrahlt; es ging um den ehemaligen belarussischen Botschafter in der Slowakei Igor Leschtschenja. Am Schluss der Sendung rief der Moderator die Zuschauer auf: „Glaubt nicht an die Reue der Ratten, für ihre Beteuerungen werden wir teuer bezahlen.“ Daraufhin bekamen die Zuschauer eine Videomontage gezeigt: links im Bild – Aufnahmen von Ratten, rechts – Bilder der ehemaligen BT-Moderatoren Jewgeni Perlin und Denis Dudinski, von Igor Leschtschenja (er wurde gleich zwei Mal gezeigt), der Schwimmerin Alexandra Gerassimenja, Swetlana Tichanowskaja, Pawel Latuschko und Olga Karatsch. Untermalt war die Videosequenz mit einem Lied über Ratten, die „in Schlösser in Übersee fliehen“.
Entmenschlichung der einen und Vergöttlichung der anderen
Das ist Dehumanisierung – ein Verfahren, bei dem „Fremde“ mit Tieren oder sonstigen Wesen („Unmenschen“, „Parasiten“, „Watniki“) verglichen werden, das heißt sie werden für Propaganda- und Manipulationszwecke entmenschlicht. Demgegenüber steht die Vergöttlichung des „Eigenen“ oder seiner Handlungen – so hat zum Beispiel der CTV-Moderator Jewgeni Pustowoi Lukaschenko mit Moses verglichen.
Die Methode der Dehumanisierung wird von den belarussischen Staatsmedien gerne verwendet, um Protestierende und Lukaschenko-Gegner zu diskreditieren. Besonders beliebt ist sie bei dem CTV-Moderator Grigori Asarjonok. Am 12. Oktober vergangenen Jahres wandte er sich mit folgenden Worten an die Demonstranten: „In der Herde oder im Internet seid ihr mutig, aber ihr werdet fliehen wie feige Schakale.“
Am 24. Oktober sagte Asarjonok in seiner Sendung Geheime Triebfedern der Politik – 2020 zu dem Politologen Andrej Lasutkin, er würde einem Insektenforscher gleichen, und erklärte: „Sie beschäftigen sich schon lange mit diesen Käfern, Spinnen, Raupen, Schmetterlingen und anderen Gliedertieren, die man die belarussische Opposition nennt.“
Politologen als Spezialisten für Getier
Wenige Tage später, am 28. Oktober, kommentierte Asarjonok die Solidaritätsaktionen im Nationalen Opern- und Balletttheater und der Belarussischen Staatlichen Philharmonie: „Die Provokateure tun alles, damit die Menschen nicht mehr in Ruhe eine Vorstellung genießen können. Sie trampeln mit ihren dreckigen Füßen und Seelen in die Theater, Ausstellungen und Kinos. Iwan Bunin hatte fürwahr recht, als er sagte: ‚Eines der auffälligsten Erkennungsmerkmale einer Revolution ist die ungezügelte Gier nach Spiel, Verstellung, Pose, Schaubude. Im Menschen erwacht der Affe.‘ Aber wir werden diesen Affen zurückdrängen, mit einem hübschen Lied und den Spezialmitteln des Innenministeriums.“
Hier verschleiert die Entmenschlichung Gewalt, denn es ist psychologisch einfacher, Gewalt gegen Tiere als die gegen Menschen zu rechtfertigen.
In der Sendung Geheime Triebfedern der Politik – 2.0 vom 13. Februar 2021 nahm Asarjonok die gerade abgehaltene Allbelarussische Volksversammlung zum Anlass, die „Feinde“ zu dehumanisieren:
„Unsere Feinde haben sie gehasst (die Vollversammlung – Anm. mediaIQ). Haben die Delegierten verleumdet, eingeschüchtert und gelogen. Haben ihre persönlichen Daten veröffentlicht und mit Rache gedroht. Haben angekündigt, erneut Menschen auf die Straßen zu bringen. Doch bei dem Versuch, uns zu spalten, haben sie sich gegenseitig zerfleischt, die Schlangen und Ratten, Spinnen und Kröten.“
Hier sind ein paar Beispiele für Dehumanisierung aus anderen staatlichen Medien:
Dressierte Hunde mit Muttis Smartphone
Am 1. September 2020 verglich der TV-Sender Belarus 1 die Studenten, die an diesem Tag auf die Straße gingen, mit dressierten Hunden, die über „von Muttis Geld gekaufte Smartphones Befehle erhalten: gib Laut, Pfötchen, sitz oder lauf.“
Auch Andrej Mukowostschik, Kolumnist der Zeitung SB. Belarus segodnja, griff in seinen Beiträgen wiederholt zur Methode der Dehumanisierung. So bezeichnete er die Gegner des Regimes als „Schreihähne“, „tollwütige Ratten“, „Aasgeier“ oder „Aasfresser“ und weibliche Demonstrantinnen als „Herde von aggressiven, blökenden und (oft einsamen) Blauziegen“. In seiner jüngsten Kolumne schreibt er: „Ihr seid Bander-logen, ihr seid einfach Fleisch. Hände weg von dem, was andere aufgebaut haben.“
Bandar-log heißt der Stamm der verstoßenen Affen in Kiplings Dschungelbuch.
Und hier eine Karikatur aus SB. Belarus segodnja:
„Der Frauentag bei den Blauziegen / Der Herbst hat uns verblödet / Liebe belarussische Frauen! Es ist kein Geheimnis – ihr seid verschieden. Und anstatt nun Lobeshymnen anzustimmen, wie wundervoll, schön, klug und stark ihr doch in der Mehrzahl seid, möchte ich heute lieber über die Ausnahmen sprechen.“ Im Bild ist der Name Olga Karatsch eingeblendet sowie das Logo des Youtube-Kanals Ein Land zum Leben.
Der Tag der Freiheit, der am 25. März zu Ehren der Ausrufung der Belarussischen Volksrepublik im Jahr 1918 begangen wurde, war für die Opposition nicht der erhoffte Aufbruch in eine zweite große Protestwelle. Die belarussischen Machthaber hatten vor allem in Minsk massiv polizeiliches und militärisches Gerät und Sicherheitskräfte aufgefahren. Den ganzen Tag über sowie an den Folgetagen kam es im ganzen Land zu Hausdurchsuchungen bei NGOs und Medien und zu Festnahmen. Am 25. und 26. März waren es laut der Menschenrechtsorganisation Viasna 96 über 200 Menschen, am 27. sogar 247.
Der Journalist Alexander Klaskowski liefert in seiner aktuellen Analyse für das belarussische Medienportal Naviny.by Gründe für den ausgebliebenen großen Protest. Dabei kommt er auch zu der Feststellung, dass das System Lukaschenko trotz der Machtdemonstration zum Tag der Freiheit ziemlich ausgelaugt wirke.
Direkt am Tag der Freiheit, am 25. März, gab es eine Reihe lokaler Aktionen – verhaftet wurden laut Angaben des Innenministeriums mehr als 200 Menschen. Für Samstag, den 27. März, sprechen zu dem Zeitpunkt, wo diese Zeilen geschrieben werden, Bürgerrechtler von knapp 190 Verhaftungen, darunter eine Vielzahl von Journalisten.
Die Pressesprecherin des Innenministeriums Olga Tschemodanowa berichtete in ihrem Telegram-Kanal unter der Überschrift Die Protestbewegung in Belarus geht gen Null, dass es „in keiner Region des Landes eine nicht genehmigte Massenveranstaltung gab“. Nur in Minsk seien „vereinzelte Gruppen mit nicht offiziell registrierter Symbolik gesehen worden, ein paar Demonstranten wurden zur Klärung in Polizeireviere gebracht.“
Tatsächlich – trotz der Aufrufe an die Belarussen in einigen Telegram-Kanälen und von Pawel Latuschko, einem Anführer der politischen Opposition, auf die Straße zu gehen – ist weder am 25. noch am 27. März ein fulminanter Start des heißen Frühlings gelungen. Diejenigen, die am Samstag versuchten, zum Treffpunkt vorzudringen, wurden präventiv festgenommen. Viele kreisten in der Nähe vom [im Laufe des Tages über Telegram bekannt gegebenen Treffpunkt – dek] Platz Bangalor und sorgten dafür, nicht erkannt zu werden.
Die Machthaber hatten sich vor dem Tag der Freiheit gefürchtet. Die Sicherheitskräfte wurden intensiv vorbereitet. Die Richter schmiedeten in den vergangenen Wochen demonstrativ harte Urteile gegen Protestteilnehmer vom letzten Jahr. Angekündigt wurde auch eine Verschärfung der Strafgesetzgebung. Am 25. und 27. März war die Hauptstadt überflutet von Menschen in Uniform, Zivilpolizisten, Wasserwerfern, Gefängnistransportern und anderem technischen Gerät. Das zeigte Wirkung.
Warum sind die Belarussen lieber zu Hause geblieben?
Und nun, wo klar ist, dass die Situation ohne besondere Exzesse unter Kontrolle gehalten werden konnte, atmet da ein Alexander Lukaschenko erleichtert auf? Denn nach außen wirkt es ja so, als hätte er die Proteste erstickt. Ja, mit harten Methoden, viele Belarussen sind wütend, er ist heftig zerstritten mit dem demokratischen Teil der Welt – aber er hat sie erstickt. Oder nicht ganz?
„Zu sagen, dass alles erstickt, gesäubert und zum Schweigen gebracht wurde, wäre falsch“, meint der Politikexperte Juri Drakochrust. Gegenüber Naviny.by betonte er, dass vom 25. bis 27. März unterschiedliche Demonstrationsformen zu beobachten gewesen seien: Feuerwerk, aus dem Fenster gehängte weiß-rot-weiße Flaggen, lokale Hofaktionen, „und manch einer hat auch versucht, auf den Bangalor zu kommen“.
Wobei der Experte unterstreicht, dass der Tag der Freiheit bislang immer ein Höhepunkt der Protestaktionen war. Dass es dieses Mal so bescheiden ablief, lässt folgende „Trendprognose“ zu: „Wahrscheinlich wird der ganze Frühling so.“
Wobei man festhalten muss: Im vorigen Jahr hatte fast niemand vorhergesehen, dass es im August solch heftige Proteste geben würde. Warum sind die Belarussen jetzt lieber zu Hause geblieben? Drakochrust sieht hierfür hauptsächlich zwei Gründe. Erstens haben die Machthaber ihnen Angst eingejagt und zweitens setze der Müdigkeitsfaktor ein: „Ein derartiger gesellschaftlicher Aufbruch, ein solcher Drive lässt sich auf diesem Niveau nicht ewig aufrechterhalten.“ Nach einer derartig heftigen Flut wie vergangenes Jahr, komm jetzt erstmal politische Ebbe, so Drakochrust.
Gewalt ist die Stütze des Systems
Allem Anschein nach zu urteilen, habe Lukaschenko die Situation unter Kontrolle gebracht. Aktuell sei seine Macht durch das Volk nicht bedroht, so der Politikexperte des Zentrums Strategie in Minsk Waleri Karbalewitsch. Der denkt ebenfalls, dass die Proteste im aktuellen Frühling kaum mit denen im vergangenen Jahr zu vergleichen sein werden.
Gleichzeitig, meint der Politologe, passe die gängige Metapher vom Moorbrand gut auf die heutige Situation in Belarus: Oben ist kein Feuer zu sehen, aber unten in der Tiefe lodert es.
„Die Proteststimmung ist nirgendwohin verschwunden. Die Lage hat sich für Lukaschenko eklatant verändert, ihm ist klar, dass nicht die Gesellschaft seine Stütze ist, sondern die rohe Gewalt. Und das ist sein Problem“, meint Karbalewitsch.
Speziell in den anstehenden Wahl- und Abstimmungskampagnen 2021 und 2022 sieht er eine Gefahr für das Regime. Nach Ansicht von Drakochrust könnten nicht nur diese Kampagnen einen neuerlichen Ausbruch der Protestaktivität hervorrufen, sondern auch wirtschaftliche Misserfolge der Regierung.
Ferner, so der Experte, sei es schwer einzuschätzen, „wie schwerwiegend der Schock war, den die Staatsmacht im vergangenen Jahr erfahren hat, und wie brüchig und schwach das System heute ist.“ Man dürfe auch nicht vergessen, dass es während der Perestroika nicht so aussah, dass „das Volk revoltiert und die Macht der Kommunisten abgeschüttelt“ habe – das sowjetische System sei „quasi an jeder Stelle von innen heraus zerfallen.“
Der Experte schließt nicht aus, dass die Ereignisse des vergangenen Jahres das System Lukaschenko enorm unterminiert und ins Wanken gebracht haben und „zum Vorspiel von dessen weiterer Destruktion“ geworden seien. Der Zusammenbruch könne unerwartet kommen, angestoßen beispielsweise durch wirtschaftliche Missstände.
Drakochrust zieht eine Parallele zu den russischen Revolutionen: 1905 haben selbst die heftigen Kämpfe in der Krasnaja Presnja den Aufständischen nicht zum Sieg verholfen, während 1917 Brotkrawalle in Petrograd zur Abdankung des Zaren geführt haben.
Der Machtapparat hat keine Antworten
Lukaschenko hat bis spätestens Anfang 2022 ein Referendum zur neuen Verfassung versprochen. Die Volksabstimmung wird womöglich mit Regionalwahlen verknüpft und im Dezember durchgeführt, vor den Neujahrsfeierlichkeiten. Das bedeutet, dass die Abstimmungskampagne bereits im Herbst startet.
Dann wird Lukaschenko vor einem Dilemma stehen: Falls er die Kampagne im brutalen Stil führt, werden die Legitimität der neuen Verfassung minimal, der Konflikt mit dem Westen verschärft und härtere Sanktionen wahrscheinlich. Falls er die Daumenschrauben lockert und dem Volk zumindest minimale Freiheiten in der Vorwahlzeit garantiert, dann könnte das System derart erschüttert werden, dass es aus den Fugen gerät. Eine gute Lösung gibt es für den Führer des politischen Regimes hier nicht.
Auch in der Wirtschaft wird es keine guten Lösungen geben bei dem altmodischen, staatszentralistischen Ansatz, den Lukaschenko predigt. Wenn sie einfach Geld drucken, um den Staatssektor zu retten und die Haushaltslöcher zu stopfen (und diese geniale Idee scheint zu erstarken), dann wird ein großer Knall ähnlich dem von 2011 mit seiner enormen Devaluation und Hyperinflation sehr wahrscheinlich. So oder so wird die Wirtschaft ohne Reformen stagnieren oder schrumpfen.
Schließlich ist auch der repressive Hammer eine riskante Methode. Eine über das Maß gespannte Sprungfeder kann plötzlich losschießen. Der Protest ist vorerst notdürftig niedergetreten. Aber auf die Fragen, die die Gesellschaft im vergangenen Jahr äußerst scharf gestellt hat, hat Lukaschenko keine Antworten. Das Regime wirkte noch nie so ausgelaugt wie jetzt. Genau so ausgelaugt war das sowjetische System in den 1980er Jahren – und sein Ende war bloß eine Frage der Zeit.
Eine andere Sache ist, dass nach dem alten Sowok nicht das Paradies kam. Auch der Zerfall des Lukaschenko-Regimes bedeutet nicht, dass gleich die lichte Zukunft anbricht. Doch damit nicht genug, denn diese Perspektive birgt in sich ernsthafte Risiken, darunter auch eine russische Expansion. Aber das ist ein anderes Thema.