Drei Jahre nach den historischen Protesten von 2020 hat sich Ernüchterung in der belarussischen Opposition und Gesellschaft breitgemacht. Alexander Lukaschenko hält sich nach wie vor an der Macht, mit Repressionen und Gewalt, zudem hat er sich in den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine verstrickt, Hunderttausende haben das Land verlassen.
Zum Jahrestag des Beginns der Proteste beschäftigen sich Journalisten, Politiker und Intellektuelle in Artikeln und Beiträgen mit dem Erbe von 2020, mit den Auswirkungen und mit Fragen der Zukunft. In einer Debattenschau bringen wir eine Auswahl an Stimmen.
Tichanowskaja/YouTube: Der Beginn eines neuen Belarus
Die Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja ermutigt die Belarussen, trotz Repressionen, Exil und Leid den Glauben nicht zu verlieren.
[bilingbox]Ich verstehe: Es ist schwer. Mit jeder neuen Herausforderung wird es schwieriger, den Weg unbeirrt weiterzugehen.
Doch die Entscheidung liegt ganz bei uns: Wir können das, was in den drei Jahren geleistet wurde, entwerten und von uns selbst und unserer Nation enttäuscht sein. Oder aber wir bewahren all diese wichtigen Momente in unserer Erinnerung und halten diejenigen in Ehren, die wir auf diesem Weg verloren haben. Und gehen weiterhin vorwärts, mit Liebe zu allen, die mit uns gehen, mit Glauben an jene, die nach uns kommen werden …
Der 9. August 2020 ist kein einfaches Datum für die Belarussen. Ist es nicht so? Dieser Tag hätte der Beginn eines neuen Belarus sein können. Eines Belarus, in dem es niemals politische Häftlinge und Verfolgung Andersdenkender geben wird. Eines Belarus, in dem ein Gespräch auf Belarussisch ein Grund für Begeisterung ist, nicht für Gewalt. Eines Belarus, in das es die Leute zieht, anstatt dass sie es so schnell wie möglich verlassen wollen.~~~Я разумею: гэта цяжка. І з кожным новым выклікам усё складаней захоўваць цвёрдасць крокаў.
Але гэта толькі наш выбар: абясцэніць зробленае за тры гады, расчаравацца ў сабе і ў сваёй нацыі. Ці захаваць у памяці ўсе важныя моманты, зберагчы ў сэрцы тых, каго мы страцілі на гэтым шляху. І працягнуць ісці наперад з любоўю да тых, хто ідзе побач, і з верай у тых, хто будзе пасля нас…
9 жніўня 2020 года – ня простая дата для кожнага беларуса. Ці не так? Гэты дзень мог бы стать пачаткам новай Беларусі. Беларусі, у якой ніколі не будзе палітзняволеных і пераследу за іншадумства. Беларусі, дзе размова на роднай мове – нагода для захаплення, а не гвалту. Беларусі, куды імкнуцца патрапіць, а не адкуль спяшаюцца з’ехаць.[/bilingbox] erschienen am 9. August 2023, Original
Plan B.: Die Tragödie des erzwungenen Exils
In einem Leitartikel weist die Redaktion des Online-Mediums Plan B. auf die dramatischen Folgen der Emigration seit 2020 hin.
[bilingbox]Alles geht weiter. Belarussen werden in Belarus weiterhin verhaftet, Belarussen werden Belarus weiterhin verlassen. In den Jahren 2021–2022 haben zwischen 143.600 und 170.900 Menschen Belarus in Richtung EU verlassen. Die minimale Zahl entspricht der Bevölkerung des Rajons Orscha, die maximale Zahl der Bevölkerung der Stadt Baranawitschy, der achtgrößten Stadt in Belarus, so steht es in einer Studie des Forschungsinstituts BEROC.
Das Ausmaß der Tragödie für die Zukunft des Landes hat also die Größe von Baranawitschy. Und das ist noch nicht das Ende. Die Ironie liegt darin, dass dieselbe Regierung, die Belarussen verhaftet und verjagt, den Übrigen etwas vorjammert, dass die Nation der Belarussen aussterben würde und es Zeit sei, Kinder zu gebären. Aber wie soll man gebären, wenn man gleichzeitig von denselben Belarussen bekämpft wird, mit der Anklageschrift in der Hand? Ergebnis: ein Drittel Rückgang [der Geburten] in den letzten sieben Jahren.
Ein großer Teil derer, die in die Emigration gezwungen wurden, will ins Land zurückkehren. Niemand von ihnen hat sich diese Zukunft ausgesucht, niemand hatte geplant, sich ein neues Leben in der Emigration aufzubauen, viele leben auch nicht richtig, sondern existieren nur, haben das Leben auf Pause gestellt.~~~Все продолжается. Беларусов в Беларуси продолжают сажать, беларусы из Беларуси продолжают уезжать. За 2021-2022 годы из Беларуси в ЕС переехало от 143,6 тысячи до 170,9 тысячи человек. Нижний предел уехавших сопоставим с населением Оршанского района, а верхний — с количеством жителей города Барановичи, восьмым по величине в Беларуси, говорится в исследовании BEROC «Миграция из Беларуси в страны ЕС в 2021 и 2022 годах».
Масштаб трагедии для будущего страны – размером с целые Барановичи. И ведь это не предел. Ирония в том, что та самая власть, сажающая и выталкивающая беларусов из страны, сетует оставшимся, что беларусы, как нация, вымирают – пора рожать. Но как рожать, когда против тебя воюют такие же беларусы только с постановлением об обвинении в руках? Итог: минус треть за семь лет.
Вернуться в страну хотят многие из вынужденно уехавших. Никто из этих людей не выбирал себе такое будущее, никто не планировал строить жизнь в эмиграции, многие так и не живут в ней, а просто существуют, поставив жизнь на долгую паузу.[/bilingbox]
Der Journalist Wassil Weras sieht die Proteste als Fortführung der belarussischen Unabhängigkeitsbewegung, die mit der Ausrufung der Belarussischen Volksrepublik 1918 begonnen hat.
[bilingbox]In der aktuellen Situation ermöglichen es die Proteste von 2020, eine Trennlinie zwischen Regime und Gesellschaft zu ziehen. Hätte es die Proteste nicht gegeben, würde Belarus heute als vollwertiger Ko-Aggressor wahrgenommen. Mehr noch, de facto als Region Russlands, mit allen sich daraus ergebenden kurz- und langfristigen Folgen.
Durch den belarussischen Widerstand betrachten uns nun viele getrennt von der Gruppe, die das Land regiert (bei allen möglichen Vorbehalten). Und das ist der Faktor, der perspektivisch gesehen eine Schlüsselrolle für die Zukunft unserer Heimat spielen kann.
Das Jahr 2020 war für Belarus eine logische Fortführung von 1918 und 1991. Die Saat ist aufgegangen. Um die Früchte zu ernten, müssen noch viele Prüfungen bestanden werden. Dieser August und alles, was nach ihm geschieht – das ist der furchtbare, äußerst schmerzhafte, aber wohl unausweichliche und wichtigste Schritt auf dem Weg in die Freiheit.~~~Протесты трехлетней давности в сложившейся ситуации позволили провести разграничительную черту: между режимом и обществом. Не было бы их, Беларусь воспринималась бы как полноценный соагрессор. Более того, как де-факто регион России. Со всеми вытекающими отсюда краткосрочными и долгосрочными последствиями.
Но благодаря беларусскому Сопротивлению теперь нас многие рассматривают отдельно от правящей страной группировки (при всех возможных оговорках). И это тот фактор, который в перспективе способен сыграть ключевую роль при определении будущего Родины.
2020-й для Беларуси – логическое продолжение 1918-го и 1991-го. Семена дали всходы. Чтобы собрать урожай, предстоит еще через многое пройти. Тот август и все, что происходит после него – ужасный, крайне болезненный, но, видимо, неизбежный и важнейший этап на пути к свободе.[/bilingbox]
Der Politologe Waleri Karbalewitsch meint, dass die politische Ausrichtung der Opposition dazu führen wird, dass sich die belarussische Gesellschaft noch tiefer spaltet.
[bilingbox]Niemals zuvor war das Schicksal von Belarus so stark von äußeren Ereignissen abhängig. Die Eigenständigkeit des Landes im internationalen Kontext hat seit Beginn des Krieges stark abgenommen. Die Isolation wurde auch für den unpolitischen Bürger sichtbar (die Grenze zur EU ist halb geschlossen, Flugzeuge fliegen nicht mehr dorthin, die Sportler nehmen nicht an der Olympiade teil, keine belarussische Künstler beim Eurovision Song Contest usw.). Auch die Stationierung von Atomwaffen in Belarus hat nicht zu größerem politischen Gewicht geführt – eher im Gegenteil.
Die Staatsmacht unternimmt massive Versuche, die Herausbildung einer neuen (nichtsowjetischen) belarussischen Identität zu verhindern, indem sie diese als nazistisch bezeichnet. Der neuen Generation, die im unabhängigen Belarus aufgewachsen und sozialisiert ist, zwingen sie die Ideologie des Westrussentums auf. Die Erklärung des Vereinigten Übergangskabinetts, den Kurs in Richtung EU einzuschlagen, bedeutet eine Vertiefung der geopolitischen Spaltung in der belarussischen Gesellschaft.~~~Ніколі раней лёс Беларусі так істотна не залежаў ад вонкавых падзей. Міжнародная суб’ектнасьць краіны з пачаткам вайны моцна зьменшылася. Яе ізаляцыя стала відавочнай для апалітычнага абывацеля (мяжа з Эўропай напаўзачыненая, самалёты туды ня лётаюць, спартоўцы ў Алімпіядзе ня ўдзельнічаюць, беларускія выканаўцы на Эўрабачаньні не сьпяваюць, і інш.). І зьяўленьне ў Беларусі ядзернай зброі не прывяло да росту палітычнай вагі краіны — хутчэй, наадварот.
Улады робяць масіраваныя спробы спыніць фармаваньне новай (несавецкай) беларускай ідэнтычнасьці, абвяшчаючы яе нацысцкай. Новаму пакаленьню, якое вырасла і сацыялізавалася ў незалежнай Беларусі, навязваюць ідэалёгію заходнерусізму. Абвяшчэньне Аб’яднаным пераходным кабінэтам курсу на эўрапейскі выбар азначае паглыбленьне геапалітычнага расколу беларускага грамадзтва.[/bilingbox]
Das System Lukaschenko habe immer noch Angst vor dem Widerstand der Belarussen, der 2020 zu den Protesten führte, meint der Soziologe Gennadi Korschunow.
[bilingbox]Die Konfrontation zwischen Staat und Gesellschaft bleibt bestehen. Die Regierung hat nichts unternommen, um diesen Konflikt auf konstruktive Weise zu lösen. Die Machthaber setzten, setzen und werden auch weiterhin nur auf gewaltsame Methoden setzen.
Michail Bedunkewitsch, stellvertretender Chef des GUBOPiK, sagte kürzlich in einem Interview, dass die Repressionen deshalb fortgesetzt werden, weil ansonsten der Widerstand wieder beginnt und sich die Belarussen wieder etwas ausdenken. Dieser These Bedunkewitschs stimme ich zu. Das Protestpotential ist aktuell erstickt, Enttäuschung und Angst dominieren, es fehlt eine Idee, was getan werden kann. Sobald sich aber eine Gelegenheit ergibt, wird sich die ganze Unzufriedenheit mit dem, was geschieht, entladen.~~~Противостояние государства и общества, которое было, осталось. На системном уровне власти не сделали ничего, чтобы оно разрешилось позитивным путем. Они использовали, используют и будут использовать только насильственные методы.
Недавно было интервью с [Михаилом] Бедункевичем, заместителем руководителя ГУБОПиК, о том, что репрессии будут продолжаться потому, что если их остановить, то начнется противодействие и белорусы опять что-то задумают. С этим тезисом Бедункевича я согласен. Протестный потенциал сейчас задушен, есть разочарование, страх, отсутствует понимание того, что можно сделать, но как только будет возможность, все недовольство тем, что происходит, будет выплеснуто.[/bilingbox]
Der Journalist Alexander Klaskowski glaubt, dass die Proteste nicht zum Machtwechsel führten, weil die neue Opposition keinen klaren Plan hatte.
[bilingbox]Ja, Tichanowskaja ist auf beeindruckende Weise zum Symbol des Kampfes für einen Wandel geworden. Doch weder vor dem 9. August, noch nach den Wahlen, als hunderttausende Belarussen auf die Straßen strömten, hatten die Ehefrau des inhaftierten Bloggers und ihr Team einen klaren Plan, wie man mit der politischen Energie der erwachten Massen einen Machtwechsel herbeiführen könne.
Dieses Team hinkte auch danach mehrfach dem Lauf der Dinge hinterher und reagierte zu spät. Als beispielsweise im Oktober 2020 in Tichanowskajas Namen den Machthabern ein Ultimatum gestellt wurde, und damit ein landesweiter Streik ausgelöst werden sollte, befahl Lukaschenko, alle darin verwickelten Unternehmen „zurechtzustutzen“. Schon lange im Ausland schien Tichanowskajas Stab in der Illusion zu leben, dass die Proteste reanimiert werden könnten.
Hätte im August 2020 ein totaler Streik das Land lahmgelegt, hätte Lukaschenko sich vielleicht nicht halten können.~~~Да, в итоге Тихановская феноменальным образом стала символом борьбы за перемены. Но никакого внятного плана, что делать с политической энергией разбуженных масс, как направить ее на смену власти, ни перед 9 августа, ни после президентских выборов, когда сотни тысяч белорусов вывалили на улицы, у жены посаженного в тюрьму блогера и ее команды не было.
Эта команда потом еще не раз отставала от хода событий, опаздывала. Например, когда от имени Тихановской в октябре 2020-го властям выдвинули ультиматум, попытались инспирировать общенациональную забастовку, после чего Лукашенко велел "вырезать" засветившийся в ней бизнес. Долгое время уже за рубежом штаб Тихановской жил, кажется, иллюзией, что можно реанимировать протесты.
Вот если бы в августе 2020-го тотальная стачка парализовала страну, то Лукашенко мог бы и не удержаться.[/bilingbox]
Die Spannungen zwischen Polen und der belarussischen Führung steigen, seitdem Alexander Lukaschenko Wagner-Söldnern in Belarus Unterschlupf gewährt hat. Was die polnische Regierung als Bedrohung empfindet. Zudem kam es kürzlich zu einer Verletzung des polnischen Luftraums durch belarussische Militärhubschrauber. Und seit Herbst 2021 schwelt ein massiver Konflikt aufgrund von Migranten an der polnisch-belarussischen Grenze.
Polen hat mittlerweile seine Truppenpräsenz an der Grenze zu Belarus verstärkt, was wiederum Wladimir Putin zu Drohungen veranlasste. Und zu einer Aussage, die in Polen als Affront aufgefasst wurde. Der russische Präsident meinte, dass die Polen nicht vergessen sollten, dass der Zugewinn vormals deutscher Gebiete im Westen infolge des Zweiten Weltkrieges „ein Geschenk Stalins“ gewesen sei. Dabei unterschlug Putin den Hitler-Stalin-Pakt, in dessen Folge die Sowjetunion 1939 die östlichen Gebiete der Zweiten Polnischen Republik besetzte.
Ist es wirklich denkbar, dass die Wagner-Truppen gegen ein NATO-Mitglied wie Polen eingesetzt werden könnten? Was steckt hinter den Drohungen und Aussagen Lukaschenkos, die wie gewohnt paradox sind? Alexander Klaskowski geht diesen Fragen in seiner Analyse für das belarussische Online-Medium Pozirk auf den Grund und sucht dabei nach einer stringenten Logik in den jüngsten Entwicklungen.
Nachdem Alexander Lukaschenko Polen mit der Wagner-Gruppe gedroht hatte, ruderte er nun zurück. Er betonte, Prigoshins Leute seien in Belarus unter Kontrolle, und den Suwałki-Korridor hätte Minsk „seit tausend Jahren nicht gebraucht“.
Diese neuen Erkenntnisse verlautbarte er am 1. August anlässlich eines Treffens mit Bewohnern des Agrostädtchens Beloweshski im Rajon Kamenez. Lukaschenko hielt sich dennoch nicht mit Drohgebärden zurück – die Rede war sowohl von den Wagner-Truppen als auch von Atomwaffen und sogar dem „friedlichen Atom“, einer möglichen Beschädigung des Belarussischen Kernkraftwerks (BelAES).
Wird der belarussische Führer zum Sündenbock gemacht?
Bei einem Treffen mit Wladimir Putin am 23. Juli in Sankt Petersburg hatte Lukaschenko ein breites Publikum, vor allem in Polen und Litauen, mit der Äußerung in Aufruhr versetzt, die nach Belarus verlegten Wagner-Einheiten würden ihn „langsam belasten“ und angeblich einen „Ausflug nach Warschau und Rzeszów“ planen. (In Rzeszów befindet sich ein wichtiger Umschlagplatz für Militärlieferungen in die Ukraine).
Offensichtlich wollte der belarussische Gast dem „großen Bruder“ in die Hände spielen, indem er eine psychologische Attacke an das ihm verhasste Warschau richtete, das Kyjiw aktiv unterstützt. Doch die Polen ließen sich nicht einschüchtern und drohten stattdessen damit, in Absprache mit Litauen und Lettland endgültig die Grenze zu Belarus zu schließen. Das wäre für das Regime kein unbedeutendes wirtschaftliches Risiko.
Unterdessen diskutierten unabhängige Analytiker, aber auch Politiker und Militär in den NATO-Staaten, ob Putin die nach Belarus verlegten Wagner-Gruppe dazu einsetzen könnte, einen wenn nicht offenen, so doch hybriden Krieg gegen Europa zu entfesseln. Um sich danach auf seine Tschekistenart die Hände in Unschuld zu waschen, indem er beteuert: Diese „Wildgänse“ unterstehen mir nicht, sie haben unlängst sogar einen Putsch angezettelt, weil sie keine Verträge mit Verteidigungsminister Sergej Schoigu schließen wollten. Deshalb hätte man sie auch zum „kleinen Bruder“ geschickt. Und die Waffen für ihren Feldzug auf Rzeszów hätten sie bestimmt auf dem belarussischen Waffenmarkt gekauft.
Natürlich weiß jedes Kind, dass es in Belarus keinen unkontrollierten Waffenmarkt gibt und geben kann, solange alles unter Lukaschenkos Fuchtel steht. Seine Weste würde also im Falle eines Wagner-Feldzugs gegen die NATO-Nachbarstaaten keinesfalls weiß bleiben. Bereits 2021 hatte er vorgegeben, nichts mit dem Massenandrang von Geflohenen an der belarussischen Grenze zur EU zu tun zu haben, was ihn jedoch nicht vor Sanktionen gerettet hat. Wenn also jetzt Diversions- und Spionagegruppen (DRG) der Wagner-Armee von belarussischem Boden aus in Polen oder Litauen eindringen, dürfte die Reaktion um einiges härter ausfallen.
Denn für die Nachbarländer und den gesamten Westen wird absolut klar sein, dass diese Gruppen ihre Ausrüstung per Handschlag vom belarussischen Oberbefehlshaber bekommen haben, und dass es Prigoshins Truppen nur mithilfe des belarussischen Militärs, des Grenzschutzes und der Geheimdienste möglich gewesen sein kann, auf fremdes Territorium vorzudringen. So zu tun, als hätte man nichts damit zu tun, wäre vollkommen sinnlos. Mehr noch, Lukaschenko wäre der Sündenbock, während Putin tatsächlich den Ahnungslosen spielen könnte.
Derweil hat der belarussische Regent höchstwahrscheinlich keine Lust, die Folgen der Scharmützel seiner aggressiven Gäste mit der NATO auszubaden. Während der Kreml an imperialem Phantomschmerz leidet und globale Ambitionen hegt, will Lukaschenko vor allem, dass seine Alleinherrschaft auf seinem „Fleckchen Erde“, wie er Belarus nennt, unangetastet bleibt. Also versucht der belarussische Führer, die Atmosphäre auf seine Art ein wenig zu entschärfen und seine politische Eigenständigkeit zu demonstrieren.
„Sie sind es gewohnt, Befehle auszuführen“ – bloß wessen Befehle?
Lukaschenko entpuppte sich als großer Humorist. Am 1. August sagte er im Kreis Kamenez: „Das war ein Scherz, dass die Wagner-Leute untereinander tuscheln: Wir machen einen Ausflug nach Rzeszów.“ Dann gab er wiederum zu verstehen – in dem ihm eigenen paradoxen Stil – Prigoshins Leute seien wirklich kriegerisch eingestellt und führten gegen Polen Böses im Schilde. Dort solle man, so sagte er, „ruhig beten“, dass Belarus sie „aufhält und versorgt“. Andernfalls wären sie längst in Warschau und Rzeszów eingefallen, und die Polen hätten „ihr blaues Wunder erlebt“.
Was für eine Logik: „Ich habe diese terroristische Organisation an eure Grenzen geholt, und ihr sollt mir gefälligst dankbar sein“.
Lukaschenko ließ sich natürlich auch den Trumpf mit den Atomwaffen nicht nehmen und sagte beiläufig, mehr als die Hälfte der von Russland zugesagten Menge sei bereits geliefert und im Land verteilt („Guckt ruhig nach“). Darüber hinaus sei das Kernkraftwerk von Astrawez ein großer Sicherheitsfaktor: „Sollte es, Gott bewahre, beschädigt werden, dann wird das auch dort [in den NATO-Nachbarstaaten] schlimme Folgen haben“, sagte Lukaschenko.
Lukaschenko hat also wie immer nicht mit Drohungen gespart, diesmal aber die Akzente anders verteilt: Anstatt auf Angriff setzte er auf Verteidigung: „Wir steigen niemandem in den Garten, also klettert gefälligst auch nicht über unseren Zaun“. Mit anderen Worten: „Lasst mein Regime in Ruhe!“
Lukaschenko hat außerdem davon abgesehen, die westlichen Nachbarn übermäßig zu verteufeln: „Die Polen sind nicht dumm, diese Leute sind uns ähnlich, sie nehmen ihre Regierung gerade schon in die Mangel …“ Die Verlegung polnischer Truppeneinheiten an die belarussische Grenze bezeichnete er verächtlich als „Ränkespiel“. „500 Soldaten hier abgezogen, 500 Soldaten dort […]. Ich glaube nicht, dass sie uns wirklich einschüchtern wollen.“
Das steht einerseits im Widerspruch zum Mantra der belarussischen Generäle von der wachsenden Bedrohung durch die NATO und andererseits zu früheren Äußerungen Lukaschenkos, die polnischen Militaristen würden schon mit ihren Kettenraupen rasseln und nur darauf warten, halb Belarus einzukassieren.
In der Geschichte um Wagner stellte sich Lukaschenko nun als absoluter Herr der Lage dar und hob hervor, dass er die Situation unter Kontrolle habe: „Die Truppe befindet sich in Ossipowitschi, mitten in Belarus, und ist nirgendwohin unterwegs. Die Jungs sind es gewohnt, Befehle auszuführen.“
Die Frage ist nur, wessen Befehle sie ausführen werden, wenn der Tag X eintritt.
Wie eigenständig sind Prigoshin und Lukaschenko?
Es war kein anderer als der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses der russischen Duma, General a. D. Andrej Kartopolow, der die Schließung des Suwałki-Korridors (der in Moskau als Achillesferse der NATO betrachtet wird) im passenden Moment als Mission der in Belarus abgestellten Wagner-Truppen benannte.
Wenn Lukaschenko jetzt also hervorhebt, dass er diesen Korridor eintausend Jahre lang nicht gebraucht hätte, dann tritt er in einen offenen Meinungsstreit mit den Moskauer Kriegstreibern, um seine politische Eigenständigkeit zu behaupten. Diejenigen, die eine Anti-NATO-Mission der Prigoshin-Truppe in Belarus postulieren, lassen diese Eigenständigkeit Lukaschenkos praktisch völlig außer Acht.
Diese Hypothesen weisen einige Schwachstellen auf. Erstens ist es zweifelhaft, ob Jewgeni Prigoshins Putschversuch eine scharfsinnige Inszenierung war, mit dem Ziel, die Wagner-Truppen nach Belarus zu verlagern, um dann einen Angriff oder Sabotageaktionen gegen die NATO-Länder durchführen zu können. Wie es in einem alten Witz treffend heißt: „Das ist zu subtil für unseren Zirkus“.
Eine ganze Reihe von Fakten, Anzeichen und Informationsleaks sprechen dafür, dass der russische Präsident während des Putschversuchs tatsächlich erschrocken und irritiert war. Infolgedessen trug er einen riesigen Imageverlust davon. Das wäre schon eine sehr subtile Inszenierung. Zur Vergeltung und um eine Wiederholung zu vermeiden, schwächt der Kreml offen Prigoshins Wirtschaftsimperium. Zudem ist unklar, inwieweit Putin seinem ehemaligen Koch aktuell überhaupt Befehle erteilen kann. Prigoshins Eigenständigkeit sollte keinesfalls schon abgeschrieben werden.
Er und der russische Machthaber versuchen zwar, ihren Konflikt auf ihre Weise aus der Welt zu schaffen, aber aller Voraussicht nach werden sie Feinde bleiben. Und welches Interesse sollte Prigoshin haben, seine Kämpfer in einen wahnwitzigen Sturm des Suwałki-Korridors oder in einen tödlichen Feldzug nach Warschau und Rzeszów zu schicken? Wenn unerwünschte Gäste so weit auf fremdes Territorium vordringen, wird aus ihnen sehr schnell Hackfleisch gemacht.
Schon eher möglich wären schnelle hybride Operationen im feindlichen Grenzgebiet (zum Beispiel ein wenig Unruhe in Terespol stiften), mit guten Überlebens- und Rückkehrchancen, doch welchen Nutzen hätten sie? Schließlich geht es hier um Söldner, die für ihre sehr spezielle Arbeit sehr gutes Geld gewöhnt sind. Auch Prigoshin selbst ist in erster Linie ein Geschäftsmann, keinesfalls ein Kamikaze. Für ihn ist es günstiger, seine „Adler“ für Projekte in Afrika zu schonen (wo alle möglichen Goldminen und Diamanten zu bewachen sind). Dass Afrika Priorität hat, sagte er selbst bei seiner berühmten Ansprache im Lager bei Ossipowitschi.
Lukaschenko sagte heute nun, er wolle einen Teil „dieser Jungs“ im belarussischen Militär behalten und „mit ihrer Unterstützung eine Vertragsarmee aufbauen“. Die belarussische Staatskasse ist jedoch kaum üppig genug, um die Wagner-Söldner nach deren üblichen Sätzen zu vergüten. Nehmen wir trotzdem einmal an, dass einige Söldner als Berufssoldaten in die belarussische Armee wechseln würden. Sich mit dem Rest der Gruppe aber die Anarchie ins Haus zu holen, die Wagner-Gruppe zu einer (wilden?) Raubkatze zu machen, die frei durch Belarus spaziert, und darüber hinaus noch die Schließung des Suwałki-Korridors zu bezahlen (plus im Nachhinein die Folgen dieses Abenteuers zu verantworten), das will Lukaschenko ganz sicher nicht. Putin teilte unterdessen mit, dass Prigoshins Gruppe in Russland keine Zuwendungen mehr erhalten würde. Wer trägt also eigentlich die Kosten für dieses Theater?
Sollten die Wagner-Truppen also wirklich in Polen und Litauen einmarschieren, dann würde das erstens bedeuten, dass der Kreml sie vollständig kontrolliert, zweitens, dass er ihre Aktionen bezahlt, und drittens, dass er Lukaschenko tatsächlich zu einem Diener ohne jegliche Entscheidungsgewalt gemacht hat.
In der Nacht zum 11. Juli 2023 verstarb der belarussische Künstler und Aktivist Ales Puschkin auf der Intensivstation des Krankenhauses in der westbelarussischen Stadt Hrodna. Dorthin war er bewusstlos aus dem städtischen Gefängnis gebracht worden. Wie Medien später berichteten, soll ein Geschwür zum Durchbruch der Magenwand geführt haben.
Der Aufschrei nach Bekanntwerden seines Todes in der belarussischen Zivilgesellschaft und Kulturlandschaft war groß. In vielen europäischen Städten organisierte die belarussische Diaspora Gedenkveranstaltungen für den beliebten Künstler.
Warum Puschkin in Haft war, was ihn über die Jahrzehnte zu einem der prägendsten Künstler und Aktivisten in Belarus hat werden lassen – das erzählen die Journalisten Smizer Pankawez und Wassil Harbazjuk für das belarussische Online-Medium Nasha Niva.
„Das Kreuz, das ich mir aufbürde, muss ich tragen, so schwer es auch sein mag. Was droht mir hier schon? Vielleicht sperren sie mich für fünf bis zwölf Jahre ein, aber ich werde leben, es wird mich doch niemand umbringen.“ Heute klingen diese Worte Ales Puschkins furchtbar. Er sagte sie 2021 in einem Interview mit Nasha Niva, nachdem er nach Belarus zurückgekehrt war, obwohl dort ein Strafverfahren auf ihn wartete. Er war aus Prinzip zurückgekehrt. Am nächsten Tag wurde er festgenommen. Ales Puschkin war einer der bedeutendsten zeitgenössischen Künstler und Ikonenmaler in Belarus. Seine ereignisreiche Biografie umfasst sowohl den Afghanistan-Krieg als auch ein unkonventionelles Privatleben. Wir haben zusammengetragen, was über ihn bekannt ist.
Am 30. März 2021 wurde Puschkin an seinem Arbeitsort in Shylitschy im Kreis Kirau, wo er an der Restaurierung des Bulhakau-Palais arbeitete, abgeholt und ins Gefängnis von Hrodna gebracht. Genau ein Jahr später wurde er auf Grundlage von Artikel 130 Absatz 3 wegen „Anstiftung zu Rassen-, nationalem oder religiösem Hass“ verurteilt.
Die Staatsmacht zog gegen ein von Puschkin gemaltes Porträt des Partisanen Auhen Shychar zu Felde, der in der Zwischenkriegszeit im Gebiet Wizebsk aktiv gewesen war. Man beschuldigte Puschkin, mit dem Gemälde den Nazismus zu rehabilitieren. Puschkin selbst bestritt das.
Als das Strafverfahren angestrengt wurde, hielt Puschkin sich gerade in Kyjiw auf, das war noch lange vor Kriegsbeginn. Puschkin kehrte umgehend nach Belarus zurück, obwohl er wusste, dass ihm zu Hause eine Gefängnisstrafe drohte. Im Gespräch mit Nasha Niva sagte er damals, er sei bereit für einen echten Kampf, nicht für einen virtuellen. Das war nicht der erste Fall, in dem gegen den Künstler ermittelt wurde. Puschkin beteiligte sich erst am Kampf für die Unabhängigkeit von Belarus von der Sowjetunion, später ging er gegen das prorussische Regime Aljaxandr Lukaschenkas vor.
Sein Lebensweg endete am 11. Juli 2023 auf der Intensivstation der Notfallambulanz von Hrodna, wohin er aus unbekannten Gründen und in unbekanntem Zustand aus dem Hrodnaer Gefängnis überstellt worden war.
Benannt nach seinem toten Bruder
Puschkin wurde 1965 in der Kleinstadt Bobr im Kreis Krupki geboren. Sein Vater Mikalaj war Elektriker im örtlichen Sägewerk. Seine Mutter war aufgrund einer Behinderung kaum arbeitstätig.
Der Vater wurde in der Sowjetzeit nach Tschita verbannt, später nach Sachalin. Zu Beginn der 1990er Jahre wurde Mikalaj Iwanawitsch rehabilitiert. Puschkin war stolz darauf, dass seine Familie seit mindestens fünf Generationen in der Kleinstadt Bobr ansässig war und den Ort nie verlassen hatte.
Auch seine ältere Schwester Swjatlana lebt in Bobr. In der Familie hatte es bereits einen Aljaxandr Puschkin gegeben [Ales ist die belarussische Kurzform von Aljaxandr – dek], er war jedoch nur ein Jahr alt geworden. Vier Jahre später gaben die Eltern dem nächsten Sohn noch einmal denselben Namen.
Kriegsdienst in Afghanistan
Im Alter von sechs Jahren begann Ales zu malen. Als er dreizehn Jahre alt war, kamen Talentsucher der Achremtschyk-Internatsschule für Musik und Bildende Kunst in den Ort. Die Schule nahm talentierte Kinder aus der ganzen BSSR auf. Der Vater beschloss, den Jungen zur Ausbildung nach Minsk zu schicken. Die Schule war ein geschlossener Ort, den die Schüler kaum verlassen durften. Ales lernte dort acht Jahre lang.
Anschließend begann er ein Studium am Belarussischen Staatlichen Institut für Theater und Kunst, das er für den Militärdienst unterbrechen musste. Das erste Diensthalbjahr leistete Ales in Kamyschyn, wo er gemeinsam mit Jaraslaw Ramantschuk diente; das darauffolgende halbe Jahr verbrachte er in Afghanistan, wo er als Mechaniker in einer Hubschrauberstaffel diente. Ales berichtete später, er habe in der Armee niemanden so gehorsam erlebt wie die Belarussen.
Er erzählte, dass der Vorsteher der Arrestzelle, Fähnrich Belski, sein in belarussischer Sprache verfasstes Tagebuch las und ihn daraufhin beim Vorgesetzten verpfiff. Der bestrafte Puschkin mit zehn Tagen Arrest. Insgesamt verbrachte Ales 28 Tage seines Kriegsdienstes unter Arrest.
Einer der ersten politischen Gefangenen
Zurück in Belarus schloss Ales sich der Talaka-Bewegung an, später der Belarussischen Volksfront. Im Vorfeld der legendären Aktion an Allerheiligen (Dsjady) 1988 verbreitete Puschkin Flugblätter mit dem Aufruf zur Teilnahme an der Veranstaltung. Er wurde noch vor der Aktion festgenommen und zu fünf Tagen Freiheitsentzug verurteilt, die er in Einzelhaft im Akreszina-Untersuchungsgefängnis verbrachte.
Am 25. März 1989 ging Ales Puschkin auf die Straße. Er hatte eine durchgestrichene Flagge der BSSR und ein Plakat mit der Aufschrift: „Nieder mit der sozialistischen Republik, lassen wir das unabhängige Belarus auferstehen!“ dabei. Damit wollte er den gesamten heutigen Prospekt der Unabhängigkeit entlanglaufen, bis zum Regierungsgebäude, doch schon bei der Akademie der Wissenschaften wurde er festgenommen.
Das Gericht verurteilte den Künstler zu zwei Jahren auf Bewährung und entzog ihm für fünf Jahre das Wahlrecht. Allerdings wurde er nicht vom Studium ausgeschlossen. Zur Verhandlung erschien der Künstler im traditionell bestickten Hemd (Wyschywanka) und antwortete auf Belarussisch, was damals einer Kampfansage an das sowjetische System gleichkam.
Noch im selben Jahr ging die Staatspresse zu einer Hetzjagd auf Ales Puschkin über. Die Zeitungen schrieben, er träume von „einem Belarus ohne Juden und Kommunisten“. Zehn Jahre später sagte Ales, er wolle ein Belarus sowohl mit Juden als auch mit Kommunisten, im Land solle Platz für alle sein.
Die Galerie U Puschkina
Nach dem Studium ging Ales nach Wizebsk. Er sagte, er habe sich diese Stadt selbst ausgesucht, da seine Geschichte mit der Malerei, Chagall und Malewitsch, verbunden sei. Er arbeitete in einem Betrieb für Kunsthandwerk und hatte einen Wohnheimplatz. Doch das genügte Ales nicht, und so eröffnete er bald die seinerzeit erste private Kunstgalerie des Landes, die er ganz bescheiden U Puschkina [dt. Bei Puschkin] nannte.
An diesem Ort fand der erste Kongress der belarussischen Nationalisten statt, initiiert von Puschkin und Slawamir Adamowitsch. Die Veranstaltung wurde von der Polizei aufgelöst. 1997 musste die Galerie schließen. Im November 1994 führte Ales eine seiner schillerndsten Performances auf: Barfuß lief er durch die vom ersten Schnee bedeckten Straßen der Stadt Wizebsk, um den Leidensweg des unierten Metropoliten Josaphat Kunzewitsch nachzuvollziehen. Danach setzte er sich in ein Boot ohne Ruder und ließ sich die Dswina (Düna) hinuntertreiben.
Zwei außereheliche Töchter, zwei eheliche Kinder
Politik stand für Puschkin jedoch nie im Vordergrund. Er lebte für die Kunst; um sein Privatleben ranken sich Legenden. In seiner Jugendzeit hatte Ales eine Romanze mit einer russischen Geschäftsfrau aus Tambow. Er war 24, sie 39 Jahre alt. Aus der Beziehung stammt seine Tochter Hanna.
Später erregte Ales Aufmerksamkeit mit der Aussage, er würde nie eine Frau heiraten, die nicht Belarussisch spricht. In seiner Zeit in Wizebsk hatte er eine weitere Affäre, aus der seine Tochter Dascha hervorging. Lange Zeit wusste der Künstler nichts von ihrer Existenz; er lernte sie erst kennen, als sie schon 17 Jahre alt war. Beide Töchter sprechen Belarussisch.
1997 heiratete Puschkin schließlich. Seine Auserwählte war eine junge Frau, die weit von dem Leben der Bohème entfernt war – eine Lehrerin aus dem Kreis Staubzy namens Janina Demuch. Sie hatten sich in Mahiljou kennengelernt, wo Ales als Restaurator der Kathedrale des Heiligen Stanislaus arbeitete. Über die Jahre war aus dem provokanten Performance-Künstler Puschkin ein Restaurator und Ikonenmaler geworden.
Alles in allem war Puschkin ein Mensch, der eine gewaltige Transformation durchlebt hatte und nach wie vor durchlebte, sowohl in künstlerischer als auch in ideologischer Hinsicht. Janina war katholisch, Ales orthodox. Die Ehe brachte zwei Kinder hervor, Mikola und Marylja. Auf das erste Kind mussten die beiden sechs Jahre lang warten, in diese Zeit fielen zwei Fehlgeburten. Die Eltern setzten durch, dass ihr Sohn in der Schule auf Belarussisch unterrichtet wurde.
Wandmalerei in der Kirche von Bobr
Die Wandmalerei in der orthodoxen Kirche seiner Heimatstadt Bobr bezeichnete Ales als eine der wichtigsten Arbeiten seines Lebens. Das berühmteste Motiv zeigte Sünder vor dem Jüngsten Gericht, und in ihrer Mitte einen Mann, der Ähnlichkeit mit dem belarussischen Diktator hatte. Zudem waren auf dem Gemälde OMON-Leute und hohe orthodoxe Würdenträger abgebildet.
Dieses Bild musste Ales später übermalen, dennoch blieb seine Gesamtgestaltung der Kirche erhalten. Sonntags läutete Puschkin die Glocken in der Kirche. 2011 brannte die Kirche aus ungeklärten Gründen vollständig ab und musste von Grund auf neu erbaut werden.
Mist für Lukaschenka
Die berühmteste Performance Puschkins ist zweifelsfrei der Mistkarren, den er im Juli 1999 vor Lukaschenkas Präsidialverwaltung schob. Ein roter Karren; weiße Handschuhe. Ales kippte den Mist aus, darüber warf er wertlose Rubelscheine und die Verfassung. Dann durchbohrte er diesen Haufen mit einer Mistgabel. Er wurde von Polizisten festgenommen, im Verhör weigerte er sich, seinen Namen zu nennen, und sagte, er sei „ein Mann aus dem Volk“. Man ließ ihn unter Auflagen laufen, aber einige Zeit später wurde er wegen Rowdytum zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt.
Ales Pushkin und seine berühmteste Performance „Ein Geschenk für den Präsidenten“ am 21. Juli 1999
2015 sagte Puschkin, er würde im Jahr 2020 eine Schubkarre voll Rosen zur Präsidialverwaltung bringen, sollte Belarus dann noch ein unabhängiger Staat sein. Doch dann kam alles ganz anders. Ein weiteres Strafverfahren gegen Puschkin wäre beinahe im September 2007 eröffnet worden, als er nach dem Festival Schlacht bei Orscha gemeinsam mit Aktivisten der Malady Front [dt. Junge Front] aufs Polizeirevier gebracht wurde, wo er in einem unbeobachteten Moment die Staatsflagge nahm und sie aus dem Fenster des zweiten Stocks warf. Der Künstler sollte daraufhin wegen „geringfügigen Diebstahls“ angeklagt werden, aber vor Gericht sagte er, er wolle nicht mit solchen Formulierungen behelligt werden und lieber gleich ein ordentliches Strafverfahren bekommen. Letztlich blieb es dann bei zehn Tagen Untersuchungshaft.
Das sind bei Weitem noch nicht alle Abenteuer, die der Künstler erleben durfte. Er wurde dafür festgenommen, dass er sich in einem Telefongespräch negativ über den KGB-Chef Szjapan Sucharenka äußerte, und er sollte für eine Explosion zur Verantwortung gezogen werden, die am Kupalje-Fest 2013 auf seinem Grundstück passierte, als er Graupensuppe kochte. Mit den Geschichten, die sich um Puschkin ereigneten, könnte man wohl ein Buch füllen.
Puschkin war dieser Typ Künstler, dessen Leben gern verfilmt oder in Romanen festgehalten wird.
2020 wurde Puschkin während der Proteste um die Wahlen verprügelt, und auch daraus machte er eine Performance, indem er die blauen Flecken an Bauch, Rücken und Hintern öffentlich zur Schau stellte. Der Künstler hatte zuvor drei Tage im Akreszina-Gefängnis verbracht. Er nahm an fast allen Sonntagsmärschen und auch anderen Aktionen teil, wobei er eine Ikone bei sich trug.
Am 26. März 2021 eröffnete das Lukaschenka-Regime das Strafverfahren gegen ihn wegen des Auhen Shychar-Porträts. Am 30. März wurde Puschkin nach seiner Rückkehr aus dem Ausland festgenommen. Ein Jahr verbrachte der Künstler in Einzelzellen in Untersuchungshaft. Während einer Gerichtsverhandlung am 25. März 2022, die wie alle politisch motivierten Prozesse unter Lukaschenka einer Inszenierung glich, schnitt Puschkin sich zum Zeichen des Protestes den Bauch auf. Zudem weigerte er sich aufzustehen und verlangte, dass man ihm die Handschellen abnimmt. Am 30. März 2022 sprach Richterin Alena Schylko das Urteil: fünf Jahre Hochsicherheitslager. Ales Puschkin war einer von tausenden Belarussen, die aus politischen Gründen ihrer Freiheit beraubt wurden.
Die massenhaften politischen Repressionen in Belarus halten seit 2020 an, als Aljaxandr Lukaschenka – legt man die Ergebnisse der Wahllokale zugrunde, bei denen unabhängige Beobachter zugelassen waren – die Präsidentschaftswahl an Swjatlana Zichanouskaja verlor, sein Amt aber nicht abtrat.
Seit dem großangelegten Angriff Russlands auf die Ukraine im Jahr 2022 werden Belarussen auch für Meinungsäußerungen verfolgt, die sich gegen den Krieg richten und Sympathie mit der Ukraine bekunden. Seit 2020 gab es in Belarus mehr als 50.000 politisch motivierte Festnahmen; über 12.000 politische Strafverfahren wurden eröffnet. Zu manchen politischen Gefangenen besteht seit Monaten kein Kontakt mehr.
Ales Puschkin wurde im August 2022 von der Verwaltung des Lagers Nr. 22 mit fünf Monaten Isolationshaft bestraft. Im Frühjahr 2023 wurde er schließlich ins Gefängnis in Hrodna überstellt. In der Gefangenschaft malte Puschkin weiter, auf alles, was ihm in die Hände kam. Seine letzten Werke verbleiben bei den Lagerhäftlingen und Gefängnisinsassen, denen es gelang, sie zu bewahren.
Auf Anfrage teilte das Gefängnis in Hrodna Nasha Niva mit, dass Puschkin in die Notfallambulanz eingeliefert worden sei. Das Krankenhaus wiederum bestätigte, der inhaftierte Künstler sei mit Wachschutz in der Notaufnahme gewesen. Seine Familie wusste nichts davon.
„Leser schreiben, dass sie meine Bücher aus Bibliotheken retten, damit sie nicht vernichtet werden. Sie bewahren sie bis zu besseren Zeiten auf. Wir schreiben das 21. Jahrhundert in Belarus: Bücher müssen aus Bibliotheken gerettet werden.“ Dies sagte Alhierd Bacharevič in einem Interview mit dem Online-Medium Zerkalo. Gleich zwei Romane des belarussischen Schriftstellers wurden von den Behörden in Belarus für „extremistisch“ erklärt. So gehen die Machthaber um Alexander Lukaschenko seit den Protesten von 2020 nicht nur gegen Oppositionelle, Aktivisten, Journalisten, Medien oder NGOs vor, sondern eben auch gegen Literatur.
Das Online-Medium Mediazona Belarus stellt Bücher und ihre Autoren vor, die auf der Liste „extremistischer Materialien“ gelandet sind, auf der sich das Medium seit 2022 selbst befindet.
Die im Folgenden vorgestellten Bücher wurden vom belarussischen Regime als „extremistisch“ eingestuft. Wer sie besitzt oder verbreitet, kann in Belarus mit Geld- oder Freiheitsstrafen geahndet werden.
Alhierd Bacharevič: Sabaki Europy (Die Hunde Europas)
Worum es geht:Die Hunde Europas – eine Antiutopie in sechs Einzelgeschichten. In einem der Handlungsstränge hat Belarus längst seine Souveränität verloren und gehört zu Russland.
„Mir gefällt die Idee, dass die Hunde Europas die Belarussen sind. Der Hund ist ein Wesen, das stets in der Nähe des Menschen lebt, er hat seine eigene Sprache, seine Weltsicht. Der Hund ist scheinbar immer in unserer Nähe. Er versucht uns etwas zu sagen, aber wir verstehen es nicht“, erzählt der Autor über sein Buch.
Der Autor: Der Schriftsteller Alhierd Bacharevič lebte in Deutschland, kehrte dann nach Belarus zurück und hat das Land nach den Protesten von 2020 erneut verlassen. Das Buch erschien erstmals 2017 im Verlag Lohvinau, 2021 wurde es im Verlag Januškievič neu aufgelegt. Die in Litauen gedruckte Auflage der Hunde wurde an der Grenze vom belarussischen Zoll beschlagnahmt, um eine Expertise „bezüglich Extremismus“ vorzunehmen. Am 17. Mai 2022 wurde der Roman per Gerichtsbeschluss in die Liste der extremistischen Materialien aufgenommen.
Der Verlag Januškievič musste seine Arbeit in Belarus nach einer Razzia in der gerade erst eröffneten Buchhandlung Knihauka einstellen. Zuerst waren Mitarbeiter der Propagandaabteilung dort aufgetaucht, später Silowiki. Die Bücher wurden mitgenommen, der Verlagsgründer und eine Mitarbeiterin wurden mehrfach wegen Ordnungswidrigkeiten bestraft. Heute führt der Verlag Januškievič seine Arbeit im Ausland fort.
Alhierd Bacharevič schrieb, die beschlagnahmte Auflage der Hunde sei „mit Traktoren in die Erde gemalmt“ worden.
Alhierd Bacharevič: Aposchnjaja kniha pana A (Das letzte Buch von Herrn A.)
Das Buch wurde 2020 von den Verlagen Januškievič und Vesna gemeinsam herausgegeben.
Worum es geht: Der Protagonist des Buches, Herr A., muss zur Begleichung einer Schuld Märchen erzählen – aus denen dieses Buch besteht. Währenddessen wird die Welt von einer Epidemie heimgesucht.
Bacharevič erläuterte, dass die Handlung erdacht wurde, „lange bevor das Wort Coronavirus auf der Welt auftauchte“. „Eine Gruppe von Intellektuellen versammelt sich in einem Minsker Haus, lauscht jeden Abend Märchen, während sich draußen etwas Unglaubliches abspielt, eine Epidemie, die Pest des 21. Jahrhunderts.“
Das Buch wurde am 6. März 2023 für extremistisch erklärt. Eine Überprüfung des Buches auf „Extremismus“ befand die Spezialkommission für „nicht zielführend, da die Formulierungen offensichtlich sind“. Der Extremismus sei offensichtlich!
Der Autor äußerte sich dazu in einem Interview mit Zerkalo: „In dunklen Zeiten ist Literatur immer auch Politik. Und so ist auch Das letzte Buch von Herrn A. keineswegs unpolitisch. Es erschien 2020. Auf der ersten Seite lesen wir: ,Es gibt kein Ziel außer dem, deine dir gegebenen Tage würdevoll und bewusst zu erleben, bis zum Ende, was auch immer die mächtigsten Mächtigen, die brutalen Spaßmacher und Blutsauger sich ausdenken‘ [hier zitiert nach der deutschen Übersetzung von Alhierd Bacharevič und Andreas Rostek, edition.fototapeta, 2023 – dek]. Herr A. erzählt im Buch verschiedene Geschichten, die meisten sind direkt mit der belarussischen Wirklichkeit verknüpft. In dem Märchen Raman Burak, der Mensch konstruieren Emigranten einen Robotermenschen. Er soll in das Land reisen, das sie verlassen haben, und den Führer der Nation töten. In dem Märchen In heitere Höhen (ein Zitat aus der Hymne der BSSR) tauscht ein Arbeiter die Staatsflagge am zentralen Fahnenmast des Landes aus und sieht, dass sie mit menschlichem Blut getränkt ist … Natürlich kann man all das als ,extremistisch‘ bezeichnen, wenn man die entstellte Sprache des Regimes verwenden möchte, die den Worten ihre ursprüngliche Bedeutung raubt.“
Igor Iljasch, Jekaterina Andrejewa: Belorusski Donbass (Der Belarussische Donbass)
Worum es geht: Das Buch ist der belarussischen Rolle im Krieg im Donbass gewidmet. Die Journalisten lassen Belarussen auf beiden Seiten der Front zu Wort kommen.
„Wir haben versucht, alle Berührungspunkte zu beleuchten: von der Beteiligung belarussischer Bürger an den Kampfhandlungen bis hin zur Rolle der Geheimdienste in diesem Prozess, vom illegalen Handel mit DNR und LNR bis hin zur Arbeit von Freiwilligen, von der politischen Konjunktur bis zur Informationsstrategie der Regierungen“, so die Autoren.
Die Autoren: Die Journalisten Igor Iljasch und Jekaterina Andrejewa (Bachwalowa).
Das Buch wurde am 26. März 2021 für extremistisch erklärt. Jekaterina Andrejewa befindet sich in Haft. Zunächst wurde sie für einen Livestream vom Platz des Wandels zu zwei Jahren Straflager verurteilt, kurz vor dem Ende ihrer Haftzeit fand ein zweiter Prozess statt, in dem sie wegen „Staatsverrats“ angeklagt und zu acht Jahren und drei Monaten Straflager verurteilt wurde.
Anatoli Hatoutschyz: Adysseja kapitana BNR (Die Odyssee des BNR-Hauptmanns)
„Das dramatische Schicksal eines seinem Heimatland ergebenen Belarussen unter dem Druck der bolschewistischen Kollektivierung, den Wirren der Kriegsjahre, erzwungener Emigration und schließlich der Rückkehr in die Heimat an Bord eines amerikanischen Flugzeugs, mit einem Fallschirm auf dem Rücken – zur Untermauerung der belarussischen Unabhängigkeit und Souveränität“, so heißt es im Klappentext des Buches über den Helden Zimoch Wostrykau.
Schon Wostrykaus Vater war Repressionen ausgesetzt und starb im Gulag. Zimoch Wostrykau selbst verbrachte 23 Jahre in Straflagern und starb 2007 in Homel.
Der Autor: Anatol Hatoutschyz ist Journalist in Homel und leitete die dortige Abteilung des Belarussischen Journalistenverbandes (BAJ).
Das Buch wurde am 16. März 2023 für extremistisch erklärt. Der Autor wurde mehrfach von Silowiki festgenommen, seine Wohnung wiederholt durchsucht.
Joseph Brodsky: Ballada pra malenki buksir (Die Ballade vom kleinen Schlepper), ein Kinderbuch, ins Belarussische übertragen von Alessja Aleinik
Worum es geht: Ein kleines Schleppboot schuftet und schuftet, ohne je den Heimathafen zu verlassen: es schleppt Schiffe hinein in den Hafen und wieder hinaus.
Der Autor: ist der russisch-amerikanische Schriftsteller, Dramaturg und Übersetzer Joseph Brodsky, die Übersetzerin Alessja Aleinik.
Das Buch erschien im Verlag Januškievič. Es wurde am 18. Oktober 2022 durch einen Beschluss des Stadtbezirksgerichtes Zentralny in Minsk für extremistisch erklärt.
Der Herausgeber Andrei Januschkewitsch schrieb, dass er während der Razzia in seinem Buchladen Knihauka in Minsk die Mitarbeiter der Antikorruptionsbehörde GUBOPiK fragte, was ihnen an diesem Buch Brodskys missfalle. „Ein Kindergedicht, veröffentlicht 1962, der Text ohne jeglichen Bezug zu Belarus … Zur Antwort bekam ich, dass die Farbgebung des Schleppbootes in den Illustrationen verdächtig sei (?!).“
Das historische Verhältnis der drei ostslawischen Sprachen Belarusisch, Ukrainisch und Russisch ist offensichtlich nicht nur für den erlesenen Kreis slawistischer Mediävist*innen interessant. In den Fokus der breiten Bevölkerung ist es gerückt, weil Wladimir Putin seinen Feldzug gegen die Ukraine mit vermeintlichen historischen Fakten begründet, auch sprachgeschichtlicher Natur. So schreibt Putin in dem Aufsatz Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer, dass die mittelalterlichen slawischen Stämme „von Ladoga, Nowgorod, Pskow bis Kiew und Tschernigow“ durch „eine Sprache vereint“ gewesen seien. Wie beiläufig lässt er fallen, dass „wir diese Sprache heute altrussisch nennen“. Ein genuin philologisches Interesse ist dem Autor nicht zu unterstellen. Vielmehr verhandelt er über die Eigenständigkeit von Sprachen die Eigenständigkeit von Nationen und Ländern, um daraus handfeste eigene, politische Ansprüche abzuleiten. Denn wenn sich die belarusische und die ukrainische Sprache irgendwann einmal vom Russischen abgespalten haben – so ein nicht nur von Putin bedienter, weit verbreiteter Irrglaube –, sind sie dann nicht letztlich nur Unterarten der russischen Sprache? Und wenn dem so wäre, müssten dann nicht Belarus*innen und Ukrainer*innen letztlich eigentlich Russ*innen sein?
Putin spricht in jenem Aufsatz ein Gebiet an, das weite Teile der heutigen Ukraine, der Republik Belarus und des europäischen Russlands umfasst.1 Im Mittelalter bestand an dieser Stelle das Großreich der Kyjiwer Rus. Die Bevölkerung dieses Reiches sprach neben finnischen und baltischen vor allem ostslawische Mundarten – einer der drei Zweige des Slawischen. Die Bezeichnung Rus stammt – so die gängigste Theorie – vom ostseefinnischen Wort ruotsi, das wohl seinerseits auf ein nordgermanisches Wort für „Ruderer“ zurückgeht. Hiermit waren zunächst nicht Ostslawen, sondern auch als Waräger bekannte Wikingergemeinschaften gemeint, die über Flüsse wie Newa, Wolchow, Düna und Dnipro aus der Ostsee durch das ostslawische Gebiet ins Schwarze Meer und nach Konstantinopel reisten. Zur Sicherung ihrer Routen errichteten sie Stützpunkte, aus denen sich lokale Machtzentren herausbildeten. Im späten 9. Jahrhundert gelang es, die größten dieser Machtzentren – Nowgorod im Norden und Kiew/Kyjiw im Süden – zu vereinen. Das neue Großreich übernahm die Bezeichnung Rus. Bald passten sich die skandinavischen Waräger sprachlich an die ostslawische Bevölkerungsmehrheit an. Mit der Zeit wurde Rus zur Bezeichnung der Ostslawen schlechthin.
Rus kommt nicht von Russisch
Putin ist nicht der erste, der dieses mittelalterliche Reich als ersten „(alt-)russischen Staat“ bezeichnet und dessen Sprache als „altrussisch“. Diese Bezeichnungen sind zumindest irreführend: Sie suggerieren, dass die Menschen damals Russen gewesen wären und sich einer Form des Russischen bedient hätten, und eben nicht des Belarusischen oder des Ukrainischen. Somit scheint das Russische, erstens, seit dem tiefsten Mittelalter dagewesen zu sein, und zwar, zweitens, als einzige ostslawische Sprache, und, drittens, seine Identität bis heute bewahrt zu haben. Dem Belarusischen und dem Ukrainischen bliebe dann nur die Rolle des Spalters. Ursprünglich meinte „russisch“ aber nichts anderes, als ein Teil des Reiches der Rus zu sein beziehungsweise gewesen zu sein.2 Anders als das Ukrainische und das Belarusische („Weißrussische“) hatte das Russische letztendlich vor allem eines: das historische „Glück“, die Bezeichnung Rus ohne irgendeinen einschränkenden Wortteil zu erben. Dieses „Glück“ ist letztlich in der Vormachtstellung des Russischen Zarenreiches ab dem 17. Jahrhundert begründet.
Über die Sprachen in der Kyjiwer Rus
Man könnte dies nun alles ignorieren – schließlich haben das Alter von Sprachen und mittelalterliche Sprachverhältnisse, ja Sprachverhältnisse überhaupt, nichts über heutige nationale und staatliche Eigenständigkeiten auszusagen. Wirkmächtig sind solche Vorstellungen dennoch, so dass man doch nicht umhin kommt, über Sprache und Sprachen der Ostslawen, deren Alter und Verhältnis zueinander zu sprechen. Dabei ist es wesentlich, zwischen zwei Erscheinungsformen von Sprache zu unterscheiden: einerseits Standardsprachen im modernen Sinne beziehungsweise für frühere Epochen überregionale, geschriebene Formen, die von wenigen Kundigen für kulturell hochstehende Bereiche verwendet wurden; andererseits die Mundarten, die die breite Bevölkerung in ihrem Alltag verwendete.
Im Alltag sprachen die Bewohner der Kyjiwer Rus ihre ostslawischen Mundarten (oder ihre baltischen und finnischen Mundarten). In dieser Zeit können keine klar voneinander getrennten Vorläufer der drei ostslawischen Sprachen identifiziert werden. Zwar gab es deutliche Unterschiede zwischen räumlich weit entfernten Mundarten, zwischen den aneinandergrenzenden Mundarten gab es aber fließende Übergänge. Die Geschichte dieser ostslawischen Mundarten ist kurz erzählt: Wie jede Sprachform veränderten sie sich im Laufe der Jahrhunderte, sie blieben aber das Kommunikationsmittel der breiten Bevölkerung bis in das 20. Jahrhundert hinein und existieren bis heute. Dabei bestehen immer noch fließende Übergänge der Mundarten, selbst über die heutigen Staatsgrenzen hinweg. Dies ist auch für Mundarten in anderen Teilen Europas nichts Ungewöhnliches – beispielsweise an der niederländisch-deutschen oder der portugiesisch-spanischen Grenze.
Geschrieben wurden ostslawische Mundarten relativ selten – bekannt sind Alltagstexte, verfasst auf Birkenrinde (z. B. kurze private Briefe), die vor allem in Nowgorod, aber auch an anderen Orten gefunden wurden. Diese Texte spiegeln die dortigen Mundarten wider. Auch die eher schematisch-formelhafte Sprache von Rechtstexten war ostslawisch (im Wesentlichen handelt es sich um einen größeren Text, die Russkaja prawda – zu übersetzen eben nicht mit „Russisches Recht“, sondern mit „Recht der Rus“). Kurzum: Ostslawisch war die Sprache von weltlichen Texten. Allerdings war ein sehr großer Teil des Schrifttums in der Rus wie anderswo im mittelalterlichen Europa religiös geprägt. Ähnlich wie weiter westlich das Lateinische den kulturell-religiösen Bereich und damit das Schrifttum überhaupt dominierte, dominierte auch im ostslawischen Raum eine importierte Sprache, und zwar das sogenannte Kirchenslawische.
Der Weg des Kirchenslawischen
Das Kirchenslawische kam über Umwege in die Rus. Es war bereits im 9. Jahrhundert von den Brüdern Konstantin (der später den Mönchsnamen Kyrill annahm) und Method, zweier im Dienste von Byzanz stehenden Geistlichen erschaffen worden, und zwar zur Missionierung der Westslawen im damaligen „Mährischen Reich“. Um den Slawen die heiligen Texte in „ihrer“ Sprache näherbringen zu können, kombinierten die beiden sogenannten Slawenapostel ihren südslawischen Dialekt mit komplexeren Satzstrukturen und abstrakterem Wortschatz, die sie an griechische oder lateinische Vorbilder anlehnten. Kyrill entwickelte ein eigenes Schriftsystem, das Glagolitische. Für kurze Zeit war das Altkirchenslawische als erste und einzige Sprache auf zeitgenössischer Basis (wenn es letztlich auch eine Plansprache war, ohne „Muttersprachler“) neben Latein, Griechisch und Hebräisch auch von Rom als Sakralsprache anerkannt.
Die „mährische Mission“ scheiterte jedoch, in ihrem Zielgebiet setzte sich die lateinische Liturgie durch. Die Schüler von Kyrill und Method mussten bald fliehen, die meisten in das damalige Bulgarische Reich. Hier entstand das nach Kyrill benannte, aber nicht von ihm selbst entwickelte kyrillische Alphabet, das kaum auf dem Glagolitischen, aber stark auf dem griechischen Alphabet beruht. In der Folge sollte es zur Schrift der orthodoxen Slawia werden. Als um 990 der Großfürst der Rus Wolodymyr (so der ukrainische, auf dem Ostslawischen beruhende Name) bzw. Wladimir (so der heutige kirchenslawisch geprägte russische Name) mit seinem Gefolge das Christentum annahm, wurde dieses kyrillisch geschriebene Kirchenslawische zur Missionierung der Bevölkerung eingesetzt. Den Ostslawen war das im Wesentlichen südslawische Kirchenslawische zu dieser Zeit partiell wohl noch verständlich, zumindest klang es vertrauter als es etwa beim Griechischen oder beim Lateinischen der Fall gewesen wäre.
Sprachkonkurrenz in Moskau und Litauen
Die Kyjiwer Rus zerfiel im 13. Jahrhundert. Der östliche Teil wurde der mongolischen Goldenen Horde tributpflichtig. Später, im 14. und 15. Jahrhundert, etablierte hier das ursprünglich unbedeutende Fürstentum Moskau seine Vorherrschaft. Die bis dahin bestehende sprachliche Konstellation hatte in der Moskauer Rus, aus dem das Russische Zarenreich hervorging, noch bis ins 17. Jahrhundert Bestand: Ostslawisch (im Sinne zahlreicher Mundarten) war die Sprache im Alltag und in weltlichen Angelegenheiten, wurde aber nur begrenzt geschrieben. Kirchenslawisch galt für die höheren Sphären. Es ergab sich eine sogenannte Diglossie: eine Situation, in der sich zwei Sprachen – eine „hohe“ und eine „niedrige“ – recht strikt die Anwendungsbereiche aufteilen.
Anders sah es im westlichen Teil der einstigen Rus aus, auf dem Gebiet der heutigen Belarus und der Ukraine. Im 14. Jahrhundert waren diese Gebiete Teile des Großfürstentums Litauen geworden. Anders als in Moskau entstand hier relativ früh eine überregionale Schriftsprache, die auf dem Ostslawischen beruhte.3 Die litauischen Eroberer nutzten das Ostslawische der Bevölkerungsmehrheit und das kyrillische Alphabet in der Verwaltung ihres riesigen Reiches. Im 16. und frühen 17. Jahrhundert machte dieses westliche, aus heutiger Sicht „belarusisch“ und „ukrainisch“ geprägte Ostslawische dem Kirchenslawischen ernsthafte Konkurrenz, denn es wurde nun nicht nur zu profanen Zwecken, sondern auch für Übersetzungen religiöser Texte, vor allem aber in konfessionellen Disputen gebraucht. Diese Sprache wurde von Zeitgenossen als „Sprache der Rus“ (ruska mova) oder als „einfache Sprache“ (prosta mova) bezeichnet. „Einfach“ ist dabei keinesfalls mit „simpel“ gleichzusetzen, sondern hebt auf ihre im Gegensatz zum Kirchenslawischen volkssprachlich-autochthone Basis ab. Diese Emanzipation der autochthonen Prosta mova passierte ganz ähnlich wie bei anderen europäischen „Volkssprachen“ im 16. und 17. Jahrhundert im Zuge von Reformation und Gegenreformation.
Während die Prosta mova von russischer Seite und auch in älteren deutschsprachigen Quellen oft und problematischerweise als „westrussisch“ bezeichnet wird, wird heutzutage im Deutschen in der Regel die Bezeichnung „ruthenisch“ bevorzugt. Diese Bezeichnung drückt aus, dass es sich eben nicht um eine Unterart des Russischen handelte. In der Belarus ist die Bezeichnung „Altbelarusisch“, in der Ukraine „Altukrainisch“ geläufig. Auch diese Bezeichnungen sind nicht unproblematisch, denn die Prosta mova insgesamt ist weder klar dem heutigen Belarusischen noch dem Ukrainischen zuzuordnen, auch wenn einzelne Texte mal mehr Ähnlichkeiten zu Mundarten des heutigen belarusischen, mal zu solchen des ukrainischen Gebiets aufweisen.
Die ruthenische Schriftsprache des Großfürstentum Litauens hat wie das Großfürstentum selbst die Jahrhunderte nicht überdauert. Ende des 17. Jahrhunderts wurde ihre Verwendung in Verwaltung und Rechtsprechung aufgehoben, ihre Bedeutung hatte sie schon zuvor verloren. Nachdem Litauen bereits in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts Teil eines gemeinsamen polnisch-litauischen Staates geworden war und sich kulturell immer stärker an Polen orientiert hatte, wurde die ruthenische Schriftsprache vom kulturell attraktiven Polnischen verdrängt.
Die modernen Standardsprachen
Um 1700 war damit „in der ostslavischen Sprachlandschaft […] noch nichts von dem in Sicht, was heute als Russisch, Ukrainisch und Weißrussisch (im Sinne der jeweiligen Standardsprachen) bezeichnet wird“.4 Die Bevölkerung sprach ihre jeweiligen Mundarten. Als Schriftsprache dominierte im Großfürstentum Litauen nunmehr das Polnische, im russischen Zarenreich nach wie vor das Kirchenslawische. Angestoßen durch die Modernisierungen Peters des Großen gab es im Zarenreich des 18. Jahrhunderts einen vehementen Konflikt, ob die als notwendig erachtete zukünftige russische Schriftsprache eher am Kirchenslawischen oder eher an der Volkssprache auszurichten war. Die moderne russische Standardsprache, die sich im 18. Jahrhundert allmählich herausbildete und im 19. Jahrhundert insbesondere im Werk des Schriftstellers Alexander S. Puschkin verfestigte, ist letztendlich ein Kompromiss: Sie beruht zum einen auf mittelrussischen Mundarten rund um Moskau, enthält aber sehr viele Elemente und Eigenschaften des Kirchenslawischen.
Die moderne ukrainische und die moderne belarusische Standardsprache sind nur etwas jünger. Wie viele andere moderne Standardsprachen sind sie Kinder des „Völkererwachens“ des 19. Jahrhunderts. Die Startbedingungen waren für sie schlechter als für das Russische: Zu dieser Zeit war das belarusische Sprachgebiet Teil des Russischen Zarenreiches geworden, das ukrainische größtenteils ebenfalls, ein kleinerer Teil gehörte zu Österreich. Dennoch bildeten sich in dieser Zeit das moderne Ukrainische und das moderne Belarusische im Werk von Schriftstellern wie den Ukrainern Iwan P. Kotljarewsky und Taras Schewtschenko und den Belarusen Winzent Dunin-Marzinkewitsch und Franzischak Bahuschewitsch heraus. Beide Sprachen beruhen auf damaligen ukrainischen beziehungsweise belarusischen Mundarten, ohne größere Rückgriffe auf das Kirchenslawische oder die frühneuzeitliche ruthenische Schriftsprache.5
Angesichts der Dominanz des Russischen in diesen Gebieten hatten die belarusische und die ukrainische Standardsprache auch weiterhin keine einfache Geschichte. Gerade in der Zeit der Sowjetunion gab es starke Versuche, die beiden Sprachen zugunsten des Russischen zurückzudrängen und sie zu „russifizieren“, dem Russischen ähnlicher zu machen. Diese Politik hat zweifellos ihre Spuren im Belarusischen und Ukrainischen hinterlassen. Aus dem Russischen entwickelt haben sie sich aber ebenso zweifellos nicht. Wenn die Kyjiwer Rus als Beginn der russischen Sprache und der „russischen Welt“ bezeichnet wird, nicht aber der belarusischen und ukrainischen, so beruht dies auf einem nomenklatorischen Trick: nämlich auf der Bezeichnung eines mittelalterlichen Großreiches und seiner Sprache, in dem an das Russische, das Ukrainische und das Belarusische, so wie wir es heute kennen, nicht zu denken war, als „altrussisch“.
Und noch eine ostslawische Sprache?
Abschließend: Es mag überraschen, dass auch Slawist*innen auf die simple Frage, wie viele ostslawische Sprachen es denn gäbe, unterschiedlich antworten. Dies liegt daran, dass manche Sprachformen eine größere Menge an kommunikativen Funktionen ausfüllen als typische Mundarten bzw. Dialekte, aber andererseits auch weniger als typische, voll ausgebildete Standardsprachen. Ein solcher Fall ist zum Beispiel das Russinische, das oft als vierte ostslawische Sprache bezeichnet wird. Es wird im Karpatenraum vor allem der Slowakei, der südwestlichen Ukraine und im südöstlichen Polen verwendet, nach migrativen Verschiebungen im 18. Jahrhundert auch in der serbischen Wojwodina. Für das Wojwodina-Russinische ist der Ausbau zu einer Standardsprache recht weit vorangeschritten. Für das Karpato-Russinische ist die Lage unterschiedlich, am wenigsten weit ist man in der Ukraine, am weitesten in der Slowakei.
ANMERKUNG DER REDAKTION:
Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.
Eine kritische Einordnung des Textes findet sich in Kappeler, Andreas (2021): Revisionismus und Drohungen: Vladimir Putins Text zur Einheit von Russen und Ukrainern, in: Osteuropa 2021:7, S. 67–76 ↩︎
Moser, Michael (2022): The late origins of the glottonym “русский язык”, in: Russian Linguistics 46, S. 365–370 ↩︎
Moser, Michael (2020): Middle Ruthenian, in: Encyclopedia of Slavic Languages and Linguistics Online, Brill ↩︎
Hentschel, Gerd (1997): Rußland, Weißrußland, Ukraine: Sprachen und Staaten der ‘slavischen Nachfolge’ von Zarenreich und Sowjetunion, in: Hentschel, Gerd (Hrsg.): Über Muttersprachen und Vaterländer: Beobachtungen zum Problemkreis von Sprache und Nation, Frankfurt, S. 211–240, hier: S. 224 ↩︎
Bieder, Hermann (2014): Herausbildung der Standardsprachen: Ukrainisch und Weißrussisch, in: Gutschmidt, Karl/Berger, Tilman/Kempgen, Sebastian/Kosta, Peter (Hrsg.): Die Slavischen Sprachen: Halbband 2, Berlin, München, Boston, S. 1412-1422 ↩︎
Zehntausende Belarussen hat Alexander Lukaschenko seit den Protesten 2020 mit brutalen Repressionen außer Landes getrieben. Viele gingen zunächst auch in die Ukraine, von wo sie vor dem russischen Angriffskrieg ein zweites Mal fliehen mussten. Die Eltern oder die Großeltern blieben zurück in der Heimat, Familien wurden entzweit, ohne Hoffnung, sich in naher Zukunft wiedersehen zu können. In der Fremde warten neue Herausforderungen: eine Arbeit finden, eine Wohnung, Plätze in Schulen für die Kinder, durchkommen, kämpfen. Und doch bleiben die Sorgen um die Zurückgebliebenen, um die Heimat.
Für die Rubrik Schmerz des belarussischen Online-Mediums KYKY hat die belarussische Autorin und Redakteurin der Plattform OstWestMonitoring Sabina Brilo aufgeschrieben, was viele Belarussen im erzwungenen Exil umtreibt. Auch sie musste Belarus verlassen und ist „seit fast zwei Jahren im Nirgendwo“, wie sie schreibt.
Menschliche Anpassungsfähigkeit ist etwas, was mich verblüfft und bei mir fast schon so etwas wie Neid hervorruft. Sich einleben, heimisch werden, gedeihen … Ich kann das nicht.
Fast zwei Jahre schon bin ich nicht zu Hause, und die ganze Zeit nirgendwo. Ich bin in Not, in riesiger menschlicher Not.
Was meine ich mit der Unmöglichkeit, mich an ein Leben jenseits meines Zuhauses anzupassen? Für mich geht es weniger um Fragen der persönlichen, physischen Existenz (Wohnort, Essen, Gesundheit, Arbeit und Erholung), sondern vielmehr um eine emotionale Unstimmigkeit und mentale Dissonanzen. Die gehen einher mit einem Gefühl der Absurdität darüber, was mit uns (unseren Familien, den Völkern, der Menschheit) geschieht und sogar von uns zur Norm gemacht wird. Die vielen trostbringenden Aktionen, die Hilfe durch wohlhabende Menschen, die Industrie psychologischer Teilhabe, die Förderprogramme und Solidaritätsaktionen ermöglichen – das alles ist eher die Bestätigung eines abnormen Zustands, der jetzt die Norm ist, als dass es helfen würde, diesen Zustand zu begreifen und nach Wegen zu suchen, ihn tatsächlich und nicht nur imaginär zu überwinden.
„Beschreibe, entwirf deine persönlichen Grenzen und gestalte deinen Raum“, sagen diplomierte Fachleute. Dieser Rat klingt (methodo)logisch, und er wird gern eingesetzt, um das Leben zu erleichtern. Ich selbst stelle mir diese Grenzen wie ein Schneckenhaus vor: Innen drin ist es wie zu Hause, draußen aber kannst du jederzeit unter einen groben Stiefel geraten.
Der Staat, in dem ich lebte und der mich eigentlich schützen sollte, drohte mir mit einer echten Hölle
Die Welt ist heute voller grober Stiefel, die vollkommen ungestraft (und das sogar gegen Geld!) Blumen, Sträucher und Schnecken zertrampeln, darunter solche, die wie ich ohne Haus sind.
Dabei hatte es ja ein Haus gegeben, aber das hat nicht geholfen. Seit über anderthalb Jahren schlafe ich in einem fremden Bett. Und zwar nicht, weil ich mein Land verlassen habe, um ein besseres Leben, ein leckeres Stück Kuchen oder einen Platz an der Sonne zu haben … Nein, ich bin ausgereist und habe alles zurückgelassen, was mir lieb und teuer war, um mich vor dem nahezu Schrecklichsten zu bewahren, was einem Menschen durch Seinesgleichen geschehen kann: einer ungerechten Gefängnishaft.
Der Staat, in dem ich lebte und der mich eigentlich schützen sollte, drohte mir mit einer echten Hölle, obwohl ich mir nichts hatte zu Schulden kommen lassen. Dieser Gedanke an ein Loch im Rechtssystem, ein Vakuum, das systematisch menschliche Leben aufsaugt, lässt mir auch im fremden Bett keine Ruhe. In einer Welt, in der ein gesetzestreuer Mensch nicht vor der Willkür der Machthabenden geschützt ist (sie können dich ins Gefängnis werfen, in den Krieg schicken, deine Menschenwürde im Fernsehen mit Füßen treten), kann ich nicht ruhig schlafen und nachdenken, wie ich damit umgehen soll.
Schon lustig: Eine Schnecke ohne Haus überlegt, wie sie die Welt retten kann.
Ich habe kaum gemerkt, wie schnell fern der Heimat anderthalb Jahre verflogen sind. Ich erinnere mich, wie ich kurz nach der Ankunft eine Bekannte aus Minsk traf. „Bist du schon lange hier?“, fragte ich. „Ja, schon ein Jahr.“ Damals kam mir das wie eine Ewigkeit vor. Innerhalb eines Jahres kann man sich einrichten, sich einleben, dachte ich damals. Und ich dachte auch, dass uns beide ein ganzes Jahr eines unterschiedlichen Lebens und vollkommen unterschiedlicher Erfahrungen trennt.
Jetzt weiß ich, dass man auch über mich so denkt: „Du bist jetzt in Sicherheit, dich treiben jetzt ganz andere Probleme um.“ Aber nein. Meine Gedanken, meine Liebsten, meine Sorgen, all das ist immer noch mit dem verbunden, was zu Hause geblieben ist.
Mein Gott! Der Täter verlangt vom Opfer, dass es um Entschuldigung bittet!
Ich weiß sehr wohl, was hilft und was eine Vertriebene daran hindert, sich einzuleben. Welche Praktiken vonnöten sind und was man lieber unterlassen sollte, wenn man versucht, sein Leben zu einem vollwertigen zu machen.
Zum Beispiel sollte man sich nicht jeden Abend, beim Versuch einzuschlafen sein Zuhause vorstellen. Wie man in die Küche geht, Geschirr spült, Staub vom Küchenschrank wischt. Und auch nicht an die alte Katze denken, die man bei Verwandten gelassen hat (meine Finger erinnern sich an jeden ihrer Knochen, an jeden Ballen ihrer Pfote).
Stell dir lieber nicht vor, dass du jetzt die Augen öffnest und dann vor dir das Nachttischchen steht, mit den Büchern darauf und den Notizblöcken in der Schublade. Hüte dich, dir vorzustellen, wie du deine Verwandten umarmst. Und denke nicht an Großmutters Grab, wenn du Frühlingsblumen siehst.
Aber was soll man dann tun? Viel in der Stadt herumlaufen, in der du gerade lebst, um all ihre Ecken zu entdecken. Sich leckeres Essen holen. Die Sprache lernen, Sport treiben. Sich mit Freunden treffen, Leute kennenlernen. Ins Theater oder ins Kino gehen. An die Zukunft denken …
Die Psychologen raten einem, das alles im Rahmen der persönlichen Grenzen zu tun. Doch an meinen Grenzen stehen irgendwelche Amateur-Grenzschützer. Mich will ein gewisser Kummer nicht verlassen, ein eigener und allgemeiner, ein anhaltender und zunehmender, weil eine Katastrophe droht.
Mich wundert schon gar nichts mehr, aber wenn in Belarus ein Erlass ergeht, dass Geflüchtete zurückkehren können, wenn sie sich gegenüber dem Regime entschuldigen, dann stockt mir der Atem: Mein Gott! Der Täter verlangt vom Opfer, dass es um Entschuldigung bittet!
Da gibt es folgende Geschichte: Ein Mann isst vor den Augen eines anderen ein Stück Kuchen auf und fragt ihn: „Warum hast du das Stück Kuchen aufgegessen?“ Der antwortet verwundert: „Ich war das doch gar nicht, du warst es. Du hast doch noch die Krümel auf den Lippen!“ Und der Kuchenesser wischt sich die Lippen ab, schaut seinen Kumpel in die Augen und sagt: „Was bist du nur für ein Halunke! Du hast Krümel auf den Lippen!!!“ Und da ist sie, die Linie, hinter der der gesunde Menschenverstand endet. Und was beginnt dort? Was entwickelt sich dort, wo es kein Instrument gibt, um sich zu wehren? Wo es kein Gesetz gibt? Wo es nicht einmal eine Sprache gibt, um Argumente zu formulieren, weil es niemanden gibt, für den man sie formulieren könnte – der Kuchenesser hat ja keine Ohren, um dich zu hören. Wir können das Absurde feststellen, aber nichts unternehmen. Sollen wir uns irgendwie einrichten, uns einleben?
Hier wäre wohl am ehesten ratsam eine Strategie, mit der man „die persönlichen Grenzen ziehen“ kann. Sich dem Buddhismus zuwenden. Hygge praktizieren. Sich sagen, dass man in Sicherheit ist und dass mit der Zeit alles in Ordnung kommt.
Ich bin aber nicht fähig zu einem solchen Selbstbetrug. Um bei Verstand zu bleiben, muss ich das, was mich umgibt, in all seinem Schrecken erfassen und in dieser Hölle einen kühlen Kopf bewahren. Mein Trauern ist ein Prozess, eine Anstrengung, eine Energieverschwendung.
Oh je, ich habe wohl keinerlei Instrumente, um die Situation anzufechten, in der sich Zehntausende (oder gar Hunderttausende?) meiner verurteilten, beraubten, erniedrigten und vertriebenen Landsleute befinden. Meine Empörung kann sich nirgendwo hin Luft machen, ich kann meine Wut nicht in Taten umsetzen. Es ist niemand da, bei dem ich mich beschweren könnte. Vielleicht ist das auch gut so. Ich habe nur mein Trauern, meinen persönlichen, ethischen Indikator. Solange er leuchtet, ist mit klar, dass die Welt verrückt ist, und ich noch nicht.
Zu Beginn von Putins Krieg in der Ukraine sagte mir eine Freundin, eine Regisseurin aus Moskau, unter Tränen am Telefon: „Ich gehe durch die Straßen und schaue mir die Leute an. Wer traurig ist, gehört zu mir.“ Auch ich erkenne meine Leute an diesem Merkmal.
Sozialer und kultureller Widerstand in Belarus – auf diese Themen hat sich Yauhen Attsetski unter anderem in seiner fotografischen Arbeit fokussiert. So ist das preisgekrönte Fotoprojekt Messed up entstanden, in dem er das Leben der Musikerinnen der gleichnachnamigen Hardcore-Punkband in der west-belarussischen Stadt Hrodna dokumentiert. Einem größeren Publikum wurde er bekannt, als er die Entstehung des Platzes des Wandels in Minsk während der Proteste 2020 begleitete. Mittlerweile lebt Attsetski mit seiner Frau Julia in Lwiw. In der Ukraine, wo er gerade seine erste Ausstellung hatte, hält er die Auswirkungen des russischen Angriffskrieges auf das gesellschaftliche Leben fest. Wir haben mit ihm über seine Arbeit und sein Leben in der Ukraine gesprochen, zudem zeigen wir eine Auswahl seiner Bilder.
dekoder: Sie wohnen heute in Lwiw. Wie kam es dazu?
Yauhen Attsetski: Im Sommer 2021 kam der KGB zu meiner Frau Julia, Hausdurchsuchung. Nach den Ereignissen im Land im Jahr 2020 hatten wir keinerlei Illusionen auf eine faire Rechtsprechung. Es war ein Signal. Also zogen wir mit unseren beiden Katzen nach Kyjiw. Ein halbes Jahr später begann der Krieg.
Ich gestehe, ich hatte kaum geglaubt, dass so etwas möglich ist. Wir überlegten zwei Tage lang, blieben zunächst noch in der Stadt. Doch nach einer Nacht, die wir in den Büroräumen von Julias Firma verbrachten und in der wir Salven von Maschinengewehren und wohl auch Panzerfeuer hörten, beschlossen wir weiterzuziehen. Wie durch ein Wunder fanden wir einen Bus und kamen nach Lwiw, wo wir von unserer Freundin Alina aufgenommen wurden. Für die ersten drei Monate war ihre Wohnung unser neues Zuhause. Über Alina kamen wir auch in Kontakt mit den anderen Belarussen in Lwiw. Das gemeinsame Leid einte uns, mit vielen von ihnen sind wir heute befreundet.
Viele Belarussen sind wegen der Repressionen in die Ukraine geflohen und dann vor dem Krieg in andere Länder. Warum sind Sie geblieben?
Zuerst wollten wir nach Polen ausreisen. Doch in den ersten Wochen war der Lwiwer Bahnhof ein einziges Chaos, in einen Zug zu kommen, war unrealistisch. Wir beschlossen, einige Zeit abzuwarten, und nach ein paar Wochen hatten wir uns schon an die Stadt gewöhnt. Uns interessierte das, was hier vor sich ging. Ich holte die Kamera hervor und begann zu fotografieren. Ich spürte, dass die Ukraine eine Chance hat standzuhalten. In diesem Moment wollte ich an der Seite der Ukrainer sein. Als Autor hielt ich die Geschehnisse fest, als Mensch half ich dem Land, so gut ich konnte. Für uns Belarussen ist es sehr wichtig zu sehen und zu erleben, dass Gerechtigkeit existiert, dass man Terror abwehren kann. Deshalb bin ich hiergeblieben, um diese Erfahrung aufzusaugen. Heute ist mein Glaube an ein gutes Ende so stark wie nie zuvor.
Was sind das für Projekte, an denen Sie gerade arbeiten?
Seit 2020 verlässt mich das Gefühl nicht, dass wir einen historischen Umbruch erleben, dessen Epizentren die Ukraine und Belarus sind. Als Dokumentarfotograf ist es mir wichtig, diese Zeit einzufangen und festzuhalten.
In meinem Projekt verfolge ich gleichzeitig mehrere Stränge. Der erste sind die sozialen Prozesse in der ukrainischen Gesellschaft. Für mich ist das eine neue Kultur, zudem auch noch in einem Moment großer Herausforderung, weshalb ich das Objektiv auf die sozialen Reaktionen richte. Parallel dazu halte ich unseren Alltag fest. Das ist Tagebuchfotografie mit einer kleinen Analogkamera. Das Leben im Krieg, das sind nicht nur Explosionen, Angst und Kampf. Die Menschen im Krieg finden zusammen, stehen enger beieinander. Der dritte Strang sind Schwarzweißporträts meiner Freunde. Hauptsächlich sind das Belarussen, die wie ich beschlossen haben, in Zeiten des Krieges in der Ukraine zu bleiben.
Belarus gilt der Ukraine als Co-Aggressor. Wie ist für Sie das Leben in der Ukraine?
In den ganzen 15 Monaten seit dem russischen Großangriff auf die Ukraine war ich nur wenige Male mit Aggression gegenüber Belarussen aufgrund ihrer Nationalität konfrontiert. Ich denke, die Mehrheit der Menschen versteht, dass wir gute Gründe haben, noch hier zu sein. Wir alle helfen der Ukraine wie wir können – mit Taten, Informationen, Geld. Wir haben Kerzen für die Schützengräben gebastelt, Tarnnetze geflochten, manche haben auf dem Bahnhof geholfen. Als Autor habe ich meine Arbeiten bei wohltätigen Aktionen zugunsten der Unterstützung der Ukraine verkauft. Besonders möchte ich das Engagement unserer Freundin Tanya Hatsura-Yavorska hervorheben. Aktuell sammelt sie schon zum zweiten Mal Spenden für Vakuumpumpen für Unterdrucktherapie zur Behandlung von Kriegswunden. Zudem baut sie ein Rehazentrum für Soldaten, die gegen Russland kämpfen. Im November 2022 organisierte Tanja das belarussisch-ukrainische Filmfestival Na Mjashy (dt. An der Grenze), auf dem die ukrainischen Zuschauer mehr über Belarus erfuhren, und die belarussischen über die Ukraine.
Welche künstlerische Herangehensweise ist Ihnen bei Ihrer Arbeit wichtig?
Als ich die sozialen Reaktionen fotografierte, ging ich maximal auf Abstand. Ich fokussierte auf das Geschehen selbst, nicht auf den Menschen. Ich betrachtete die Prozesse, nicht das individuelle Heldentum. Wenn du vom Krieg weit entfernt bist, wird sein Bild oft von Bildern von der Front geprägt, von der Zone der aktiven Kampfhandlungen. Aber das Leben geht überall weiter, das ganze Land, in jedem Winkel, reagiert auf den russischen Angriff. Mir war es wichtig zu zeigen, dass das Leben im Krieg in erster Linie eben das Leben ist, in all seinen Ausprägungen, Leid, Freude, Kampf. Manchmal scheint es, dass gar nichts passiert, doch wenn du dann hinausgehst, kannst du nicht übersehen, in welchem Zustand sich das Land befindet: Plakatwände, Werbung, Radio, Fernsehen – überall Krieg; Menschen in Militäruniform, Panzerigel, mit Säcken verbarrikadierte Fenster – all das gehört gerade zum Bild einer jeden ukrainischen Stadt. All das hinterlässt ohne Frage Spuren bei den Menschen. Und bei alldem freuen wir uns, erholen wir uns, reisen wir. Dieses Gefühl wollte ich mit meinem Projekt vermitteln.
Was planen Sie für die Zukunft?
In Minsk hatte ich eine Schule für Fotografie, ФШ1 (FSch1). Neben der Ausbildung beschäftigten wir uns damit, ein Netzwerk aufzubauen, uns war es wichtig, junge Fotografen zu unterstützen. Wir organisierten Filmabende, gaben Fotografen eine Bühne, luden erfahrene Kollegen zu Artist Talks ein, organisierten Partys. Diese Arbeit würde ich gern wieder aufnehmen. Leider hat sich das Netzwerk seit 2020 auf verschiedene Länder verteilt. Ein Großteil der Leute war noch in Minsk und in Warschau. Ich würde die Kontakte gern wieder aufbauen. Es wäre großartig, wenn die Menschen sich wieder treffen und kreativ arbeiten könnten. Für diejenigen, die in der Heimat geblieben sind, will ich Online-Veranstaltungen organisieren, doch am wichtigsten sind persönliche Treffen. Wir haben ein solches Treffen bereits in Warschau durchgeführt, es war sehr herzlich und lebensbejahend.
Auf den Fotos von der Parade am Tag des Sieges in Moskau, an der Alexander Lukaschenko traditionell teilnimmt, konnte man sehen, dass es dem belarussischen Machthaber nicht gut ging. Tatsächlich fehlte er dann zum Festessen, zu dem Putin geladen hatte. In Minsk überließ er seinem Verteidigungsminister Viktor Chrenin das Reden bei den dortigen Feierlichkeiten, danach war von ihm ein paar Tage nichts mehr zu hören. Ungewöhnlich für den Diktator, der seit 1994 nahezu omnipräsent in den staatlichen Medien zu sein scheint. Schnell machten Spekulationen die Runde, Lukaschenko könnte ernsthaft erkrankt sein. Schließlich tauchte er wieder auf, noch sichtlich angeschlagen, aber lebendig.
Was aber würde passieren, wenn Lukaschenko tatsächlich plötzlich stirbt? Welche Dynamiken würden sich in Gang setzen – in der Machtelite, in der Opposition, auf der Seite von Russland? In seiner Video-Kolumne Shraibman antwortet für das belarussische Medium Zerkalo sucht der Politikanalyst Artyom Shraibman Antworten auf diese drängenden Fragen.
Alexander Lukaschenko ist nicht mehr der Jüngste, und wir sehen, dass seine Gesundheit nachlässt. Das schränkt bereits seine Arbeitsfähigkeit ein. Vor Kurzem war er für fünfeinhalb Tage von der Bildfläche verschwunden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sein Gesundheitszustand mit der Zeit wie der der Generalsekretäre der KPdSU zu Beginn der 1980er Jahre sein wird. Welche politischen Perspektiven eröffnen sich für die herrschende Regierung und die demokratischen Kräfte im Fall einer dauerhaften Einschränkung von Lukaschenkos Arbeitsfähigkeit?
Zunächst ein kleiner lyrischer, oder besser gesagt theoretischer Exkurs: Autoritäre Regime unterscheiden sich voneinander nicht nur im Ausmaß der Brutalität und Repressionen, sondern auch darin, ob sie sich auf eine Führerpersönlichkeit oder auf kollektive Institutionen stützen. Das belarussische Regime kann man mit Fug und Recht als eines der personalistischsten in ganz Eurasien bezeichnen. Lukaschenko hat während seiner gesamten politischen Karriere Institutionen abgelehnt, sie bekämpft und versucht, eine direkte Verbindung zwischen sich und dem Volk aufzubauen. Regime, die auf eine Person konzentriert sind, sind im Durchschnitt besser vor Komplotten oder Spaltungsversuchen der Eliten geschützt. Wenn diese Eliten unzufrieden mit dem Führer sind, haben sie nicht einmal einen Ort, an dem sie sich physisch treffen und diskutieren können, was zu tun ist. Selbst in Italien unter Mussolini gab es den Großen Faschistischen Rat, der ihn schließlich aus seinem Führeramt absetzen konnte. In der Sowjetunion gab es die Kommunistische Partei und Organe, in denen regelmäßig Umstürze heranreiften, wenn die Nomenklatura unzufrieden mit dem Generalsekretär war.
Im heutigen Belarus gibt es nichts dergleichen. Das ist in gewisser Weise der Faktor, der das Regime aufrechterhält. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, an dem Lukaschenko selbst entscheidet abzutreten oder dies aus biologischen Gründen spontan tut. Und er hat bereits damit begonnen, Prototypen zukünftiger kollektiver Institutionen zu schaffen, zum Beispiel die Regierungspartei oder die Allbelarussische Volksversammlung. Allerdings sind das bislang nur Keime, oder überhaupt nur Pläne. Sollte diese Situation im Fall eines spontanen Abtritts Lukaschenkos noch dieselbe sein, dann wird aus der Stärke des Regimes mit einem Mal seine Achillesferse, denn sobald in einem personalistischen System die einzige Person geht, die die Machtspitze hält, also der autoritäre Führer, und er bis dahin nicht geschafft hat, einen Nachfolger zu ernennen, versinkt der Apparat der Staatsbeamten im Chaos. Sie haben keine Ahnung, wie es weitergehen soll. In Belarus sind diese Leute nicht gewohnt, politisch selbständig zu handeln, sie führen Anweisungen aus. Sie haben keine Erfahrung mit der Bildung von Allianzen und damit, untereinander Dinge auszuhandeln. Für sie ist es das Wichtigste, Einfluss auf Lukaschenko zu nehmen.
Ja, sie können Intrigen spinnen, um den Einfluss anderer Personen auf ihn zu schwächen, doch das ist eine Politik, die nur darauf ausgerichtet ist, die Hauptperson im System zu überzeugen, nicht darauf, eigenständig Entscheidungen zu treffen und Kompromisse zu finden.
Für Moskau ist Lukaschenkos Abgang nicht nur ein Risiko, sondern auch eine Möglichkeit
Dies also die lange Herleitung zur Antwort auf unsere Frage. Im Fall, dass Lukaschenko plötzlich stirbt oder durch eine ernste Erkrankung das Land nicht mehr führen kann, eröffnet sich vor allen Akteuren ein riesiges Fenster von Möglichkeiten. Einen belastbaren Plan für einen Machttransfer gibt es nicht. Selbst in Russland ist das anders – hier hat es in den vergangenen Jahrzehnten, ob real oder nur nominell, Präsidentenwechsel gegeben. Also wird es von entscheidender Bedeutung sein, wer zuerst die Initiative ergreift und Bedenken gegenüber seiner Macht wirksam ausräumt, denn in diesem Fall wird ein Großteil der Nomenklatura erleichtert aufatmen, weil an Lukaschenkos Stelle ein neuer, klarer Führer auftaucht, auf den man sich einfach wie gewohnt einstellen kann.
An dieser Stelle ist eine Weggabelung, wo mehrere Szenarien denkbar sind. Der Akteur, der Initiative zeigt, könnte Russland sein, wenn es zu diesem Zeitpunkt Kraft und Interesse hat, sich mit dem Machttransfer in Belarus zu befassen, und in Minsk selbst völlige Ratlosigkeit herrscht. Für Moskau ist Lukaschenkos Abgang nicht nur ein Risiko, sondern auch eine Möglichkeit, den Einfluss auf den Nachfolger zu erhöhen, indem Moskau in der ersten Zeit wirtschaftliche und militärische Unterstützung leistet, bis er seine Macht konsolidiert hat. Dieser Einfluss kann später genutzt werden, um ihn zu Zugeständnissen zu bringen, auf die Lukaschenko sich zu Lebzeiten nie eingelassen hat.
Andererseits kann die Quelle für diese politische Initiative inländisch sein. Zum Beispiel könnten sich die belarussischen Silowiki untereinander erfolgreich auf einen Anführer aus ihren Reihen einigen, die zivile Bürokratie zerschlagen, den Kriegszustand ausrufen oder auf andere Weise vor einer möglichen inneren Destabilisierung warnen, und dann, schon aus einer Position relativer Stärke, Gespräche mit Moskau aufnehmen.
Eine dritte Option ist, dass sich die formelle Nachfolgerin Lukaschenkos – aktuell ist das der Verfassung nach Natalja Kotschanowa, die Vorsitzende des Rates der Republik – als machtliebender und cleverer erweist, als wir das von ihr erwarten, da wir sie nur als die rechte Hand betrachten, die Lukaschenko lobt und preist.
Theoretisch könnte sie schnell eine Koalition aus ihr loyalen Staatsbeamten zimmern, die mit ihrer Unterstützung unter Lukaschenko ernannt wurden. Dann kann Kotschanowa die gesamte Führung der Silowiki austauschen, denn der Verfassung nach wird sie die Befugnis dazu haben. Moskau kann sie zusichern, dass sie sich an alle roten Linien halten wird. Danach, wenn sich die Situation stabilisiert hat, wird sie nichts daran hindern, allein zur Wahl anzutreten oder die Wahl ganz abzusagen, wieder durch die Ausrufung irgendeines Kriegszustandes. Ähnlich ambitioniert können theoretisch auch andere hohe Staatsbeamte sein, zum Beispiel der Premierminister oder der Chef der Präsidialverwaltung Lukaschenkos. Doch die müssten irgendwie damit zurechtkommen, dass es laut Verfassung auf dem Weg zur Macht ein Hindernis für sie gibt – den Vorsitzenden des Rates der Republik. Heute ist das Natalja Kotschanowa. Um dieses Hindernis zu überwinden, braucht es Absprachen mit den Silowiki.
Anders gesagt, es gibt viele Möglichkeiten. Und über revolutionäre Szenarien und die Beteiligung der Opposition haben wir noch gar nicht gesprochen. Angesichts dieser Ungewissheit, können heute weder wir noch die potentiell Beteiligten voraussagen, wie sich die Ereignisse entwickeln werden. Und wenn wir ergänzen, dass wir nicht wissen, wie stark oder schwach Russland zu diesem Zeitpunkt sein wird, gibt es ohnehin kein unvorstellbares Szenario.
Haben die belarussischen demokratischen Kräfte irgendeinen Plan zur Machtübernahme im Land, falls sich die Situation in Belarus kardinal verändert, zum Beispiel durch den Tod Lukaschenkos? Haben sie eine Chance, diese Pläne erfolgreich umzusetzen?
Die Frage nach dem Plan sollte man besser direkt an die demokratischen Kräfte richten. Swetlana Tichanowskaja hat gesagt, dass an verschiedenen Handlungsszenarien gearbeitet wird für den Fall, dass Lukaschenko stirbt. Alexander Asarow, der Vorsitzende von BYPOL, hat häufig betont, dass es für diesen Fall den Plan Peramohagibt. Für unabhängige Beobachter wie mich sind das Katzen im Sack, weil wir nicht wissen, wie viele Menschen tatsächlich zur Verfügung stehen, die zum Zeitpunkt X mobilisiert werden können. Wir wissen auch nicht, wie weit dieser Plan bereits ausgearbeitet ist und was die Silowiki tun werden, um seine Umsetzung im Vorhinein zu verhindern. Für eine Erfolgschance der demokratischen Kräfte in einer solchen Situation müssten vier Bedingungen gleichzeitig eintreffen.
Erstens, sie müssen geeint sein und entschlossener handeln als 2020. Sie müssen von sich aus die Initiative ergreifen und nicht abwarten, wohin ein spontaner Ausbruch an politischer Energie in der Masse das Land treibt. Zweitens, die Machtvertikale, vor allem die Silowiki, müssen zerstreut oder paralysiert sein. Das kann durch eine Zerstörung der Unterordnung geschehen, durch eine Spaltung der Eliten oder einfach Passivität, wenn die Angst vorherrscht, Verantwortung zu übernehmen, wenn die andere Seite gewinnt. Drittens ist es notwendig, dass Russland sich in die Situation nicht einmischt, entweder aufgrund eigener Probleme oder, dass Russland es gar nicht schafft, wenn sich die Ereignisse in Belarus so rasant entwickeln, einzugreifen. Viertens wird es nicht ohne eine Mobilisierung der Massen gelingen. Wenn die Menschen nicht bereit sind, auf die Straße zu gehen, zu protestieren und zu streiken, endet jede Entschlossenheit der Opposition beim Sturm eines Grenzübergangs oder in sehr emotionalen YouTube-Filmchen.
Schauen wir also, was davon realistisch ist, falls Lukaschenko plötzlich sterben sollte. Einheit und Entschlossenheit der Opposition – die ist vorhanden. Historische Umbruchsituationen lassen alten Streit und Beleidigungen schnell in Vergessenheit geraten und diejenigen bedeutungslos werden, die weiterhin schimpfen, anstatt an der gemeinsamen Sache zu arbeiten. Irrungen und Wirrungen auf der Machtebene – sind nicht garantiert, aber durchaus möglich. Wir wissen nicht, wie die Elite auf einen solchen Schock reagiert, da es so etwas in der Geschichte von Belarus bislang nicht gegeben hat. Aber es ist nicht auszuschließen, dass das Land für eine gewisse Zeit die Regierbarkeit einbüßt. Problematisch ist es allerdings mit der Zurückhaltung Russlands.
Die demokratischen Kräfte stehen im besten Falle noch vor wenigstens zwei Barrieren auf dem Weg zum Erfolg
Wenn Lukaschenko verschwindet und den demokratischen Kräfte tatsächlich etwas gelingt, kann ich mir keinen Grund vorstellen, warum der Kreml sich zurückhalten und einfach zuschauen sollte, wie in seinem wichtigsten militärischen Brückenkopf moskaufeindliche Kräfte die Macht übernehmen. Beschwörungsformeln vom „weisen Putin“ oder „unser Verhältnis wird dann sogar noch besser sein als unter Lukaschenko“ zu wiederholen, werden dann nichts mehr bringen. Daran hat auch damals niemand so recht geglaubt. Durch den Krieg gegen die Ukraine hat Russland eventuell nicht genügend Landstreitkräfte verfügbar, doch Einheiten der Nationalgarde würden vermutlich ausreichen. Bis 2020 hatten viele, darunter auch ich, Zweifel, dass Putin Lukaschenko seinen OMON zu Hilfe schicken würde, wenn der nicht zurechtkommt. Doch heute würde daran wohl niemand mehr zweifeln.
Dieselbe Skepsis ruft bei mir die Option einer massenhaften Mobilisierung zu Protesten hervor, angesichts des Zustands der Gesellschaft. Es sei denn, eine neue Regierung verkündet aus irgendeinem Grund eine Amnestie und weist die Silowiki selbst in die Schranken. Aber warum sie das tun sollte, weiß ich nicht. Somit stehen die demokratischen Kräfte selbst im besten Falle – Chaos im Regime und innere Einheit – noch vor wenigstens zwei ernstzunehmenden Barrieren auf dem Weg zum Erfolg. Deshalb hängt die Antwort auf unsere Frage völlig davon ab, wann die plötzliche Veränderung eintritt, wie es Russland zu diesem Zeitpunkt geht und wie es um das Protestpotential der Belarussen bestellt sein wird.
Wenn Russland nach dem Tod Lukaschenkos versucht, Belarus schnell zu schlucken und den konfusen Kräften in Minsk ein entsprechendes Ultimatum stellt, könnte der Westen das dann verhindern? Und würde er das überhaupt wollen?
Die ehrliche Antwort lautet hier vermutlich: Nein. Der Westen verfügt schlicht nicht über die Ressourcen und Hebel, um eine solche Entwicklung zu verhindern. Auch wenn im Westen der unmissverständliche Wunsch herrscht, ein unabhängiges Belarus zu erhalten. Doch das bedeutet nicht, dass der Westen eine Okkupation von Belarus oder den Machttransfer an einen Nachfolger Lukaschenkos stillschweigend schlucken wird. Dessen Legitimität wird nicht größer sein als jetzt. Und das bedeutet, dass alle tiefgreifenden Entscheidungen, die den Interessen der belarussischen Gesellschaft klar zuwiderlaufen, vom Westen wohl nicht als rechtserheblicher Tatbestand anerkannt werden.
Aus formeller Sicht würde eine solche Übernahme des Landes als Okkupation betrachtet und eine neue Regierung Russlands auf unserem Territorium würde zumindest im Westen – aber vielleicht auch von anderen Staaten auf der Welt – nicht anerkannt. Und hier hängt viel davon ab, wie sich die neue Regierung und die unter Druck stehende belarussische Gesellschaft verhalten. Natürlich wird es innerhalb des Landes nicht genügend Ressourcen geben, um sich allein als belarussische Gesellschaft Russland entgegenzustellen. Doch die pure Existenz von öffentlichen Rücktritten, Protesten, Partisanenaktionen, anderen Widerstandsformen kann Einfluss darauf haben, wie weit sich die Nichtanerkennung dieser Einverleibung ausdehnen kann.
Auch die NATO wird für Belarus nicht in den Krieg eintreten
Tichanowskajas Kabinett, die einzige halbwegs legitime Vertretung der Belarussen in der Welt, könnte in einer solchen Situation zur vollwertigen Exilregierung werden. Im Westen und selbst in der Ukraine würde die Anerkennung dieser Regierung keinerlei Aufwand bedeuten. Eher im Gegenteil, sie kann dem Kampf der Belarussen behilflich sein, ihnen Hoffnung geben, die Unabhängigkeit wiederzuerlangen. Eine ähnliche Rolle spielten die Exilregierungen Polens und Frankreich während der Besatzung ihrer Länder durch die Nationalsozialisten. Sie gaben den Menschen Kraft im Kampf und ermöglichten eine effektive Koordinierung der Aktivitäten vom Ausland aus. Was die Hebel und Druckmittel angeht, so wurden gegenüber Russland bereits beispiellos harte Sanktionen verhängt. Im Falle eines „Anschlusses“ von Belarus würden diese natürlich noch einmal verstärkt. Doch das würde den Kreml kaum zum Umdenken bewegen. Auch die NATO wird für Belarus nicht in den Krieg eintreten, da der Wunsch, einen dritten Weltkrieg zu verhindern, dort viel größer ist als die Sorge um die Souveränität eines Landes, das viele ohnehin seit Langem für einen Verbündeten Moskaus halten. Doch falls der Widerstand in Belarus umfassenden Charakter und vor allem bewaffnete Form annimmt, wäre die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er als Komplex mit dem Widerstand in der Ukraine wahrgenommen würde. Und dies kann Möglichkeiten für die Unterstützung mit Waffen eröffnen.
Die belarussischen Partisanen werden wohl kaum Panzer oder Flugzeuge bekommen, aber eine Lieferung leichter Waffen oder Sprengmaterials ist durchaus vorstellbar. Alles hängt vom Umfang des Widerstandes ab und der klaren, einheitlichen Koordinierung dieses Kampfes durch ein Zentrum als Ansprechpartner. Ein solches Koordinierungszentrum kann durchaus aus den heutigen demokratischen Kräften hervorgehen und sogar einem sich dazu gesellenden Teil der Nomenklatura, der die Okkupation nicht unterstützt.
In seiner Amtszeit seit 1994 hat Alexander Lukaschenko mit dem Einfluss Russlands in Belarus geschickt gespielt, den Kreml auch teilweise immer wieder ausgespielt, wenn er zumindest zeitweise der EU entgegengekommen ist. Der russischen Führung ist es nie gelungen, eine wirkliche Kontrolle über den Machtapparat Lukaschenkos aufzubauen. Im Zuge der Niederschlagung der Proteste im Jahr 2020, der Radikalisierung des politischen Systems in Belarus oder der Rolle der belarussischen Führung im russischen Krieg gegen die Ukraine hat Russland potentielle außenpolitische Ausweichmanöver für den belarussischen Machthaber aber deutlich eingeschränkt.
Kann Russland diese Situation soweit nutzen, um seinen ideologischen Einfluss in Belarus zu stärken? Mit dieser zentralen Frage beschäftigt sich der belarussische Journalist Alexander Klaskowski in seiner Analyse für dekoder.
Das russische private Militärunternehmen Wagner hat eine finstere Reputation. Es ist in einer Reihe von Staaten als verbrecherische oder terroristische Organisation eingestuft. Seine Söldner sind jetzt in der Ukraine am Werk. Der Vorschlaghammer ist zu einem Symbol der Abrechnung mit jenen geworden, die die Wagner-Leute für „Verräter“ halten.
Diese spezifische Reliquie der Russki Mir wird nun – signiert von einem der Wagner-Männer – in einem belarussischen Museum als Exponat ausgestellt. Dabei empören sich nur jene Belarussen laut, die sich in der politischen Emigration befinden. Wer vor Ort ist, schweigt lieber. Es wird gemunkelt, dass Wladimir Gabrows Initiativen unter der Schirmherrschaft des belarussischen KGB stehen.
Der ehemalige Angehörige der Fallschirmjäger steht jedenfalls in der Gunst der Regierung und taucht regelmäßig im Staatsfernsehen auf. Ende vergangenen Jahres überreichte Bildungsminister Andrej Iwanez ihm die Urkunde Für die aktive Beteiligung an der militärisch-patriotischen Erziehung der jungen Generation. Gabrow kann sich auch mit der Dankbarkeit von Alexander Lukaschenkos Präsidialadministration brüsten.
Das Experiment einer „sanften Belarussifizierung“ ist gescheitert
Dabei hatten sich glühende Verfechter der Russki Mir in Belarus vor wenigen Jahren noch längst nicht so wohl gefühlt. Lukaschenko hatte zwar dem Kreml die Treue geschworen, war aber auch auf der Hut geblieben. Er widersetzte sich nach Kräften dem Vormarsch der russischen Soft Power, die er zu Recht als Bedrohung für seine Herrschaft ansah.
Unter anderem bemühten sich die belarussischen Behörden, die Märsche am Tag des Sieges, die Moskau im Rahmen des Unsterblichen Regiments im gesamten nahen Ausland initiierte, wenn nicht zu verbieten, so doch möglichst klein zu halten. So verweigerte die Minsker Stadtverwaltung einem Verein mit diesem Namen die Registrierung. Lukaschenko erklärte, dass es in Belarus seit langem schon die Aktion Belarus gedenkt gebe und die Russen die Idee „einfach geklaut“ hätten.
Die Geheimdienste des Regimes erstickten im Keim Kosakeninitiativen, mit denen belarussische Jugendliche geködert werden sollten. Lukaschenko erklärte klipp und klar: „Das sind gar keine Kosaken. Es gibt Menschen, denen ist völlig egal, wie sie ihr Geld verdienen. Die werden von jemandem in Russland bezahlt. Wir sehen das …“ Ende 2017 verurteilte ein Gericht in Minsk drei belarussische Autoren der russischen Nachrichtenagentur Regnum zu fünf Jahren Freiheitsentzug auf Bewährung. Sie wurden der Volksverhetzung angeklagt, weil sie – so die Gutachter – in ihren Beiträgen die Souveränität von Belarus in Frage gestellt und beleidigende Aussagen über das belarussische Volk sowie dessen Geschichte, Sprache und Kultur gemacht hätten.
Eine Weile liebäugelte Lukaschenko sogar mit einer „sanften Belarussifizierung“. Dabei bemühte er nationale Narrative, um ein Gegengewicht zum Druck aus dem Kreml zu bilden. Die Regierung ließ etwas mehr Freiheit für Kultur- und Bildungsinitiativen des nationalbewussten Teils der Gesellschaft. 2018 wurden im Zentrum von Minsk sogar eine Demonstration und ein Gedenkkonzert anlässlich des hundertsten Jahrestages der Belarussischen Volksrepublik genehmigt. Zehntausende versammelten sich mit den historischen weiß-rot-weißen Flaggen.
Als dann aber 2020 gleich Hunderttausende mit diesen Flaggen auf die Straße gingen, um gegen die gefälschten Präsidentschaftswahlen zu protestieren, verstand Lukaschenko, dass er einen Geist aus der Flasche gelassen hatte. Er griff zu brutalen Repressionen, und die historische Flagge wurde zu einem Symbol des Faschismus erklärt. Bis heute werden Teilnehmer der friedlichen Demonstrationen ausfindig gemacht und hinter Gitter gebracht.
Aktivistin Bondarewa gegen Socken, Lateinisches und Denkmäler
Dafür sahen einige Adepten der Russki Mir ihre Zeit als gekommen. Ein Beispiel hierfür ist die unermüdliche Aktivität von Olga Bondarewa aus Hrodna. Unabhängigen Medien zufolge ist Bondarewa in Polen wegen Zigarettenschmuggels vorbestraft. 2020 jedoch kamen ihre Hasstiraden gegen Protestierende der Regierung ganz gelegen.
Nachdem Bondarewa ein „aufrührerisches“ Gemälde in einer Ausstellung von Ales Puschkin, einem dezidiert nationalbewussten Künstler, gemeldet hatte, wurde der Künstler angeklagt und zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Bondarewa erreichte auch, dass von dem Gelände des Privatmuseums von Anatoli Bely in der Stadt Staryja Darohi die Skulpturen einer Reihe belarussischer historischer Persönlichkeiten entfernt wurden.
Sie führte einen leidenschaftlichen Feldzug gegen Socken mit belarussischen Aufschriften; gegen nicht genehme Bücher; gegen Exkursionsleiter, die Belarussisch sprachen und deren Auslegung der belarussischen Geschichte, die angeblich von der offiziellen abwich; gegen einen Priester, der eine Andacht „für die Krieger und Verteidiger der Ukraine“ abgehalten hatte. Die rastlose Aktivistin machte auch vor der lateinischen Schrift nicht Halt, die unter anderem für das Belarussische verwendet wird und die sie als Instrument der Polonisierung anprangerte.
Irgendwann ging die übereifrige Aktivistin selbst den Bürokraten und Propagandisten des Regimes auf die Nerven. Umso mehr, als sie begann, führende Repräsentanten und Mitarbeiter staatlicher Medien, die ihren Kriterien nicht genügten, grob zu beschimpfen. „Was geht in ihrem kranken Hirn vor?“, empörte sich über Bondarewas Ausfälle Swetlana Warjaniza, stellvertretende Vorsitzende der Gebietsorganisation Hrodna der regimetreuen Bewegung Belaja Rus.
Nicht, dass die Funktionäre unbedingt gegen Bondarewa wären. Aber sie wollen wegen ihrer Aufrufe auch nicht von ihren Vorgesetzten eins auf die Mütze bekommen. Nach dem Motto: Warum habt ihr sie nicht im Auge gehabt? Warum habt ihr den Aufruhr zugelassen? Also haben wohl einige von ihnen damit begonnen, diese Aktivistin dezent in die Schranken zu weisen.
Im Februar verweigerte die Miliz Bondarewa die Einleitung eines Strafverfahrens, nachdem sie angeblich in einem Telegram-Kanal beleidigt worden sei. Auch könnte ihr Rechtsstreit mit dem Parlamentsabgeordneten Igor Marsaljuk in einem Fiasko enden. Der hatte ihre Ausfälle nicht länger ertragen und sich an den Generalstaatsanwalt gewandt, damit dieser eine rechtliche Bewertung der Aktivitäten von „pseudopatriotischen Bloggern“ vornimmt.
Auf der anderen Seite scheinen sich lokale Behörden wohl doch ein wenig vor Bondarewa zu fürchten und ihren „Signalen“ lieber Folge zu leisten. So wurde kürzlich bekannt, dass in der Ortschaft Selwa auf geheimnisvolle Weise das Denkmal der Dichterin Laryssa Henijusch verschwand, die unter Stalin zu 25 Jahren Gulag verurteilt worden war.
Die Propaganda des Kreml hat zusätzliche Freiräume bekommen
Allerdings gibt es in Belarus nur wenige Verfechter der Russki Mir, die so besessen sind wie Bondarewa. Man kann sich denken, dass diese Leute in den Augen der meisten Belarussen wie skurrile Freaks wirken. Der Soziologe Filipp Bikanow, der im vergangenen Jahr eine Studie zur nationalen Identität durchführte, stufte lediglich vier Prozent der Befragten als „Russifizierte“ ein. Zahlreiche weitere Studien haben bereits festgestellt, dass die Wenigsten für einen Beitritt von Belarus zu Russland sind. Die erklärten Anhänger der Russki Mir bilden in Belarus also keine kritische Masse. Ganz anders als 2014 auf der Krim und im Donbass.
Bikanows Kategorisierung zufolge gibt es im Land jedoch nicht wenige „sowjetische“ Belarussen (nach seinen Berechnungen rund 29 Prozent), die ebenfalls für russische Propaganda empfänglich sein könnten. Und für die gibt es seit 2020 mehr Freiräume.
Lukaschenkos Medien wiederholen zahlreiche Narrative des Kreml. Unabhängige belarussische Medien werden systematisch als extremistisch eingestuft und aus dem Land vertrieben; wer sie innerhalb des Landes liest, wird bestraft. Die Miliz überprüft bei ihren Opfern, welche Telegram-Kanäle sie abonniert haben, um „Aufrührer“ aufzuspüren. Es ist jedenfalls sicherer, nur konforme Inhalte zu konsumieren. Umfragen zufolge gewinnen die kremltreuen und die staatlichen belarussischen Medien, die ihnen nach dem Mund reden, infolge durchaus an Einfluss.
Der Führer schaufelt der Unabhängigkeit des Landes ein Grab
Nach 2020 haben die Verfechter der Russischen Welt ihre Position auch im Verwaltungsapparat merklich gefestigt, sowohl in Lukaschenkos unmittelbarer Umgebung als auch – und insbesondere – in den Sicherheitsbehörden.
Der ehemalige politische Gefangene Konstantin Wyssotschin erinnert sich an seinen Aufenthalt in der GUBOPiK, der Hauptverwaltung zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität und Korruption, einer Abteilung des Innenministeriums, die sich zur politischen Polizei gemausert hat: „Was mich verblüffte: An allen Bürotüren hängen Flaggen mit dem Z, und in den Räumen hängen zwei Portraits – eins von Lukaschenko und eins von Putin.“ Das Z nutzen die russischen Militärs zur Markierung ihres Geräts beim Einmarsch in die Ukraine. Es wurde auch zu einem propagandistischen Symbol der Aggressoren.
Viele belarussische Offiziere erhielten ihre Ausbildung in Russland und haben dort noch Freunde. Manch einer, so wird gemunkelt, ist neidisch auf die Bezahlung der russischen Offiziere und Generäle. Verteidigungsminister Viktor Chrenin bezeichnete Lukaschenko und Putin öffentlich als „unsere Präsidenten“. Es stellt sich also die Frage, auf welcher Seite die Befehlshaber der belarussischen Armee und anderer Sicherheitsstrukturen (und nicht nur dort) im kritischen Moment stehen werden, wenn ihre Hirne von der Propaganda des Kreml gewaschen sind und sie praktisch in imperialen Kategorien denken.
Als prorussisch gelten unter anderem der stellvertretende Innenminister Nikolaj Karpenkow (der früher die erwähnte GUBOPiK leitete), Oleg Romanow, der Chef der vor kurzem gegründeten ParteiBelaja Rus, der Staatssekretär des belarussischen Sicherheitsrates Alexander Wolfowitsch sowie die Vorsitzende des Rates der Republik Natalja Kotschanowa. Letztere genießt das uneingeschränkte Vertrauen Lukaschenkos, der ihr verantwortungsvolle und heikle Aufgaben überträgt. Sie gilt sogar als mögliche Nachfolgerin des alternden Führers.
Zum orthodoxen Weihnachtsfest entzündete Lukaschenko eine Kerze in der Kirche des am Stadtrand von Minsk gelegenen St. Elisabeths-Klosters, das als Hochburg von Anhängern der Russki Mir bekannt ist. Unter anderem wurden hier Spenden(gelder) für die russischen Aggressoren gesammelt, was bei den Opponenten des Regimes für Empörung sorgte. Das Staatsoberhaupt nahm das Kloster jedoch in Schutz: „Ihr macht das richtig. Achtet nicht auf dieses Dutzend gekaufter Leute.“
Dabei ist offensichtlich, dass Lukaschenko Bauchschmerzen hat, den Aggressor uneingeschränkt zu unterstützen, weil ihm dafür perspektivisch ein Platz auf der Anklagebank im Internationalen Gerichtshof droht. Aber was soll er tun? Die Zeiten, da der belarussische Herrscher, wenn ihn der Kreml zu sehr bedrängte, die Zähne fletschen und sogar Wirtschaftskriege führen konnte, sind vorbei.
Der Wendepunkt war die gewaltsame Niederschlagung der Proteste 2020. Um sich im Sattel zu halten, bat Lukaschenko Putin um Hilfe. Der bot ihm die starke Schulter und erntete dafür Begeisterung von Lukaschenkos Gefolgsleuten und Silowiki. Doch dann forderte Putin für die Rettung des verbündeten Autokraten einen grausamen Preis: Moskau nutzte Belarus als Aufmarschgebiet für den Überfall auf die Ukraine, beschmutzte das Regime durch die Beteiligung an seinem Eroberungskrieg und will jetzt in Belarus taktische Atomwaffen stationieren, wodurch der Nachbar noch stärker an Russland gefesselt wird.
Angesichts dieser höheren Gewalt wählte Lukaschenko den Weg der Zugeständnisse an den Kreml – Zugeständnisse an den Westen und die Opposition kamen für ihn grundsätzlich nicht in Frage.
Der belarussische Herrscher hat sich selbst in eine Zwickmühle gebracht: Obwohl er sich der Gefahr einer schleichenden imperialen Expansion durch Russland sehr wohl bewusst war, ist er jetzt dazu gezwungen, der Russki Mir immer weiter die Tür zu öffnen, damit er sich selbst hier und jetzt an der Macht halten kann. Somit schaufeln nicht die „prorussischen Freaks“ der belarussischen Unabhängigkeit das Grab, sondern der Führer des Regimes selbst.
Wahlen unter tatsächlich fairen und freien Bedingungen – mit diesem Ziel ging das Bündnis um Swetlana Tichanowskaja, Veronika Zepkalo und Maria Kolesnikowa im Sommer 2020 in den politischen Kampf gegen den belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko. Zehntausende Belarussen waren bereits in der Zeit des Wahlkampfs zu den Kundgebungen des Dreigestirns gekommen. Was folgte, waren Proteste, Gewalt, Festnahmen und Repressionen, die bis heute andauern. Tichanowskaja und Zepkalo mussten ins Exil. Wie ihre Mitstreiterinnen war Kolesnikowa eigentlich keine Politikerin, sondern Musikerin und Projektmanagerin. Dann wurde sie im Zuge der Repressionen verschleppt, festgenommen und schließlich zu elf Jahren Haft verurteilt. Mittlerweile ist sie seit über 1000 Tagen in Haft.
Das belarussische Online-Medium Zerkalo zeichnet sowohl ihren Lebensweg und ihren Sprung in die Politik detailliert und kenntnisreich nach, als auch die Bedingungen ihrer heutigen Haft.
Maria Kolesnikowa wurde 1982 in Minsk in eine Ingenieursfamilie geboren. Ihre Familie erzählt von ihrer glücklichen Kindheit: „In den 1980er Jahren gab es so viele Jolka-Feste mit den klassischen Figuren, mit Väterchen Frost und Schneeflöckchen, im Kindergarten, in der Schule, im Betrieb der Eltern, sodass die Festtagsstimmung und die Feierlaune ziemlich lange anhielten“, erinnert sich Marias Vater, Alexander Kolesnikow. „Ich weiß noch, wie Mascha einmal fragte: ‚Wie viele Väterchen Frost und Schneeflöckchen gibt es eigentlich auf der Welt?‘, weil sie bei jeder Feier anders aussahen. Sie war oft ganz aufgeputscht von den vielen bunten Eindrücken, der allgemeinen Euphorie und der Freude, Liebe und Herzlichkeit überall, und es war nicht einfach, sie zu beruhigen. In diesen Momenten war sie sehr aktiv, fröhlich und lustig. Mit einem Wort: glücklich. Wir alle waren glücklich!“
Maria war die ältere von zwei Schwestern. „Mascha ist von Natur aus ein sehr guter, empathischer und kommunikativer Mensch“, erzählt ihre Schwester Tatsiana Khomich. „Sie bemüht sich immer, mit Menschen aus verschiedenen Bereichen in Kontakt zu kommen, weil sie daraus etwas Neues schöpfen, etwas lernen kann. Sie hat einen starken Gerechtigkeitssinn. Sobald sie eine Ungerechtigkeit wahrnimmt, spricht sie sie an, geht auf die Menschen zu. Ich weiß noch, wie sie in der Kindheit immer als große Schwester für mich eintrat, wenn mich jemand beleidigte. Sie war immer eine Anführerin. Menschen sind gern mit ihr zusammen, weil sie die Gabe besitzt, andere zu inspirieren.“
Schon als Kind liebte die zukünftige Politikerin Musik. „Unsere Mutter vermittelte uns internationale Klassik, unser Vater die Klassiker der Rockmusik. Wir hörten Rachmaninows Konzerte genauso wie die Rock-Oper Jesus Christ Superstar. Von klein auf fügte sich das für uns wunderbar ineinander. Mit unserer Mutter reisten wir durch Europa und besuchten immer Opern, Konzerte, Museen und Ausstellungen“, erinnert sich Maria.
Nach dem Abschluss der 9. Klasse an der Schule Nr. 184 in Minsk begann Maria ihre Ausbildung am Minsker Glinka-Konservatorium, mit Spezialisierung auf Flöte. In einem Interview erzählte sie, dass sie in ihrem Jahrgang das einzige Mädchen neben 15 Jungs gewesen sei. „Ich hatte große Schwierigkeiten, mit den Jungs auszukommen, aber so habe ich gelernt, mit der Männerwelt zu kommunizieren. Damals war man der Ansicht, ein Mädchen müsse sich in diesem schwierigen Fach nicht allzu sehr anstrengen, da sie in drei Jahren ohnehin heiratet und Kinder bekommt. Eine professionelle Zukunft sah man nur für Männer. Das traf mich damals sehr schwer, ich war immer überzeugt, alles schlechter als ein Junge zu machen. […] Wir hatten das gleiche Recht auf Bildung, aber kein Recht auf gleiche Behandlung?“
Das Projekt über die Freiheit
Hartnäckig machte Kolesnikowa weiter. Nach dem Konservatorium begann sie ein Studium an der Musikhochschule und verdiente ihr Geld im Orchester der Oper, in einem Ensemble und im Orchester des Präsidenten. Nach dem Diplom durchlief sie zwei Jahre lang das Graduiertenprogramm der Musikakademie, um dann 2007, mit 25 Jahren, nach Deutschland zu gehen. An der Hochschule für Musik in Stuttgart begann sie ein Studium der Alten und Neuen Musik.
Die nächsten zwölf Jahre verbrachte sie im Westen und besuchte Belarus nur selten, entwickelte sich als Musikerin und Projektmanagerin weiter. „Ich stehe mit eigenen Projekten auf der Bühne, werde aber auch zu Auftritten mit anderen Projekten eingeladen“, erklärte sie vor den Wahlen 2020. „In Europa ist es üblich, dass du als Musikerin deine Ideen selbst verwirklichst. Von der Bühnenverkabelung bis zum Flyerdruck – ich kann alles, auch Stühle aufstellen, weil ich es oft genug selbst gemacht habe. Auch für finanzielle Fragen, wie die Förderung von Musikprojekten, konnte ich Lösungen finden. In Deutschland habe ich wirklich eine Schule in Management, Abrechnung und Organisation durchlaufen.“
Im Jahr 2019 änderte sich alles. Kolesnikowas Mutter starb während einer geplanten Herzoperation in einem Minsker Krankenhaus. Ihr Tod veranlasste Maria zur Rückkehr. „Mir war bewusst, wie allein mein Vater nun war, der 38 Jahre lang mit meiner Mutter zusammengelebt hatte. Ich hatte das Bedürfnis, mehr Zeit als vorher mit meiner Familie zu verbringen. […] Wäre meine Mutter am Leben geblieben, hätte ich vielleicht nicht das gemacht, was ich heute tue, weil dann auch ihre Meinung eingeflossen wäre“, erklärte sie. Zufall oder nicht, noch im selben Jahr beteiligte sich Kolesnikowa an einem Projekt über Freiheit. „Ich spielte Bassflöte, auf einem Bildschirm liefen Filmaufnahmen vom Ploschtscha-2010. In den ersten Wochen im Wahlkampfteam musste ich oft an dieses Projekt denken“, erzählte Maria.
Bekanntschaft mit Babariko und Start im Wahlkampfteam
In Belarus organisierte Kolesnikowa die Vortragsreihe Musiklektionen für Erwachsene, die sehr gut ankam und jeweils bis zu 120 Besucher anlockte. 2019 nahm sie am Projekt Orchester der Roboter teil, in dem Schüler lernten, Robotermusiker zu programmieren. Doch ihr wichtigstes „Baby“ war das OK16. 2017 hatte der bekannte belarussische Mäzen und Chef der Belgazprombank, Viktor Babariko, für drei Millionen Dollar die ehemaligen Werkshallen der Minsker Werkzeugmaschinenfabrik MZOR gekauft, wo noch im selben Jahr ein neuer Kulturstandort namens OK16 öffnete. Zu dieser Zeit kontaktierte Maria Kolesnikowa Babariko zum ersten Mal auf Facebook, im Jahr darauf lernten sie sich persönlich kennen.
„2018 organisierte ich ein großes Projekt und kam mit fünf deutschen Künstlern nach Minsk. Wir veranstalteten gemeinsam Performances, Bildungsprojekte und Diskussionen im OK16. Es war ein durchweg ehrenamtliches Projekt, einfach internationaler Austausch. Und dort lernten wir uns kennen“, erinnerte sie sich in einem Interview mit Tut.by.
In der kurzen Zeit seines Bestehens wurde das OK16 zu einem zentralen Punkt auf der kulturellen Landkarte von Minsk. Kolesnikowa wurde künstlerische Leiterin und traf Babariko häufig bei Veranstaltungen. Sie besprachen auch gemeinsame Projekte, die im OK16 stattfanden: „Damals zeigte sich, dass unsere Wertvorstellungen sehr nah beieinander liegen. Als ich dann von seinem Vorhaben hörte, für das Präsidentenamt zu kandidieren, konnte ich das nur unterstützen.“
Am 12. Mai 2020 machte Babariko seine Kandidatur öffentlich. Acht Tage später wurde seine Initiativgruppe registriert. „Eduard (Babarikos Sohn, Anm. der Zerkalo-Redaktion) und ich waren vom ersten Tag an dabei, dann kamen immer mehr Leute dazu“, berichtete Maria dem Portal Tut.by.
Iwan Krawzow zufolge, der ebenfalls Mitglied des Wahlkampfteams war, übernahm Kolesnikowa praktisch sofort die Führung: nicht formal, sondern einfach, weil sie sowohl unter ihren Mitstreitern als auch inmitten gänzlich unbekannter Menschen Autorität ausstrahlte. „Es ist eine Illusion, dass man aus einer beliebigen Person jemanden machen kann, den die Menschen lieben sollen. Autorität und Leadership sind keine einfachen Dinge, sie hängen von Charaktereigenschaften ab, von Handlungen, vom Umgang mit Menschen und auch von der Gesamtsituation, dem politischen Prozess, an dem sich jemand beteiligt. Mascha ist eine gute Managerin, sie kann mit Menschen arbeiten. Das war von Beginn der Wahlkampagne an sichtbar. Sie versteht es, den besten Zugang zu unterschiedlichen Charakteren zu finden. Sie hat Erfahrung als Projektleiterin, die sie in den letzten Jahren im Kulturbereich sammelte“, erzählt Krawzow. Er erinnert sich, dass Kolesnikowa im Juni 2020, als das Team immer größer wurde, schnell das professionelle Niveau der Neuzugänge einschätzen konnte und problemlos zuordnete, in welchem Bereich sich die Person am besten einbringen konnte.
Zum Symbol der Kampagne wurde ein Herz, das Kolesnikowa immer und überall, wo sie auftrat, mit ihren Fingern formte. Selbst im Gerichtssaal, bereits hinter Gittern. Das Symbol sei nicht ihre Idee gewesen, erzählte Maria Tut.by: „Das war Teamwork, eine große Anzahl von Menschen hat gemeinsam die Entscheidung getroffen, was es wird. Aber wir denken, dass dieses Zeichen die Mission von Viktor und seinen Anhängern sehr gut wiedergibt, nämlich gegenseitigen Respekt, Liebe, Selbstachtung. Das alles steckt in diesem Herz.“
Parallel zu Kolesnikowas effektiver Arbeit erlebte die Gesellschaft einen ungekannten Aufbruch. Die Registrierung eines Präsidentschaftskandidaten erforderte 100.000 Unterschriften. Babarikos Stab reichte rund 365.000 Unterschriften ein, von denen die Verwaltung etwa 165.000 als gültig anerkannte. Das reichte für die Registrierung als Kandidat.
Doch Babarikos Kandidatur wurde noch im Keim erstickt. Am 18. Juni wurden er und sein Sohn in der Strafsache „Belgazprombank“ festgenommen. Es war abzusehen, dass auch die Mitglieder seines Teams Repressionen zu befürchten hatten, doch Maria gab nicht klein bei. „Meine Kunst wäre keinen Heller wert, wenn ich sagen würde: ‚Ach, was soll’s, ist mir zu chaotisch bei euch, ich fahre wieder nach Stuttgart, trinke Sekt auf dem Balkon und freue mich über die Rosen!‘ Es ist sinnlos, Kunst zu schaffen, mit der ich mein Leben lang über Freiheit und über die Hürden der Zensur spreche, wenn ich dann in einem Moment, in dem ich tatsächlich helfen und etwas verändern kann, einfach weggehe“, erklärte sie ihre Haltung im Juni 2020.
Wahlkampf für Tichanowskaja
Zu diesem Zeitpunkt war Maria das bekannteste Gesicht in Babarikos Wahlkampfteam. Sie hatte gemeinsam mit dem Team seine Dokumente bei der Zentralen Wahlkommission eingereicht. Doch am 14. Juli, da saß er bereits hinter Gittern, wurde seine Registrierung abgelehnt, ebenso die von Waleri Zepkalo. Allerdings ließ die Wahlkommission die damals praktisch unbekannte Swetlana Tichanowskaja als Kandidatin zu.
Am 16. Juli fand das schicksalsträchtige Treffen der drei Wahlkampfteams – Babariko, Zepkalo, Tichanowski – statt, bei dem beschlossen wurde, die Kräfte zu vereinen. „Damals kamen alle drei Teams zusammen, und es brach eine heiße Diskussion aus. Aber dann schlug Mascha vor: ‚Lasst uns doch zu dritt weitermachen‘. Und gemeinsam sind wir dann ziemlich weit gekommen“, sagte Veronika Zepkalo, die das Team ihres Mannes vertrat. Bei diesem Treffen einigten sich alle auf fünf Grundprinzipien: zu einer Stimmabgabe ausschließlich am 9. August aufzurufen; sich für die Befreiung der politischen und wirtschaftlichen Gefangenen einzusetzen; die Präsidentschaftswahl zu wiederholen; die Wähler über Möglichkeiten zum Schutz ihrer Stimmen zu informieren; sich an Initiativen für faire Wahlen zu beteiligen.
Das vereinte Wahlkampfteam führten Tichanowskaja, Zepkalo und Kolesnikowa gemeinsam an, „die drei Grazien“, wie sie bald genannt wurden. Sie wurden zum Symbol einer friedlichen Bewegung für Wandel, aber auch für eine vereinte belarussische Opposition. Aufwärmzeit gab es keine. Bereits am 19. Juli fand die erste Kundgebung mit Swetlana Tichanowskaja in Dsershinsk statt. Wie Tut.by anmerkte, wurde die kaum publikumserfahrene Kandidatin auf der Bühne von Kolesnikowa und Zepkalo unterstützt, und der Ablauf der Veranstaltung wurde erweitert und verbessert, zum Standard für alle weiteren Kundgebungen. Zuerst sprach Tichanowskaja über ihren Mann, seinen Kampf und darüber, dass ihre Kandidatur nur die Reaktion auf seine Festnahme bei einer Kundgebung am 29. Mai in Grodno sei. Maria und Veronika sprachen dann über die Probleme im Land und über die fünf Prinzipien, auf die sich die drei Teams geeinigt hatten.
Kolesnikowa prägte während der Kampagne gleich mehrere markante Aussagen, die Tut.by zusammengetragen hat: „Belarussen, ihr seid unglaublich“, „Liebe ist stärker als Angst“, „Die scheppernde Rostlaube der Regierung zerfällt in voller Fahrt“, „Jeder von uns sollte sagen: Ich kann alles ändern“, „Wir haben uns verändert, und zwar für immer“ und „Ihr wisst, was wir machen werden: dieses System mit allen gesetzlichen Mitteln beackern“.
Ich habe Angst, dass es nie enden wird
„Ab dem Zusammenschluss verbrachten wir fast die ganze Zeit zusammen. An manchen Tagen hatten wir drei bis vier Kundgebungen, ständig Interviews, Pressekonferenzen, Auftritte, Fahrten. Es gab keine freien Tage, wir waren ständig irgendwo unterwegs. Auf den Autofahrten durch das ganze Land lernten wir das gesamte Imbissangebot der Tankstellen kennen. Kein Tag verlief nach Plan. Wir wussten nicht, ob wir am Abend nach Hause zurückkehren, ob wir es zurück ins Büro schaffen. […] Es gab auch unangenehme Situationen. In einer Stadt wurden wir vor der Kundgebung gewarnt, dass auf dem Dach eines naheliegenden Gebäudes Scharfschützen gesehen wurden. Später, als wir auf die Bühne traten, zeigten die Menschen in Richtung des Gebäudes und riefen, da seien Scharfschützen. Ich schlug vor, sie zu begrüßen. Wir wandten uns alle drei um und winkten den Scharfschützen einfach zu“, erinnert sich Veronika Zepkalo.
Am 30. Juli fand im Minsker Park der Völkerfreundschaft eine Kundgebung statt, die zu diesem Zeitpunkt die größte in der Geschichte des unabhängigen belarussischen Staates. Menschenrechtsaktivisten schätzten die Zahl der Teilnehmer auf 63.000.
Drei Tage zuvor sagte Kolesnikowa in einem Interview diese – im Nachhinein betrachtet – prophetischen Worte: „Ich habe keine Angst im klassischen Sinne. Ich habe Bühnenangst, aber ich gehe trotzdem auf die Bühne und mache meine Arbeit. Ich habe Angst, dass es nie enden wird, wenn wir jetzt nicht all unsere Kraft aufbringen. Wenn es aber jetzt nicht endet, dann machen sie uns alle platt. Dann bleibt hier nichts übrig von frei denkenden Menschen, von Menschen, die bereit sind, ihre Unzufriedenheit zu äußern, von Menschen, die ihr eigenes Unternehmen aufbauen wollen. Die IT-Leute denken vielleicht, es geht sie nichts an, weil sie für Externe arbeiten, aber auch sie sind betroffen. Wenn sich jetzt nichts ändert, dann ändert sich nie etwas. Und mit ,jetzt‘ meine ich den 9. August plus einige Zeit für den Prozess. Der Prozess ist im Gange, und es ist die einzige Chance auf Veränderung. Wenn wir das nicht hinkriegen, können wir alle unsere Koffer packen und das Land verlassen.“
[…]
Veränderung lag in der Luft, dennoch sollte es anders kommen. Ab dem 9. August 2020 kam es zu massiven Protesten. Hunderttausende gingen auf die Straßen, nicht nur in der Hauptstadt Minsk, sondern auch in vielen anderen Städten, und sogar in Dörfern. Der Staat reagierte mit brutaler Gewalt, alleine in der ersten Woche der Proteste wurden Tausende festgenommen. In den Gefängnissen wurden die Menschen geschlagen und gefoltert. Swetlana Tichanowskaja wird von den Machthabern gezwungen, das Land zu verlassen. Die Opposition ruft einen Koordinationsrat ins Leben, der den Machtwechsel vorbereiten und begleiten soll. Aber auch dessen Führungsmitglieder werden nach und nach inhaftiert oder fliehen außer Landes.
Karpenkows Drohungen und der zerrissene Pass
Am 7. September wurde Maria festgenommen. Eine Leserin von Tut.by erzählte, wie sie auf dem Prospekt der Unabhängigkeit hinter sich das Klappern von Absätzen hörte, sich umdrehte und Kolesnikowa erkannte. Es war etwa 10.05 Uhr am Vormittag.
„Ich hatte sie schon einmal live gesehen, deshalb erkannte ich sie. Ich wollte noch zu ihr hingehen, mit ihr reden und mich bedanken, dann überlegte ich es mir anders, dachte, sie muss bestimmt müde sein. Ich ging also weiter, spielte noch kurz mit dem Gedanken, mich umzudrehen und ihr mit den Händen ein Herz zu zeigen. Beim Nationalen Kunstmuseum sah ich einen dunklen Kleinbus mit der Aufschrift Swjas (dt. Netz) auf der Seite, an der Rückseite stand die Marke Sobol. Ich lief weiter, dann hörte ich, wie ein Handy auf dem Asphalt aufschlug, dann Fußgetrappel, ich drehte mich um und sah, wie maskierte Leute in Zivil Maria in diesen Kleinbus zogen. Ihr Telefon war heruntergefallen, einer der Männer hob es auf, sprang in den Kleinbus, und sie fuhren weg“, berichtete sie.
Wohin Maria gebracht wurde, blieb unklar. Tut.by bekam von Innenministerium, Untersuchungsausschuss und Wirtschaftsbehörden die einstimmige Auskunft, es lägen keine Informationen über eine Festnahme vor. Sie alle logen.
Später berichtete Maria in einem Brief, was mit ihr geschehen war: „Nach meiner Verschleppung wurde ich gewaltsam ins Büro von Nikolaj Karpenkow gebracht, dem Chef des GUBOPiK, der mich anschrie, beleidigte und einschüchterte. Das ,Gespräch‘ fand im Beisein zweier anderer Herren statt: Gennadi Kasakewitsch, erster Stellvertreter des Innenministers, und Andrej Pawljutschenko, Chef des OAZ [Operatives Analysezentrum]. Sie stellten mir ein Ultimatum: entweder, ich verlasse das Land und kann jenseits der Grenze machen, was ich will, oder sie bringen mich außer Landes – lebendig oder zerstückelt. Sie brechen mir die Finger, sie sperren mich für 25 Jahre ein, ich werde Hemden fürs Militär nähen … Das Gespräch dauerte mehrere Stunden, mit einer Pause zur ,Erholung‘ in einer Einzelzelle.“
Da die Politikerin nicht ausreisen wollte, beschloss man, sie gewaltsam außer Landes zu bringen. An diesem Tag wurden in Minsk zwei weitere Aktivisten aus Babarikos Wahlkampfteam festgenommen, Anton Rodnenkow und Iwan Krawzow. Sie hatten nach Maria gesucht und wurden vor ihrem Haus aufgegriffen. Schon am Abend des 8. September gaben sie eine Pressekonferenz in Kyjiw.
Kolesnikowa zerriss ihren Pass
Rodnenkow und Krawzow berichteten, dass sie am frühen Morgen (des 8. September) in einen Kleinbus gesetzt und zum Grenzübergang Alexandrowka an der ukrainischen Grenze gebracht worden seien. Krawzow hätte Kolesnikowa in die Ukraine bringen sollen, um die Situation im Land zu „deeskalieren“. Maria trafen sie erst in der neutralen Zone, hinter der belarussischen Grenzlinie. Laut Plan sollten alle drei in einem Auto in die Ukraine fahren.
„Kaum hatten sie Mascha aus dem Kleinbus geholt, da begann sie schon im Befehlston ihre Freilassung zu fordern und die Vorgangsweise der Beamten strafrechtlich einzuordnen“, erzählte Krawzow. „Als sie dann im Auto saß und ihren Pass sah, schnappte sie ihn sich und zerriss ihn in viele kleine Stücke. Dann warf sie die zerknüllten Fetzen aus dem Fenster unbekannten jungen Leuten zu, die das Auto umringten. Schließlich kletterte sie durch das Fenster aus dem Auto und rannte zurück zur belarussischen Grenze.“
Dort wurde Maria von denselben Leuten verhaftet, die sie hergebracht hatten. Am 9. September, dem dritten Tag nach der Festnahme, wurde bekannt, dass Kolesnikowa sich im Untersuchungsgefängnis Nr. 1 [Minsk, Waladarka] befand. Einige Tage später wurde sie nach Shodino überführt, wo sie bis zum Januar des Folgejahres blieb, als man sie wieder nach Minsk zurückbrachte. Kolesnikowa wurde angeklagt, zu Handlungen aufgerufen zu haben, die auf die Gefährdung der nationalen Sicherheit abzielen.
Gefängnisalltag
In einem Interview mit der BBC berichtete Kolesnikowa ausführlich über ihr Leben hinter Gittern: „Ich wache jeden Morgen um 6:00 Uhr frisch und munter auf. In meinem früheren Leben wäre das unvorstellbar gewesen. Um 6:30 Uhr beginnt das Frühstück im Gefängnis, es gibt Brei, Saft, Brot und Tee. Doch ich esse nie so früh und lasse es stehen. Dann ,dusche‘ ich, indem ich Wasser in der Schüssel erwärme. […] Um 8:00 Uhr kommt die Kontrolle, danach lerne ich zwei bis drei Stunden lang Fremdsprachen oder lese auf Deutsch oder Englisch. Das ist meine produktivste Zeit. Gegen 9:00 Uhr habe ich Ausgang. Der Gefängnishof ist drei mal drei Meter groß (in Shodino war er größer). Aber auch so schaffe ich es, 40 bis 50 Minuten zu laufen und mache anschließend noch 30 Minuten lang Übungen.
Nach dem Ausgang frühstücke ich: belegte Brote oder, selten, Brei mit Trockenfrüchten, unbedingt aber einen starken Kaffee. Ich räume meine Zelle auf, und auch darin liegt eine gewisse Freude: den Ort, an dem du dich befindest, sauberer, gemütlicher und besser zu machen. Wenn keine Treffen mit Anwälten oder Verhöre anstehen, lese ich im Anschluss zwei, drei Stunden lang. […]
Während der gesamten Zeit war ich in fünf verschiedenen Zellen, mit jeweils anderer Belegschaft. Meine jetzige Zelle ist sehr klein, 2,5 mal 3,5 Meter, es gibt zwei Pritschen für vier Personen, eine Toilette, Waschbecken, Fernseher, Wasserkocher, eine Kanne, Schüsseln, einen Tisch, eine Bank. Durch das Fenster und das Gitter ist der Himmel zu sehen.
In Belarus ist das Rauchen an öffentlichen Orten verboten, sogar an Haltestellen, doch im Gefängnis gilt das nicht. Hier rauchen fast alle und überall: in den Zellen, Gängen, Diensträumen. Das gefährdet nicht nur meine Gesundheit, sondern auch meinen Beruf als Flötistin.“
Wir ergänzen, dass Kolesnikowa im Gefängnis keine Flöte und auch nicht immer Noten haben darf.
[…]
Krankheit und Operation
Ende 2022 verschlechterte sich Kolesnikowas Gesundheitszustand rapide.
Ihr Anwalt hatte sie zuletzt am 17. November in der Strafkolonie besucht. Später wurde bekannt, dass Maria in die Isolationshaft verlegt worden sei. „In der Arrestzelle war es sehr kalt, Maria schlief praktisch nicht. Um sich aufzuwärmen, bewegte sie sich die ganze Zeit und legte an einem Tag rekordverdächtige 15.000 Schritte in der kleinen Zelle zurück. In den Tagen vor der Krankenhauseinweisung verlor Maria immer wieder das Bewusstsein, sie litt unter erhöhtem Blutdruck und Übelkeit. Einmal wurde sie in der Dusche ohnmächtig und zog sich beim Sturz Schrammen an den Beinen zu. Der Gefängnisarzt meinte nur, sie hätte jeden Morgen im Strafraum die Möglichkeit gehabt, ihre Probleme zu melden, hätte dies aber unterlassen. Dabei hat sie Tabletten gegen den Bluthochdruck bekommen, die man ihr ohne eine Anzeige gesundheitlicher Beschwerden wohl kaum gegeben hätte“, erzählten ihre Mitstreiter.
Am 28. November wurde sie für weitere zehn Tage in die Isolationszelle gebracht. Ihr Anwalt wurde mit der Begründung, sie habe keinen Antrag auf ein Treffen mit ihm gestellt, nicht zu ihr durchgelassen. Er unternahm zwei weitere Versuche, Kontakt zu ihr aufzunehmen. Am nächsten Tag hieß es, Kolesnikowa sei im Krankenhaus. Zu Bluthochdruck, Übelkeit und Ohnmacht waren am Nachmittag noch starke Bauchschmerzen hinzugekommen, sie war buchstäblich umgefallen. Maria wurde in die chirurgische Abteilung [des Gefängniskrankenhauses] gebracht, jedoch schon am Abend in die Unfallklinik in Gomel verlegt, weil sie operiert werden musste. Sie hatte einen Magendurchbruch.
Kolesnikowas Diagnose war die Folge eines Magengeschwürs. Ein Durchbruch tritt auf, wenn das Geschwür die Magenwand „durchschlägt“ und der Mageninhalt (mitsamt der Salzsäure, die die Nahrung zersetzt) in den Bauchraum fließt. Zu einer solchen Perforation kommt es in 10 bis 15 Prozent der Fälle eines Magengeschwürs, in der Regel begleitet von starken, stechenden Schmerzen. Trotz hochentwickelter Medizin bleibt die Behandlung von Magendurchbrüchen eine komplizierte Aufgabe für Chirurgen: Die Sterblichkeit bei entsprechenden Operationen liegt, je nach Quelle, bei 5 bis 18 Prozent (teilweise sogar 25 Prozent).
Endlich kann ich wieder ein bisschen laufen
Noch am selben Tag, dem 28. November, wurde Kolesnikowa mittels Laparoskopie (Bauchspiegelung, minimalinvasiver Eingriff) erfolgreich operiert. Sie wachte aus der Narkose auf, ihr Zustand blieb aber weiterhin kritisch. Ihr Vater fuhr in die Klinik, doch sein Gespräch mit den Ärzten fand im Beisein von Mitarbeitern des Innenministeriums statt. Die Ärzte weigerten sich, dem Vater die Diagnose mitzuteilen: Dafür sei angeblich Marias schriftliche Zustimmung nötig.
Am 1. Dezember erfuhr Zerkalo von einem Insider, dass nach wie vor weder Familienangehörige noch Anwalt Maria besuchen durften. Sie erfuhren auch nichts über ihren Zustand. „Man sagt ihnen ganz trocken, alles sei in Ordnung, und es werde alles Nötige getan“, sagte er. Ärzte und Pflegepersonal mussten Verschwiegenheitserklärungen unterzeichnen, im Falle einer Zuwiderhandlung drohten sechs Jahre Gefängnis. Erst am 5. Dezember wurde Kolesnikowa zurück ins Gefängniskrankenhaus verlegt und konnte dort ihren Vater treffen. Das zehnminütige Treffen fand unter Aufsicht des Arztes und mehrerer Gefängnisbediensteter statt.
„Endlich kann ich wieder ein bisschen laufen, etwa eine Stunde am Tag, ich steigere langsam Tempo und Schrittzahl, heute 5000. Das ist ein echter Rekord für mich, nachdem ich mich vom 29. November bis letzte Woche fast gar nicht bewegt habe. Es ist noch nicht alles wieder gut, aber ich bin positiv und optimistisch und will unbedingt gesund werden! Also, mach dich bereit: deine Draniki und Schaschliks stehen bald ganz oben auf meiner Speisekarte“, schrieb Kolesnikowa ihrem Vater am 27. Dezember 2022. Doch das war eher ein Aufmunterungsversuch, denn tatsächlich ging es Maria eher schlecht. „Kolesnikowa liegt auf der Krankenstation, ihr Zustand ist nicht sehr gut, sie ist völlig abgemagert“, erzählten Mitinsassinnen zu Beginn des Jahres 2023.
Zur selben Zeit entzog das Justizministerium Wladimir Pyltschenko, Kolesnikowas und Eduard Babarikos Anwalt, die Lizenz. Aufgrund mangelhafter Qualifikation könne er seinen Beruf nicht ausüben. Am 16. Januar wurde Kolesnikowa wieder in den regulären Strafvollzug verlegt. Sie geht wieder zur Arbeit, sei aber „nach der Schicht sehr müde“. Ihren Mitstreitern zufolge gehe es ihr gut, sie lege langsam Gewicht zu.
„Ich weiß ganz genau, dass jede Schwierigkeit vorübergeht“, schrieb sie in einem ihrer Briefe in die Freiheit. „Warum also traurig sein und sich sorgen, wenn doch auf jeden Fall der Moment kommt, an dem sie vorbei geht? Wozu Lebenszeit auf etwas verschwenden, das sinnlos ist und mir sogar schadet? Ich lebe so, als wäre all das Entsetzliche und Absurde um mich herum gar nicht da.“