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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Podcast #4: „Auf Sklavenjagd“

    Podcast #4: „Auf Sklavenjagd“

    In der rassistischen und menschenverachtenden Ideologie der Nazis galten die Menschen aus der Sowjetunion als „Untermenschen“. Antislawismus vermischte sich dabei mit Zynismus: Einige der rund drei Millionen verschleppten Zwangsarbeiter mussten Waffen herstellen, mit denen Menschen in ihrer Heimat getötet werden sollten. 

    Der Einsatz von sogenannten „Ostarbeitern“ in der deutschen Kriegswirtschaft ist Thema des Podcasts von ХЗ: Julia Boxler, Ani Menua und Helena Melikov befragen für dekoder die Historikerin Ksenja Holzmann zum Schicksal der zivilen Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion.  



     

    Zum Weiterlesen:

    „Den Hass haben wir von den deutschen Soldaten gelernt“

    Russlands Jugend und der Zweite Weltkrieg

    „Weißt du, da war Krieg“

    Veröffentlicht am 07.05.2021

    Die Entstehung dieses Podcasts wurde gefördert mit Mitteln der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« (EVZ)

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    Klitzekleine Schnipsel

    „Das war nicht die übliche Stimme der Sieger“

    „Ostarbeitery“ – Warum wir uns erinnern müssen

  • „Das war nicht die übliche Stimme der Sieger“

    „Das war nicht die übliche Stimme der Sieger“

    Ein halbes Jahrhundert lang lag ein Erinnerungsschatten über den Schicksalen der zivilen Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion: In der deutschen Erinnerungskultur war dieses dunkle Kapitel der NS-Zeit kaum sichtbar. Auch in der Sowjetunion herrschte Schweigen über die tragischen Schicksale von fast drei Millionen Menschen.

    In Deutschland konnten erst nach der Gründung der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) die individuellen Entschädigungszahlungen an die zivilen Zwangsarbeiter am 30. Mai 2001 beginnen. Heute, 76 Jahre nach Kriegsende, sind einige von über 30.000 Zwangsarbeitslagern Gedenkorte. In den vergangenen Jahren kamen in Deutschland zahlreiche Publikationen heraus, auch die Zivilgesellschaft beschäftigt sich immer mehr mit dem Thema. 

    Auf Afisha zeichnet Memorial-Mitarbeiterin Ewelina Rudenko die Aufarbeitung in Russland nach – und schildert, wie diese eigentlich „aus Versehen“ begann.

    dekoder zeigt Bilder und erzählt die Geschichten dahinter – in Zusammenarbeit mit Batenka. Memorial-Mitarbeiterin Irina Schtscherbakowa ordnet die Bilder ein und erklärt, warum viele Zwangsarbeiter über Jahrzehnte ihre Biografie verheimlichen mussten. 

    Iwan Sch., 16 Jahre alt. Weihnachtsfeier. Selb, 1942 / Foto © Archiv von Memorial International. Fond 21. Akte Nr. 212046

    Ewelina Rudenko, Koordinatorin des Memorial-Projekts Digitalisierung des „Ostarbeiter“-Archivs

    1990 erschien in der Zeitung Nedelja ein kurzer Artikel über „Ostarbeiter“. Darin hieß es, dass die Organisation Memorial die Entschädigungszahlungen an die Menschen übernehmen würde, die während des Großen Vaterländischen Krieges zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt worden waren. Der Artikel wurde in unzähligen Lokalzeitungen nachgedruckt. Ein paar Monate später hatte Memorial etwa 320.000 Briefe von ehemaligen „Ostarbeitern“ und ihren Verwandten erhalten. In der Hoffnung auf eine gerechte Wiedergutmachung und aus dem Wunsch heraus, ihre Geschichte zu teilen, schrieben die Menschen ausführliche Briefe, schickten Fotos und Dokumente von ihrer Zeit in Deutschland. So entstand die Sammlung von Dokumenten zur Geschichte der Zwangsarbeit, die Memorial International angelegt hat, durch einen glücklichen Zufall.

    Als Geschichtsstudentin hat mich allein schon die Möglichkeit fasziniert, Fotos aus der Kriegszeit in Deutschland in den Händen zu halten. Aber noch viel beeindruckender waren die Erzählungen der „Ostarbeiter“ über den Krieg.

    Denn das war nicht die übliche Stimme der Sieger (die uns aufgedrängt wird und die mit jedem Jahr lauter erklingt), sondern der Blick der Opfer, die man gezwungen hatte, sich selbst für Verräter und nicht für Opfer zu halten.

    Das war nicht die übliche Stimme der Sieger

    Dank der „Ostarbeiter“ habe ich zum ersten Mal ganz klar verstanden und gespürt, dass der Krieg keine unendliche Reihe von Schlachten und Siegen ist, sondern eine einzige riesige Tragödie, die Millionen Menschenleben zerrüttet und zerstört hat.

    Nach der Lektüre all dieser Briefe und Erinnerungen kam mir die erschreckende Erkenntnis, wer die „Ostarbeiter“ eigentlich waren: Es waren überwiegend junge Frauen zwischen 17 und 18 Jahren, meistens aus Dörfern. Frauen, die möglicherweise diese Dörfer noch nie verlassen hatten, keine Großstädte kannten, noch nie Zug gefahren waren, wohl kaum je fotografiert worden sind. Und diesen jungen Frauen steht nun bevor, ins Hinterland des Feindes verschleppt zu werden und die Bomben zu produzieren, die auf ihre Heimatdörfer niedergehen würden. Sie würden sich inmitten der Faschisten wiederfinden, in der Fremde, ohne jegliche Sprachkenntnisse. Ihr erstes Foto wird also das Bild für den Ausweis (im Orig. dt. – Anm. d. Übers.) mit einer Kennziffer auf der Brust. Obendrein werden sie in Deutschland keinerlei Information darüber erhalten, was an der Front passiert, ob ihre Angehörigen noch leben, und vor allem, ob sie jemals wieder nach Hause zurückkehren werden. Das scheint mir einzigartig in der Geschichte zu sein, und ich warte nur darauf, dass ein Psychologe oder Volkskundler sich dieses Themas annimmt und ein Buch darüber schreibt.

    „Die Fotografie wurde von der Haushälterin des Fabrikleiters in der Silvesternacht 1942/43 gemacht.“
    Maria S., mit 19 verschleppt. Arbeitete in einer Fabrik in Rummelsburg / Foto © Archiv von Memorial International. Fond 21. Akte Nr.  201032

    Fast alle Mädchen haben selbsthergestelltes Rouge auf den Wangen. Im Archiv von Memorial International gibt es Dutzende von Geschichten über die Herstellung von Kosmetika aus improvisierten Materialien. 

    Alle jungen Frauen sind festlich gekleidet, einige von ihnen tragen Schmuck. Sie hatten kaum Möglichkeiten, ihre winzigen Gehälter auszugeben. Kleidung war teuer (obwohl es Ausnahmen gab – einige „Ostarbeiterinnen“ erwähnten den Kauf von Pullovern, die „den Juden abgenommen“ worden waren). So war billiger Schmuck die einzige Mode, die den Mädchen im Teenageralter zur Verfügung stand. Kleider wurden für gestellte Fotos ausgeliehen. 

    In der Beschreibung zum Foto erwähnt Maria, dass die Haushälterin ihnen Kuchen zur Neujahrsfeier geschenkt hatte. Die durchschnittliche Verpflegung der Zwangsarbeiter bestand aus Steckrübensuppe zweimal am Tag und 200 Gramm Brot mit verschiedenen Beimischungen. Den meisten dokumentierten Erinnerungen ist gemeinsam, dass die Menschen ständig Hunger hatten und Kartoffelschalen aus Küchenabfällen gestohlen haben. (Irina Schtscherbakowa)

    Nikolaj Kirejew

    1942 mit 16 Jahren aus der Oblast Orlow verschleppt. Arbeitete in Rüstungsfabriken in Berlin. Kam später, nach einem misslungenen Fluchtversuch, ins Konzentrationslager.

    „[…] [An Wochentagen] mussten wir um fünf aufstehen, dann gabs Kawa, wie die Polen sagten. Kawa heißt Kaffee. Die Schüssel hast du immer bei dir – das war die wichtigste Ausrüstung, für den Fall, dass dir jemand wo was einschenkt. […] Und einen Laib Brot. […] Ein gewöhnliches, wenn du es anfasst, ist es, als wäre es aus Sägespänen, die zusammengepresst wurden. Nichts als Späne. Du isst es, und es scheint zu schmecken. Das war morgens. Sozusagen unser Frühstück. Ein Brot für fünf Leute […]. So groß wie ein Borodinski-Brot, oder sogar noch kleiner […]. Mittag gab es aus Kübeln. Sie nannten es Kohlrabi. Das gab es ständig. Kohlrabi ist sowas wie sehr fester Kohl. […] Zum Abendessen gab es gar nichts. Es gab nur zwei Arten von Mahlzeiten am Tag. Nein, manchmal gab es [zum Abendessen] Mehlsuppe. Also einfach nur aus Mehl. Sonst nichts, kein Fett. 

    Manchmal, an großen Feiertagen, gab es etwas … An Hitlers Geburtstag, am 20. April, war ich [im Spandauer Zwangsarbeitslager] in der Rauchstraße. Zur Feier des Tages gab man uns ein Stückchen Margarine, so groß wie eine Streichholzschachtel. Danach gab es … – davon hatten sie offenbar zu viele – Frösche. Die Frösche gingen sehr gut. Frösche gab es oft an Feiertagen. Die Schenkel und den Rumpf mit irgendeiner Marinade. Das war ein hervorragendes Essen. Ich habe immer versucht, einen zweiten und dritten Nachschlag zu bekommen, weil ich sie sehr gern aß. Das Hungergefühl verschwand nie. […] Dann gab es noch so rote Stiele. Manchmal so dick wie ein Arm. Was das für Stiele waren, weiß ich nicht. Aber die waren süß, mit solchen langen Fäden. Das war ein hervorragendes Essen. Aber vielleicht erschien mir das damals auch nur so […].“ (Quelle)

    Wassili G., mit 16 verschleppt (auf dem Bild mit blauem Kugelschreiber gekennzeichnet). Neujahrsfeier. Ort unbekannt, Jahr nicht angegeben / Foto © Archiv von Memorial International. Fond 21. Akte Nr. 158013

    Auf diesem gestellten Foto sind fast alle sitzenden Männer dem Fotografen zugewandt, die Menschen im Vordergrund schauen ins Objektiv, einer von ihnen isst. Während der Feiertage wurden in Kantinen oder anderen Gemeinschaftsräumen fast überall geschmückte Weihnachtsbäume aufgestellt – auch für Propagandafotos. 

    Abgekratzte Stellen sind charakteristisch für viele Fotos von ehemaligen „Ostarbeitern“. In der Regel wurden einzelne Motive nach dem Krieg entfernt, um die kompromittierenden Fotos nicht im Familienarchiv aufzubewahren. Dies betraf meistens Nazi-Symbole oder Aufnäher mit der Aufschrift „OST“. Nicht unüblich war es auch, Hitler-Portraits auf Fotos zu entfernen (in diesem Fall oben links). (Irina Schtscherbakowa)

    Galina Schalankowa 

    1942 mit 17 aus der Oblast Sumskaja (Ukraine) verschleppt. Arbeitete im Lager an einer Chemiefabrik bei Wittenberg (Sachsen-Anhalt). 
    „In diesem Lager wurden alle, die sich etwas hatten zuschulden kommen lassen, sofort geschlagen und so weiter. […] Als ich mir also die zwei Finger abgehackt hatte, um nicht an der Maschine arbeiten zu müssen, wurde ich ins Labor versetzt, als Putzfrau. Da haben sie [die anderen Arbeiterinnen] gesagt: ‚Galja, bring doch einen Viertelliter Alkohol mit, bitte doch deine Chefin. Und dann feiern wir Neujahr.‘ Wenn sie mich drum bitten, kann ich doch nicht nein sagen, es sind ja meine Freundinnen. Ich hatte einen Mantel, […] im Rockschoß [vom Mantel habe] ich den Viertelliter versteckt.

    Und dann – nicht alle werden am Kontrollpunkt durchgelassen, [es heißt]: du, du und du, raus zur Kontrolle. Auch ich war eine von denen [die überprüft werden sollten]. […] Eine Frau hat mich durchsucht. […] Ich sagte: ‚Schnaps.‘ Und sie: ‚Hm, ein Viertelliter. Wozu hast du den genommen?‘ ‚Um Neujahr zu feiern‘, sage ich. ‚Die Chefin hat ihn mir gegeben, ich habe ihn nicht gestohlen. Ich habe sie gefragt. Frau Kulta, ich sehe sie noch heute vor mir. Ich hatte zu ihr gesagt: ‚Gib uns einen Viertelliter Alkohol, dann können wir es wenigstens feiern, das neue Jahr.‘

    Also wurden wir zur Seite genommen. Da waren noch ein paar junge Männer, die mit irgendwas erwischt worden waren. Das wars, Hände hoch. Man brachte uns zur Gestapo. Und damit wir nicht mit leeren Händen liefen, bekamen alle irgendetwas zum Tragen, einen Stuhl, eine Kiste, einen Baumstamm. Damit auch alle sehen, dass du etwas angestellt hast, und damit du dich gleichzeitig nützlich machst. Wir kamen […] in den Verhörraum, dort wurde alles aufgeschrieben, wer, was, warum. Und dann ging es weiter zur Gestapo, dorthin, in die Baracke, in diese Baracke kamen wir […] unter die Pritschen. Wir waren drei junge Frauen. Die Männer kamen natürlich woanders hin. Drei Tage ohne Essen und Trinken. Wir waren froh, dass sie uns nicht mit den Schlagstöcken geprügelt haben. […] Das wars. […] Sie können sich vorstellen, was für einen Hunger wir hatten.“ (Quelle)

    Maria S., mit 23 Jahren verschleppt. Neujahr. Erlangen, Jahreszahl fehlt / Foto © Archiv von Memorial International. Fond 21. Akte Nr. 1256

    Dieses Foto zeigt, wie Propagandabilder aufgenommen wurden: Der Fotograf verwendet zwei Scheinwerfer, die auf das Zentrum der Aufnahme gerichtet sind. Dort steht eine gut gekleidete junge Frau mit einem „OST“-Kennzeichen. Sie lächelt in die Kamera und nimmt einen Teller Suppe aus den Händen einer ebenso gut gekleideten Köchin entgegen. Viele „Ostarbeiter“ berichten darüber, dass sie gezwungen worden sind, für Fotos zu lächeln. Die Gesichter von Personen, die nicht von Anleuchtgeräten angestrahlt werden, haben einen auffallend anderen Ausdruck als die Gesichter derjenigen, die im Propagandabild sind. (Irina Schtscherbakowa)

    Irina Schtscherbakowa, Koordinatorin der Bildungsprojekte von Memorial, Historikerin, Mitverfasserin des Buchs Für immer gezeichnet

    In Deutschland gab es viele verschiedene Lager: Arbeitslager, Straflager für Kriegsgefangene und Konzentrationslager (die härtesten von allen). Die Stellung der „Ostarbeiter“ war ein klein wenig besser als jene der KZ-Häftlinge. Allerdings hing alles davon ab, wo sie lebten und arbeiteten: War es ein großes Lager, das zu einer Rüstungsfabrik gehörte, brauchten sie eine Genehmigung, um in die Stadt gehen zu dürfen. War es ein Haushalt, den sie besorgten, durften sie ruhig rausgehen, um Aufgaben zu erledigen (beispielsweise die Kinder von der Schule abzuholen). Aber sie durften nicht alle öffentlichen Verkehrsmittel benutzen, sondern nur bestimmte Strecken damit fahren. Bis 1944 mussten sie das Kennzeichen „OST“ tragen: Wurden sie ohne angetroffen, wurden sie bestraft.

    Im Großen und Ganzen behandelte man sie wie unbezahlte Arbeitskräfte. Der Lohn, den sie für ihre Arbeit bekamen, war so mickrig, dass sie höchstens eine Flasche Limonade dafür hätten kaufen können. 

    Natürlich gab es auch Deutsche, die Mitleid mit den „Ostarbeitern“ hatten und ihnen heimlich Stullen in der Fabrik daließen. Doch ein engerer Kontakt war durch die deutschen Gesetze strengstens untersagt. Freundschaftliche und erst recht Liebesbeziehungen wurden verfolgt. Bestraft wurden vor allem die „Ostarbeiter“, aber manchmal trafen die Strafen auch Deutsche – insbesondere bei Liebesbeziehungen, denn diese galten als ein Verstoß gegen die Rassengesetze.

    Nach dem Kriegsende sollten die „Ostarbeiter“ gemäß dem Abkommen von Jalta durch die Alliierten an die sowjetische Regierung ausgeliefert werden. Aber schon bald unterbreiteten die Amerikaner den „Ostarbeitern“ das Angebot, nicht in die sowjetische Besatzungszone zu gehen. Viele nahmen das Angebot an und blieben in den Lagern, die nun der amerikanischen Besatzungsmacht unterstanden. Diejenigen, die aber zurückkehrten, mussten eine Filtration durchlaufen. Wenn ihnen außer der Verschleppung nach Deutschland nichts vorgeworfen wurde, bekamen sie eine Bescheinigung. Damit konnten sie per Militärtransport in die Heimat zurückkehren. Einige – nicht sehr viele – wurden zu Zwangsarbeit und in die Arbeitsarmee geschickt. Mehrere Jahre mussten sie am Wiederaufbau von Zechen und Elektrizitätswerken mitarbeiten. 

    Der Vermerk, für die Deutschen gearbeitet zu haben, war ein Makel in den persönlichen Akten der Menschen. Ehemalige „Ostarbeiter“ durften nicht in den Großstädten (Moskau, Leningrad, Kiew) leben, keine höhere Bildungsanstalt besuchen, nicht dem Komsomol oder der Partei beitreten.
    Ein kleiner Prozentsatz der „Ostarbeiter“ wurde verhaftet und noch zwei Jahre nach der Rückkehr repressiert. Nach Stalins Tod besserte sich die Lage ein wenig, trotzdem fühlten sich die ehemaligen „Ostarbeiter“ als Menschen zweiter Klasse. Ihnen wurde zwar nicht vorgeworfen, das Vaterland verraten zu haben – andernfalls wären mehr als zwei Millionen zurückgekehrte Menschen in sowjetischen Lagern gelandet. Doch im Alltag hing immerzu der Verdacht über ihnen, sie hätten für den Feind gearbeitet.

    Da sich die „Ostarbeiter“ ausgestoßen und stigmatisiert fühlten, verheimlichten viele nach Möglichkeit ihre Biografie. Über sie und ihr Schicksal wurde nicht geschrieben. Dies änderte sich erst Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre. Damals begann die deutsche Regierung mit den Entschädigungsleistungen. 

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft«
    (EVZ)

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  • Klitzekleine Schnipsel

    Klitzekleine Schnipsel

    Aldona Wolynskaja ist ihr ganzes Leben lang davongelaufen, hat Dokumente zerrissen, Namen und Nachnamen geändert. Aber die Vergangenheit hat sie immer wieder eingeholt. Sie war im Dritten Reich eine zivile Zwangsarbeiterin aus der Sowjetunion. Anastasia Platonowa hat Aldonas Geschichte aufgeschrieben – die mit dem Kriegsende noch lange nicht vorbei war.

    Fotos © Archiv der Menschenrechtsoganisation Memorial

    Als das Auto in Brest ankam, überreichte man Aldona einen Umschlag mit ihren Papieren. Sie stieg aus dem Studebaker, nahm ein Blatt aus dem Umschlag, sah die Aufschrift „Waisenheim Odessa“ und zerriss es in kleine Schnipsel. Dann zog sie das nächste Dokument hervor, und noch eins. Aldona machte das nicht zum ersten Mal: Sie wollte verheimlichen, dass ihre Eltern verhaftet worden waren, der Vater tot und die Mutter im Lager, und dass man sie selbst, eine junge Frau von 20 Jahren, vor fünf Jahren nach Deutschland verschleppt hatte. Sie saß auf dem Bordstein der Nachkriegsstraße und riss das Papier in immer kleinere Schnipsel, damit niemand mehr etwas lesen konnte. Damit niemand etwas erfuhr.

    Herbst 1942: Nowoukrainka – Kirowograd [Ukraine]

    Als man sie in die Waggons lud, war rundum lautes Geheul. Die Jugendlichen aus dem Waisenhaus, die man nach Deutschland brachte, wurden von den „Kleinen“ verabschiedet – von denen, die man nicht mitnahm, weil sie als Arbeitskraft noch nicht zu gebrauchen waren. Noch nicht.

    Im Kinderheim, Nowoukrainka / Foto © Memorial
    Im Kinderheim, Nowoukrainka / Foto © Memorial

    Aldona hatte so gut wie nichts an. Ihre Garderobe bestand aus einem Sommerkleid aus grober Baumwolle. Es war aus dem Bühnenvorhang im Waisenheim genäht, und einem BH aus zwei zusammengenähten Pionierhalstüchern.

    In Kirowograd kletterten sie und ein paar andere Mädchen aus dem Waggon und liefen über die Gleise. Sie wollten eigentlich wegrennen, aber wo sollten sie schon hin – fast die ganze Ukraine war seit Herbst 1941 in deutscher Hand. Die Mädchen überlegten kurz und gingen wieder zurück zum Zug, der sie nach Deutschland brachte.

    Aldona wusste, dass sie von Deutschland nichts Gutes zu erwarten hatte: Im Waisenhaus kamen Briefe von Kindern an, die man schon früher geholt hatte. Sie benutzten codierte Ausdrücke, um zu sagen: In Deutschland geht es ihnen schlecht.

    Aldona wurde nach Deutschland verschleppt, als sie gerade 16 Jahre alt war. Mit ihr fuhren ihre Freundinnen Elja und Aina und andere Jugendliche aus dem Waisenhaus in Nowoukrainka.

    Frühjahr 1938: Moskau

    Als Aldona zwölf Jahre alt war, zog ihre Mutter ein schwarzes Kleid an und verließ das Haus. Drei Tage lang war sie schon weg. Aldona ging zur Schule, bezahlte die Miete, ging nach der Schule draußen auf dem Sretenski-Boulevard Seilspringen.

    Da rief die Nachbarin nach ihr, und als Aldona in ihr Zimmer gerannt kam, waren dort Unbekannte. „Pack deine Sachen, du fährst zu deiner Großmutter. Hast du eine Großmutter?“ Aldona sagte ja. Aber im Stillen fragte sie sich: Wie soll ich zu ihr fahren, wenn ich gar nicht genau weiß, wo sie wohnt? Sie durfte ein paar Kindersachen und zwei Bücher mitnehmen. Aldona suchte sich Puschkin und Tschechow aus. Mit ihnen stieg sie in ein großes schwarzes Auto.

    Aldona in Moskau / Foto © Memorial
    Aldona in Moskau / Foto © Memorial

    Man brachte sie in ein Durchgangsheim für Kinder. Die anderen Mädchen erklärten Aldona, dass sie alle Kinder von Verhafteten seien. Aldona wurde fotografiert, man nahm ihre Fingerabdrücke und zeigte ihr ihren Schlafplatz. Nach ihrer Großmutter fragte niemand mehr.

    Das Danilow Durchgangsheim war 1928 eröffnet worden. Anfang der 1930er Jahre landeten fünfzig Prozent der Kinder dort, wenn sie aus einem Waisenhaus weggelaufen waren. Ab Mitte der 1930er Jahre kamen dann Kinder, deren Eltern, genau wie Aldonas Eltern, verhaftet worden waren. Diese Kinder galten als „sozial gefährlich“, sie wurden getrennt von den obdachlosen Kindern und minderjährigen Straftätern untergebracht. Die Administration ermunterte die anderen Heimkinder die „politischen“ zu schikanieren: Bei Ausflügen wurden sie mit Steinen beworfen und beleidigt. Wenn ein Kind neu im Heim ankam, änderte man unter Umständen absichtlich den Nachnamen, um die Suche zu erschweren, nahm seine Fingerabdrücke und machte Fotos. Kinder, die miteinander verwandt waren, wurden bewusst getrennt und in verschiedene Kinderheime geschickt.

    Aldonas Vater, Baltrus Matusjawitschjus, war Kommunist und Untergrundkämpfer in Litauen gewesen. Als er in die Sowjetunion zurückkehrte, änderte er seinen Namen in Wladimir Wolynski und arbeitete im Kreiskomitee der Stadt Istra. Im Sommer 1937 wurde er verhaftet und wegen Vorbereitung eines Attentats auf Stalin angeklagt. Im April 1938 kam die Vorladung für Aldonas Mutter, Nona Lichodijewskaja. Sie hielt sich bereit: Sie war sich sicher, dass sie, eine ehrliche Frau, nichts zu befürchten habe. Außerdem war sie gerade erst wieder in die Partei aufgenommen worden, sie dachte, es würde sich bald alles aufklären, die Gerechtigkeit siegen. Nona wusste nicht, dass ihr Mann, Aldonas Vater, bereits vor drei Monaten erschossen worden war und jetzt in einem Graben in Kommunarka bei Moskau lag. Als sie die Vorladung erhielt, verließ sie ruhigen Gewissens das Zimmer auf dem Sretenski-Boulevard.

    Aus dem Durchgangsheim brachte man Aldona in einem Schwarzen Raben fort; es hieß, es ginge ins Sommerlager ans Meer. Im Vorbeifahren sah sie den Park Kultury und ein Haus, in dem Freunde der Familie wohnten und in dem Aldona mit ihrer Mutter oft zu Besuch gewesen war. Der Schwarze Rabe fuhr immer weiter.

    Aldona im Kinderheim (vordere Reihe, Mitte) / Foto © Memorial
    Aldona im Kinderheim (vordere Reihe, Mitte) / Foto © Memorial

    Den Kindern erklärte man, wenn sie jemand fragt, sollten sie antworten: Wir sind Einser-Schüler und fahren ins Artek. Später im Zug saß neben Aldona ein Mädchen, dessen Eltern ebenfalls verhaftet worden waren. So lernte sie ihre Freundin Elja kennen, und dann auch Aina. Aina fiel sofort auf: Sie war mit ihren Eltern gerade aus England zurückgekehrt, war grell gekleidet und trug eine kleine Uhr ums Handgelenk. Solche Uhren hatte in der Sowjetunion niemand.

    Herbst 1944: Guben, Deutschland

    Eines Abends kam Aina zusammen mit einer Freundin, und sie riefen Aldona ans Fenster. Die wohnte weit oben im dritten Stock, die Hausherrin hatte Aldona ein Zimmer unterm Dach gegeben. Aldona ging nach unten zu den Mädchen.

    „Wir rennen weg.“
    „Und was ist mit mir?“
    „Na los, pack deine Sachen.“

    Aldona rannte hoch. Ihre deutsche Arbeitgeberin behandelte sie nicht schlecht, hatte Aldona sogar einmal Lohn gezahlt, ließ sie manchmal am gemeinsamen Tisch sitzen und schenkte ihr eines Tages ein von Motten zerfressenes Kleid. Dafür putzte Aldona das Haus und den Laden und wenn eine Lieferung kam, schleppte sie 50-Kilo-Säcke. „Es ist das 20. Jahrhundert und ich bin eine Sklavin“, klagte Aldona Aina ihr Leid. Ob sie weglaufen soll, musste sie nicht lange überlegen.

    Aina hatte weniger Glück gehabt: Sie wurde in ein Krankenhaus eingeteilt, in eine Baracke für Ausländer, und das Mädchen brach schier zusammen vor Arbeit. Eine Freundin hatte Aina dann zur Flucht angestiftet, ebenfalls eine Ostowka aus dem Waisenhaus: Vor lauter Wut hatte sie ihre Arbeitgeberin, eine reiche Deutsche, mit einem nassen Lappen geschlagen. Die Mädchen hatten sich Mut angetrunken und waren mit der halbleeren Weinflasche zu Aldona gerannt: sich verabschieden.

    Zu dritt fuhren sie schließlich nach Berlin, wuschen sich in einer Bahnhofstoilette, setzten sich auf den Bahnsteig und machten sich daran, ihre Papiere zu vernichten: zerrissen den deutschen Ausweis [dt. im Orig. – dek], rissen alles in kleine Schnipsel, damit die Deutschen nicht merkten, dass drei Ostowkas vor ihren Herrinnen davongelaufen waren, kauften Fahrscheine nach Polen, um nach Hause zu fahren. Aber sie wurden erwischt: An der Grenze wurden alle kontrolliert; die Mädchen stiegen aus, ließen die Kontrolleure vorbei und wollten gerade wieder auf den abfahrenden Zug aufspringen, als ein Polizist sie bemerkte. Die Mädchen wurden von der Gestapo verhört, aber hatten Glück – sie kamen in ein Durchgangslager. Aldona erinnert sich, dass der Lagerleiter ein netter Mann war:

    „Na Mädels, wollt ihr arbeiten?“
    „Ja!“
    „Wo wollt ihr denn hin?“

    Die immer hungrigen ehemaligen Heimkinder fragten sofort nach der Küche. Der Leiter sagte, es gebe zwar eine, aber da wolle niemand hin – zu gefährlich.

    „Warum denn gefährlich?“
    „Das ist ein Flugplatz, der wird bombardiert.“
    „Das ist uns egal, Hauptsache es gibt etwas zu essen.“

    Sommer 1947: Magdeburg, Deutschland, sowjetische Besatzungszone

    Bevor sie nach dem Krieg nach Hause zurückkehren durften, mussten Ostarbeiter durch Filtrationslager des NKWD, wo sie verhört wurden, manchmal auch unter Folter durch Schlafentzug. Aldona blieb in Deutschland und arbeitete in der Verwaltung der sowjetischen Besatzungszone – ein recht angesehener und vertrauensvoller Posten. Trotzdem wusste sie: Irgendwann wird man sie holen kommen.

    Als man sie ins Gefängnis brachte, war Aldona nicht überrascht. Ihre Kolleginnen in der Verwaltung hatten sie gewarnt, dass mehrere Anfragen vorlagen: Die Führung wollte herausfinden, ob die junge Dolmetscherin etwas zu verbergen hatte. Das hatte sie – beim ersten Mal konnte sie sich herauswinden, aber dann kam trotzdem alles heraus. Sie wurde von zwei Männern abgeholt, die sie von der gemeinsamen Arbeit kannte: Der Ermittler Senka Slutschischkin und Major Sergej Sikejew.

    „Der Oberst hat gesagt, wir sollen dich verhaften.“
    „Na, dann los.“

    Im Gefängnis war Aldona nicht zum ersten Mal: Zuerst 1944 im Kölner Gestapo-Gefängnis, als die drei flüchtigen Ostowki-Mädchen von der Patrouille gefasst worden waren. Aus dem deutschen Lager kam die junge Frau in ein sowjetisches Filtrationslager. Dort erdachten sie und ihre Freundin Elja ihre Geschichte neu, änderten ihren Heimatort und die Nachnamen, aus Elja wurde Irina. Das Lager verließ Aldona als Mitarbeiterin der sowjetischen Militärverwaltung – die Sicherheitsdienste brauchten Leute, die Deutsch sprachen. 

    In Magdeburg blieb sie mehrere Monate – dort wusste man nicht, was man mit der Dolmetscherin mit dem Makel im Stammbaum machen sollte.

    1945: Magdeburg, Deutschland, sowjetische Besatzungszone

    Aldona in Deutschland / Foto © Memorial
    Aldona in Deutschland / Foto © Memorial

    In der sowjetischen Militärverwaltung wurde Aldona Dolmetscherin: Sie war bei Durchsuchungen und Verhören dabei, übersetzte die Aussagen angeworbener Deutscher. Ihr war klar, dass eine Mitarbeiterin, deren Eltern beide verhaftet worden waren, jederzeit auf dem Platz des Angeklagten landen konnte.

    Ihre Vorgesetzten besprachen den Plan für die Festnahmen oft in ihrer Anwesenheit.

    „Wie viele Palki hast du schon?“
    „Mir fehlen noch drei.“
    „Dann lass uns mal sehen, wen wir noch haben.“

    Aldona las die Liste vor: Mann, 65 Jahre alt, Angina Pectoris, dazu ein Haufen anderer Krankheiten.

    „Gut, der Nächste.“

    Der Nächste ist auf Dienstreise, bei dem anderen waren sie schon, wieder der Nächste ist nicht zu Hause. Dann also doch der Alte mit Angina Pectoris.

    Aldona verheimlichte ihre Vergangenheit, und eine Zeitlang ging das gut: Die Papiere aus dem Waisenhaus in Odessa waren bei einem Brand vernichtet worden. Aber sie flog trotzdem auf – irgendwann stellte jemand die richtige Anfrage, und die Antwort mit ihrem echten Namen und dem kompletten Lebenslauf, einschließlich der „unzuverlässigen“ Eltern, traf per Luftpost in Magdeburg ein. Aldona kam in dasselbe Gefängnis, das sie von den Verhören her kannte. Dort blieb sie vier Monate, bevor man sie einfach wieder laufen ließ: Man setzte sie in ein Auto, brachte sie nach Brest und überreichte ihr den Umschlag mit Papieren.

    Warum war es so gekommen? Aldona wusste es nicht. Aber sie setzte sich hin und fing aus Gewohnheit an, die Papiere zu vernichten. Blatt für Blatt, immer kleinere Schnipel, damit man nichts entziffern konnte, rekonstruieren, einen Faden spinnen zu ihren verhafteten Eltern, dem Durchgangsheim, dem Waisenhaus in Odessa, der Hausherrin in Guben, nach Köln, zur Militärverwaltung in Magdeburg …

    ***

    Aldonas Ehemann / Foto © Memorial
    Aldonas Ehemann / Foto © Memorial

    Um alle Spuren zu verwischen, heiratete Aldona und zog mit ihrem Mann, der beim Militär war, auf die Halbinsel Sachalin. Sie ahnte, dass sein Vater ebenfalls erschossen worden war, aber sie haben nie darüber geredet. Das Unausgesprochene hatte immer zwischen ihnen gestanden wie eine Wand, und schließlich trennten sie sich.

    Fast ihr ganzes Leben lang hielt Aldona ihre Vergangenheit geheim, ihre Herkunft, ihre Familie, änderte ihre Namen, vernichtete Papiere. Aber 1990 tauchten plötzlich in den Zeitungen Artikel auf, die auch sie persönlich betrafen. In der Prawda entdeckte sie eine Adresse der Stadt Köln, die nach ehemaligen Ostarbeitern und Kriegsgefangenen suchte, und entschloss sich, dort hinzuschreiben. Als Antwort bekam sie Hin- und Rückflugtickets samt einer Einladung des Bürgermeisters von Köln. 1990 lief Aldona durch die vertrauten Straßen, erkannte sie wieder und auch wieder nicht – und erhielt ein Dokument, das sie als Opfer des Nationalsozialismus anerkannte. Damit kehrte sie nach Moskau zurück und ihr wurde klar: Sie musste keine Papiere mehr zerreißen. Und sie durfte über alles reden.

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft«
    (EVZ)

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  • „Ostarbeiter“

    „Ostarbeiter“

    Als der Krieg anfing, lebte Ljuba in der Ukraine, in der Region Wosnessensk. Kurz zuvor hatte sie die sechste Klasse beendet; da jede helfende Hand wichtig war, begann Ljuba nun gemeinsam mit ihren Eltern in der Kolchose zu arbeiten. 

    Rund eineinhalb Monate nach dem Beginn des nationalsozialistischen Vernichtungskriegs gegen die Sowjetunion marschierten deutsche Soldaten am 7. August 1941 in Wosnessensk ein. Ihr Kampf um den „Lebensraum Ost“ sah vor, dass die Menschen weiter in den Osten der Sowjetunion gedrängt oder vernichtet werden. Die Nazis planten den Hungertod für 30 Millionen Menschen in den besetzten Ostgebieten.1 

    Ljubas Vater trat in die Rote Armee ein. Ljuba, ihre Mutter und ihre vier Schwestern blieben bei Wosnessensk zurück. Die Nazis gründeten das Reichskommissariat Ukraine und das Reichskommissariat Ostland, wo sie ihre rassistische Besatzungspolitik mit Repressionen und Gewalt durchsetzten. Eine allgemeine Arbeitspflicht wurde eingeführt, zunächst mit einer Altersbeschränkung: Für Männer im Alter von 15 bis 65 Jahren und für Frauen zwischen 15 und 45 Jahren.2 Später wurde diese Beschränkung aufgehoben.

    Die Abgaben von den Kolchosen an die Besatzungsmacht stiegen an. Die Lebensmittelrationen für die Bevölkerung wurden immer kleiner. Die fruchtbare Ukraine sollte zur „Kornkammer des Reiches“ werden und die „arischen Herrenmenschen“ ernähren.3 Die Menschen im Land gerieten in immer größere, wirtschaftliche Not und litten Hunger. 

    Zeitgleich propagierten die Nazis, dass Ukrainer, Russen und Belarussen sich freiwillig für den Arbeitseinsatz im Deutschen Reich melden sollten. Dort würden sie eine faire Arbeit und einen gerechten Lohn erhalten, solange sie für die Deutschen arbeiteten. 

    РУССКАЯ ВЕРСИЯ

    Bis Mitte Januar 1942 meldeten sich 55.000 Arbeiter:innen für den Arbeitseinsatz. Später kamen noch einige weitere zehntausend Ukrainer:innen dazu.4 Als die ersten Gerüchte und Briefe über die Arbeitssituation und die Lebensumstände die Heimat erreichten, war vielen klar, dass sie auf die Propaganda und die leeren Versprechungen der Nazis hereingefallen waren.5 Um die Kriegswirtschaft zu erhalten, setzten die Deutschen auf Ausbeutung und Zwangsarbeit. Längst verließen sie sich nicht nur auf Propaganda: Auch Zwangsrekrutierungen, Gewalt, Repressionen und willkürliche Razzien kamen massiv zum Einsatz. Ganz offen wurde von „Menschenjagden“ oder „Sklavenjagden“ gesprochen. 

    In dem Reichskommissariat Ukraine zogen die Nazis ab 1943 zusätzlich alle Menschen der Jahrgänge 1922 bis 1925 zu einem zweijährigen Pflichtarbeitsdienst im Deutschen Reich ein. Zahlreiche Plakate wurden im Auftrag des Kiewer Stadtkommissars in der ganzen Ukraine verteilt, darauf ließ er verlauten: „Ich erwarte, daß alle in Betracht kommenden Jugendlichen ausnahmslos und pünktlich zur Abreise erscheinen.“ 

    Bild © Bundesarchiv, Bild 183-J10854 / CC-BY-SA 3.0
    Bild © Bundesarchiv, Bild 183-J10854 / CC-BY-SA 3.0

    Am 19. August 1943 wurde Ljuba ins Deutsche Reich gebracht, als eine von zahlreichen Jugendlichen aus der Sowjetunion, die zwischen 1942 und 1945 Zwangsarbeit leisteten. Ging die 17-Jährige mit der Hoffnung auf mehr? Aus Zwang? Oder um ihre Mutter und Schwestern finanziell zu unterstützen? 

    Auf dem Weg zu ihrem neuen Arbeits- und Lebensort gab es für die Zwangsarbeiter:innen aus der Sowjetunion drei ärztliche Untersuchungen, um die Gesundheit und körperliche Verfassung der neuen Arbeitskräfte zu prüfen. Ljuba schrieb in einer Postkarte an ihre Familie, die heute im Staatsarchiv der Oblast Mykolajiw aufbewahrt wird: „Ich bin für gesund befunden worden. Darum wartet zu Hause nicht auf mich.“6 

    „Untermenschen“

    Das neue „Material“ musste gesund und einsatzbereit sein. In der rassistischen und menschenverachtenden Ideologie der Nazis galten die Menschen aus der Sowjetunion als „Untermenschen“. Anfangs sollten die Bürger:innen aus der Sowjetunion nicht zur Zwangsarbeit eingesetzt werden, nachdem die Nazis 1943 aber zum „Totalen Krieg“ übergegangen sind, haben sie immer mehr Arbeitskräfte gebraucht. Aus diesem Grund wichen sie vom Vernichtungsplan ab und griffen immer mehr auf die sowjetischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter:innen zurück. Durch unmenschliche Behandlung, schlechte und mangelhafte Ernährung, Misshandlungen, Strafen und willkürliche Gewalt starben allein innerhalb weniger Monate ungefähr zwei Millionen sowjetische Kriegsgefangene.7 

    „Ich bin am Leben und gesund“, schrieb Ljuba an ihre Familie. „Wir sind 15 Tage lang gefahren, und mir ging es sehr gut. Jetzt bin ich in Bremen, in einem Lager.“8 Zusammen mit ungefähr 700 anderen Frauen war sie im Lager Heidkamp untergebracht. Viele von ihnen kamen, so wie Ljuba, aus der Sowjetunion. Das Lager wurde eingerichtet und betrieben von der Organisation Todt (O.T.) – eine paramilitärische Bauorganisation und zuständig für viele kriegswichtige Bauprojekte. Es war das größte Zwangsarbeitslager in der Rüstungslandschaft in Bremen-Farge und Umgebung.9


    Im Sommer 1944, dem Höhepunkt des massiven Einsatzes von ausländischen Arbeitskräften im Deutschen Reich, wurden in der Rüstungsindustrie, der Kriegswirtschaft, in der Landwirtschaft und in deutschen Haushalten mehr als 13 Millionen Zwangsarbeiter:innen eingesetzt: zivile Zwangsarbeiter:innen, KZ-Häftlinge und Kriegsgefangene – darunter ungefähr 2,75 Millionen zivile Zwangsarbeiter:innen aus der Sowjetunion. 

    © Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit
    © Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit

    Wie die meisten Zwangsarbeiter:innen wusste auch Ljuba nicht, für welches Rüstungsprojekt sie arbeiten musste und welche Ziele die Nazis damit verfolgten. Die sogenannten „Ostarbeitererlasse“ vom Februar 1942 bestimmten ihr Leben in einem Land, in dem sie nicht als Menschen wahrgenommen wurden. Die Regelungen für „Ostarbeiter“ waren an anderen Erlassen für Zwangsarbeiter:innen orientiert und nochmal verschärft worden. So war es den sogenannten „Ostarbeitern“ streng verboten, das Lager zu verlassen. Sie durften nur raus, um zu ihrem Arbeitsplatz zu gehen. Sie durften kein Geld, keine Wertgegenstände, keine Fahrkarten, keine Feuerzeuge und kein Fahrrad erwerben oder besitzen. In den Lagern wurden Frauen getrennt von den Männern untergebracht. Ihre Vorgesetzten durften sie züchtigen. Sie erhielten eine schlechtere Verpflegung und weniger Lohn als Deutsche. Jeglicher Kontakt zu den Deutschen war verboten. Sex mit einem Deutschen wurde sogar mit dem Tode bestraft. Wer diese Gesetze nicht einhielt, dem drohte die Einweisung in ein Konzentrations- oder Arbeitserziehungslager. 

    Aus der Interview-Sammlung des Projekts Zwangsarbeit 1939-194510, die tausende Stunden Video- und Audio-Interviews mit Zwangsarbeiter:innen enthält, wird klar, dass die sogenannten „Ostarbeitererlasse“ im Grunde Vogelfrei-Gesetze gewesen sind: Willkür und Misshandlungen waren an der Tagesordnung, auch Fälle der sogenannten „Vernichtung durch Arbeit“ sind überliefert. 

    „OST“

    Zudem mussten Zwangsarbeiter:innen eine diskriminierende Kennzeichnung auf ihrer Brust tragen. Für die zivilen Zwangsarbeiter:innen aus der Sowjetunion war dies ein rechteckiger, blau-weißer Stoffstreifen, auf dem in Großbuchstaben „OST“ stand. Unter keinen Umständen durften sie die Kennzeichnung ablegen. Auch Ljuba war eine solche „Ostarbeiterin“ – ein nationalsozialistischer Begriff, der die Situation von fast drei Millionen zivilen Bürger:innen aus der Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs nur unzureichend umschreibt und harmlos wirkt. Dahinter steckte die unmenschliche, rassistische Behandlung und der Antislawismus der Nazis. 

    Von den rund drei Millionen Zwangsarbeiter:innen aus der Sowjetunion waren fast zwei Drittel Frauen.11 Der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz Fritz Sauckel war ab März 1942 vor allem für die Organisation und Deportation aller ausländischen Arbeitskräfte für den NS-Staat verantwortlich. Er sagte: „Ich werde diese Russinnen zu Hunderten und Tausenden einsetzen. Sie werden für uns arbeiten. Sie halten zehn Stunden durch und machen jede Männerarbeit.“12 
    Die Frauen mussten arbeiten bis zum Umfallen. Schwangerschaften waren nicht gewollt. Viele Frauen berichteten später von Zwangsabtreibungen oder auch davon, dass ihnen die Kinder nach der Geburt weggenommen worden waren. Viele Neugeborene kamen in die sogenannten „Ausländerkinder-Pflegestätten“. In diesen Einrichtungen starben mindestens 50.000 Kinder an den „geplanten Folgen organisierter Unterversorgung“.13Kurz nach der Entbindung mussten die „Ostarbeiterinnen“ sofort wieder arbeiten.

    Im Erinnerungsschatten

    Wie viele Zwangsarbeiter:innen aus der Sowjetunion in Deutschland ums Leben kamen – dazu gibt es keine belastbaren Zahlen. Ljuba hat überlebt. Im Sommer 1945 wollte sie in die Heimat zurück. Die Westalliierten übergaben die sowjetischen Bürger:innen aus ihren Besatzungszonen an den sowjetischen Geheimdienst. Vermutlich wurde auch Ljuba daraufhin in ein sogenanntes Prüf- und Filtrationslager des NKWD überstellt. In diesen Lagern mussten die ehemaligen Zwangsarbeiter:innen lange, strenge Verhöre über sich ergehen lassen. Für alle registrierten rund 5,4 Millionen sogenannter „Repatrianten“14 galt eine Schuldvermutung: Allen Zwangsarbeiter:innen wurde seitens der Sowjetunion Kollaboration und Spionage vorgeworfen. 

    Natürlich war es schwer, diese pauschalen Vorwürfe in den Verhören ohne Beweise zu widerlegen. In den schlimmsten Fällen kamen die sogenannten „Repatrianten“ erneut in ein Lager und zur Zwangsarbeit nach Sibirien. Auch für diese Opfergruppe gibt es keine belastbaren Zahlen. Bis zum Zerfall der Sowjetunion und sogar darüber hinaus wurden die ehemaligen Zwangsarbeiter:innen jedenfalls nicht als Opfer des NS-Regimes anerkannt. Sie wurden oft gedemütigt, ausgegrenzt, verfolgt und erhielten keine finanzielle Unterstützung. Deswegen schwiegen viele und sprachen niemals ein Wort über ihr Leid als Zwangsarbeiter:innen. 

    Auch in Deutschland waren „Ostarbeiter“ sehr lange Zeit nicht als Opfer des NS-Regimes anerkannt. Sie gehörten zu den „vergessenen Opfern des Nationalsozialismus“.15 Noch 1997 erklärte Bundeskanzler Helmut Kohl individuelle Entschädigungszahlungen an Zwangsarbeiter für ausgeschlossen.16 Erst nachdem die rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder den Weg für die Einrichtung der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« (EVZ) ebnete, konnten am 30. Mai 2001 die Entschädigungszahlungen an Zwangsarbeiter:innen beginnen. 

    Über 30.000 Zwangsarbeitslager hat es in Deutschland gegeben. 75 Jahre nach Kriegsende sind einige davon Gedenkorte, die an sowjetische Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter:innen erinnern: Der Denkort Bunker Valentin in Bremen-Farge etwa gehört dazu, auch die Gedenkstätte Lager Sandbostel oder die KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Über die Opfergruppen wird in den vergangenen Jahren immer mehr geforscht, zahlreiche Publikationen kommen heraus, auch zivilgesellschaftliche Initiativen beschäftigen sich immer mehr mit dem Thema. Häufig wird in Politik und Medien aber überwiegend über die Shoah und die KZs gesprochen. Womöglich deshalb fehlt noch eine differenzierte Darstellung der sowjetischen Zwangsarbeiter:innen. Zusätzliche Herausforderung für Historiker:innen ist, dass viele Zeitzeugen bereits verstorben sind. Natürlich versucht man einen Kontakt zu Nachfahren und Angehörigen aufzubauen oder zu intensivieren (wenn er bereits vorhanden ist). Es gibt jedenfalls zahlreiche Quellen, die noch nicht ausgewertet wurden und in Archiven lagern. Häufig haben die Gedenkstätten kaum Zeit für die Forschung. 

    An den Gedenkorten selbst ist es Aufgabe und Ziel, eine differenzierte Sicht zu vermitteln und das Schicksal der zivilen Zwangsarbeiter:innen aus dem „Erinnerungsschatten“17 zu führen.


    Diese Gnose wurde gefördert mit Mitteln der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« (EVZ)

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    „Ostarbeitery“ – Warum wir uns erinnern müssen

    Das Schicksal der sogenannten „Ostarbeiter“ ist auch in Russland kaum bekannt. Rund drei Millionen sowjetische Zivilisten waren während des Zweiten Weltkriegs als sogenannte „Ostarbeiter“ zur Zwangsarbeit im Deutschen Reich eingesetzt. Darunter auch viele Frauen und Jugendliche. Nach dem Krieg stellte die Sowjetregierung sie unter pauschalen Verratsverdacht, einige kamen in Lager nach Sibirien. Ihr Schicksal blieb auch nach ihrer Rückkehr ein Stigma und Tabu. Trotz langsamer Aufarbeitung – vor allem durch die Menschenrechtsorganisation Memorial – wissen heute oft nicht mal die Enkel und Urenkel davon, schreibt Iwan Dawydow in seinem Text auf Republic. Dabei braucht Russland diese Erinnerung, meint Dawydow, um vom verlogenen Kitsch im offiziellen Kriegsgedenken wegzukommen. 

    Eine Minderheit ging freiwillig, die Mehrheit wurde zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich verschleppt / Foto © Bundesarchiv, Bild 183-B25444 / CC-BY-SA 3.0
    Eine Minderheit ging freiwillig, die Mehrheit wurde zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich verschleppt / Foto © Bundesarchiv, Bild 183-B25444 / CC-BY-SA 3.0

    Es ist, als hätte es sie nie gegeben. Dabei ist das, was ihnen geschehen ist, im Schuldspruch der Nürnberger Prozesse zusammen mit den anderen Nazi-Verbrechen genannt. Mehrere Millionen Menschen wurden aus der offiziellen Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges einfach gestrichen. In ihrer Heimat betrachtete man sie nicht als Opfer: Einige kamen nach der Befreiung in [sowjetische – dek] Lager, manche kamen dort um, anderen wurde verboten, in den Großstädten zu leben und die Möglichkeit geraubt, eine angemessene Arbeit auszuüben. Sie lebten mit einem Gefühl der Schuld vor dem sowjetischen Staat, verbrannten Briefe und Postkarten, erzählten nicht einmal Freunden und Familie von dem, was sie im Krieg erlebt hatten.

    Ein Gefühl der Schuld vor dem Staat

    Ende der 1980er erinnerte man sich kurz an sie, als in Deutschland Entschädigungszahlungen diskutiert wurden, dann hat man sie wieder vergessen. Auf das Abstellgleis der Geschichte gedrängt, um ihre letzten Jahre zu fristen – ohne Hilfen, mit einem unveränderten Schuldgefühl. Kein Enkel oder Urenkel geht mit ihren Portraits zum Marsch des Unsterblichen Regiments. Oft wissen die Enkel und Urenkel nicht einmal etwas von dem tragischen Schicksal ihrer Großeltern.

    Unter den unzähligen Büchern über den Krieg, die in der Sowjetunion erschienen sind, findet sich eins (eins!), das ihrem Schicksal gewidmet ist und wie durch ein Wunder durch die Zensur der ruhigen 1970er gekommen ist: Vitalij Sjomins Roman Zum Unterschied ein Zeichen

    Nicht einmal die Enkel wissen vom Schicksal ihrer Großeltern

    Einige (die Minderheit) waren freiwillig nach Deutschland gegangen: verwirrt, zermürbt, zunächst vom Kolchose-Paradies des Sowjetstaates, dann von der schnellen Zerschlagung der Roten Armee und der Besatzung [durch die Nazis – dek]. Sie hatten der Nazipropaganda geglaubt, auf ein besseres Leben gehofft. Andere (die überwältigende Mehrheit) waren einfach zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich verschleppt worden, wie Sklaven, wie Vieh. 

    Sie passten weder in den sowjetischen noch in den derzeitigen russischen Kriegsmythos. Keine Siege, keine Heldentaten und obendrein Arbeit für den Feind.

    Das Erinnern begann mit einem Missverständnis

    2016 hat die Organisation Memorial den Sammelband Das Zeichen bleibt herausgegeben: Auszüge aus Erinnerungen, Interviews und Briefen der ehemaligen Ostarbeiter. Die Auflage betrug 1000 Exemplare – ein Sammlerstück. 1989 war nämlich einem Journalisten, als er über die Debatte in Deutschland um die Entschädigungszahlungen für ehemalige Ostarbeiter berichtete, eine ungenaue Formulierung unterlaufen. Und dadurch hatten die Überlebenden fälschlicherweise angenommen, Memorial sei jene Organisation, die für die Auszahlungen zuständig sein würde: Sie überhäuften das Moskauer Büro mit Berichten darüber, was sie erlebt hatten. 

    So begann die systematische Erforschung ihrer Geschichten, so gelang es auch, die lebendige Erinnerung an die Schicksale von Millionen Kriegsopfern zu bewahren, die keinen Platz im offiziellen Diskurs finden, an Menschen, derer am Tag des Sieges nicht gedacht wird und die man auch sonst zu vergessen versucht. Heute gibt es bekanntermaßen immer weniger Zeitzeugen, und es erscheinen immer weniger Bücher zu diesem Thema.

    Von 1942 und noch bis 1945 wurden massenhaft Menschen in Zügen nach Deutschland gebracht. Die meisten kamen in Zwangsarbeitslager, die an staatliche oder private Fabriken angegliedert waren. Das bedeutete zwölf Stunden Arbeit täglich, Hunger, brutale Strafen und die drohende Gefahr, beim nächsten Fehler vom Arbeitslager ins KZ zu kommen, sprich den sicheren Tod. Andere kamen als Halbsklaven auf Bauernhöfe oder als Bedienstete in die Häuser deutscher Bildungsbürger: Offiziere, Ingenieure oder gar Wissenschaftler.

    Zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich verschleppt – auch zur Arbeit in den Haushalten deutscher Bildungsbürger / Foto © Bundesarchiv, Bild 183-2007-0618-500 / CC-BY-SA 3.0
    Zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich verschleppt – auch zur Arbeit in den Haushalten deutscher Bildungsbürger / Foto © Bundesarchiv, Bild 183-2007-0618-500 / CC-BY-SA 3.0

    In den von Memorial veröffentlichten Erinnerungen gibt es auch seltene Beispiele eines menschlichen Umgangs zwischen den Ostarbeitern und ihren Herren, Geschichten von Freundschaft und sogar Liebe. Aber es überwiegen natürlich ganz andere Schicksale. 
    Die Begegnung mit Europa erschütterte unsere Landsleute: Sie sahen, dass das Leben auch anders sein konnte, dass die unmenschlichen Verhältnisse von Stalins Paradies alles andere als normal waren. Viele schickten ihren Verwandten Ansichtskarten von den Orten, in denen sie gelandet waren: hübsche einstöckige Reihenhäuser aus Backstein, ordentliche Kirchen. „Das hier, Schwesterchen, ist das Dorf, in dem ich jetzt wohne“, darin ist eine Verwunderung spürbar, aber auch ein naiver Stolz. Sie wunderten sich darüber, wie gut selbst die normalen Leute angezogen waren, wie viele verschiedene Lebensmittel es in den Geschäften gab.

    Am meisten wunderten sie sich darüber, dass diese gepflegten Leute aus den hübschen Häusern sie nicht als Menschen betrachteten

    Ja, ihnen war erlaubt, Briefe in die Heimat zu schreiben und sogar Päckchen zu erhalten. Ein paar Wohltaten sah die deutsche Ordnung auch für die Sklaven vor. 

    Aber noch mehr wunderten sie sich darüber, dass diese gepflegten Leute aus den hübschen Häusern sie nicht als Menschen betrachteten. Man suchte sie sich aus wie auf dem Sklavenmarkt und behandelte sie danach wie Nutzvieh. Das taten sogar die, die in ihren Bücherregalen russische Klassiker mit Goldeinband stehen hatten. Das nette, behagliche Europa konnte in den Russen, Ukrainern und Belarussen keine Brüder erkennen.

    Zerstörte Biographien, Jahrzehnte des Schweigens

    Sie fanden sich in dem neuen Alptraum zurecht, entwickelten Überlebensstrategien und überlebten. Dann kam die Befreiung. Filtrationslager, unendliche Loyalitäts- und Gesinnungs-Prüfungen, für viele folgten Deportation und Zwangsarbeit beim Wiederaufbau der Sowjetwirtschaft, für einige der Gulag. Feiste Prüfer von den Behörden, zerstörte Biografien, nicht zu tilgende Schuldgefühle, Jahrzehnte des Schweigens. Verbrannte Briefe und Ansichtskarten von hübschen deutschen Dörfchen.

    Die Heimat sah einen Feind in den eigenen Bürgern, die einige Jahre lang die Sklaven des Feindes gewesen waren.

    „Wissen Sie, es ist sehr schwer das aus seiner Psyche zu bekommen. Man hat mir eingebläut, ich wäre schuldig, und damit lebe ich bis heute. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich unschuldig bin, nein. An irgendetwas bin ich schuld. Also lebe ich mit dieser Schuld“, erzählte eine ehemalige Zwangsarbeiterin, die ein deutsches Lager überlebt hat, in einem Interview mit Memorial.

    In diesem Krieg sind alle Sieger auch Opfer

    Es ist sinnlos und peinlich darüber nachzudenken, ob das Leid der Ostarbeiter vergleichbar ist mit dem Leid der Soldaten im Krieg, der Menschen, die in den besetzten Gebieten geblieben sind oder sogar der Menschen, die im sowjetischen Hinterland gearbeitet und um ihr Überleben gekämpft haben. In diesem Krieg sind alle Sieger auch Opfer.

    Doch sogar heute, Jahrzehnte später, sind nicht alle Opfer gleich. Die einen werden für ihre Heldentaten geehrt (wobei die Heldentaten nicht selten erfunden und mit geschmacklosem Kitsch aus Propagandafilmen garniert werden, als gäbe es nicht genug echte Heldentaten), über die anderen schweigt man lieber.

    Dabei sind die Geschichten der Ostarbeiter ein ausgesprochen wichtiges Material, um eine richtige Vorstellung von jenem Krieg zu entwickeln. Der Krieg ist die Hölle, eine Wirklichkeit gewordene Hölle auf Erden, wo der Mensch oft nicht mehr über sich selbst bestimmt, wo Tod und Unfreiheit regieren. Die Lebensläufe der nach Deutschland verschleppten Menschen nach dem Krieg sind eine gute Möglichkeit zu verstehen, sich zu erinnern, den jungen und alten Sowjetnostalgikern einzuhämmern, was die Sowjetunion für ihre Bürger wirklich war. Es ist wichtig, sich an Menschen zu erinnern, die es verdienen, die die Not und das Elend des Kriegs überlebt haben – wenn auch an andere, als die offiziellen Mythenschreiber sie besingen, und anders als die Mythenschreiber es gern hätten. Sich an alle zu erinnern, ausnahmslos. Und endlich aufzuhören „die größte geopolitische Katastrophe“ zu beweinen. 

    Wir haben die Freiheit verteidigt. Zu schade, dass wir sie nicht für uns verteidigt haben

    Der Tag des Sieges gehört zu unseren positivsten Feiertagen, der Tag des Sieges ist wie Ostern. Nicht weil „wir“ es der Welt gezeigt hätten, weil „wir“ ganz Europa zerschmettert hätten – oder was steht da sonst noch auf dem Themenplan der Internet-Patrioten? Nein, weil wir damals gemeinsam mit dem Rest der Welt das größte Ungeheuer des 20. Jahrhunderts bezwungen haben, uns auf die Seite der Freiheit gestellt und diese Freiheit mit unvorstellbaren Opfern verteidigt haben. Zu schade nur, dass wir sie nicht für uns verteidigt haben, wie sich dann bald herausstellte. 

    Ein ehrliches Gespräch über den Krieg schmälert den Sieg nicht. Eben das tut der verlogene Kitsch, der das Grauen in ein Postkartenmotiv verwandelt und das Andenken an die Opfer beleidigt. Deswegen brauchen wir die Erinnerung an die Millionen Menschen, die nach Deutschland verschleppt wurden, die Erinnerung daran, was ihnen erst die intelligenten Europäer und später die gutherzigen Sowjetbeamten angetan haben. Wir brauchen sie heute. 

    Sie ist (um das Thema wieder aufzugreifen) eine gute Impfung gegen die Krankheit, die wir heute kennen als ein „Wir können das wiederholen“. 

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft«
    (EVZ)

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