дekoder | DEKODER

Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Attribute der Macht

    Attribute der Macht

    Seit Mitte der 2000er Jahre strahlt das russische Fernsehen eine „visuelle Konstante“ aus, die man „öfter sieht als den Wetterbericht“.1 Auf diese Pointe brachte es der russische Politologe Alexander Elin. Gemeint ist Wladimir Putin.
    Dabei ist der Präsident nicht nur in staatsnahen Medien allgegenwärtig: Viele russische Souvenirläden bieten entsprechende Devotionalien feil, T-Shirts mit Putins Konterfei kann man an Moskauer Flughäfen sogar im Automaten kaufen, und auf YouTube findet man rund ein Dutzend Loblieder auf den Leader

    Worin besteht der so oft in unabhängigen Medien kolportierte Persönlichkeitskult um Putin? Welche Attribute werden dem Leader zugeschrieben? Und auf welche Kraft setzt der Kreml bei den Bildern?  

    Putin-Ikonen aus der Bildersuche von Yandex. Solche Devotionalien bekommt man auch in manchen russischen Souvenirshops / Bild © Screenshot aus der Yandex-Bildersuche nach „Putin Ikona“

    Charisma und Verdienste

    In autoritären Systemen sollen das Charisma sowie die Verdienste des Herrschers den Glauben an die Rechtmäßigkeit von Herrschaftsbeziehungen hervorrufen.2 Manche russischen Wissenschaftler sprechen in diesem Zusammenhang vom Imagemaking, der Russland-Experte Richard Sakwa von der „Arbeit am Charisma“ des nationalen Leaders. Laut Sakwa hat der Aufbau der sogenannten Machtvertikale Anfang der 2000er Jahre eine Legitimitätskrise ausgelöst: Die Aushöhlung demokratischer Mechanismen erforderte demnach eine neue Legitimationsstrategie, und diese sei seit der Mitte der 2000er Jahre auch durch die ständigen „mobilisierenden Bemühungen für die Unterstützung seines [Putins] Images“3 entstanden. 

    Diese Bemühungen schlugen sich nieder in Symbolen und in Diskursen. Dazu gehört vor allem die Erzählung über das Russland der 2000er Jahre.

    Gotteswunder 

    Die postsowjetische Gesellschaft Russlands versank in den 1990er Jahren in Chaos und Kriminalität, die Privatisierung der Betriebe bot ein Schlachtfeld, das rücksichtslose Oligarchen plünderten. Als lichie 1990e – „verrückte“ oder „wilde 1990er“ – sind diese Jahre der Gesellschaft bis heute im Gedächtnis, oder auch als prokljatije, „verfluchte 1990er“. 

    Patriarch Kirill zog hier gar Parallelen zur Smuta – die Zeit der Wirren zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Das Ende dieser „Smuta“ der 1990er Jahre verglich der Patriarch entsprechend mit einem „Gotteswunder“, das aufs Engste mit Putin verknüpft sei.4Demnach sei es Putin binnen weniger Jahre gelungen, das Land „von den Knien zu erheben“. Wie ein Phönix aus der Asche sei Russland emporgestiegen und endlich wieder auf Augenhöhe mit anderen Mächten. 

    Wladislaw Surkow soll bei der Feier des ersten Wahlerfolgs Putins im Jahr 2000 das Glas erhoben und dazu aufgerufen haben, „auf die Vergöttlichung der Macht!“ zu trinken.5Viele russische Politologen sehen heute in dem Trinkspruch Programm. Hier steht Putin auf dem byzantinischen Thron in der orthodoxen Mönchsrepublik Athos. / Foto © kremlin.ru


    Handsteuerung (mit starker Hand)

    In diesem Zusammenhang ist auch immer wieder die Rede von der Handsteuerung (russ. „Reshim rutschnogo Uprawlenija“) oder der „starken Hand“ (russ. „silnaja Ruka“). Als politisches Symbol tauchen diese Begriffe vor allem im Kontext damit auf, dass Putin die Lösung bestimmter Probleme „zur Chefsache mache“ beziehungsweise sie „selbst in die Hand nehme“. Viele Politikwissenschaftler erklären die Handsteuerung auch mit dem Phänomen der Machtvertikale – die autoritäre Konsolidierung des Landes und Machtkonzentration in einer Hand. 

    So bemüht die „Arbeit am Charisma“ neben einer gewissen Art der Sakralisierung also auch das Motiv der Stärke. Musterhaft dafür steht Putins allererste Amtshandlung als Interimspräsident: Am 31. Dezember 1999 besuchte er russische Soldaten an der Front in Tschetschenien und schenkte ihnen Jagdmesser. Laut manchen Polittechnologen war es eine PR-Aktion, die darauf bedacht war, Putins Profil mit dem Attribut der Stärke zu füllen und gleichzeitig an die Popularität der Armee anzuknüpfen.6 

    Putins allererste Amtshandlung als Interimspräsident: Am 31. Dezember 1999 besuchte er russische Soldaten an der Front in Tschetschenien und schenkte ihnen Jagdmesser. / Foto © kremlin.ru

    Tatkraft und Gesundheit

    Schon einige Tage zuvor hatte Putin versprochen, „gnadenlos“ gegen die „Feinde Russlands“ vorzugehen. Als solche markierte er den tschetschenischen Separatismus, die Massenarmut und die Oligarchie.7 Diese Triade der Feinde wiederholte er auch nach seiner Amtsübernahme sehr oft, dabei sparte er auch nicht mit martialischem Vokabular: Russland müsse gegenüber seinen Feinden „tyrannisch“ sein, die Feinde seien „Ratten“, die „vernichtet“ gehören, wenn es sein muss, dann müsse man sie auch „im Scheißhaus kaltmachen“.8
    Mit dieser Wortwahl gab sich Putin einerseits als ein tatkräftiger Politiker, der „hart durchgreift“ und „Klartext“ spricht, andererseits setzte er sich aber auch von seinem Vorgänger Jelzin ab: Dieser galt vor allem zum Ende seiner Präsidentschaft als ein siecher Alkoholiker, der viele Menschen an die Epoche der sowjetischen Gerontokraten erinnerte. Auch die im Westen so oft belächelten Bilder von Putin mit freiem Oberkörper schlagen in dieselbe Kerbe: Einer Umfrage aus dem Jahr 2012 zufolge schätzten die Menschen in Russland an ihrem Präsidenten vor allem seine Tatkraft und seine Gesundheit.9 Mit diesen Eigenschaften setzte sich der Präsident nicht nur von Boris Jelzin ab, sondern auch von dessen Epoche – dem Chaos der 1990er Jahre10.  

    Fachmann am Steuer

    Seine Tatkraft stilisierte Putin auch, indem er sich am Steuer zeigte: Im Rennauto, im Kampfjet, im U-Boot, oder auf einem Mähdrescher – der Präsident schien stets darum bemüht, sich so darzustellen, als habe er fest die „Zügel (oder das Steuer) in der Hand“. Unter etwas anderen Vorzeichen ist das Motiv des „Politikers als Steuermann“ bereits bei Platon zu finden. In Politeia wandte sich der Philosoph mit diesem Gleichnis sowohl gegen Demokratie als auch gegen Oligarchie und Tyrannis: Im „idealen Staat“ solle der „echte“ Steuermann-Politiker ein Fachmann sein, nur so könne laut Platon Gerechtigkeit walten.11

    Gangster

    Der Fotograf namens Platon verewigte Putin dagegen in einem Bild, an dem sich immer noch die Geister scheiden. Das Time Magazine hatte Putin 2007 zum Mann des Jahres gewählt und schickte den Fotografen nach Moskau zu einem Shooting. Laut Platon mochte Putin das Ergebnis, „weil es ihn als harten Kerl zeigt“.12 Die politische Ikonografie der Putin-Gegner benutzt das Bild dagegen oft bei Protestveranstaltungen, als Schreckbild. 

    Laut Fotograf Platon mochte Putin das Bild, „weil es ihn als harten Kerl zeigt“. Für Kreml-Kritiker spricht das Foto jedoch Bände. / Bild © Screenshot aus der Yandex-Bildersuche nach „Putin Proteste“

    1. zit. nach/vgl.: Sartorti, Rosalinde (2007): Politiker in der russischen Ikonographie: Die mediale Inszenierung Vladimir Putins, in: Pietrow-Ennker (Hrsg.): Kultur in der Geschichte Russlands, S. 333-348, hier S. 333 ↩︎
    2. vgl. Albrecht, Holger/Frankenberger, Rolf (2010): Autoritarismus Reloaded: Konzeptionelle Anmerkungen zur vergleichenden Analyse politischer Systeme, in: Albrecht, Holger/Frankenberger, Rolf (Hrsg.): Autoritarismus Reloaded, S. 37-60, hier S. 57f. ↩︎
    3. vgl. Sakwa, Richard (2008): Putin i vlast‘ protivorečij, in: RAN. INION: Dva prezidentskich sroka V.V. Putina: dinamika peremen: Sbornik naučnych trudov, S. 10-31, hier S. 30 und Engelfried, Alexandra (2012): Zar und Star: Vladimir Putins Medienimage, in: OSTEUROPA, 62. Jg., 5/2012, S. 47-67, hier S. 60ff. ↩︎
    4. zit. nach: stoletie.ru: Cerkov’ vsegda byla s narodom ↩︎
    5. zit. nach: Pavlovskij, Gleb (2014): Sistema RF v vojne 2014 goda: De Principatu Debili, S. 69 ↩︎
    6. vgl. novayagazeta.ru: Pobedit‘ na vyborach ili stat‘ prezidentom ↩︎
    7. vgl. Ščerbinina, Nina (2010): Mifo-geroičeskoe konstruirovanie političeskoj real’nosti Rossii, S. 204 ↩︎
    8. vgl. ebd. S. 203ff. und Fleischmann, Eberhard (2010): Das Phänomen Putin. Der sprachliche Hintergrund, S. 313 ↩︎
    9. vgl. romir (2012): Neotvratimaja neotrazimost‘: 50 % rossijan po-prežnemu sčitaet, čto Vladimir Putin ne imeet nedostatkov, S. 1. und Fleischmann, Eberhard (2010): Das Phänomen Putin. Der sprachliche Hintergrund, S. 30 ↩︎
    10. vgl. Engelfried, Alexandra (2012): Zar und Star: Vladimir Putins Medienimage, in: OSTEUROPA, 62. Jg., 5/2012, S. 47-67, hier S. 48 ↩︎
    11. vgl. Platon (2000): Der Staat, Sechstes Buch, III. und IV. sowie Münkler, Herfried (1994): Arzt und Steuermann: Metaphern des Politikers, in: ders.: Politische Bilder: Politik der Metaphern, S. 125-140 ↩︎
    12. vgl. zeit.de: Putin-Fotograf Platon. „Ich spürte die kalte Autorität“ ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

    Weitere Themen

    Die Wegbereiter des Putinismus

    Warum Putin kein Populist ist

    Wer kommt nach Putin und wenn ja, wie viele?

    Demokratija

    Russland und Europa

    Moskau. Kreml. Putin.

  • Wlast

    Wlast

    Sevilla im 16. Jahrhundert, die Inquisition wütet, Scheiterhaufen lodern, das Mittelalter ist in seiner dunkelsten Phase. Unvermittelt taucht Jesus auf, alle erkennen ihn, auch der Großinquisitor. Dieser sagt: Die Kirche braucht Jesus nicht mehr, sie hat seine Tat „verbessert“ und die allumfassende Herrschaft des Klerus auf drei Kräften aufgebaut – Wunder, Geheimnis, Autorität. Jesus schweigt. 

    In dieser Sequenz aus Die Brüder Karamasow setzt sich Dostojewski mit dem Begriff Wlast auseinander. Mit der Triade Wunder, Geheimnis, Autorität definiert er die Voraussetzungen für das damalige Verständnis von Herrschaft.

    Auch heute gehört Wlast zu den abstraktesten Begriffen im Russischen. Zugleich ist sie aber zentral im politischen Diskurs Russlands. Wlast kann sowohl den Macht- und Herrschaftsbegriff umfassen, als auch die Staatsmacht, die Regierung, Behörden, Oligarchen oder einfach irgendeine Obrigkeit – mit entsprechenden Schwierigkeiten bei der Übersetzung in andere Sprachen. Je nach Interpretation kann Wlast außerdem ganz unterschiedliche Bedeutungsinhalte haben: Von der personifizierten Staatsmacht Putins, über die Anonymität und Unsichtbarkeit der Macht, wie man es etwa bei Kafka kennt, bis hin zum Orwellschen Unterdrückungsapparat.

    Wunder, Geheimnis, Autorität – der Begriff „Wlast“ wird im russischen Sprachgebrauch mitunter sakralisiert
    Wunder, Geheimnis, Autorität – der Begriff „Wlast“ wird im russischen Sprachgebrauch mitunter sakralisiert
    Leviathan – so beschreiben viele Beobachter das Herrschaftssystem des gegenwärtigen Russlands. Gemeint ist ein absolutistischer Staat, wie ihn der politische Philosoph Thomas Hobbes in seinem gleichnamigen Hauptwerk beschreibt. Die Macht des Souveräns ist hier uneingeschränkt, alle Menschen müssen sich ihr unterwerfen. Die Staatsmacht bei Hobbes ist allerdings auch zuständig für den Schutz der Bürger, in Russland dagegen werfen ihr viele Kritiker vor, Gegensätzliches zu tun: Sie verhalte sich oft wie ein Verbrecher, meint beispielsweise der Kulturwissenschaftler Boris Paramonow.1

    Auch der bekannte russische Regisseur Andrej Swjaginzew weist mit seinem preisgekrönten Film Leviathan auf den verbrecherischen Aspekt der Wlast hin. Der Protagonist lehnt sich hier zwar gegen die Wlast auf, zeigt sich am Ende aber ohnmächtig. Alles bleibt scheinbar beim Alten: Die Macht des Stärkeren siegt, und „das Volk bleibt stumm“.

    „Das Volk bleibt stumm“

    Dieser oft zitierte Schlusssatz stammt aus Alexander Puschkins Drama Boris Godunow aus dem 19. Jahrhundert. Der Begriff Wlast hat sich über Generationen in seiner Bedeutung geformt und verstetigt. Heute repräsentiert er sowohl im kremlnahen Diskurs als auch für viele Kulturkritiker eine wichtige Eigenschaft des Staat-Bürger-Verhältnisses in Russland. Demnach ist Wlast eine Einbahnstraße: Die Machthaber haben sie, die Bürger sind apolitisch, sie sind wie bei Puschkin eine „schweigende Mehrheit“.2

    Stimmt also das gängige kulturalistische Klischee, dass in Russland schon immer eine Untertanenmentalität geherrscht habe? Wohl kaum. Das Schweigen während der Zarenzeit und in der Sowjetunion entsprang der eigenen Angst, es kam durch Unterdrückung zustande. Das Schweigen heute erklärt sich auch aus dem sogenannten Gesellschaftsvertrag: Der Kreml sorgt für Stabilität und wirtschaftliche Prosperität, dafür mischen sich die anderen gesellschaftlichen Akteure nicht in die Politik ein, so die verkürzte Version dieses theoretischen Modells. 

    Historismus und Historiosophie

    Wie ist es zu erklären, dass viele Wissenschaftler den Grundstein für diesen Gesellschaftsvertrag in den 1990er Jahren verorten? Ähnlich wie in der Weimarer Republik oder im postfranquistischen Spanien wurde im damaligen Russland eine gesamtgesellschaftliche Orientierungslosigkeit diagnostiziert. Der Zusammenbruch des Kommunismus führte demnach zu einem „Werte-Vakuum“, beziehungsweise zu einer „Identitätskrise“ oder eben einem „Weimar-Syndrom“.3

    Kann eine ganze Gesellschaft tatsächlich in eine „Identitätskrise“ geraten? Schwer vorstellbar, zumindest kann man das nicht wissenschaftlich nachweisen. Trotz dieser Unzulänglichkeit schien kaum ein Wissenschaftler in Russland an dem „Werte-Vakuum“ der 1990er Jahre zu zweifeln. Und auch die Folge war für viele klar: Das Vakuum müsse mit neuen Werten gefüllt werden. Dabei suggerierten manche Sinnangebote, dass diese Werte nur in Russlands Vergangenheit gefunden werden können. 

    Tatsächlich erlebte Russland in den 1990er Jahren einen regelrechten Nachfrageboom nach allem Historischen. Viele neue Bücher kamen heraus, Auflagen schnellten in die Höhe, sodass manche Wissenschaftler schon von einem umfassenden Historismus sprachen.4 Der russische Historiker Alexej Miller konstatiert, dass dabei die Historiosophie zur populärsten Form der Geschichtsschreibung in Russland wurde.5

    Oft dargestellt als ein geschichtswissenschaftliches Denkschema unter anderen, entbehrt die Historiosophie de facto jeder Wissenschaftlichkeit, denn in dieser Theorie ist alles pfadabhängig, die Geschichte ganzheitlich und unverbrüchlich. Und weil Russen schon immer die Staatsmacht sakralisiert hätten, müssten ihre „paternalistischen Erwartungen“ erfüllt werden, um den „historischen Sinn“ des Landes wiederherzustellen, so die vereinfachte historiosophische Erklärung für das Phänomen einer allgegenwärtigen und absoluten Wlast.6 Historiker wie Alexej Miller sehen in der Historiosophie einen „Gegenstand des Glaubens“ und nicht der „kritischen Analyse“.7

    „Auf die Vergöttlichung der Wlast!“

    Dass Analyse in Russland ohnehin nur eine Nebenrolle spiele, meint dagegen Wladislaw Surkow, der einstmals als Chef-Ideologe des Kreml galt. In seinem Schlüsseltext Russische Politische Kultur aus dem Jahr 2007 schrieb er, dass „die Synthese in unserer kulturellen Praktik vor der Analyse herrscht, die Bildlichkeit vor Logik, Intuition vor Vernunft, das Allgemeine vor dem Konkreten“.8

    „Ich mach’ mir die Welt, wie sie mir gefällt“ – so ungefähr kommentierte der damalige Politiker Nikita Belych Surkows Programm: Der Spindoktor konstruiere einen „unverrückbaren Archetypus der russischen archaischen Wlast“ und schaffe erst durch diese Konstruktion Tatsachen.9

    Vielleicht schaffte Surkow auch Tatsachen, nachdem er bei der Feier des ersten Wahlerfolgs Putins im Jahr 2000 das Glas hob und dazu aufrief, „auf die Vergöttlichung der Wlast!“10 zu trinken? Vieles spricht für diese These, zumal autoritäre Systeme sehr oft über eine Mischung von personalisierten und meritokratischen Elementen legitimiert werden.11 Meritokratisch bedeutet, dass der Herrscher sich über seine besonderen Verdienste definiert. Oder definiert wird – so sprechen die staatsnahen Medien oft über die Verdienste Putins: Er habe das Land „von den Knien erhoben“, auf denen es in den 1990er Jahren lag, so das häufigste Motiv. Auch Patriarch Kirill arbeitete am „Charisma des nationalen Leaders12 als er die 1990er Jahre mit „Hitlers Aggression“ und der „Smuta“ verglich, den Ausgang daraus als Putins Verdienst lobte und dessen Führung als „Gotteswunder“ pries.13

    Allgegenwärtig und unsichtbar

    Vielleicht ist eine solche Sakralisierung auch der wichtigste Grund dafür, dass der Begriff Wlast eigentlich nicht klar eingegrenzt werden kann: Wlast ist gleichzeitig allgegenwärtig und unsichtbar, monopolisiert und zerstreut. Der gravierende Mangel an funktionierenden politischen Institutionen könnte ein anderer Grund sein, er könnte aber auch mit dem ersten zusammenhängen.

    Manche Wissenschaftler sind überzeugt, dass die meisten Russen den Staat ohnehin nicht als ein System von Institutionen begreifen, sondern als Volk, Kultur, Geschichte, soziale Beziehungen und Heimat.14 Wlast ist nur ein Teil dieser Heimat, nicht mehr.

    Ausgehend vom russischen Philosophen Nikolaj Berdjajew glauben auch heute noch viele Kulturwissenschaftler, dass Russen das „staatsloseste Volk“ seien, das zugleich eine sehr „mächtige Staatlichkeit“ schaffte. Dass sie sich als das „anarchischste Volk“ willig dem Bürokratieapparat unterwerfen.15

    Diese Widersprüche seien Teil des großen Mysteriums, das oft als die „geheimnisvolle russische Seele“ beschrieben wird – ein ursprünglich literarisches Motiv, das auch heute verschiedenartig gedeutet wird: Viele konservative Sinnerzeuger bemühen es seit dem Ende der Sowjetunion immer wieder gerne, um ihre Argumente für die russische Samobytnost zu stützen, Russlands Eigenartigkeit, die für sie oftmals auch eine Untertanenmentalität enthält. Manche Kritiker betonen vor allem das Anarchische – das Volk bleibt zwar auch für sie stumm, im Inneren sei es aber (wie bei Puschkin) von tiefem Mißtrauen und Schuldzuweisungen gegenüber der Wlast erfüllt.

    Auch Putin philosophierte schon über das Geheimnis.16 Angeblich soll Berdjajew neben Dostojewski zu seiner liebsten Nachtlektüre gehören. Der französische Philosoph Michel Eltchaninoff vermerkte dazu in seinem Buch In Putins Kopf, dass diese Lektüre jedoch oberflächlich sei: Dostojewski habe Russland insgesamt als Teil Europas gesehen, Berdjajew betonte individuelle Freiheiten – beides stehe in Konflikt zu Putins Politik.17


    1. vgl. svoboda.org: Dva kita Andreja Zvjaginceva ↩︎
    2. vgl. Byzov, Leontij (2011): Ėpocha Putina: ot krizisa cennostej k krizisu institutov und Miller, Alexej (2007): Imperija v sebe: O vozraždenie imperskogo sindroma v Rossii, in: Fond „Liberal’naja Missija“: Posle imperii, S. 102-123 ↩︎
    3. vgl. golos-ameriki.ru: Shevcova: „Vneshnaja politika dlja kremlja stala instrumentom vnutrennich zadač“ und Kaspė, Irina/Kaspė, Svjatoslav (2006): Pole bitvy – strana: Nation-Building i nashi nėjshnbildery, in: Neprikosnovennyj zapas №6 (50) ↩︎
    4. vgl. zum Beispiel Rastimeshina, Irina (2013): Politika Rossijskogo gosudarstva v otnoshenii kul’turnogo nasledija cerkvi: tradicionnye podchody i innovacionnye technologii, S. 137 ↩︎
    5. Miller, Alexej (2008): Istorija imperij i politika pamjati, in: Fond „Liberal’naja Missija“: Nasledie imperi i buduščee Rossii, S. 25-58, hier S. 25 ↩︎
    6. vgl. Baranov, Alexej (2008): Političeskie otnoshenija i političeskij process v sovremennoj Rossii: Avtorskij kurs lekcij, S. 216ff. und Miller, Alexej (2008): Nasledie imperij: inventarizacija, in: Fond „Liberal’naja Missija“: Nasledie imperij i buduščee Rossii, S. 5-22 ↩︎
    7. vgl. Miller, Alexej (2008): Nasledie imperij: inventarizacija, in: Fond „Liberal’naja Missija“: Nasledie imperij i buduščee Rossii, S. 5-22, hier S. 7 ↩︎
    8. Surkov, Vladislav (2007): Russkaja političeskaja kul’tura: Vzgljad iz utopii, in: Nezavisimaja Gazeta: Lekcija Vladislava Surkova: Materialy i obsuždenija v „Nezavisimoj Gazete“, S. 6-22, hier S. 8 ↩︎
    9. Belych, Nikita (2007): Ideologija suverennoj bjurokratii, in: Nezavisimaja Gazeta: Russkaja političeskaja kul’tura: Vzgljad iz utopii: Lekcija Vladislava Surkova: Materialy i obsuždenija v „Nezavisimoj Gazete“, S. 72-78, hier S. 74f. ↩︎
    10. zit. nach: Pavlovskij, Gleb (2014): Sistema RF v vojne 2014 goda: De Principatu Debili, S. 69 ↩︎
    11. vgl. Albrecht, Holger/Frankenberger, Rolf (2010): Autoritarismus Reloaded: Konzeptionelle Anmerkungen zur vergleichenden Analyse politischer Systeme, in: dies.: Autoritarismus Reloaded, S. 37-60, hier S. 57f. ↩︎
    12. zum Begriff vgl. Sakva, Richard (2008): Putin i vlast’ protivorečij, in: RAN. INION: Dva prezidentskich sroka V. V. Putina: dinamika peremen: Sbornik naučnych trudov, S. 10-31 ↩︎
    13. zit. nach: stoletie.ru: „Cerkov’ vsegda byla s narodom“ ↩︎
    14. vgl. vedomosti.ru: Rossijskaja smyslovaja matrica ↩︎
    15. Berdjajew, Nikolaj: Sud’ba Rossii ↩︎
    16. YouTube: V. Putin o russkoj duše ↩︎
    17. vgl. inosmi.ru: Idejnye istočniki Vladimira Putina, i kuda on klonit ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

    Weitere Themen

    Chinesisch für Anfänger

    Der FSB und mein riesiger rosa Schwanz

    Business-Krimi in drei Akten

    Was bekommt der Wähler?

    Wer lebt glücklich in Russland?

    Präsidentenrating

  • Warum es unter Putin keine Reformen geben wird

    Warum es unter Putin keine Reformen geben wird

    Was ist der Unterschied zwischen einem Staat und einer Räuberbande? Diese Frage hat der Philosoph Augustinus im 5. Jahrhundert gestellt. Seine Antwort gehört zu den geläufigsten politikwissenschaftlichen Abgrenzungen: Es ist das Recht, was den Staat ausmacht; eine Räuberbande ist demgegenüber vor allem durch Willkür gekennzeichnet.

    Im Rechtsstaatlichkeits-Ranking von The World Justice Project besetzte Russland 2017–2018 Platz 89 von 113, weit abgeschlagen hinter Botswana oder Malawi beispielsweise. Viele russische Putin-Kritiker bemühen solche Afrika-Vergleiche, um auf Ungerechtigkeiten in der politischen Ordnung Russlands hinzuweisen. Sie sehen ihr Land kritisch als einen Selbstbedienungsladen für die politische Elite, vor allem für die Silowiki. Diese Amtspersonen, die in Sicherheitsorganen des Staates tätig sind, sind eigentlich mit der Ausübung des Gewaltmonopols betraut, um damit auch das Funktionieren des Rechtsstaats zu ermöglichen. Im Grunde würden viele von ihnen aber mehr einer Räuberbande gleichen, sodass es immer wieder zu willkürlichen Enteignungen komme, wie etwa im Fall Yukos, und es für Unternehmer keine Rechtssicherheit gebe. Ihre Argumentation untermauern Kritiker oft mit einem weiteren Ranking: Russland liegt auf Platz 138 von 180 im Korruptionsindex von Transparency International.    

    Unter Putin nahm die Zahl und die Bedeutung der Silowiki stetig zu. Viele Wissenschaftler sehen in dieser Elitengruppe sogar das Rückgrat des sogenannten System Putin. Im Vorfeld der Präsidentschaftswahl diskutieren sie nun vermehrt, was Putin tun kann, um die langanhaltende Stagnation zu überwinden. Auf Republic stellt auch der Wirtschaftswissenschaftler Dimitri Trawin die Frage: Da es offenbar kaum andere Möglichkeiten gibt, die Wirtschaft anzukurbeln, „könnte es da nicht vielleicht sein, dass Putin wenigstens jene zügelt, die über die Unternehmen herfallen“?

    Revolution, Evolution oder doch Stillstand –  wie groß ist Putins Reformwillen? / Foto © Marco Fieber/flickr.com
    Revolution, Evolution oder doch Stillstand – wie groß ist Putins Reformwillen? / Foto © Marco Fieber/flickr.com

    In den vergangenen Monaten, als klar wurde, dass es keine ernsthaften Reformen geben wird, nicht einmal nach den „Putin-Wahlen“ im März 2018, ist unter Optimisten die „Theorie der kleinen Dinge“ immer populärer geworden. Diese besagt im Wesentlichen, dass man das System in winzigen Schritten transformieren kann. Beispielsweise könne Putin dazu bewegt werden, die Willkür der Sicherheitsbehörden zu zügeln. Schließlich sprechen Wirtschaftsfachleute seit langem davon, dass Eigentum in Russland schutzlos ist, und dass die Überfälle auf Unternehmen für das Investitionsklima in Russland verantwortlich sind – das schlechter ist als das Märzwetter in St. Petersburg. Die Überfälle werden weniger von Banditen unternommen, als vielmehr von Leuten, die offiziell vom Staat zu unserem Schutz abgestellt werden. Wenn man die zügeln würde, dann bekäme das Land mir nichts dir nichts das Kapital, das es für eine Entwicklung braucht.

    Die „Theorie der kleinen Dinge“

    Die „Theorie der kleinen Dinge“ geht davon aus, dass Putin nicht auf sein Machtmonopol verzichten wird. Dass er sich nicht mit dem Westen versöhnen wird, weil er die Krim nicht herausrückt. Dass er die Bildung nicht fördern wird, weil er dafür kein Geld hat. Dass er nicht auf Importsubstitution verzichten wird, weil das ein Gesichtsverlust wäre.

    Könnte es da nicht vielleicht sein, dass er wenigstens jene zügelt, die über die Unternehmen herfallen? Dass das Regime zwar autoritär und autark bleibt, aber auch effektiver wird? Und wenn dieses Zwischenergebnis erreicht ist, würde das zu einem Meilenstein auf dem großen Weg zur Freiheit – weil wir noch nicht so weit seien, um diesen Weg gänzlich zu bewältigen.

    Derzeit ist allen – denen dort oben wie jenen unten – klar, dass Russland den Pfad einer lange währenden Stagnation eingeschlagen hat. Wie in dieser Situation die Macht gesichert wird und Wahlen gewonnen werden, wie das Volk „glücklich“ zu machen ist, auch wenn der Gürtel etwas enger geschnallt werden muss – dafür sind die Mechanismen bereits etabliert. 

    Die Rolle der Silowiki

    Für die Umsetzung dieser Strategie, die sich in etwa seit 2014 verfestigt hat, sind die Silowiki von immenser Bedeutung. Denn sie sind für einen Autokraten, der seine Macht realistisch einschätzt, sehr viel wichtiger, als illusorische Wünsche, die Wirtschaft mit Hilfe von Reformen wieder auf die Beine zu bringen. Die Silowiki existieren hier und jetzt. Sie sind durchschaubar, zugänglich und wohl motiviert. Ob die Wirtschaft aber am Gängelband der Silowiki wachsen wird, ist die große Frage. Was man allerdings sicher sagen kann, ist, dass angesichts aller für unsere Entwicklung höchst ungünstigen Umstände (Sanktionen, strukturelle Schieflagen, Kapitalflucht) die Wirtschaft selbst im besten Falle kaum jenes denkwürdige Wachstum von sieben Prozent des BIP erreichen wird – wie in den 2000er Jahren, als das Wachstum einen realen Einkommenszuwachs erzeugte und Putin eine aufrichtige Liebe des Volkes einbrachte. Wer würde in einer solchen Situation schon auf die Wirtschaft setzen, und nicht auf die Silowiki?

    Logik des Überlebens

    Es gibt allerdings ein Detail. Könnte es nicht sein, dass die Silowiki dermaßen außer Kontrolle geraten, dass sie die Stagnation zu einer Rezession machen, zu einer Rezession, die unabsehbar lang anhält, vernichtend wirkt und breite Bevölkerungsschichten auf ein Lebensniveau vor dem Maidan zurückwirft? Könnte es nicht passieren, dass sich die Silowiki von „stationären Banditen“ (nach Mancur Olson) zu „umherziehenden Banditen“ mausern? Dass sie endgültig auf Russland pfeifen, selbst auf Russland als ihren „Beute-Raum“, dass sie aus Russland alle Lebenssäfte absaugen und mit ihren Geldern in den Westen emigrieren, der günstige Lebensbedingungen bietet, und wo sich Millionen wohl versorgter ehemaliger Landsleute niedergelassen haben?

    Sollten die Dinge derart liegen, folgt daraus, dass bei einem Machterhalt der Silowiki sogar einem nicht wohlmeinenden Autokraten Gefahr droht. Er daselbst kann ja nicht emigrieren, da er eine allzu sichtbare Figur ist, die in der Weltpolitik keine geringen Spuren hinterlassen hat, und der bei vielen westlichen Richtern und Staatsanwälten den Wunsch geweckt hat, irgendeinen aufsehenerregenden Prozess anzustrengen. In Russland selbst erwartet ihn früher oder später eine soziale Explosion.

    Eine solche Entwicklung ist tatsächlich in einem gewissen Maße wahrscheinlich. Аllerdings hält die überwiegende Mehrheit der qualifizierten Wirtschaftsexperten nicht einen völligen Zusammenbruch, sondern Stagnation für die wahrscheinlichste Entwicklungsperspektive Russlands. 
    Heute weist kaum etwas darauf hin, dass der Lebensstandard künftig derart stark absinken könnte, dass die Leute von außenpolitischen Abenteuern und geistigen Klammern enttäuscht wären.

    Das eskalierende Vorgehen der Sicherheits- und Polizeibehörden, das – den Festnahmen von Gouverneuren und den innerelitären Konflikten nach zu urteilen – in unserem Land tatsächlich stattfindet, betrifft eher die Machtgruppen, nicht die Bevölkerung insgesamt. Im Zuge dieser Konflikte werden die eher schwächeren Silowiki ausgeschaltet, wodurch die Ressourcen dann bei einer nun kleineren Zahl von „Banditen“ konzentriert sind.

    Eine solche Art der Krisenbewältigung ist leicht zu erklären: Technisch gesehen ist es sehr viel einfacher, einem anderen „Banditen“ an die Kehle zu gehen und leicht zugängliche, höchst liquide Ressourcen abzuschöpfen (Bankguthaben, Unternehmensaktien, Staatspapiere, Luxus-Immobilien). Schwieriger wäre es, bei der verarmten Bevölkerung und den Kleinunternehmen (die in die Schattenwirtschaft abtauchen) kärgliche Beträge herauszupressen, indem man die Besteuerung „optimiert“, die Repressionen gegen säumige Steuerzahler verschärft und so einen Maidan der Enttäuschten riskiert.

    Putin gegen die Putinisten?

    Neben der wirtschaftlichen Hypothese, die erklärt, warum sich ein Autokrat mit den Silowiki anlegen sollte, gibt es auch eine politische: Diesem Ansatz zufolge sollte Putin die Putinisten an die Leine nehmen, weil sie bald für ihn selbst gefährlich werden könnten.

    In letzter Zeit ist immer häufiger zu hören, dass unser Präsident eine „lahme Ente“ sei (trotz seines garantierten Wahlsiegs 2018), da er den Kreml nach 2024 verlassen muss. Immer häufiger wird auch darüber geredet, dass Putin in Wirklichkeit bereits jetzt an realer Macht verliere und die Silowiki in einer Reihe von Fällen schon ohne Putins Genehmigung handelten, etwa bei der Verhaftung von Alexej Uljukajew.

    Thesen dieser Art sind allerdings sehr zweifelhaft. Eliten verschwören sich nur dann gegen den Autokraten, wenn sich durch dessen Verbleib im höchsten Staatsamt mehr Nachteile als Vorteile ergeben. Bei uns liegt der Fall eindeutig anders. Die Nachteile werden zwar ganz offensichtlich und zügig größer, wegen der Sanktionen, des Kapitalabflusses und der sinkenden Reputation des Landes. Der Vorteil besteht aber ganz eindeutig darin, dass Putin in der Lage ist, Präsidentschaftswahlen mit Leichtigkeit zu gewinnen und das Regime unter minimalem Kostenaufwand zu erhalten. In diesem Regime können die unterschiedlichen Angehörigen der Elite (einschließlich der Silowiki) ihre Einnahmen vermehren, indem sie die nationalen Ressourcen verwerten und ihre Mittel ins Ausland schaffen. Dort lassen sie sich dann nieder, während in Russland alles vor die Hunde geht. Diese Strategie ist optimal für sie, und so haben sie keinerlei Absichten, sich auf gefährliche Spiele mit Staatsstreichen einzulassen.

    Folglich kann man Putin nur schwerlich mit den Silowiki schrecken. Kopfschmerzen bereiten diese Leute natürlich reichlich, doch hat der Präsident sehr wohl die jüngste Geschichte des Landes in Erinnerung: Reformer bedeuten für Autokraten sehr viel größere Probleme. Der Autokrat weiß: Wenn du deine Macht erhalten willst, dann solltest du in keinem Fall Reformen anstoßen, und schon gar keine wirtschaftlichen. Schließlich sind Michail Gorbatschow und Boris Jelzin gescheitert, weil sie übermäßig bestrebt waren, die soziale Ordnung zu transformieren. Die befand sich so gerade eben noch im Lot und setzte eher der breiten Bevölkerung zu, denn den Angehörigen der Elite. Erstere musste versuchen, Nahrungsmittel ohne Schlangestehen zu ergattern, während letztere über spezielle Versorgungsstellen, staatliche Datschen, eigene Autos und andere Annehmlichkeiten verfügten, mit denen sich das armselige sowjetische System ertragen ließ.

    Reformen wird es unter Putin nicht geben. Weder kleine, noch große. Weder radikale, noch übergangsweise. Nur imitierende und adaptierende. Einfacher gesagt: Sie könnten zum Beispiel eine Steuerreform verkünden, dabei ein oder zwei Steuern senken und das im Fernsehen herumposaunen, gleichzeitig aber die übrigen Steuern derart anheben, dass die Abgabenlast und die Haushaltseinnahmen steigen. Schließlich wird man ja das Haushaltsdefizit irgendwie ausgleichen müssen, wenn alle Reserven aufgebraucht sind.

    Aktualisiert am 29.01.19

    Weitere Themen

    Entlaufene Zukunft

    Die Wegbereiter des Putinismus

    „Die Post-Putin-Ära läuft schon“

    Der Fall Uljukajew – und seine Vorbilder

    Russische Wirtschaftskrise 2015/16

    Protest im Netz

  • Kino #3: Brat

    Kino #3: Brat

    „Worin liegt die Kraft, Bruder?“ („W tschom sila, brat?“) – so lautete im krisengeschüttelten Russland der 1990er Jahre die Schlüsselfrage. Alexej Balabanows Kultfilm Brat (dt. Der Bruder) fragt nicht nur, er gibt auch die schon damals, in prä-postfaktischen Zeiten, gefährliche Antwort: „In der Wahrheit liegt die Kraft.“
    Auf den „Bruder“ Danila Bagrow (gespielt von Sergej Bodrow jun.), der diese Antwort auch jenseits des Films verkörpern sollte, trifft man noch zwei Jahrzehnte nach dem Filmstart 1997 allüberall. Auf dem Petersburger Alexander-Newski-Platz blickt er als Graffito von einem Trafohäuschen, und in Wahlkampagnen ertönen seine alles andere als politisch korrekten Sentenzen quer durch die politischen Lager.
    Dieser „Kumpel“, so die umgangssprachliche Verwendung von „brat“, ist die ideale Identifikationsfigur, ein Junge aus der Provinz, einer wie du und ich. Der Wahrheitskämpfer Danila und sein Programm spielen in Politik, Produktbranding und als geflügelte Worte bis heute eine wichtige Rolle im kulturellen Gedächtnis.

    Brat erzählt die Geschichte eines Jungen aus dem Volk, auf der Suche nach seiner Bestimmung in der neuen Gesellschaft / Fotos © CTB Film Company
    Brat erzählt die Geschichte eines Jungen aus dem Volk, auf der Suche nach seiner Bestimmung in der neuen Gesellschaft / Fotos © CTB Film Company

    Die Ausgangsbedingungen für den schillernden Kultfilm und seinen Helden waren denkbar schlecht. Die Filmindustrie steckte Mitte der 1990er Jahre in ihrer tiefsten Krise. Die Menschen gingen angesichts der prekären Umstände kaum noch ins Kino, und wenn, dann wollten sie US-amerikanische Action sehen. Nicht zuletzt galt der Regisseur Balabanow bis dahin als Autorenfilmer ausschließlich für „Eingeweihte“.1 Doch nun lieferte sein hybrides, sehr erfolgreiches Autoren-Genrekino, das mit Brat im Jahr 1997 seinen Anfang nahm,2 in geradezu idealtypischer Weise die Schablone für ein neues russisches Kino, das zur nationalen Identitätsbildung beitragen sollte.

    Die Geburt eines neuen Volkshelden

    Brat ist das Beispiel für ein „nationales Kino“ mit „neuen Volkshelden“, die den Vergleich mit dem amerikanischen Film nicht zu scheuen brauchen. Dieser „neue Filmheld“ geht nicht aus der Geschichte des Landes hervor. Vielmehr ist er scheinbar völlig „unschuldig“ und „rein“. Er ist nicht etwa das groß gewordene Kind der sowjetischen Leidensgeschichte, das zum Beispiel Andrej Tarkowski in Iwans Kindheit (1962) in aller tragischen Brutalität an den Folgen des Krieges zu Grunde gehen ließ. 

    Die ideale Identifikationsfigur, ein Junge aus der Provinz, einer wie du und ich: Protagonist Danila Bagrow
    Die ideale Identifikationsfigur, ein Junge aus der Provinz, einer wie du und ich: Protagonist Danila Bagrow

    Zwar kommt auch Danila Bagrow aus dem Krieg, er ist ein jugendlicher Heimkehrer aus dem heute „ersten“ genannten Tschetschenienkonflikt (1994 bis 1996). Doch ist er kein traumatisierter Kindersoldat, sondern ein so sympathischer wie reflexionsfreier Killer, der sich selbst ermächtigt. Aus dem Kaukasus bringt er nur die Camouflage-Jacke und das Handwerk des Tötens mit und entfaltet im unförmigen Strickpulli, seiner Version des Superheldenkostüms, eine enorme Anziehungskraft. 

    Als „Dummerjahn“, dem für die russische Kultur typischen Iwanuschka-Duratschok, ist Danila in seiner Unmittelbarkeit, „Unschuld“ und psychologischen Flachheit das ideale Sprachrohr der nationalen Befindlichkeit in den Jahren der Transformation. Sie findet ihren Ausdruck in Danilas xenophoben Statements und in der Wahl der Mittel, mit denen er seine Wahrheit skrupellos und gewalttätig etabliert.

    Danilas Zaubermärchen der Transformationszeit

    Brat erzählt die Geschichte eines Jungen aus dem Volk, der sich auf die Suche nach seiner Bestimmung in der neuen Gesellschaft macht und dabei zielstrebig und ohne Skrupel, dafür aber „instinktiv“ und mit durchschlagender Gewalt vorgeht. Von den Autoritäten seines provinziellen Herkunftsortes – örtliche Miliz und Mutter – in die Welt geschickt, soll er sich eine Arbeit suchen, um nicht wie der kriminelle Vater in einem Straflager zu verschwinden. 

    In St. Petersburg macht sich Danila die Hände nicht nur symbolisch schmutzig
    In St. Petersburg macht sich Danila die Hände nicht nur symbolisch schmutzig

    Danila macht sich also auf den Weg zum angeblich erfolgreichen Bruder Viktor nach Petersburg. Bald schon kann er zeigen, was seine eigentliche Mission ist: Er übt im Machtvakuum der 1990er Jahre stellvertretend für die „Erniedrigten“ Selbstjustiz, ahndet Regelverstöße und beschützt die „Seinen“. Entsprechend einfach ist seine Welt gestrickt. Die anderen, denen er eine Lektion erteilen will, sind die „Nicht-Brüder“ („Ich bin nicht dein Bruder, schwarzärschige Zecke“), die Nicht-Russen („Ich hab’s nicht so mit den Juden“) und „Amerika“ („… auch bald am Ende“). 

    Für den Bruder und Ersatzvater allerdings, der in Petersburg keineswegs einer ehrlichen Arbeit nachgeht, sondern der Handlanger einer „kriminellen Autorität“ ist, macht sich Danila ganz ohne Moral die Hände nicht nur symbolisch schmutzig. Der kindliche Protagonist mit dem gleichbleibend harmlosen Gesichtsausdruck verwandelt sich in einen kaltblütigen Killer, der unverwundbar, professionell und frei von Emotionen für Ordnung sorgt. 

    Musikclip-Ästhetik

    Bevor es zu Action, Showdown und einem unerwarteten Ende kommt, flaniert der junge Protagonist durch die Stadt. Ein liebevoller Blick auf die Abseiten eines Petersburg der 1990er Jahre – getaucht in für Balabanow typisches Sepia. Bewaffnet ist der „Held seiner Zeit“ hier noch lediglich mit einem CD-Player, der Quelle für den musikalischen Drive des Films. 

    Danilas Streifzüge durch die Stadt zeigen die Metropole zerfallen und dreckig, verwandelt in einen Basar mit eigenen, kriminellen Gesetzen und erbarmungslosen Vollstreckern. Nicht zuletzt dieses Stadtporträt macht den Film heute, zwei Jahrzehnte nach seinem Erscheinen, zum „größten russischen Film über das Leben in der ersten postsowjetischen Dekade“.3

    Die anderen, denen Bagrow eine Lektion erteilen will, sind die „Nicht-Brüder“
    Die anderen, denen Bagrow eine Lektion erteilen will, sind die „Nicht-Brüder“

    Die auffällige Rhythmisierung des Films durch Schwarzbilder, die wie sichtbar gemachte Pausen zwischen Songs einer Musik-Compilation die einzelnen Episoden voneinander abtrennen, verweist auf die Musikclip-Ästhetik, ebenso die Montagetechnik, für die der handlungsinterne musikalische Sound eine strukturelle Funktion hat. Szenen, die – wie ein Video-Clip auf die darin auftretenden Musiker – hier auf die musikbegleitete Bewegung des Protagonisten durch den Stadtraum fokussieren, wechseln in Brat mit Actionszenen, die ohne Musik auskommen. 

    Low-Budget als ästhetisches Programm

    Der Film ist auch eine Reflexion über das Filmemachen unter völlig neuen Bedingungen. Nicht zufällig spielt die erste Szene auf dem Set einer Musik-Clipproduktion für Nautilus Pompilius, einer berühmten Band der russischen Rockszene. Brat kommentiert in der Machart und auf seiner Handlungsebene die zeitgenössische Medien- und Populärkultur, in der er sich wegweisend positioniert. 

    Balabanow realisiert Brat als Low Budget-Produktion bei CTB, einer Filmgesellschaft, die Sergej Seljanow 1992 unter Beteiligung Balabanows gegründet hatte, und die sich bald als eine der einflussreichsten Produktionsfirmen auf dem russischen Filmmarkt etablieren sollte. 

    Im Machtvakuum der 1990er Jahre übt Bagrow stellvertretend für die „Erniedrigten“ Selbstjustiz
    Im Machtvakuum der 1990er Jahre übt Bagrow stellvertretend für die „Erniedrigten“ Selbstjustiz

    Mit minimalen Mitteln und der kostenlosen Unterstützung von Freunden realisiert, kann Brat als Paradebeispiel für den Low-Budget-Film der ausgehenden 1990er Jahre in Russland gelten, wie er damals als Lösung diskutiert wurde.4

    Die sich daraus ergebende Arbeitsweise, kurze Drehzeiten, unaufwändige Settings auf der Straße oder in den eigenen vier Wänden, minimaler Technikeinsatz, ein mobiles Team aus großteils Amateuren, die anstelle von Gage an den Einnahmen beteiligt werden sollten und ähnliches,5 erzeugt eine spezifische Ästhetik, die sich in der authentischen Ausstattung, dem Kolorit der Drehorte, der unverstellten Spielweise, der monochromen Farblichkeit und ganz besonders der Dynamik von Brat widerspiegelt. 

    Regisseur als Handlanger?

    Überhaupt lässt sich der gesamte Film als Kommentar verstehen, wie unabhängiges Filmemachen unter den Bedingungen fehlender Filmförderung zu bewerkstelligen ist. In langen Close-ups ist Danila wiederholt bei seinen Vorbereitungen zu sehen, wie er aus einfachen Alltagsgegenständen, aus Streichhölzern, Plastikflaschen und Nägeln, sein Waffenarsenal herstellt. Um im Russland der 1990er Jahre zu überleben und zu prosperieren, hatte jeder, ob Filmemacher, Gangster oder Geschäftsmann, DIY-skills zu entwickeln.6 

    Danilas Streifzüge zeigen St. Petersburg zerfallen und dreckig, verwandelt in einen Basar mit eigenen, kriminellen Gesetzen
    Danilas Streifzüge zeigen St. Petersburg zerfallen und dreckig, verwandelt in einen Basar mit eigenen, kriminellen Gesetzen

    Dass ein solches Konzept nicht allein kreative Freiräume eröffnet und Erfolg bringt, sondern den Regisseur auch zum Handlanger von Fragwürdigem machen kann, wurde Balabanow nicht nur von der heftig streitenden Filmkritik sondern auch noch lange von der Forschung vorgeworfen. 

    Brat kommentiert diese ungute Verflechtung in einer Filmszene allerdings selbst und auf ironische Weise: Während der junge Killer mit Gehilfen in einer Wohnung auf das Opfer seines nächsten Auftrags wartet, steht plötzlich sein Idol Wjatscheslaw Butusow, der Frontmann von Nautilus Pompilius, vor ihm. Der sich hier selbst spielende Butusow hat sich in der Tür geirrt und lockt nun Danila in eine friedliche Parallelwelt im Stockwerk darüber. Dort feiern Filmleute und Musiker ein friedliches Fest. 

    Die Rockband Nautilus Pompilius mit Sänger Wjatscheslaw Butusow (links) sorgt für den musikalischen Drive des Films
    Die Rockband Nautilus Pompilius mit Sänger Wjatscheslaw Butusow (links) sorgt für den musikalischen Drive des Films

    Die Episode endet damit, dass Danila in seiner Welt von Mord und Totschlag die zufällige Geisel, einen kleinmütigen Regisseur und womöglich ironisches alter ego Balabanows, freilässt. Danilas Kompagnons hingegen werden Opfer seines „Wahrheitskonzepts“. Für den Filmemacher gibt es die Freiheit allerdings nur zu dem Preis, gemeinsam mit dem Killer Danila Tatortreiniger zu sein.

    Text: Christine Gölz
    Veröffentlicht am 01.03.2017


    Original mit englischen Untertiteln:

    Original ohne Untertitel:


    1.Dondurej, Daniil (1998): Ne brat ja tebe, gnida…, in: Iskusstvo kino, 1998, Nr. 2
    2.Großen, auch internationalen Erfolg hatte Balabanow mit seinen kontrovers diskutierten Filmen War (2002), Cargo 200 (2007), Morphin (2008) und The Stroker (2010)
    3.Anemone, Anthony (2015): Aleksei Balabanov: Brother (Brat, 1997), in: KinoKultura 50 = Special Feature KiKu-50
    4.Gurauskajte, Ju. (1996): I ėto tože kino, in: Kommersant, 22.8.1996
    5.Kuvšinova, Marija (2015): Balabanov, Sankt-Peterburg, S. 15
    6.Anemone, Anthony (2015): Aleksei Balabanov: Brother (Brat, 1997), in: KinoKultura 50 = Special Feature KiKu-50

    Weitere Themen

    Kino #1: Ironija Sudby

    Kino #2: Aelita

    Jenseits der Fotos

    In stillem Gedenken und …

    Leviathan gegen Leviathan

    November: Arnold Veber

  • Die Wegbereiter des Putinismus

    Die Wegbereiter des Putinismus

    Den Moskauer Ökonomen und Publizisten Wladislaw Inosemzew treibt die Frage um, wie Putin sein Machtsystem in Russland habe aufbauen können. War es wirklich ein Bruch mit der laufenden Demokratisierung des Landes? In einem meinungsstarken Essay für das unabhängige Webmagazin snob stellt er die Schuldfrage und schaut genauer auf die 1990er Jahre.

    Immer, wenn sich in Russland oder jenseits seiner Grenzen Verfechter demokratischer und liberaler Ansichten versammeln, drehen sich die Diskussionen um eine der ewigen russischen Fragen: „Was tun?“. Viele Jahre schon findet sich darauf leider keine Antwort. Es gelingt nicht, den „Nerv“ der Sorgen in der Gesellschaft zu treffen, attraktive Losungen zu formulieren und in den eigenen Reihen die Anstrengungen zu koordinieren.

    Eine der Folgen ist, dass das Land mit jedem Jahr tiefer in Selbstisolation und Ignoranz abgeleitet und von Militarismus und imperialem Denken durchdrungen wird. Gleichzeitig richtet sich die Aufmerksamkeit demokratischer Politiker nur ganz selten auf die in Russland nicht weniger traditionelle Frage „Wer ist schuld?“ Der Grund hierfür ist meiner Ansicht nach offensichtlich: Die Antwort gilt seit langem als bekannt. Schuld ist natürlich Wladimir Putin und die „verbrecherische Clique“, die sich das Land unter den Nagel gerissen und die Bevölkerung zu fernsehenden Zombies gemacht haben und alles und jeden mit schmutzigen Öldollars kaufen.

    „Es war schon alles da.“ © Kai Schreiber
    „Es war schon alles da.“ © Kai Schreiber

    Diese Erklärung lässt jedoch einen wichtigen Umstand außer Acht: Das Russland, das sich Putin mittlerweile praktisch zu seinem persönlichen Eigentum gemacht hat, wurde keiner demokratischen Regierung „abgerungen“. Der jetzige Präsident wurde seinerzeit von Boris Jelzin, dem Vater des neuen Russland, „an der Hand“ in den Kreml geführt. Mitstreiter der neuen Regierung waren die Oligarchen, die durch das Marktchaos und die geschickt organisierte Privatisierung der 1990er Jahre am meisten Geld gemacht hatten. Ideologe dieser Politik war damals der Chefliberale Anatoli Tschubais.

    Die unbeschränkte Macht, die Putin über den Staat gewann, wurde durch die von Sergej Schachraj und Viktor Scheinis ausgearbeitete „demokratischste Verfassung“ gestützt. Der „nationale Anführer“ selbst wurde als leitender Verwaltungsmitarbeiter im Team des unbestechlichen Volkstribuns Anatoli Sobtschak geprägt, einer der anerkannten Führungspersönlichkeiten der demokratischen Bewegung in der UdSSR. Insofern haben die sich heutzutage über das Leben beklagenden Veteranen des „freien Russland“ Wladimir Putin nicht nur einfach „übersehen“ – sie haben ihn großgezogen und ihm das volle Instrumentarium uneingeschränkter Macht in die Hand gegeben.

    Außerdem darf man nicht vergessen, dass die Demokraten in Russland in den 1990er Jahren eine Lage geschaffen hatten, die ihren Verbleib an der Macht wahrlich unmöglich machte: Zunächst hatten sie Wirtschaftsreformen auf eine Art gestartet, dass die Wirtschaft fast um ein Drittel einbrach und die Hälfte der Bevölkerung sich unterhalb der Armutsgrenze wiederfand. Dann hatten sie beschlossen, die Beziehung zum rechtmäßig gewählten Parlament mit militärischen Mitteln zu regeln. Der nächste Markstein war die himmelschreiend ungeschickte Verwaltung der Staatsfinanzen, die zum Crash und der Rubelentwertung von 1998 führte. Der letzte Tropfen schließlich war die unmotivierte Ablösung der Regierung Primakow, der kompetentesten Regierung, die das postsowjetische Russland hatte – diktiert allein von der Logik eines Kampfes um Macht und Finanzströme.

    Mit anderen Worten: Ich glaube, dass der Machtantritt von Wladimir Putin und die nachfolgende Errichtung eines korporativen, autoritären Regimes im Land keineswegs Zufall ist. Die Ursprünge des Putinismus liegen in der Wirtschafts-, Innen- und Außenpolitik des neuen Russland, und zwar von seiner Gründung an – und die Demokraten von heute können allein sich selbst die Schuld für ihre Lage geben.

    Auf dem Gebiet der Wirtschaft sollte die Aufmerksamkeit zunächst dem zukommen, was als wichtigstes Verdienst des Regimes der 1990er Jahre gilt: der Privatisierung. Indem sie Großunternehmen praktisch für Groschenbeträge in private Hände gab, festigte die Regierung auf Jahre hinaus ein System im Land, in dem die hausgemachten Oligarchen einen Vorrang gegenüber allen neuen Akteuren erhielten.

    Schicksalhafte Ereignisse im Jahr 1993

    In der Folge waren im Land nach dem Zusammenbruch der UdSSR eine Erdölraffinerie und eine Zementfabrik gebaut worden; in Metallurgie und Maschinenbau war kein einziges neues Unternehmen entstanden. Selbst die Öl- und Gasförderung war auf dem früheren Niveau stehengeblieben. In China, wo der Staat die großen Unternehmen nicht privatisiert, sondern die Kontrolle über sie behalten hat und dabei eigenen und ausländischen Investoren erlaubte, neue Kapazitäten aufzubauen, arbeiten vier der hundert finanzstärksten Unternehmen überwiegend mit Infrastruktur von vor 1989. In Russland sind es 74. Das begründet auch die fehlende Nachfrage nach neuen Technologien und die „Rohstoffabhängigkeit“.

    Im Grunde haben die Demokraten der 1990er Jahren die Initiative russischer und westlicher Investoren nicht dazu genutzt, die Entwicklung voranzubringen: Das Privatunternehmertum wurde zum Instrument einer sozialen, nicht einer volkswirtschaftlichen Transformation. So wurde der gesellschaftliche Reichtum neu verteilt, für dessen Vermehrung aber nicht gesorgt (Letzteres geschah erst in den 2000er Jahren aufgrund der gestiegenen Ölpreise). Im Unterschied zu Russland ist China durch die Reformen, deren zentrales Element in Anreizen zur Schaffung neuer Kapazitäten bestand, zu einer weltweit führenden Volkswirtschaft aufgestiegen. Russland blieb hingegen ein Land, in dem Reichtum vor allem aus einer Umverteilung der Aktiva entsteht (und da der wichtigste Hebel hierfür die Macht ist, war der Einzug des Putinschen Herrschaftsstils somit vorbestimmt).

    Zweitens haben sich die russischen Demokraten der 1990er Jahre als gar nicht ganz so demokratisch erwiesen. Nachdem sie bei den ersten freien Wahlen – noch zu sowjetischen Zeiten – gesiegt hatten, taten sie alles Mögliche, um ihre Machtpositionen zu sichern. Einer der kritischen Punkte in diesem Zusammenhang waren die Ereignisse des Jahres 1993. Hier sei einerseits an den lokalen Bürgerkrieg erinnert, ebenso an den Beginn unumkehrbarer Veränderungen im System der Sicherheitsbehörden, die durch die Entlassung von Walentin Stepankow eingeläutet wurden, des einzigen unabhängigen Generalstaatsanwalts der neuesten russischen Geschichte. Andererseits sei auf die Wahlen von 1996 verwiesen: Nur durch eine totale Konsolidierung der politischen und Finanzeliten gelang es, Jelzin im zweiten Wahlgang zu einem Sieg zu verhelfen. Und zwar vor dem Hintergrund einer Reihe deklarativer Schritte – sei es der Vertrag mit den Separatisten in Tschetschenien, der Bildung des Unionsstaates aus Russland und Belarus oder die Palast-Intrige, bei der General Alexander Lebed ins Spiel kam.

    Meiner Ansicht nach waren es gerade die Jahre 1993 bis 1996, in denen das „Wüten der Demokratie“ in Russland seinen Abschluss fand: Zum einen wurde eine „superpräsidentielleVerfassung angenommen, die dem Staatsoberhaupt praktisch außerordentliche Vollmachten verlieh; die Unabhängigkeit von Staatsanwaltschaft und Verfassungsgericht wurde beseitigt, und es bildete sich eine geschlossene Bürokratie- und Finanzoligarchie heraus, die für den Erhalt des bestehenden Regimes arbeitete. Zum anderen wurde der Akzent der politischen und ideologischen Rhetorik verschoben, von Freiheitswerten in Richtung einer „fehlenden Alternative“ (praktisch analog zur heutigen „Stabilität“), mit Betonung von Souveränität und der Macht des Staates und der Suche nach einer „nationalen Idee“.

    Russland hat das Imperiale nicht abgeschüttelt

    In jenen Jahren hörte Russland auf, als eine der Zukunft zugewandte Nation wahrgenommen zu werden und ließ die Symbole des vorrevolutionären Imperiums wieder aufleben (Christ-Erlöser-Kathedrale, Bestattung der sterblichen Überreste der Familie des letzten Herrschers im Zarenreich). Es zahlte sogar einen Teil der Schulden der zarischen Regierung zurück. Nach dieser ersten Erfahrung war der Übergang zu einer Apologie des Sowjetischen für Wladimir Putin nicht mehr schwer – schließlich wurde das Ideal da schon nicht mehr in der Zukunft gesucht.

    Ich betone noch einmal: Die Alternativlosigkeit der Staatsmacht, die Bereitschaft, mit Gewalt gegen Opponenten vorzugehen, das Verschmelzen von Geld und Bürokratie sowie eine Apologie der Vergangenheit – all diese äußerst wichtigen Grundlagen des Putinschen Regierungsstils waren bereits in den „demokratischsten“ Jahren der neuesten Geschichte Russlands wenn nicht ausgefeilt, so doch angelegt.

    Drittens war es durch die „Demokratisierung“ Russlands mit dessen „imperialem“ Anfang keineswegs vorbei. Obwohl die UdSSR zerfallen ist, hat die Russische Föderation de facto nur die Unabhängigkeit der baltischen Staaten anerkannt. Die „gelenkte Instabilität“, die jetzt gegenüber der Ukraine angewandt wird, wurde in Bezug auf viele postsowjetische Länder getestet. Russland war direkt an dem Konflikt in Moldau beteiligt, bei dem „Transnistrien“ entstand; es hat offen den Separatismus in Georgien – auch den adscharischen – gefördert und hat Abchasien und Südossetien direkt unterstützt. Der berühmte Anruf Boris Jelzins bei Eduard Schewardnadse nach dem Attentat vom 9. Februar wies unzweideutig darauf hin, dass Russland auf alle geopolitisch bedeutsamen Entscheidungen im postsowjetischen Raum Einfluss nehmen wollte. Die Annexion der Krim wäre nicht möglich gewesen, wenn die politische Elite in Russland der Bevölkerung nicht schon seit 1994 das Gefühl vermittelt hätte, die Halbinsel sei durch falsche und rechtswidrige Entscheidungen ein Teil der Ukraine geworden.

    Einen besonderen Platz auf der Tagesordnung jener Zeit nahm natürlich Tschetschenien ein. Der Krieg dort wurde getreu der Losung von der Einheit des Landes geführt und ließ in vielfacher Hinsicht das Bedürfnis nach einer „harten Hand“ entstehen (während doch zugleich eine Gewährung der Unabhängigkeit Tschetscheniens sicherlich die Kräfte gestärkt hätte, die den Aufbau einer neuen Gesellschaft in Russland anstrebten und nicht einen starken Staat; erinnern wir uns, dass Boris Nemzow zu den wichtigsten Befürwortern einer Beendigung des Krieges zählte; formal war die Unabhängigkeit ja schon zu Sowjetzeiten verkündet worden).

    Der Kern der Sache steht fest: Russland hat während der demokratischen Regierungsjahre das Imperiale der Vergangenheit nicht abgeschüttelt und kaum etwas für den Aufbau einer Gesellschaft europäischen Typs geschafft.

    Viertens, und auch das ist zu betonen, ist in Russland die Idee von einer Integration mit dem Westen (die Schaffung des berühmten „Europa von Lissabon bis Wladiwostok“) recht schnell „verwelkt“, die in den letzten Jahren der Regierungszeit von Michail Gorbatschow praktisch in den Rang einer Staatsideologie erhoben worden war. Die Regierung hat nicht versucht, einen Antrag auf Beitritt zur Europäischen Union (die formal seit Januar 1992 besteht) oder zur NATO zu stellen. Das 1994 abgeschlossene Partnerschafts- und Kooperationsabkommen zwischen Russland und den Europäischen Gemeinschaften hatte grundsätzlich keinen Hinweis enthalten, dass der Wandel in Russland zu dessen Integration in die EU führen könnte. Analysiert man aufmerksam die Auftritte der russischen Führung in den 1990er Jahren, so zeigt sich, dass von 1993 bis 1996 die Ideen von „Zusammenarbeit“ und „Partnerschaft“ an die Stelle eines Konzepts der „Einbeziehung“ in die westliche Welt trat. Das entsprach dem Verständnis der Elite, die den Wert der Souveränität Russlands als äußerst wichtige Grundlage für ihre politische und wirtschaftliche Dominanz über das Land betrachtete.

    Wer bringt die Zukunft des Landes?

    Ohne den Leser überfrachten zu wollen, möchte ich nun einige Schlussfolgerungen ziehen: Ich gehe davon aus, dass die Russische Föderation nur über einen sehr kurzen Zeitraum die Chance hatte, im Land eine verantwortungsbewusste politische Klasse zu schaffen – ab dem Moment, als (noch im Rahmen der Sowjetunion) eine demokratische russische Regierung agierte, bis Ende 1993. Eine Klasse, die sich an europäischen Werten und europäischer Praxis orientiert, sei es an der Gewaltenteilung oder der Trennung von Bürokratie und Oligarchie. Von 1993 bis 1997 wurde der Regierung bewusst, dass sie sich von überzeugten Demokraten befreien und praktisch um jeden Preis Bedingungen für einen Machterhalt schaffen müsse (es ist bezeichnend, dass sich dieses Bewusstsein am schärfsten, ja fast schmerzhaftesten bei jenen entwickelte, die einen der äußerst wenigen Fälle miterlebten, bei denen ein Lokalfürst die Macht auf demokratische Weise verlor: mit der Niederlage Anatoli Sobtschaks bei den Gouverneurswahlen 1996).

    1997 bis 1998 entstanden dann die Grundelemente einer neuen Staatsideologie: Man begann, die Bevölkerung als Stimmvieh wahrzunehmen, das beim Wählen alles Mögliche nutzt, nur nicht den Verstand; das Oligarchat verwuchs mit der Bürokratie; das Bestreben, Elemente eines Ideals in der Vergangenheit und nicht in der Zukunft zu suchen, und danach, dass sich „Russland von den Knien erhebt“, und sei es nur in der eigenen Phantasie. In der Grundanlage war schon alles da, einer neuen Führungsgeneration blieb es vorbehalten, diese Ideologie ein- und umzusetzen.

    Was sie dann auch getan hat. Und genau das ist der Grund, warum ich – so sehr ich Putin und seine Politik in manchen Augenblicken kritisieren möchte – eine große Abneigung gegenüber den Versuchen vieler russischer Analytiker hege, die ihn als Verbrecher bezeichnen oder behaupten, er habe den Bruch in der Entwicklungsrichtung des modernen Russland zu verantworten. Wladimir Putin hat vielmehr jene Tendenzen aufgegriffen und verstärkt, die eifrig und gekonnt von den gleichen Leuten geschaffen wurden, denen dann Ende 1999 bewusst wurde, dass zur Umsetzung ihres Modells „einer wie Putin“ gebraucht werde.

    Im gleichen Maße, wie in der sowjetischen Geschichte die Ära Stalin und die Ära Lenin durch Tausende historischer, ideologischer und praktischer Fäden miteinander verbunden sind, besteht in der Geschichte Russlands eine unüberwindbare Verknüpfung der Jelzin-Ära mit der Ära Putin.

    Und das führt mich zum letzten Gedanken, mit dem ich schließen möchte, und der, da bin ich mir sicher, geteilte Reaktionen hervorrufen wird: Politiker und Aktivisten, die in den 1990er Jahren auf russländischer Erde „heilig erstrahlten“ und heute versuchen, sich als Oppositionelle in Szene zu setzen, verdienen wohl kaum die wie auch immer geartete Unterstützung derjenigen, die Russland in Zukunft als freien europäischen Rechtsstaat zu sehen hoffen. Die Art, in der sie in den 1990er Jahren „gewütet“ haben und dabei die organisatorischen und mentalen Grundlagen des Putinismus schufen, wie auch die Art, wie sie das Land der heutigen Führung in die Hand gaben, nimmt ihnen jede ethische Berechtigung zu einer Rückkehr an die Macht.

    Das neue Russland wird man ohne jene bauen, die es in den 1990er oder 2000er Jahren regiert haben. Das wird allerdings, so belegen es Beispiele, bei denen autoritäre Regime demontiert wurden, Jahrzehnte dauern – aber es bedeutet auch, dass die in den 1990er Jahren entwickelten und in den 2000er Jahren erprobten Herrschaftsprinzipien nicht auf ewig Bestand haben werden.

    Weitere Themen

    „Das System wird von selbst zusammenbrechen“

    Chinesisch für Anfänger

    Der kaukasische Dschihad

    „Die Rhetorik derzeit ist komplett putinozentrisch“

    Im Schwebezustand – Südossetien

    Vom Osten lernen

    Das Labyrinth der Pandora

    Herr Putin, was sagen Sie zum Thema Armut?

    Jenseits der Fotos

    In stillem Gedenken und …

    Zerfall eines Konzerns: ein Szenario

  • Augustputsch 1991

    Augustputsch 1991

    Am 19. August 1991 wurde einer der letzten Versuche unternommen, die Sowjetunion vor der Auflösung zu bewahren. Während Millionen von Bürgern – wie sonst nur in Fällen von Staatstrauer oder großen nationalen Katastrophen – rund um die Uhr auf allen TV-Kanälen klassische Musik und die Ballettaufführung des Schwanensee sehen konnten, ließen die Minister der Unionsregierung Panzer im Zentrum Moskaus auffahren. Sie erklärten Michail Gorbatschow für amtsunfähig, verkündeten Ausnahmezustand, Machtübernahme und ihr Ziel: Bewahrung der Sowjetunion vor dem Zerfall.

    Tausende Menschen stellten sich hinter den Präsidenten Russlands Boris Jelzin und hielten dagegen. Alsbald war der Ausnahmezustand vorbei: Mit dem Untergang der Putschisten beschleunigte sich auch der Untergang der UdSSR. Boris Jelzin wurde zum demokratischen Symbol des Aufbruchs. Allerdings sehen nach den gewaltigen Umbrüchen der 1990er Jahre heute 43 Prozent der Russen in den August-Ereignissen von 1991 eine Tragödie für das Land.

     

    Ausnahmezustand

    Als am frühen Morgen des 19. August 1991 die ersten sowjetischen Radiozuhörer ihre Geräte einschalteten, mussten sie zu ihrer Überraschung erfahren, dass der Präsident der UdSSR und Generalsekretär der KPdSU Michail Gorbatschow aus gesundheitlichen Gründen amtsunfähig geworden sei.

    Boris Jelzin wurde zum demokratischen Symbol des Aufbruchs / Foto © Wikipedia unter CC BY 4.0

    Das Staatskomitee für den Ausnahmezustand (Russische Abkürzung: GKTschP), das unter der Führung des Vizepräsidenten Gennadi Janajew einige Minister der Unionsregierung, den Chef des KGB Wladimir Krjutschkow und weitere reformkritische Politiker vereinigte, übernahm die Führung der Staatsgeschäfte und verkündete sein oberstes Ziel: die Bewahrung der Sowjetunion vor dem Zerfall.

    Das Komitee  berief sich dabei auf die Ergebnisse des unionsweiten Referendums vom 17. März 1991, bei dem die Mehrheit für den Erhalt der UdSSR plädiert hatte.

    Auf dem Weg zu einer Konföderation

    Schon kurz nach dem Referendum begann Gorbatschow einen Verhandlungsprozess mit den Oberhäuptern der Unionsrepubliken. An deren Ende sollte ein neuer Unionsvertrag stehen: Die föderale UdSSR sollte in eine Konföderation mit dem Namen „Union Souveräner Sowjetrepubliken“ überführt werden und alle Sowjetrepubliken umfassen – mit Ausnahme der baltischen Republiken, Moldawiens, Georgiens und Armeniens. Gemäß dem völkerrechtlichen Verständnis sollten alle Konföderationsmitglieder Souveränitätsrechte bekommen. Die feierliche Unterzeichnung des Unionsvertrags war für den 20. August angesetzt. Dem aber kam das GKTschP zuvor.  

    Absetzung Gorbatschows

    Der Gründung der GKTschP war ein Versuch seiner zukünftigen Mitglieder vorausgegangen, Gorbatschow zu überreden, den Vertrag nicht zu unterzeichnen und den Ausnahmezustand auszurufen. Das Gespräch mit Gorbatschow, der sich in seiner Urlaubsresidenz Foros auf der Krim aufhielt, verlief jedoch ergebnislos.1 Daraufhin verkündete das GKTschP die Machtübernahme.

    Gorbatschow behauptete später rückblickend, dass er in Foros überrascht worden sei: Er sei drei Tage lang von der Außenwelt isoliert gewesen, sein Aufenthaltsort sei blockiert und die Telefonleitungen abgeschaltet worden.2

     

    Trailer des Dokumentarfilms „Sobytie“ („The Event“), 2015, Regisseur: Sergej Loznitsa

    Was das GKTschP allerdings versäumte, war die Isolierung Boris Jelzins – des Präsidenten der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR). Diesem gelang es schon in den Morgenstunden des 19. August, seine Datscha zu verlassen. Durch die sich mit Panzern füllenden Straßen Moskaus fuhr er zum Gebäude des Obersten Sowjet der RSFSR, dem sogenannten Weißen Haus. Dies wurde zur Zentrale des Widerstands gegen das Komitee, dessen Mitglieder alsbald als „Putschisten“ bezeichnet wurden.

    Während auf allen Fernsehkanälen – wie sonst nur in Fällen von Staatstrauer oder großen nationalen Katastrophen – klassische Musik und das Ballett Schwanensee ausgestrahlt wurden, verteilten die Gegner der GKTschP Flugblätter mit dem Aufruf von Jelzin, in einen fristlosen Generalstreik zu treten. Um das Weiße Haus herum wuchsen Barrikaden, um 16 Uhr wurde in Moskau offiziell der Ausnahmezustand ausgerufen.

    Kräftemessen in Moskau

    Erst am Abend wurde die Bevölkerung über die Pläne der neuen Staatsführung informiert. Unter Führung Janajews fand eine Pressekonferenz statt, auf der die Mitglieder der GKTschP die Öffentlichkeit zu beruhigen versuchten: Sie bezeichneten Jelzin als „Genossen“ und Gorbatschow als „Freund“, bekannten sich zur Notwendigkeit von Marktreformen. Legendär wurden die zitternden Hände von Janajew sowie die Fragen der Journalisten, die das GKTschP offen mit Pinochet verglichen und die Aktion als einen Staatsstreich bezeichneten.

    Obwohl das GKTschP scharfe Maßnahmen gegen die „Unruhestifter“ ankündigte, die Ausstrahlung von oppositionellen Radiosendern und TV-Kanälen zeitweilig unterband und die Schließung von elf Printmedien anordnete, wurden die Redaktionsräume nicht besetzt, die Ein- und Ausreise aus dem Land blieb weiter möglich.

    Die Journalisten des Ersten Kanals konnten in den Abendnachrichten einen Beitrag über die Lage vor dem Weißen Haus senden, in dem Jelzin das GKTschP kritisierte. Das Versagen der staatlichen Zensur wurde offensichtlich.   

    Währenddessen versammelten sich vor dem Weißen Haus mehr als 200.000 Menschen. Verschiedene politische Gruppen solidarisierten sich mit Jelzin. Dieser erklärte sich am 20. August zum Oberbefehlshaber aller auf dem Gebiet der Russischen Sowjetrepublik stationierter Truppen.

    In der Nacht vom 20. auf den 21. August kulminierten die Ereignisse: In Moskau wurde eine Ausgangssperre verhängt. Das GKTschP ließ Panzer in Bewegung setzen, um das Weiße Haus zu stürmen, doch unterwegs stellten sich ihnen Protestierende in den Weg. In dieser Nacht kamen drei Zivilisten ums Leben, ein Schützenpanzer wurde von Demonstranten angezündet. Die Eliteeinheit des KGB Alpha weigerte sich, ohne einen schriftlichen Befehl vorzurücken.

    Um acht Uhr morgens zog Jasow die Truppen aus der Stadt zurück. Das Scheitern des Putsches wurde offensichtlich. Einzelne Mitglieder der GKTschP flogen nach Foros um mit Gorbatschow zu sprechen, dieser weigerte sich aber, sie zu empfangen.

    Der Anfang vom Ende – das Ende vom Anfang?

    Es war ein symbolischer Schritt, als Gorbatschow am 22. August kurz nach Mitternacht in Moskau landete. Die westlichen Länder begrüßten seine Rückkehr, und auch die ehemaligen Mitglieder des Warschauer Pakts, die schon ihre Re-Sowjetisierung befürchtet hatten, atmeten auf. Jelzin galt jetzt als Retter Gorbatschows. Leonid Krawtschuk, der wenige Monate später zum ersten Präsidenten der Ukraine gewählt wurde, ließ seine loyale Haltung gegenüber dem GKTschP genauso schnell fallen wie viele andere Oberhäupter der Unionsrepubliken und schwenkte (genauso wie diese) auf die Linie Jelzins ein. Janajew und weitere Mitglieder des GKTschP wurden verhaftet, einzig Innenminister Boris Pugo entzog sich der Verhaftung durch Suizid.

    Obwohl die drei Augusttage als Gründungsereignis des neuen, unabhängigen Russlands gehandelt werden, verhallen bis heute nicht die Debatten über die Ereignisse und ihre Bewertung.

    Gorbatschow gab 20 Jahre später zu, von den Plänen der Putschisten gewusst zu haben3, und viele Forscher fragen nach seiner wirklichen Rolle.4 Da nur eine Minderheit der Bevölkerung Russlands auf die Barrikaden ging, stellt sich die Frage, wie die Mehrheit über die Vorgänge wirklich dachte. Was bedeutet es, dass 43 Prozent der Bürger Russlands5 die Niederlage des GKTschP heute als eine Tragödie sieht, die „katastrophale Folgen für das Land und die Menschen“ hatte? Und wie stark prägt der Sowjetmensch die politische Kultur Russlands heute?

    Wenige Monate nach den Ereignissen, am 8. Dezember 1991, besiegelten die Präsidenten von Russland, der Ukraine und Belarus das Ende der Sowjetunion. Wladimir Putin, der während der Augusttage auf der Seite Jelzins stand, bezeichnete den Zusammenbruch der UdSSR später als „größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts“.6

    Aktualisiert am 17.08.2021
    1. Pichoja, Rudol’f (1998): Sovetskij Sojuz: istorija vlasti: 1945-1991, Moskau, S. 658-659 ↩︎
    2. ebd. S. 653, 684 ↩︎
    3. Ria Novosti: Gorbačev znal o planach GKČP, no sčel bolee važnym ne dopustit’ bojni ↩︎
    4. Pichoja, Rudol’f (1998): Sovetskij Sojuz: istorija vlasti: 1945-1991, Moskau, S.684 ↩︎
    5. levada.ru: GKČP: 30 let ↩︎
    6. kremlin.ru: Putin, Vladimir: Poslanie Federal’nomu Sobraniju Rossijskoj Federacii
      ↩︎

    Weitere Themen

    Perestroika: Wirtschaft im Umbruch

    Gulag

    Leonid Breshnew

    Auflösung der Sowjetunion

    Perestroika

    Tauwetter

  • Die Wilden 1990er

    Die Wilden 1990er

    Das Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war von tiefgreifenden Umbrüchen gezeichnet, aufgrund derer es in das kollektive Gedächtnis als die wilden 1990er eingegangen ist. Mit dem Begriff werden weniger die neu erlangten Freiheiten, sondern eher negative Erscheinungen wie Armut und Kriminalität assoziiert.

    Der im russischen Sprachgebrauch verwendete Terminus lichije 90-ie (wörtlich flott, schneidig) bezeichnet die wilden und stürmischen 1990er Jahre des postsowjetischen Russland. Die radikalen Veränderungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft bedeuteten nicht nur neue Rechte, Freiheiten und Möglichkeiten, sondern vielfach Rechtlosigkeit und Armut. Laut dem Historiker Jörg Baberowski profitierten „[…] von den Segnungen dieser Reformen […] nur die Mächtigen und Einflussreichen, die sich aneigneten, was einmal dem Staat gehört hatte. In blutigen Verteilungskriegen wurden wenige sehr reich und viele sehr arm. Der Traum von Wohlstand und Sicherheit verwandelte sich in einen Albtraum.“1

    Zu der Armut, den Ängsten und der Unsicherheit kam eine normative Orientierungslosigkeit hinzu: Die sowjetischen Normen brachen praktisch über Nacht zusammen, während der zerfallende Staat keine neue Ideologie bieten konnte und ein normatives Vakuum entstand. Neben dem täglichen Überlebenskampf wurde das Streben nach Geld zur Ideologie der Eliten. Die schwachen staatlichen Strukturen ermöglichten alten Seilschaften und neuen Gewaltunternehmern2, unter Einsatz häufig illegitimer und auch illegaler Mittel, zu Reichtum zu gelangen. Kriminelle Übernahmen, Korruption und Auftragsmorde standen auf der Tagesordnung; alleine 1994 fielen den Verteilungskämpfen mehr als 600 Unternehmer, Politiker und Journalisten zum Opfer3, was dieser Zeit den Begriff Raubtierkapitalismus einbrachte.

    Zugleich stehen die wilden 1990er für eine Zeit des gesellschaftlichen Aufbruchs und der Hoffnung auf eine Zukunft nach westlichen Standards und Waren, für die sich das Land nun öffnete: Das Staatsmonopol zerfiel, Zensurbeschränkungen wichen einer bis dahin unbekannten Meinungsfreiheit und zahlreiche neue Medien und Diskussionsforen entstanden, die, zumindest für eine kurze Zeit, einen öffentlichen politischen Diskurs ermöglichten. Es entwickelte sich eine urbane Kultur mit Cafés und Klubs und auch die Kunst blühte auf: Verstärkt wurden neuere Strömungen wie Performance oder experimentelles Theater aufgegriffen und auch oftmals die negativen und gewaltsamen Aspekte dieser Zeit verarbeitet. Der Film Brat (Der Bruder, 1997) von Alexej Balabanow, in dem sich ein junger Russe mit der Mafia anlegt, wurde nicht nur zum ersten großen postsowjetischen Kassenschlager, sondern zu einem Symbol dieser Zeit. Die spezifische Befindlichkeit des Jahrzehnts wird in zahlreichen literarischen Werken, so in Pelewins Generation P oder Swetlana Alexijewitschs Secondhand-Zeit verarbeitet.

    Im Gegensatz zu den wilden 1990ern gelten die 2000er Jahre als ruhiges und stabiles Jahrzehnt, in dem unter Wladimir Putin ein spürbar steigender Wohlstand für die breite Bevölkerung einsetzte, der mit ihm persönlich in Verbindung gebracht wird. Die gegenwärtigen Machthaber greifen gerne auf die Abgrenzung wilde 1990er, Jelzin, Demokratie und Armut versus stabile 2000er, Putin, „souveräne Demokratie“ und Wohlstand zurück, um den zunehmend autoritären Kurs und die Freiheitsbeschränkungen zu legitimieren.


    1. Die Zeit: Kapitalismus in Russland: „Das sind einfach Diebe“ ↩︎
    2. Volkov, Vadim (2002): Violent Entrepreneurs. The use of Force in the Making of Russian Capitalism, Ithaca ↩︎
    3. Die Zeit: Kapitalismus in Russland: „Das sind einfach Diebe“ ↩︎

    Weitere Themen

    Jegor Gaidar

    Higher School of Economics

    Zentralbank

    Kino #3: Brat

    Oligarchen

    Die 1990er

  • Die 1990er

    Die 1990er

    Die 1990er Jahre waren in Russland ein Jahrzehnt des radikalen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbruchs. Demokratischer Aufbruch einerseits und wirtschaftlicher Niedergang andererseits prägten die Zeit nach dem Zerfall der Sowjetunion.

    Politisch befand sich Russland zu Beginn der 1990er Jahre im Spannungsfeld zwischen demokratischen und reaktionären Kräften. Die Zerissenheit der politischen Eliten zeigte sich im August 1991 in einem Putschversuch kommunistischer Hardliner gegen Gorbatschow, der zwar nach drei Tagen scheiterte, die Sowjetunion aber weiter destabilisierte, sodass diese sich schließlich am 21. Dezember 1991 auflöste.

    Ab 1992 trieben Präsident Boris Jelzin und Regierungschef Jegor Gaidar eine tiefgreifende Transformation zu parlamentarischer Demokratie und Marktwirtschaft voran. Der Widerstand mehrerer Parteien gegen die liberale Wirtschaftspolitik gipfelte 1993 in einem Machtkampf zwischen Präsident und Parlament, den Jelzin mithilfe der Armee für sich entschied. Die bis heute gültige Verfassung von 1993, die die politische Vormachtstellung des Präsidenten festigte, ist eine Konsequenz der damaligen Verfassungskrise.

    Durch die Machtkämpfe und die politische Öffnung verlor der Zentralstaat an Kontrolle über die Regionen. Unabhängigkeitsbestrebungen einiger ethnischer Republiken beantwortete der Staat teils mit Autonomiezugeständnissen, teils mit Gewalt (1. Tschetschenienkrieg 1994 – 1996).

    Außenpolitisch verlor Russland mit dem Ende des Kalten Krieges und der Auflösung des Warschauer Pakts an Einfluss. In den folgenden Jahren näherte man sich dem einstigen Feind, der NATO, an: Die im Jahr 1997 unterzeichnete Nato-Russland-Grundakte sollte die Kooperation in der internationalen Sicherheitspolitik fördern.

    Ein weiterer radikaler Umbruch war der Wandel von der sozialistischen Planwirtschaft hin zur kapitalistischen Marktwirtschaft. Eine Riege radikaler Jungreformer unter Wirtschaftsminister Jegor Gaidar war für die Systemtransformation verantwortlich. Mit einer Preisliberalisierung und Privatisierungen der Staatsbetriebe verpassten sie dem Land eine „Schocktherapie“. Von 1992 bis 1994 wurden im Rahmen der sogenannten Voucher-Privatisierung Gutscheine an die Bevölkerung ausgegeben, die diese zu Aktienanteilen ihrer Betriebe umwandeln konnten. Viele verkauften ihre Voucher jedoch an die Betriebsleitungen, sodass letzlich nicht wie gedacht die Bevölkerung profitierte, sondern die Manager der ehemaligen Staatsbetriebe.

    Als der Staat 1995/96 kurz vor dem Bankrott stand, wurden auch die letzten großen Staatsbetriebe privatisiert, um frisches Geld in die Staatskassen zu spülen. Allerdings wurden die Auktionen des Aktien-für-Kredite genannten Programms mehrheitlich von den aus dem Bankensektor aufstrebenden Oligarchen manipuliert, die die Betriebe weit unter Wert erwarben. Für diese illegalen Pivatisierungen bürgerte sich der negativ konnotierte Begriff Prichwatisazija ein, eine Zusammensetzung aus dem Wort für Privatisierung und dem Wort prichwatit (wörtl. abstauben).

    Durch den Niedergang der ineffektiven sowjetischen Schwerindustrie und die sinkenden Ölpreise ging die Wirtschaftsleistung trotz des Aufblühens des Klein(st)unternehmertums drastisch zurück; zwischen 1990 und 1996 sank das russische BIP um mehr als 50 %. Die marode Wirtschaft und die Hyperinflation (1992: 1526 %, 1993: 875 %) stürzten große Teile der Bevölkerung in Armut. 1998 führte die Wirtschaftskrise in den asiatischen „Tigerstaaten“ zu Erschütterungen auf den Finanzmärkten, die auf Russland übergrifffen und den wirtschaftlichen Niedergang beschleunigten, was zur Zahlungsunfähigkeit Russlands führte (Default). Erst mit dem Anstieg der Ölpreise zum Ende des Jahrzehnts sollte sich die rohstoffabhängige russische Wirtschaft wieder stabilisieren.

    Die enormen gesellschaftlichen Spannungen führten dazu, dass die Epoche auch als die „wilden 90er“ bezeichnet wurde, und zwar im guten wie im schlechten Sinne: Einerseits boten sich gewaltige Chancen für Neuanfänge; andererseits führten Deregulierung und Kriminalität (Stichwort: russische Mafia) zu Gefühlen ständiger Unsicherheit und Bedrohung bei weiten Teilen der Bevölkerung. Die spezifische Befindlichkeit des Jahrzehnts hat sich in zahlreichen literarischen Werken, so in Pelewins Generation P oder Swetlana Alexijewitschs Secondhand-Zeit, aber auch filmischen Werken, wie in Alexej Balabanows Der Bruder, verewigt.

    Weitere Themen

    Andrej Swjaginzew

    Jewgeni Jasin

    Higher School of Economics

    Sergej Gandlewski

    Die Entwicklung des russischen Parteiensystems

    Zentralbank

    Kino #3: Brat