дekoder | DEKODER

Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Die Geschichte der NATO-Osterweiterung

    Die Geschichte der NATO-Osterweiterung

    30 Jahre nach dem Kollaps der Sowjetunion ist ein alter „Krieg der Narrative”1 neu entfacht: Gab es in den 1990er Jahren ein Versprechen an die Sowjetunion beziehungsweise an Russland, dass sich die NATO nicht weiter Richtung Osten ausdehnt? Inmitten erneuter Spannungen durch einen massiven russischen Truppenaufmarsch an der Ostgrenze der Ukraine präsentierte Russlands Präsident Wladimir Putin im Dezember 2021 auf seiner alljährlichen Pressekonferenz weitreichende Forderungen an die USA und die NATO nach verbindlichen Sicherheitsgarantien. Kurz danach veröffentlichte die Regierung in Moskau Entwürfe für zwei Abkommen mit dem Ziel, eine weitere Öffnung der Atlantischen Allianz nach Osten sowie die Errichtung von US-Militärstützpunkten in früheren Sowjetrepubliken, die nicht der NATO angehören, zu verhindern. Auch müsse die NATO ihre Truppen auf die Positionen von 1997 zurückziehen und die USA müssten ihr Nukleararsenal aus Westeuropa entfernen. Die NATO und die USA hatten Ende Januar jeweils schriftlich auf die Forderungen Moskaus geantwortet, wobei sie klar machten, dass es in den großen Prinzipienfragen keinen Verhandlungsspielraum gibt. Zugleich boten sie jeweils weitere Gespräche an.

    Für die NATO (und die EU) gilt: Jeder Staat ist frei, seine Bündnisse selbst zu wählen. Wer mit wem verbündet ist, liegt in der souveränen Entscheidung einzelner Staaten. Das ist die Grundbedingung der europäischen Sicherheitsordnung. Die russische Absicht: ein Ausdünnen der US-amerikanischen Präsenz in Europa und eine Neuaufteilung des Kontinents in Einflusszonen. Dies weist die Allianz strikt zurück.

    Aus russischer Sicht liegt aber genau hier die Crux. Die europäische Sicherheitsordnung, wie sie sich seit 1992 herauskristallisiert und entwickelt hat, ist für den Kreml unter Putin nicht akzeptabel. Russland will einen cordon sanitaire, eine Pufferzone, zwischen sich und dem Westen schaffen.

    Der Kreml ist nicht nur der Ansicht, dass die NATO-Erweiterung eine Bedrohung für Russland darstellt – sondern auch, dass sie im Widerspruch zu westlichen Zusicherungen steht, die Russland beziehungsweise der sowjetischen Führung 1990 im Zuge der deutschen Einheitsdiplomatie und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 gegeben wurden. Die NATO habe seit dem Kalten Krieg sein Land mit „fünf Erweiterungswellen“ ohne Rücksicht auf russische Sicherheitsinteressen „dreist betrogen“, behauptete Putin zuletzt im Dezember 2021. Zur Zeit der Krim-Annexion, im März 2014, sprach er gar vom „Verrat von 1990“ – der Westen habe Russland „viele Male belogen, Entscheidungen hinter unserem Rücken getroffen … Das ist [auch] bei der NATO-Osterweiterung passiert“. Sieben Jahre vorher, auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, beklagte er: „Was wurde aus den Zusicherungen unserer westlichen Partner nach der Auflösung des Warschauer Paktes?“ 

    Putins Vorgänger Boris Jelzin nannte die NATO-Osterweiterung schon 1993 „illegal“ – und bezog sich dabei auf den 2+4 Vertrag von 1990. 1997 erklärte Außenminister Jewgeni Primakow, ehemaliger Gorbatschow-Berater und Leiter des russischen Auslandsgeheimdienstes, dass mehrere westliche Führer „Gorbatschow gesagt hätten, dass kein einziges Land, das den Warschauer Pakt verlässt, der NATO beitreten würde“.

    Haben die NATO-Partner eine verbindliche Zusage gemacht, auf eine Osterweiterung zu verzichten, um dann irgendwann eine klandestine Kehrtwende zu vollziehen? 

    Laut Jelzin und Putin gab es nach dem Fall der Berliner Mauer fixe Zusagen des Westens bezüglich einer territorialen Ein- oder Selbstbegrenzung der NATO. Der Kontext hierzu ergab sich aus dem Umstand, dass Deutsche und Sowjets im Zuge der deutschen Wiedervereinigung aushandeln mussten, was genau und in welchem Zeitraum mit den 380.000 Soldaten der Roten Armee, die in der (ehemaligen) DDR stationiert waren, geschehen würde, und wie die UdSSR die ihr vorbehaltenen (Alliierten-)Rechte aufgeben würde. Moskau stimmte schlussendlich sowohl dem Rückzug seiner Truppen zu als auch dem Ende seiner alliierten Kontrollrechte. Außerdem erlangte das vereinigte Deutschland seine volle Souveränität und konnte frei seine Bündniszugehörigkeit wählen: die nun größere Bonner Republik blieb Mitglied der NATO. 

    „Keinen Zoll ostwärts“: Was war gemeint?

    Laut Putin hatte Moskau in diesen Fragen nur nachgegeben, weil die NATO dem Kreml zugesichert habe, sich künftig „keinen Zoll ostwärts“ auszudehnen. Dieses Versprechen sei später immer wieder gebrochen worden. Dass der Westen damit durchkam, liege vor allem daran, dass es nie eine verbindliche Vereinbarung oder ein schriftliches Abkommen zu diesem Punkt gegeben hatte. 

    Dieser Teil der Erzählung, mit Bezug auf 1990, beruht jedoch sowohl auf einem Missverstehen der diplomatischen Prozesse auf verschiedenen Ebenen als auch auf der Missinterpretation des 2+4 Vertrags. 

    Bei der viel-zitierten „keinen Zoll ostwärts“-Aussage vom 9. Februar 1990 handelt es sich um eine Formel des US-Außenministers Baker, und nicht (wie mitunter kolportiert) des US-Präsidenten George H.W. Bush, dem die außenpolitische Richtlinienkompetenz und Entscheidungsgewalt letztlich unterlag. Baker benutzte jenen Wortlaut in einem frühen Stadium der Sondierungsgespräche mit dem sowjetischen Generalsekretär Michail Gorbatschow, die bei der Lösungsfindung zur deutschen Frage in einer sich stetig verändernden europäischen Sicherheitsordnung helfen sollten. Hier ging es vor allem darum, der Sowjetunion die Angst vor einem sich vergrößernden Deutschland zu nehmen, indem man zusicherte, weder integrierte NATO-Kommandostrukturen auf das „Territorium der vormaligen DDR“ zu verlegen noch NATO-Truppenstationierungen dort vorzunehmen. 
    Da Bakers Formulierung „keinen Zoll ostwärts“ es allerdings verunmöglicht hätte, die Sicherheitsgarantien der NATO gemäß Artikel 5 auf Gesamtdeutschland anzuwenden, schlug Bush Bundeskanzler Helmut Kohl in einem Brief am selbigen Tag vor, künftig von einem „speziellen Militärstatus“ für die DDR zu sprechen. Dieser Wortlaut wurde am 24./25. Februar 1990 von beiden bei ihrem Treffen in Camp David bestätigt und fand auch Eingang in den späteren 2+4 Vertrag. 

    Bei den Gesprächen im Februar 1990 ging es also nie um die Erweiterung der Mitgliedschaft der NATO, sondern einzig um die Ausdehnung der integrierten NATO-Verteidigungsstrukturen nach Ostdeutschland. Dabei ist auch zu bedenken, dass zu diesem Zeitpunkt der Warschauer Pakt noch bestand und es somit gar keinen Anlass gab, sich mit der Sowjetunion über zukünftige NATO-Osterweiterungen auszutauschen oder sich gar auf mögliche territoriale Einschränkungen einzulassen.

    Bei aller Unsicherheit, wie die Sowjetunion mit der deutschen Frage umging, standen im Winter/Frühjahr 1990 natürlich auch andere europäischen Sicherheitsmodelle im Raum und hinter verschlossen Türen wurden vielerlei diplomatische Versuchsballons gegenüber Moskau gestartet, um die politischen roten Linien der sowjetischen Führungsriege in Erfahrung zu bringen. 

    So träumte nicht nur Michail Gorbatschow vom „gemeinsamen europäischen Haus“, sondern unter anderem der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher schon lange von einer pan-europäischen, institutionalisierten KSZE-Option, die möglicherweise nun im Zuge des geopolitischen Umbruchs umgesetzt werden könnte. Dem französischen Präsidenten Francois Mitterrand dagegen schwebte eine europäische Konföderation ohne die USA vor, die sich in konzentrischen Kreisen um die Kernstaaten der Europäischen Gemeinschaft (EG) entwickeln würde. Von den sich überschlagenden Ereignissen überholt, wurden diese Optionen aber schon bald als unrealisierbar ad acta gelegt. Anders als ursprünglich angenommen, vollzog sich die deutsche Einheit, und im Zuge dessen die Lösung der Bündnisfrage, aber viel schneller. Damit lagen sie zeitlich vor – und nicht nach – allen anvisierten europäischen Integrationsprozessen. Die damaligen Protagonisten US-Präsident Bush, der sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow und Bundeskanzler Helmut Kohl gaben dabei die Richtung vor: Am 12. September 1990 unterzeichneten sie das Endergebnis ihres gemeinsam ausgearbeiteten und von allen Seiten getragenen Kompromisses im 2+4 Vertrag – „über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“. 

    Der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow und US-Präsident George Bush bei einem Gipfeltreffen in den USA, Juni 1990. / RIA Novosti archive / Yuryi Abramochkin / CC-BY-SA 3.0
    Der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow und US-Präsident George Bush bei einem Gipfeltreffen in den USA, Juni 1990. / RIA Novosti archive / Yuryi Abramochkin / CC-BY-SA 3.0

    Zusammengefasst: Der Vertrag ermöglichte schlicht, dass die NATO die Sicherheitsgarantie gemäß Artikel 5 auf die ehemaligen Gebiete der DDR ausdehnte. Die Zukunft Mittel- und Osteuropas blieb dabei unberücksichtigt.Damit erlangte das Bündnis zwar die Handlungsfähigkeit östlich der alten Trennlinie des Kalten Krieges. Doch lag diese in keinem neuen Mitgliedsstaat, sondern in einer einfach vergrößerten Bundesrepublik – und auch erst nach dem vollständigen sowjetischen Truppenabzug, der auf 1994 terminiert wurde. Des Weiteren wurden erhebliche Einschränkungen beim Einsatz ausländischer NATO-Truppen und Nuklearwaffen auf ostdeutschem Boden vereinbart. Als Gegenleistung für seine Kompromissbereitschaft hatte Kohl Gorbatschow in bilateralen Gesprächen ein Geldpaket von insgesamt rund 100 Milliarden DM angeboten: als Kredite, Wirtschaftshilfe und zur Finanzierung des Abzugs der Rotarmisten. 

    Der 2+4 Vertrag stellte also eine friedliche Übereinkunft aller Parteien zur Lösung der deutschen Frage dar. Im Kontext der großen politischen Veränderungen von Polen bis Bulgarien agierte Gorbatschow allerdings keineswegs blauäugig. Wie er schon im Mai 1990 erklärte, war er sich, was die mögliche „Absicht einer Reihe von Vertretern osteuropäischer Staaten“ betraf, „aus dem Warschauer Pakt auszutreten“ um „anschließend der NATO beizutreten“, völlig bewusst. Dennoch gehörten diese Entwicklungen damals noch einer Zukunft an, die noch nicht scharf umrissen war, und Gorbatschow selbst war zu diesem Zeitpunkt völlig auf sein politisches Überleben und auf das Lösen der vielen inner-sowjetischen Probleme fixiert.

    Entscheidend ist, dass der 2+4 Vertrag die NATO-Osterweiterungsfrage in keiner Form tangierte, auch nicht indirekt dadurch, dass dieser ein späteres Öffnen der Allianz nach Osten gar nicht ansprach oder gar ausdrücklich ausschloss.

    Der Wendepunkt: Auflösung des Warschauer Pakts 1991

    Der eigentliche Wendepunkt, der später dazu führte, dass sich die Beziehungen zwischen dem Kreml und dem Westen verschlechterten und jene Verschlechterung den „Krieg der Narrative“ heraufbeschwor, lag im Zerfall der Sowjetunion Ende 1991 und in der vorausgegangenen Auflösung des Warschauer Pakts. Denn mit dem Verschwinden des Sowjetimperiums veränderten sich die sicherheitspolitischen Parameter in Europa grundsätzlich. Es entstand ein Sicherheitsvakuum im sogenannten „Zwischeneuropa“ – den Ex-Satellitenstaaten und Ex-Sowjetrepubliken zwischen Ostsee und Schwarzem Meer. 

    Die Tragik der russischen Situation nach Ende des Kalten Krieges war weniger dem US-amerikanischen Triumphalismus oder dem Überleben der NATO im Zentrum der neuen Sicherheitsarchitektur in Europa geschuldet als Jelzins Scheitern bei der Demokratisierung Russlands, bei den Marktwirtschaftsreformen, bei der Einführung von Recht und Ordnung und beim Versuch, eine Partnerschaft mit den USA und der NATO aufzubauen. Tatsächlich hatten sich die USA und NATO seit dem Sommer 1990 dem Osten und der UdSSR konstruktiv zugewandt und ihnen über den neuen Nordatlantischen Kooperationsrat (NAKR) „die Hand der Freundschaft“ ausgestreckt – ein Prozess der Annäherung, der auch nach plötzlicher sowjetischer Implosion 1991, mit allen neuen unabhängigen Staaten, inklusive Russlands, beibehalten wurde.   

    Mit dem Moment allerdings, mit dem Russland 1993 im politischen Chaos versank und revisionistische Stimmen anfingen, Gehör zu finden, begann die aktive Suche nach Sicherheit der Zwischeneuropäer, die nun immer dringlicher den Anschluss an die westlichen Institutionen suchten. Dieser Druck von außen auf die NATO war maßgeblich für die Entwicklungen und Entscheidungsfindung um den Osterweiterungsprozess in den 1990ern und 2000ern. Zwar haben viele der damaligen US-Politiker tatsächlich das Diktum vom „Ende der Geschichte“ beherzigt, für ein immanent betriebenes Expansionsbestreben der Allianz (mit dem Ziel der „Einkreisung“ Russlands) – so wie es heute in der russischen Propaganda dargestellt wird – gibt es aber keine Belege.

    „Geist des Vertrags“

    In jener innen- wie außenpolitischen Defensivlage Russlands begann Jelzin 1993, den 2+4 Vertrag als Verbot der NATO-Erweiterung östlich Deutschlands auszulegen – weil der Vertrag, wie er (und später Putin) betonte, explizit nur Bündnisaktivitäten auf ostdeutschem Gebiet erlaubte. Die Nichterwähnung Osteuropas zusammen mit den festgeschriebenen Beschränkungen in Bezug auf die ehemalige DDR wurden nun also post-hoc als eine implizite westliche Absage an die Osterweiterung interpretiert. Es sei der „Geist des Vertrags“, so schrieb Jelzin dem neuen US-Präsidenten Bill Clinton im September 1993, der „die Option, das NATO-Gebiet nach Osten auszudehnen“, ausschließe.

    Außenminister Jewgeni Primakow erklärte 1997, „die wahre rote Linie“ Moskaus sei, „wenn sich die Infrastruktur der NATO in Richtung Russland bewegt“. Dies sei „inakzeptabel“. Um Russland die bittere Pille ihrer Erweiterung nach Osteuropa zu versüßen, hat die NATO aber gleichzeitig mit dem Kreml die NATO-Russland-Grundakte ausgehandelt. Diese wurde am 27. Mai 1997 in Paris unterzeichnet – noch vor dem Madrider Erweiterungsgipfel. Auf Jelzins Forderung nach bindenden Beschränkungen für die Errichtung einer NATO-Sicherheitsinfrastruktur in neuen Mitgliedsstaaten ging Bill Clinton bei ihren bilateralen Vorgesprächen in Helsinki im März erst gar nicht ein. Und auch Jelzins Versuch, ein russisches Veto gegen eine zukünftige Expansionsrunde, gerade auch in die sowjetischen Ex-Republiken „insbesondere die Ukraine“, in das Abkommen einzubringen, scheiterte.  

    Dass Boris Jelzin, nach allem öffentlichen Einklang vor der Weltpresse, den Inhalt der NATO-Russland-Grundakte in seiner Radioansprache an das russische Volk am 30. Mai 1997 wohlwissentlich falsch beschrieb, nämlich als „Befestigung des Versprechens der NATO, keine Atomwaffen auf den Territorien ihrer neuen Mitgliedsländer zu stationieren – weder ihre Streitkräfte in der Nähe unserer Grenzen aufzubauen […] noch Vorbereitungen für eine relevante Infrastruktur zu treffen“ – das musste in Russland das Gefühl erwecken, einer wiederholten westlichen Täuschung erlegen zu sein. Diese wissentliche Falschaussage verstetigte sich seit Ende der 1990er Jahre zu einem zentralen Propagandamotiv russischer Staatsmedien. 

    Die historischen Akten in Ost und West jedoch beweisen, dass solche Narrative von gebrochenen Versprechen so nicht stimmen. 
     


    Zum Weiterlesen:
    Adomeit, Hannes, NATO-Osterweiterung: Gab es westliche Garantien?, Berlin: Bundesakademie für Sicherheitspolitik, Arbeitspapier Sicherheitspolitik Nr. 3 (2018).
    Kramer, Mark, “The Myth of a No-NATO-Enlargement Pledge to Russia”, The Washington Quarterly 32, 2 (2009), S. 39-61.
    Radchenko, Sergey, “‘Nothing but Humiliation for Russia’: Moscow and NATO’s Eastern Enlargement, 1993-1995,” Journal of Strategic Studies 43, 6-7 (2020), S. 769-815
    Sarotte, Mary Elise, “Perpetuating U.S. Preeminence: The 1990 Deals to Bribe the Soviets Out and Move NATO, International Security 35, 1 (2010), S. 110-37.
    Shifrinson, Joshua R. Itzkowitz, “Deal or No Deal? The End of the Cold War and the U.S. Offer to Limit NATO Expansion”, International Security 40, 4 (2016),S. 7-44.
    Spohr, Kristina, “Precedent-setting or Precluded? The “NATO Enlargement Question” in the Triangular Bonn-Washington-Moscow Diplomacy of 1990–1991,” Journal of Cold War Studies 14, 4 (2012), S. 4-54
    Trachtenberg, Marc, “The United States and the NATO Non-extension Assurances of 1990: New Light on an Old Problem?”, International Security 45, 3 (2020), pp. 162-203
     

    1. Nünlist, Christian, Krieg der Narrative, in: SIRIUS – Zeitschrift für Strategische Analysen, Bd. 2/4 (2018), (abgerufen am 01.02.2022) ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

    Weitere Themen

    NATO-Russland Beziehungen

    Hinterhof-Diplomatie

    Wie groß ist die Kriegsgefahr in Europa?

    Die 1990er

    Auflösung der Sowjetunion

    Gorbimanie – Gorbiphobie: Rezeption Gorbatschows in Russland

  • Postsowjetische Lebenswelten

    Postsowjetische Lebenswelten

    Gesellschaft und Alltag nach dem Kommunismus

    Konzeption und Text: Jan Claas Behrends

    Eine Ausstellung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in Kooperation mit dekoder

    Inhalt

    01 Die Ausstellung – weiterführende Lektüre 
    02 Das Ende der Sowjetunion 
    03 Verlust und Chance 
    04 Armut und Inflation 
    05 Lebenswirklichkeiten 
    06 Landflucht und Arbeitsmigration 
    07 Auswanderung 
    08 Markt und Mafia 
    09 Konflikte und Kriege 
    10 Nationenbildung 
    11 Führerkult und autoritäre Herrschaft 
    12 Geschichte und Politik 
    13 Glaube und Macht 
    14 Ökologische Altlasten 
    15 Zwischen Emanzipation und Patriarchat 
    16 Medien und Öffentlichkeit 
    17 Konsumkultur 
    18 Popkultur 
    19 Digitalisierung 
    20 Der Geist der Freiheit 


    01 Die Ausstellung – weiterführende Lektüre

    Die Ausstellung Postsowjetische Lebenswelten erinnert an das Ende der Sowjetunion im Dezember 1991. Anbei finden Sie weiterführende Texte aus dem dekoder-Archiv zu den einzelnen Ausstellungstafeln. Nähere Informationen sowie didaktische Materialien zur Ausstellung erhalten Sie auf der Website der Bundesstiftung Aufarbeitung.


    02 Das Ende der Sowjetunion

    Russischer Bürgerkrieg. Dieser Krieg veränderte den eurasischen Großraum zwischen Berlin und Wladiwostok, Budapest und Peking, Murmansk und Teheran tiefgreifender als der Erste Weltkrieg. Nikolaus Katzer über den russischen Bürgerkrieg, der seinen Platz in der Erinnerungslandschaft Russlands und Europas bis heute noch nicht gefunden hat. Mehr …

    Großer Vaterländischer Krieg. Als Großen Vaterländischen Krieg bezeichnet man in Russland den Kampf der Sowjetunion gegen Hitlerdeutschland 1941–1945. Der Begriff ist an den Vaterländischen Krieg gegen Napoleon im Jahr 1812 angelehnt. Galt der Sieg über den Faschismus offiziell zunächst als ein sozialistischer Triumph unter vielen, wurde er seit Mitte der 1960er Jahre zu einem zentralen Bezugspunkt der russischen Geschichte. Mehr …

    Perestroika. Im engeren Sinne bezeichnet Perestroika die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Umgestaltung, die auf Initiative von Michail Gorbatschow ab 1987 in der Sowjetunion durchgeführt wurde. Politische Öffnung und größere Medienfreiheit führten bald dazu, dass sich die Forderungen nach Veränderung verselbständigten – obwohl die Reformen neben viel Hoffnung auch viel Enttäuschung brachten. Die Perestroika läutete einen unaufhaltsamen Prozess des Wandels ein und mündete im Ende der Sowjetunion. Mehr …

    Der baltische Weg: Die Menschenkette vom 23. August 1989. Nationale Trikoloren, brennende Kerzen, hunderttausende von Menschen, die sich an den Händen halten, Lieder singen und über das Radio Ansprachen hören. Am 23. August 1989 bilden circa eine Million Menschen eine Kette, die von Tallinn über Riga nach Vilnius reicht. Sie fordern die Unabhängigkeit von der Sowjetunion. Karsten Brüggemann über Bedeutung und Strahlkraft des Baltischen Wegs. Mehr …

    Gorbimanie – Gorbiphobie: Rezeption Gorbatschows in Russland. Michail Gorbatschow gilt in Russland heute oft als „Totengräber der Sowjetunion“: Noch sind die russische Gesellschaft und ebenso die Historikerzunft weit davon entfernt, die historische Rolle Gorbatschows in all ihren Facetten zu beurteilen. Die Gründe, warum er im eigenen Land derartig ungeliebt ist, lassen sich jedoch nennen und drei Bereichen zuordnen: Erstens hängt dies unmittelbar mit Gorbatschows politischem Handeln in seiner Regierungszeit zusammen, zweitens lässt sich die Kritik an ihm auf ein sehr lückenhaftes historisches Gedächtnis der russischen Bevölkerung zurückführen und drittens haben die auf ihn folgenden Regierungen seine Reformen gezielt dämonisiert, um mit dieser Abgrenzung den eigenen politischen Kurs zu legitimieren. Mehr …

    Der letzte Winter der Sowjetunion. Wandel und Zerfall: In seiner Serie The Final Winter zeigt Fotograf Michael Kerstgens Moskau im Winter 1990. Mehr …

    Auflösung der Sowjetunion. Der Zerfallsprozess der Sowjetunion begann Mitte der 1980er Jahre und dauerte mehrere Jahre an. Die Ursachen sind umstritten. Während einige hauptsächlich Gorbatschows Reformen für den Zerfall verantwortlich machen, sehen andere die Gründe vor allem in globalen Dynamiken. Eine zentrale Rolle spielte in jedem Fall die Politik der russischen Teilrepublik. Mehr …


    03 Verlust und Chance

    Wörterbuch der Wilden 1990er. Von A wie Alkohol über L wie Lederjacke bis W wie Währung: Alles, was man über die lichije 90e, die wilden 1990er, wissen muss, in Text und vielen Bildern. Mehr …

    Die Wilden 1990er. Das Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war von tiefgreifenden Umbrüchen gezeichnet, aufgrund derer es in das kollektive Gedächtnis als die wilden 1990er eingegangen ist. Mit dem Begriff werden weniger die neu erlangten Freiheiten, sondern eher negative Erscheinungen wie Armut und Kriminalität assoziiert. Mehr …

    Die 1990er. Die 1990er Jahre waren in Russland ein Jahrzehnt des radikalen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbruchs. Demokratischer Aufbruch einerseits und wirtschaftlicher Niedergang andererseits prägten die Zeit nach dem Zerfall der Sowjetunion. Mehr …

    Wandel und Handel. Auf dem Balkon leben Hühner, Geld fällt vom Himmel, genauso rätselhaft verschwindet es wieder, und eine Familie von Wissenschaftlern wird zu Händlern: Olga Beschlej über ihre russische Kindheit und das Bisnes in den 1990ern. Mehr …

    Einfache Momente – Alltag der Perestroika. Die Ausstellung Prostoi Motif in Moskau zeigt die 1980er und 1990er Jahre, wie Fotograf Gennady Bodrov sie sah. Mehr …


    04 Armut und Inflation

    Perestroika: Wirtschaft im Umbruch. In den 1980ern verschlechterte sich die Lage der sowjetischen Planwirtschaft Jahr für Jahr. Als Gorbatschow die Krise ab 1985 durch punktuelle marktwirtschaftliche Reformen überwinden wollte, kam die sozialistische Ökonomie erst recht ins Straucheln. Mehr …

    Voucher-Privatisierung. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kam es in den 1990er Jahren zur Umwandlung von Staats- in Privateigentum durch sogenannte Voucher-Privatisierungen. Der Bevölkerung wurden dabei von 1992 bis 1994 Coupons ausgegeben, die in Aktien und Anleihen staatlicher Unternehmen reinvestiert werden konnten. Der Privatisierungsprozess in Russland führte im Ergebnis zu einer allgemeinen sozialen Kluft innerhalb der Gesellschaft. Insbesondere durch die Voucher-Privatisierungen sahen sich viele Bürger hintergangen. Deshalb ist der Begriff Voucher im Russischen größtenteils negativ konnotiert. Mehr …

    Datscha. Mit dem anbrechenden Sommer leeren sich die russischen Metropolen – das Stadtvolk verlässt seine Wohnungen und zieht für die nächsten Monate auf die Datscha. Henrike Schmidt über den Ort der geselligen Muße, der viele Epocheneinschnitte überlebt hat. Mehr …


    05 Lebenswirklichkeiten

    Chruschtschowki – die Geburt der „Platte“. Auf dem Kongress der Baufachleute 1954 verordnete Chruschtschow eine radikale Umkehr, weg von neoklassizistischen Prachtbauten hin zu sparsamen Dimensionen, neuen Materialien und Großtafeln, die auf der Baustelle nur noch montiert werden mussten. Das war die Geburtsstunde der Platte. Mit seiner Wohnungsbaukampagne wollte Chruschtschow die Bevölkerung für die „Erneuerung des Sozialismus nach Stalin“ mobilisieren – und setzte eine Massenbewegung in Gang: Zwischen 1955 und 1970 zogen 132 Millionen Sowjetbürger in eine neue Wohnung. Mehr …

    Kommunalka. Eine Kommunalka ist eine Wohnung, die gleichzeitig von mehreren Familien bewohnt wird. Die Wohnform nahm ihren Anfang nach der Revolution von 1917, als große Wohneinheiten wohlhabender Familien auf mehrere Familien aufgeteilt wurden. Anfänglich als Not- und Übergangslösung gedacht, etablierte sich die Kommunalka bald als permanenter lebensweltlicher Ausnahmezustand und soziale Instanz. Seit der Perestroika ist es das große Ziel eines Jeden, diese Wohnform gegen eine Einzelwohnung einzutauschen. Mehr …


    06 Landflucht und Arbeitsmigration

    Kollektivierung der Landwirtschaft. Als die Lebensmittelversorgung in der noch jungen und bürgerkriegsgebeutelten Sowjetunion immer kritischer wird, beschließt Stalin 1929 die Kollektivierung der Landwirtschaft: Die Bauern werden enteignet und ihr Besitz in staatlichen Kolchosen zusammengeschlossen. In der Folge kam es insbesondere ab 1932/33 zu einer der größten europäischen Hungersnöte mit bis zu sechs Millionen Opfern. Mehr …

    Die Kirschhölle. Was geschieht, wenn aus dem Kirschgarten die Gärtner verschwinden? Andrej Urodow hat es sich angeschaut. Mehr …


    07 Auswanderung

    Arbeitsmigration in Russland. Spätestens seit dem wirtschaftlichen Aufschwung der 2000er ist Russland ein attraktives Ziel für Wanderarbeiter aus den ehemaligen Sowjetrepubliken, insbesondere aus Zentralasien. Die Wirtschaftskraft dieser Länder hängt zum Teil erheblich von Rücküberweisungen aus Russland ab. Jüngste Verschärfungen des russischen Migrationsrechts haben Einreise und Arbeitsaufenthalt der Gastarbaitery jedoch erschwert. Mehr …

    Ayka – Moskau kann dein Freund und Feind sein. „Verkauf uns dein Kind“ – eine Arbeitsmigrantin in Russland wurde mit einer solchen Forderungen konfrontiert. Der Regisseur Sergej Dworzewoi kennt sie und erzählt ein ähnliches Schicksal in seinem Film Ayka, der am Donnerstag auch in deutschen Kinos startet. Ein Interview. Mehr …

    Entlaufene Zukunft. Viele junge und gut ausgebildete russische Bürger wollen ihr Potential im Ausland verwirklichen. Ein Versuch, den aktuellen Brain Drain zu verstehen. Mehr …

    Wir sind dann mal weg … Wie viele Russen das Land verlassen, wohin und weshalb sie gehen. Das Onlinemedium Projekt hat verschiedene Zahlen aufbereitet und verglichen. Mehr …

    Wege in die Bundesrepublik. 3 aus rund 2,5 Millionen: Russlanddeutsche Lebenswege im 20. Jahrhundert. Mehr …


    08 Markt und Mafia

    Oligarchen. Als Oligarchen werden Großunternehmer bezeichnet, die starken Einfluss auf die Politik nehmen. In Russland, aber auch in anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion, in denen Wirtschaft und Politik sehr eng verwoben sind, stellen sie ein zentrales Charakteristikum des politischen Systems dar. Mehr …

    Kino #3: Brat. „Worin liegt die Kraft, Bruder?“ – so lautete im Russland der 1990er Jahre die Schlüsselfrage. Christine Gölz über den Kultfilm Brat (Der Bruder), einen neuen Volkshelden und eine gefährliche Antwort, mit der sich die Hauptfigur Danila Bagrow in der neuen Gesellschaft behaupten will. Mehr …

    Korruption in Russland: Soziologische Aspekte. Korruption ist in Russland weit verbreitet – sowohl in Politik und Wirtschaft als auch im Alltagsleben. Korruption, die nicht zuletzt durch niedrige Gehälter befördert wird, kommt in zahlreichen Variationen vor: gegenseitige Gefälligkeiten, Tausch unter der Hand, Abzweigung staatlicher Mittel, Bestechungsgelder und vieles mehr. Da die Korruption systemischen Charakter angenommen hat, ist vorerst nicht damit zu rechnen, dass sie wirksam bekämpft werden kann. Mehr …

    Der heimliche König von Sankt Petersburg. Alexander Konowalow ist Kurator des illegalen Business in Sankt Petersburg. Was das ist und wie man das wird? Meduza sprach mit dem ehemaligen Polizisten, der heute „Probleme löst“. Mehr …


    09 Konflikte und Kriege

    Krieg um Bergkarabach. Die Republik Bergkarabach ist ein nicht-anerkannter Staat (sogenanntes de-facto-Regime) auf dem Territorium, das völkerrechtlich zu Aserbaidshan gehört. Das inzwischen fast ausschließlich von Armeniern bewohnte Gebiet erklärte sich 1991 als unabhängig, der folgende Bergkarabachkrieg zwischen Armenien und Aserbaidshan in den Jahren 1992 bis 1994 kostete ca. 30.000 Menschen das Leben. Der Krieg endete mit einem Waffenstillstand. Seitdem ist der Konflikt eingefroren, flammt jedoch immer wieder auf. Mehr …

    Tschetschenien. Von der Kolonialisierung Tschetscheniens durch Russland bis hin zum Kadyrow-Regime: Marit Cremer über die islamisch geprägte Republik im Nordkaukasus. Mehr …

    Georgienkrieg 2008. Der Georgienkrieg war ein bewaffneter militärischer Konflikt im August 2008. Georgien versuchte, die Kontrolle über das abtrünnige Südossetien zurückzugewinnen, doch das russische Militär griff ein und drang weit auf georgisches Territorium vor. Russland erkannte noch im August 2008 die Unabhängigkeit von Südossetien und Abchasien an. Die Beziehungen zwischen Georgien und Russland haben sich in den letzten Jahren wieder deutlich verbessert, was allerdings nicht zu einer Lösung der Konflikte beigetragen hat. Mehr …

    Im Schwebezustand – Südossetien. Seit dem Krieg 2008 ist es still geworden um die von Georgien abtrünnige Kaukasusregion. Selbstständigkeit oder Angliederung an Russland? Irina Gordijenko hat sich den Alltag in einem vergessenen Gebiet angesehen. Mehr …

    Krim-Annexion. Als Krim-Annexion wird die einseitige Eingliederung der sich über die gleichnamige Halbinsel erstreckenden ukrainischen Gebietskörperschaft der Autonomen Republik Krim in die Russische Föderation bezeichnet. Seit der im Frühjahr 2014 erfolgten Annexion der Krim ist die Halbinsel de facto Teil Russlands, de jure jedoch ukrainisches Staatsgebiet und somit Gegenstand eines ungelösten Konfliktes zwischen der Ukraine und Russland. Mehr …

    Krieg im Osten der Ukraine. Der Krieg im Osten der Ukraine ist eine militärische Auseinandersetzung zwischen der Ukraine und den selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk. Die Ukraine wirft dem Nachbarland Russland vor, die Rebellen mit Personal und Waffen zu unterstützen, was Russland bestreitet. Der Krieg kostete bereits rund 13.000 Menschen das Leben. Eine anhaltende Waffenruhe konnte trotz internationaler Vermittlungsbemühungen bisher nicht erreicht werden. Mehr …

    Die Geiselnahme von Beslan. Die Geiselnahme im nordossetischen Beslan ist der wohl grausamste Terroranschlag, der im Zuge des Tschetschenienkonfliktes verübt wurde. Die Ereignisse in der Schule Nr. 1 hielten die russische Bevölkerung die ersten drei Septembertage 2004 in Atem. Sie stehen für die Entgrenzung terroristischer Taktiken sowie für die Brutalität dieses Krieges. Viele Fragen sind bis heute umgeben von Unwissenheit und Schweigen. Mehr …

    Totenwasser. Das Geiseldrama von Beslan – im September 2004 starben dabei mehr als 300 Menschen, ein Großteil Kinder. Der renommierte Journalist Andrej Kolesnikow war damals als Augenzeuge vor Ort und schrieb eine bewegende Reportage. Mehr …

    Was ist eigentlich im Nordkaukasus los? Oft wird er als Russlands Unruheregion, als „inneres Ausland“ bezeichnet: der Nordkaukasus. Soziologe Denis Sokolow macht im Interview aber viele Gemeinsamkeiten mit anderen russischen Regionen aus. Unterschiede gebe es vor allem innerhalb der Region selbst, die von Dagestan über Tschetschenien bis Karatschai-Tscherkessien reicht. Mehr …


    10 Nationenbildung

    Infografik: Nationalstolz und Identität. Mehr …

    Die Hymne der Russischen Föderation. Während die russischen Fans einstimmig „Russland, unser geheiligter Staat“ anstimmen, werden die Zuhörer unbewusst Zeugen einer musikalischen Zeitreise. Boris Belge über die Hymne der Russischen Föderation, Nationalstolz und das schwierige Verhältnis zur eigenen sowjetischen Vergangenheit. Mehr …

    Der Mythos vom Zerfall. Vor 25 Jahren, im März 1991, erklärten sich die ersten Staaten für unabhängig von der Sowjetunion. Kirill Rogow analysiert auf RBC, inwiefern mit dem „Mythos vom Zerfall“ in Russland bis heute Politik gemacht wird. (Archiv-Text) Mehr …

    Surkow: „Der langwährende Staat Putins“. „Kreml-Chefideologe“ Wladislaw Surkow sorgt derzeit mit einem Text für Aufsehen, in dem er den Putinismus als globalen politischen Lifehack bezeichnet. Was er damit meint, hat er bereits in seinem programmatischen Artikel vom Februar gesagt: dekoder stellt einzelne Textabschnitte daraus in einen größeren Kontext und bringt Ausschnitte aus der Debatte russischer Liberaler. Mehr …

    „Russland hat gute Chancen, irgendwann glücklich zu werden“. Treffen sich zwei intellektuelle Schwergewichte und treten in den Ring, Boris Akunin und Dimitri Bykow: Wie das denn nun sei mit Russland und der Sowjetunion und ob man das vergleichen könne. Wie aus einem Interview fast ein Streitgespräch wird, in dem für Sowjetnostalgie nicht viel Platz bleibt … Mehr …

    „Wir müssen das Triumphale aus der Geschichte tilgen“. Was steht Russland derzeit im Weg, über welche Potentiale verfügt es? Auf VTimes erklärt Sergej Medwedew, warum er davon überzeugt ist, dass der Aufbau eines normalen und modernen Nationalstaates zum Greifen nahe ist. Und das Rezept dafür, so der Politologe, ist denkbar einfach. Mehr …

    Putins Kampf gegen das „Anti-Russland“. Russen, Ukrainer und Belarussen beschreibt Putin in einem aktuellen Aufsatz als Teile einer „großen russischen Nation, eines dreieinigen Volkes“. Konstantin Eggert fragt nach dem Weltbild des Präsidenten. Und dessen Folgen. Mehr …

    Mensch ohne Heimat. Was es heißt, in Transnistrien geboren und aufgewachsen zu sein. Eine Fotoreportage von Michail Kalaraschan. Mehr …


    11 Führerkult und autoritäre Herrschaft

    Sowjetnostalgie und Stalinkult. Sowjetnostalgie auf Zehnjahreshoch: Die Zahl der Russen, die den Verlust der Sowjetunion bedauern, liegt derzeit bei 66 Prozent. Das zeigen aktuelle Umfragen des Lewada-Zentrums. Monica Rüthers über die Sehnsucht nach Heldentaten in Schnee und Eis, Gagarin, Ballett, Kameradschaft, und, mitunter, auch nach Stalin. Mehr …

    Alexander Lukaschenko. Im Vorfeld und während der Präsidentschaftswahl im August 2020 hat das Ansehen von Alexander Lukaschenko in breiten Teilen der Gesellschaft deutlich abgenommen. Felix Ackermann macht sechs Faktoren aus, die im Wesentlichen dazu beigetragen haben. Mehr …

    Debattenschau № 72: Rücktritt Nasarbajews – Blaupause für Putin? Überraschend ist der kasachische Präsident Nursultan Nasarbajew zurückgetreten. In russischen Medien wird nun diskutiert, inwiefern sich dieses Modell des Machttransfers auch für Putin eignen könnte. dekoder bringt Ausschnitte aus der Debatte. Mehr …


    12 Geschichte und Politik

    „Der sowjetische Geruch ist noch nicht verschwunden“. Im Interview mit Meduza erzählt Dau-Regisseur Ilja Chrshanowski über sein Ausstellungsprojekt zu Babyn Jar, wo am 29. und 30. September 1941 knapp 33.000 Jüdinnen und Juden von den Nationalsozialisten ermordet wurden. Er reflektiert über das Museum als Ort emotionaler Erfahrung – und Kunst als Mittel, um die Traumata einer totalitären Vergangenheit zu überwinden. Mehr …

    Der Große Vaterländische Krieg in der Erinnerungskultur. Die verlustreiche Erfahrung des Krieges hatte tiefe Spuren im Gedächtnis der sowjetischen Kriegsgeneration hinterlassen. Ekaterina Makhotina über den Großen Vaterländischen Krieg in der russischen Erinnerungskultur – und über heutige vielschichtige Tendenzen zwischen Siegesstolz und Trauer. Mehr …

    „Krieg bedeutet vor allem Opfer“. Am 22. Juni 1941 überfiel NS-Deutschland die Sowjetunion. Der Historiker Alexander Etkind spricht im Interview über die Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg, den sowjetischen Sieg und über die Doppelrolle Stalins. Mehr …

    Der Hitler-Stalin-Pakt. Am 18. Dezember 1940 diktierte Hitler in der Weisung Nr. 21 den Überfall auf die Sowjetunion. Damit war das Ende des Hitler-Stalin-Paktes besiegelt, den die Außenminister von Ribbentrop und Molotow im Sommer 1939 unterzeichnet hatten. Mehr …

    Pakt mit dem Teufel. In einer geschichtspolitischen Offensive verteidigt der Kreml den vor 80 Jahren unterzeichneten Hitler-Stalin-Pakt. Außenexperte Wladimir Frolow fragt nach den Gründen und Adressaten. Mehr …

    Tag des Sieges. Der Tag des Sieges wird in den meisten Nachfolgestaaten der UdSSR sowie in Israel am 9. Mai gefeiert. Er erinnert an den Sieg der Sowjetunion über das nationalsozialistische Deutschland und ist in Russland inzwischen der wichtigste Nationalfeiertag. Der 9. Mai ist nicht nur staatlicher Gedenktag, sondern wird traditionell auch als Volks- und Familienfest begangen. Mehr …

    Hungersnot in der Sowjetunion 1932/33. „Ist es ein Wunder, dass meine Haare begannen zu ergrauen, als ich vierzehn Jahre alt war?“, erinnert sich ein Ukrainer an die Hungersnot 1932–33. Robert Kindler über die dramatische Hungerkatastrophe, der über sieben Millionen Menschen in der Sowjetunion zum Opfer fielen. Mehr …

    Der Große Terror. Am 30. Juli 1937 unterzeichnete NKWD-Chef Nikolaj Jeschow den Befehl № 00447. Damit verschärfte sich der politische Terror in der Sowjetunion. Praktisch jeder Sowjetbürger konnte nun zum sogenannten „Volksfeind“ erklärt werden. Die Welle von Massenverhaftungen ließ das Jahr 1937 zur Chiffre des Terrors werden. Mehr …

    Die Fragen der Enkel. Stepan Karagodin war eins von Hunderttausenden Todesopfern des Stalin-Terrors. Sein Urenkel Denis fordert nun strafrechtliche Konsequenzen. Ein Tabubruch, kommentiert Iwan Kurilla auf slon.ru, und ein Hoffnungszeichen. Mehr …

    Die Täter-Debatte. Ein Enkel will genau wissen: Wer hat im Großen Terror unter Stalin 1938 meinen Urgroßvater erschossen? Nun ist eine erregte, öffentliche Debatte entbrannt, als Denis Karagodin nach langer Suche dem Töten konkrete Namen gab – und der Gewalt ein Gesicht. Sergej Medwedew fragt sich auf Republic: Was ist daran so brisant? Mehr …

    Die Geister der Vergangenheit. Juri Dmitrijew hatte über Jahrzehnte die Zeit des Großen Terrors rekonstruiert, den Toten anonymer Massengräber Namen und ein würdiges Begräbnis gegeben. Nun wurde das im Juli gefällte Urteil gegen ihn auf 13 Jahre Lagerhaft verschärft. Schura Burtin ist Dmitrijew in die dunkle Vergangenheit Russlands gefolgt und hat sich ein Bild ob der heftigen Anschuldigungen gemacht. Ein dekoder-Longread. Mehr …

    Erinnerungs-Entzündung. Wieso erfährt Stalin so viel Zuspruch wie lange nicht in Russland? Was prägt den Umgang mit der Sowjetzeit? Nikolay Epplée taucht für das Magazin InLiberty in aufbrechende Fugen der Erinnerung – und skizziert eine russische Gesellschaft in heller Aufruhr. Mehr …

    „Der Geschichte sind die Augen verbunden“. Mehr als 7000 Erschossene des Großen Terrors 1937/38 liegen in Sandarmoch verborgen. In dem einst namenlosen Waldgebiet in Karelien treffen sich alljährlich am 5. August Menschen, um den Opfern des Stalin-Regimes zu gedenken. Auf Takie Dela kommen sie zu Wort. Mehr …

    Stalin: eine aufgezwungene Liebe. „Wieso ist Stalin so beliebt?“, wurde Politologin Ekaterina Schulmann in Berlin gefragt. „Ist er das überhaupt?”, stellt sie auf Inliberty die Gegenfrage – und beleuchtet den Zusammenhang zwischen Stalinkult und Propaganda. Mehr …

    Wieso ist Stalin heute so populär? „Die Ent-Stalinisierung“, so schreibt Meduza, „kümmert in Russland heute kaum einen: die Gesellschaft verhält sich zu Stalin entweder gleichgültig oder gar wohlwollend.“ Ist das so? Und wenn ja warum? Verschiedene Wissenschaftler geben Antworten. Mehr …


    13 Glaube und Macht

    Russisch-Orthodoxe Kirche. Die Russisch-Orthodoxe Kirche ist die christliche Kirche mit der größten Glaubensgemeinschaft in Russland. Prägend für ihr Verhältnis zum russischen Staat ist das von der byzantinischen Mutterkirche übernommene Ideal der Symphonie, das heißt einer harmonischen Beziehung zwischen Staat und Kirche. Vor 1917 galt die Orthodoxie neben der Autokratie und dem „Volk“, genauer: einem volksverbundenen Patriotismus, als eine der wichtigsten Stützen des russischen Staates und des Zarenreichs – eine Traditionslinie, die heute wieder wirksam scheint. Mehr …

    Verfolgung der Russisch-Orthodoxen Kirche in den 1920er und 1930er Jahren. Die Russisch-Orthodoxe Kirche war von der Revolution 1917 bis zur Perestroika in den 1980er Jahren Repressionen ausgesetzt. Ihren Höhepunkt erreichte die Kirchenverfolgung jedoch in den 1920er und 1930er Jahren: Kirchengüter wurden beschlagnahmt, Geistliche wurden verhaftet und zu Tausenden getötet. Erst mit dem Zweiten Weltkrieg änderte sich die sowjetische Kirchenpolitik. Mehr …

    Putin, Patriarch, Premier – bitte nicht berühren. Eine offizielle Zensur gibt es in Russland nicht. Über Faustregeln, die den Alltag russischer Journalisten prägen, und dunkle Perspektiven für die schreibende Zunft: Oleg Kaschin auf Republic. Mehr …

    Bystro #5: Schisma in der orthodoxen Kirche? Ein schneller Überblick über den Wunsch der ukrainisch-orthodoxen Kirche, von Moskau unabhängig zu werden, und über die potentiellen Folgen – in fünf Fragen und Antworten. Einfach durchklicken. Mehr …


    14 Ökologische Altlasten

    Vom Ökostrom-Vorreiter zum Erdöl-Junkie. Elektroautos, Windkraft und Solaranlagen made in USSR: Warum die Sowjetunion lange Zeit Vorreiter in der Entwicklung erneuerbarer Energie war – und wie schließlich das Öl alles kaputt machte. Zum globalen Friday for Future ein Rückblick von Konstantin Ranks. Mehr …

    Tschernobyl in Belarus. Die nationale Katastrophe im Hintergrund: Als am 26. April 1986 der Reaktor in Tschernobyl explodiert, gehen etwa 70 Prozent des radioaktiven Fallouts auf dem Territorium der heutigen Republik Belarus nieder. Inwiefern die „Havarie“ die Entwicklung des Landes wesentlich beeinflusste und welche Auswirkungen sie bis heute auf das Leben seiner Bewohner hat, das beschreiben Aliaksandr Dalhouski und Astrid Sahm. Mehr …

    Presseschau № 28: Tschernobyl. Wurde Tschernobyl vom Westen instrumentalisiert? Versagt die Ukraine bei der Bewältigung der Folgen? Und welche Rolle spielt Russland? Eine Debattenschau mit übersetzten Originalzitaten. Mehr …

    Umweltpolitik. Der Machtantritt Putins leitete das Ende von Umweltbewegungen in Russland ein. Dabei galten diese nicht nur in den 1990er Jahren, sondern auch während der Perestroika als die effektivsten sozialen Protestbewegungen im Land. Heute wächst das Umweltbewusstsein spürbar, auch in der Politik gilt der Klimawandel neuerdings als Bedrohung. Mehr …

    Russlands Arktispolitik. Russland erhebt den geopolitischen Anspruch auf rund 40 Prozent der gesamten Arktis. Dabei geht es dem Kreml vor allem um Rohstoffe, die dort vermutet werden. Umweltschutz spielt in der russischen Arktispolitik allerdings kaum eine Rolle. Mehr …

    Moos und Öl. Fotograf Igor Tereschkow war auf den Erdölfeldern im Autonomen Kreis der Chanten und Mansen unterwegs. Ganz plastisch erzählen seine Fotos auch von Zerstörung: „Das Öl wirkt auf die Filmschicht wie auf die Umwelt – es dringt ein, brennt sich ein und zerlegt sie.“ Mehr …

    Graues Land Kusbass. Russische Steinkohle für Deutschland: Rund zwei Prozent der gesamten deutschen Stromproduktion werden mit Steinkohle aus dem Kusbass erzeugt. Auch die deutsche Stahlindustrie verfeuert jährlich Millionen Tonnen russischer Kohle. Für die deutschen Verbraucher ist das billig, für die Menschen in Kusbass aber ein gravierendes Problem. Mehr …


    15 Zwischen Emanzipation und Patriarchat

    Der Wandel ist weiblich. Der belarussische Ökonom Sergej Tschaly gehört dem Koordinationsrat von Swetlana Tichanowskaja an. Im Interview erklärt er, wie er diese besonderen Tage in seiner Heimat erlebt und einordnet. Mehr …

    Star Wars und die Frauenfrage. Ausgerechnet in der Frauenfrage sind sich in Russland Konservative und Liberale oft einig. Wie kommt das? Das fragt sich Anna Narinskaja in der Novaya Gazeta. Mehr …

    Die Silikonfrau. Frausein heute im Pionierland der Gleichstellung: Der Sexismus boomt und selbst Frauen haben Furcht vorm Feminismus. Mehr …

    Frauen und die Revolution. Es waren Frauen, die mit ihrer Demonstration am 8. März die Ereignisse in Gang setzten, die vor 100 Jahren den Zaren stürzen und den radikalen Politikwechsel ermöglichen sollten. Zu der Zeit kämpften Frauen in Russland immer mehr um ihre Rechte – und gestalteten die revolutionären Umbrüche aktiv mit. Carmen Scheide über die historische Frauenbewegung, ihre Vorstellungen von einer sozialistischen Zukunft und den Verlust revolutionärer Utopien. Mehr …

    Frauen im Großen Vaterländischen Krieg. Emanzipationsbegehren, Heldentum und die Lust, mit den Männern gleichzuziehen, standen am Anfang. Übrig blieben unendliche Müdigkeit und vielleicht noch Erleichterung darüber, wenigstens am Leben geblieben zu sein. Beate Fieseler über Frauen im Großen Vaterländischen Krieg. Mehr …


    16 Medien und Öffentlichkeit

    Bystro #1: Medien in Russland. Ein schneller Überblick über die russische Medienlandschaft – in sechs Fragen und Antworten. Einfach durchklicken. Mehr …

    Verkehrsregeln für russische Medien. Die neue Chefredaktion des einstigen Investigativmediums RBC weist ihr Team auf „Verkehrsregeln“ und „durchgezogene Linien“ in der Berichterstattung hin. Die Debatte darüber kommentiert Oleg Kaschin auf slon.ru. Mehr …

    Russische Parallelwelten. Das Russland, das im Fernsehen gezeigt wird, existiert nicht, meint der Wirtschaftsprofessor und Journalist Dimitri Trawin. Viele Russen, sagt er, wollen das jedoch bislang nicht wahrhaben. Mehr …

    Bystro #10: Wie frei ist das Internet in Russland? Am 18. März 2019 hat Präsident Putin zwei neue Mediengesetze unterzeichnet. Tausende protestierten Anfang März außerdem gegen ein Gesetz zum „souveränen Internet”. Anna Litvinienko über Medienzensur- und kontrolle im Runet. Sieben Fragen und Antworten – einfach durchklicken. Mehr …


    17 Konsumkultur

    Der Rubel bleibt unter der Matratze. Konsum im Sparmodus: Laut einer aktuellen Umfrage stellen sich die Bürger auf ein Andauern der Wirtschaftskrise ein. Erspartes wird kaum mehr in Sachwerte verwandelt. Mehr …


    18 Popkultur

    Alla Pugatschowa. „Wer war Breshnew? Ein unwichtiger Politiker der Epoche von Alla Pugatschowa.“ So lautet ein immer noch in Russland kursierender Witz. Ingo Grabowsky über „the Goddess of Russian Pop“, die mit ABBA und Udo Lindenberg gesungen hat. Mehr …

    Russische Rockmusik. Das „Yeah, yeah, yeah“ ertönte als Ruf einer Generation, der auch auf der östlichen Seite des Eisernen Vorhangs zu hören war. Als Gegenentwurf zur offiziellen sowjetischen Musikkultur eröffnete die russische Rockmusik eine emotionale Gegenwelt, die systemverändernd wirkte und den Soundtrack einer neuen Zeit bildete. Mehr …

    Musik der Perestroika. Rock war in der Sowjetunion verfemt. Olga Caspers erzählt, wie die „ideologisch untragbare“ Musik den Lebensstil der Gegenkultur in die Massenkultur transportierte – und damit zu einem Motor der Perestroika wurde. Mehr …

    Russland und der ESC. Russland nimmt seit 1994 teil am ESC (wie der Grand Prix Eurovision de la Chanson seit 2002 heißt). Trotz großer Popularität des Wettbewerbs beim russischen Publikum, gibt es von offizieller Seite immer wieder Vorschläge, Russlands Teilnahme beim ESC einzustellen und stattdessen ein Gegenmodell aufzubauen nach Vorbild des sowjetischen Interwidenije (1977–1980 in Polen durchgeführt). 2017 trat Russland wegen des Einreiseverbots in Kiew für die Sängerin Julia Samoilowa nicht beim ESC auf. 2018 trat Samoilowa in Lissabon an, ist jedoch im Halbfinale ausgeschieden. In der ESC-Geschichte hat Russland ein Mal gewonnen (2008), vier Mal den zweiten und drei Mal den dritten Platz gemacht.  Mehr …

    Gopniki. Russenhocke, Trainingshose und ein aggressiv-tumber Gesichtsausdruck: Als Bürgerschreck verpönt, gilt der Gopnik grundsätzlich als kleinkriminell. dekoder-Politikredakteur Anton Himmelspach überholt dieses Klischee. Mehr …


    19 Digitalisierung

    Vkontakte. Facebook-Klon, Facebook-Alternative oder sogar digitaler „Auswanderungsort“: VKontakte (VK) ist das meistgenutzte soziale Netzwerk im postsowjetischen Raum. In der Praxis wirft VK immer wieder Fragen zum Daten- und Minderheitenschutz sowie zur staatlichen Kontrolle der Netzkommunikation auf. Sein Gründer Pawel Durow kam in Russland unter Druck und hat das Land inzwischen verlassen. Mehr …

    „Das mit den Trollen war Prigoshins Idee“. Ein Gespräch mit einem ehemaligen „Mitarbeiter“ des einflussreichen Putin-Vertrauten Prigoshin, über von ihm inszenierte Fake-News, eine Trollfabrik – und Prigoshins „Bewilligt“-Stempel. Mehr …

    Hacker im Dienst des Vaterlandes. Im Fall des Hacker-Angriffs auf den Bundestag 2015 hat die Bundesanwaltschaft einen Haftbefehl gegen einen mutmaßlichen Täter erwirkt, der womöglich im Auftrag des russischen Militärgeheimdienstes GRU handelte. Wie russische Hacker in den Staatsdienst gelangen – dazu hat sich Daniil Turowski 2018 für Meduza bei Informanten aus der Szene umgehört. Mehr …

    Petersburger Tolle im US-Wahlkampf. Trollfabrik in St. Petersburg – welche Rolle spielte sie für den Sieg von Donald Trump? Die investigative Recherche von RBC zeigt auf, wie in der Petersburger Uliza Sawuschkina versucht wurde, den US-Wahlkampf zu beeinflussen. Mehr …


    20 Der Geist der Freiheit

    Farbrevolutionen. Als Farbrevolutionen bezeichnet man eine Reihe friedlicher Regimewechsel in post-sozialistischen Ländern. Diese wurden unter anderem durch gesellschaftliche Großdemonstrationen gegen Wahlfälschungen ausgelöst. Aufgrund der Farben beziehungsweise Blumen, mit denen die Bewegungen assoziiert werden, ist der Sammelbegriff Farbrevolutionen entstanden. Stellt der Begriff für die politische Elite in Russland eine Bedrohung ihrer Macht dar, verbinden oppositionelle Kräfte damit die Chance auf einen Regierungswechsel. Mehr …

    Vom Maidan bis zur Angliederung – eine Chronik. Zwischen der ersten Demo auf dem Maidan und dem sogenannten Krim-Referendum lagen nur 115 Tage. Da sich die Ereignisse überschlugen, kann man aus diesen recht unterschiedliche, ja polare Narrative konstruieren. Steffen Halling und Eduard Klein gehen den Geschehnissen noch einmal. Mehr …

    Protestbewegung 2011–2013. Nachdem Putin im September 2011 angekündigt hatte, wieder Präsident werden zu wollen, und im Dezember zahllose Wahlbeobachter über massive Wahlfälschungen berichteten, bildete sich in Russland die größte Protestbewegung seit dem Ende der Sowjetunion. Sie bewies erstaunliches Durchhaltevermögen, versiegte jedoch im Jahr 2013 aufgrund von inneren Streitigkeiten und der repressiven Reaktion des Staates. Mehr …

    Am Ende eines Sommers. Belarus: ein Jahr des Aufruhrs, des Aufbruchs, der Eskalation. Mehr …

  • Putin – Geisel der 1990er Jahre?

    Putin – Geisel der 1990er Jahre?

    Winston Churchill wird ein Satz zugeschrieben, den im heutigen Russland wieder viele zitieren: Stalin, so der damalige britische Premierminister, habe das Land mit dem Pflug übernommen und mit der Atombombe hinterlassen. Als Wladimir Putin vor 20 Jahren an die Macht kam, war er ein weitgehend unbeschriebenes Blatt: Kaum jemand in Russland wusste etwas über den neuen Mann im Kreml. Vielerorts herrschte aber gleichzeitig Optimismus: Nach den katastrophalen 1990er Jahren, so der Tenor, könne es nur besser werden. 

    Obwohl der Präsident nach zwei Jahrzehnten weit davon entfernt scheint, von der Macht abzulassen, ziehen nun viele in Russland eine Bilanz seiner Politik. Was hat Putin von seinem Vorgänger Boris Jelzin übernommen? Und wie steht es um das heutige Russland?

    In einem Parforceritt durch die neueste Geschichte Russlands geht auch der Journalist Juri Saprykin diesen Fragen für Vedomosti nach. 

    Die dramatischen Ereignisse im Russland der späten 1990er Jahre – der Krieg zwischen Oligarchen und Regierung, der krisengebeutelte August 1998, das Wechselspiel um die Ministerpräsidenten, der Beginn des Zweiten Tschetschenienkriegs, Jelzins Rücktritt und die Wahl seines Nachfolgers – waren eingerahmt von der Veröffentlichung zweier Filme von Alexej Balabanow um ein und denselben Protagonisten. Der Zweiteiler Brat [dt. Der Bruder] hat, wie es heute scheint, den Nerv der gesellschaftlichen Erwartungen wie nichts anderes getroffen, er formulierte die Forderung an die zukünftige Regierung und sagte in vielem die Logik ihrer Entwicklung voraus. 

    „In der Wahrheit liegt die Kraft“

    Die nationale Idee, an deren Entwicklung in Jelzins Auftrag ganze Intellektuellenstäbe geschuftet hatten, wurde von Danil Bagrow in ein paar wenigen lakonischen Sätzen auf den Punkt gebracht. Brat-1 formulierte die Forderung nach einer Wiederherstellung der Gerechtigkeit in ihren grundlegendsten Formen: Die Schwachen müssen geschützt und die enthemmten Starken in die Schranken gewiesen werden. Brat-2 fing das Gefühl der nationalen Demütigung ein, die aus der Niederlage im Kalten Krieg und dem Auseinanderbrechen der gewohnten Lebensordnung folgte. Die mittlerweile abgegriffene Phrase „in der Wahrheit liegt die Kraft“ las sich 1999 nicht als Verweis auf eine geheimnisvolle russische Seele, sondern als Appell an einfache ethische Grundregeln, als Hoffnung auf ein Leben, in dem nicht alles von Geld oder roher Gewalt bestimmt wird, in dem es ein Oben und ein Unten gibt, Schwarz und Weiß. Die rasant wachsende Zustimmung für Putin Ende 1999 war die Hoffnung auf einen Leader, der zwischen Gut und Böse unterscheiden und das Böse abwehren kann. Wer die Wahrheit hat, hat die Kraft.

    Notwendiger Preis für die Erlösung aus dem Notstand 

    Das Publikum, dem Charme von Sergej Bodrow jr. gänzlich erlegen, verzeiht seinem Helden die unlauteren Methoden. Genau so verschloss die Gesellschaft Anfang der 2000er Jahre die Augen vor der Tatsache, dass die Wiederherstellung der Spielregeln in Wirtschaft und Medien mit einer gewaltsamen Einverleibung des Privateigentums einherging und die Spezialeinsätze gegen Terroristen mit exorbitanten zivilen Opferzahlen. Das wahllose Geballer im Film und die ausufernden Gewaltmethoden in der russischen Politik lassen sich auf die außergewöhnlichen Umstände schieben: Die Menschen sahen darin den notwendigen Preis für die erhoffte Erlösung aus dem Notstand und die Wiederherstellung der Normalität. 

    Der Staat unter Putins erster Amtszeit zwang niemandem seine Ideologie auf, mischte sich nicht ins Privatleben ein; er schuf die Bedingungen für Wirtschaftswachstum und neue Konsummöglichkeiten, und selbst die Serie von Katastrophen und Tragödien Anfang der 2000er Jahre (Kursk, Nord-Ost, Beslan) vermochte nicht das Vertrauen zu erschüttern, dass das Leben sich in die richtige Richtung bewegt. Wir fliegen nach Hause.

    Putin als Geisel der Weltsicht

    Allmählich entwickelte die Regierung ihren eigenen Stil, ihre eigenen Manieren – und dieser Verhaltenskodex war dem von Danila Bagrow verdächtig ähnlich. Was im Film als groteskes Detail daherkommt, ein Produkt der Ironie des Regisseurs, ließ sich am einfachsten umsetzen: der Antiamerikanismus, der Gossenslang, die Sowjetnostalgie, die vetternwirtschaftliche Solidarität – das alles ging in die Alltagspraxis der Staatsmacht über, während die Wiederherstellung der Gerechtigkeit und die endgültige Rückkehr zum normalen Leben in noch weitere Ferne rückten. Das politische Regime, das sich unter Putin formierte und seine Legitimität weitgehend aus dem Versprechen zog, es werde „keine Rückkehr in die wilden 1990er“ geben, wurde de facto zur Geisel der Weltsicht und der Methoden jener 90er Jahre, wo Wohlstand von der Nähe zum Thron abhing, Gesetze per Handsteuerung umgesetzt wurden und die Kraft letzten Endes immer in Geld bemessen wurde. 

    Der gegen Banditen kämpfende Danila schafft es nicht, sich im friedlichen Leben zurechtzufinden – und genauso beginnt auch die neue Staatsmacht, nachdem sie die Krisenzeiten der 2000er Jahre überlebt hat, die Krisen selbst zu generieren. Die Yukos-Affäre, Einschüchterungsaktionen durch kremltreue Halbstarke, der Druck auf die Presse, die Ermordung Anna Politkowskajas – das war sicher nicht das, was die Gesellschaft im Sinn hatte, als sie sich einen starken und gerechten Leader erhoffte, aber die Staatsmacht hatte bereits begonnen, nach ihrer eigenen Logik zu leben, in der sie die zunehmenden Spannungen mit sportlichen Siegeszügen und einer aggressiven außenpolitischen Rhetorik ausbügelt.

    Für die am Westen orientierte Schicht wurde der Staat ein Dienstleister

    Das Bedürfnis nach Stabilität in ihrer zutiefst kleinbürgerlichen Variante – der Regeneration des täglichen Lebens – wurde in den 2000er Jahren von unten erfüllt, durch einen Konsum-, Tourismus- und Gastronomieboom. Die Großstadtbevölkerung gewöhnte sich an den Gedanken, dass „man gut leben muss“, und begegnete auch der Regierung mit derselben Konsumentenhaltung: Für die am westlichsten orientierte Schicht wurde der Staat nur einer von vielen Dienstleistern, und er sollte effektiv arbeiten, zusätzliche Annehmlichkeiten schaffen und für die öffentliche Kontrolle transparent sein. 

    Die Modernisierungsrhetorik der Medwedew-Epoche stützte diese Erwartungen, während sie ihre Erfüllung weiter auf eine undefinierte Zukunft verschob. In der Praxis sahen sich die Bürger zunehmend mit korrumpierten Beamten, polizeilicher Willkür und Gerichten konfrontiert, die manuell gesteuert werden. Die per Handsteuerung entschiedene Machtfrage signalisiert deutlich, dass dieses Lebenskonstrukt unverändert bleiben und die in die Zukunft verschobene „Normalisierung“ endgültig von der Tagesordnung gestrichen wird. Über der unter Putin aufgewachsenen Mittelschicht liegt eine Wolke der Hoffnungslosigkeit, im russischen Facebook diskutiert man die Möglichkeiten der äußeren oder inneren Emigration. Der Anfall der kollektiven Depression entlud sich in den aufflammenden Protesten im Winter 2011/12, woraufhin Stabilität und Gerechtigkeit endgültig zu rhetorischen Figuren verkamen, die nur dazu da sind, beim Direkten Draht des Präsidenten mantraartig wiederholt zu werden.

    In den Protesten 2011/12 entlud sich eine kollektive Depression 

    Seit 2012 versucht der Staat nicht mehr, eine in der Luft umherflirrende nationale Idee einzufangen oder einer unausgesprochenen gesellschaftlichen Forderung nachzukommen. Er formuliert erstmals in seiner postsowjetischen Geschichte eine eigene offizielle Quasi-Ideologie, die das Fundament der nationalen Identität bilden soll. Russland sei ein besonderes Land. Seine Basis sei eine starke Führung, der Patriotismus, die Ehrfurcht vor der Religion und traditionellen Familienwerten. Es ist (und war schon immer) umzingelt von Feinden, die ihm seine Naturreichtümer und moralische Erhabenheit neiden. Außerdem habe Russland den Faschismus besiegt und würde das im Notfall wiederholen. Diese Ideologie wird durch eine Reihe von Propagandakampagnen untermauert, die die Gesellschaft gegen eine herbeikonstruierte äußere Gefahr mobilisieren, etwa Aktionskünstler und -künstlerinnen, die den orthodoxen Glauben verhöhnen, homosexuelle Propaganda, die an den Grundfesten der intakten Familie rüttelt, oder Ausländer, die russische Kinder außer Landes bringen

    Dieser Mobilisierungsimpuls kulminiert in einem neuen „Krieg gegen den Faschismus“, der 2014 auf den Fernsehbildschirmen entfacht wurde, wobei seine wichtigste territoriale Eroberung und die begleitende nationale Euphorie nicht das Ergebnis waren, sondern der Geschichte vorausgingen.

    Über den höheren Sinn der Notwendigkeit, mit Schlagstöcken auf Jugendliche einzudreschen

    Die neue Ideologie ist nicht nur eine Quasi-, sie ist eine Soft-Ideologie: Sie erfordert weder aufrichtigen Glauben noch Enthusiasmus, es genügen ritualartige Loyalitätsbekundungen. Auch ihr Anwendungsradius ist begrenzt: Sie kann einem Omon-Mitarbeiter erklären, worin der höhere Sinn der Notwendigkeit besteht, mit einem Schlagstock auf einen Jugendlichen einzudreschen, sie kann als Kompensationsmechanismus für die Bewohner von Mono-Siedlungen fungieren, die ohne jede Perspektive ihr Dasein fristen – und sich vor der Hoffnungslosigkeit in das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem großartigen Land retten. Aber diese Version der nationalen Identität beantwortet in keiner Weise das Bedürfnis, aus dem die heutige Staatsmacht einst geboren wurde – das Bedürfnis nach Gerechtigkeit, dem Einhalten ethischer Normen, nach verständlichen und allgemeingültigen Spielregeln. 

    Die nationale Idee findet sich heute in populären YouTube-Serien

    Die Konfrontation zwischen gesellschaftlichen Kräften einerseits – die von der Staatsmacht fordern, sie solle sich ändern (oder veränderbar werden) – und der Staatsmacht andererseits – die weder das eine noch das andere zu tun gedenkt – könnte sich noch lange hinziehen und selbst zu einer nationalen Besonderheit Russlands werden. Es ist jedoch interessanter, sich etwas anderes anzuschauen: nämlich jene Formen von Patriotismus und nationaler Identität, die heute von unten entstehen, unabhängig vom Staat, und die die Gesellschaft in Zukunft einen könnten.

    Die Neuformulierung der nationalen Idee, die sich in den 1990ern in Brat konzentrierte, findet sich heute verstreut in populären YouTube-Serien und -Shows, in den Aufnahmen der neuen Generation von Hip-Hop-Musikern und in den Arbeiten von Street Art-Künstlern. Da ist ein lokaler Patriotismus – ein Gefühl der Zugehörigkeit nicht zu einer staatlichen Abstraktion, sondern zu einem konkreten Ort, den man mit Sorgfalt, Respekt und Aufmerksamkeit behandeln muss. Das macht sich im Erstarken der Heimatkunde und der Neubewertung des regionalen historischen Erbes bemerkbar, aber auch im boomenden Inlandstourismus, dem Trend zur Landwirtschaft und regionalen Produkten und so weiter.

    Das Leben in Russland rockt

    Da ist die Ästhetisierung des Alltags in der russischen Provinz, eine Aufwertung ihrer noch so unansehnlichen Erscheinungsformen, seien es Plattenbauten oder Trainingsanzüge als die Uniform der Außenbezirke. Da ist eine völlig andere Sicht auf die 1990er Jahre – nicht als das „wilde“ Jahrzehnt oder die „Zeit der Freiheit“, sondern als die tragische und heldenhafte Epoche, der wir alle entstammen. Da ist die allmählich erworbene Fähigkeit zur Zusammenarbeit, zum gemeinsamen gesellschaftsrelevanten Handeln, dem Zusammenschluss mit Nachbarn, Arbeitskollegen und Gleichgesinnten für ein gemeinsames Ziel, sei es, um gegen die Abholzung des Parks vor der Haustür zu kämpfen oder um einem Waisenhaus in der Nachbarschaft oder einem unschuldig verhafteten Kommilitonen zu helfen. Da ist der neue Umgang mit den Tragödien der Vergangenheit, eine neue Art der Erinnerungskultur, in der nicht nur Kriegshelden der kollektiven Erinnerung und Ehre würdig sind, sondern auch die Opfer eines verbrecherischen Regimes oder einfache Bürger, die dessen Inkompetenz mit ihrem Leben bezahlen mussten. Da ist nicht zuletzt die Überwindung des nationalen Minderwertigkeitskomplexes, der der älteren Generationen eigen ist, hin zu einem nüchtern-gelassenen Gefühl, dass die „Russen schon okay“ sind (wie es im Videoprojekt von Jelisaweta Ossetinskaja heißt) und das Leben in Russland trotz allem „rockt“ (wie es [Juri] Dud auf seinem Instagram-Account formuliert).


    Und da ist dieser Graben zwischen Staatsmacht und Gesellschaft – einer Gesellschaft, die bereit ist, ihre Geschichte und Identität anzunehmen und zu reflektieren, ohne darauf zu warten, dass diese Prinzipien oktroyiert werden, die bereit ist, Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen, ohne darauf zu warten, dass der Staat ihre Probleme löst – das ist möglicherweise die am meisten hoffnungsspendende Nachricht des ausklingenden Jahrzehnts.

    Weitere Themen

    Russlandphobie-ologie

    Die Geister der Vergangenheit

    Die stillgelegte Stadt

    Die wahre Geschichte einer Geisterstadt

    Kirche versus Grünanlage – wer gewinnt?

    „Ein Fehler historischen Ausmaßes“

  • Surkow: „Der langwährende Staat Putins“

    Surkow: „Der langwährende Staat Putins“

    „Es scheint nur so, als hätten wir eine Wahl“, zitiert Wladislaw Surkow, ja, wen eigentlich? Rund ein Jahr nach seinem kontroversen Artikel 100 Jahre geopolitische Einsamkeit hat der angebliche „Chefideologe“ des Kreml, einen neuen verfasst. Am Montag erschien sein Text Dolgoe gosurdastwo Putina (Der langwährende Staat Putins) in der Nesawissimaja Gaseta sowie in anderen russischen Medien. Kaum eine der unabhängigen Stimmen Russlands hat es seitdem versäumt, den Artikel zu kommentieren.

    Ist es ein Manifest, das ein i-Tüpfelchen auf das angeblich von ihm erdachte Programm zur Sakralisierung Putins setzt? Oder eine Antwort auf die zunehmenden Abgesänge auf das Regime? Ist es ein Sinnangebot? Oder hat er den Text nur für Putin geschrieben?

    Diese und andere Fragen beschäftigen gerade vor allem die unabhängigen Medien. In den staatsnahen kann man dagegen kaum etwas zu Surkows Artikel finden. Kremlsprecher Dimitri Peskow sagte jedenfalls, dass Putin über den Text informiert worden sei. Dass der Staatschef aber darauf reagiert, das bezweifelt Peskow – der Präsident arbeite gerade nämlich an seiner alljährlichen Botschaft an die Föderationsversammlung am 20. Februar.

    dekoder hat bislang leider keine Abdruckerlaubnis für den Gesamttext bekommen. So bringen wir kontextualisierte Ausschnitte aus dem Text (Übersetzung: Anselm Bühling) und aus der Debatte russischer Liberaler.

    [bilingbox]„Es scheint nur so, als hätten wir eine Wahl.“ Diese Worte frappieren durch ihre Tiefe und Verwegenheit. Sie wurden vor anderthalb Jahrzehnten ausgesprochen. Heute sind sie vergessen und werden nicht mehr zitiert. Doch nach den Gesetzen der Psychologie beeinflusst uns das, was wir vergessen haben, viel stärker als das, woran wir uns erinnern. Diese Worte haben den Kontext, in dem sie ursprünglich erklangen, längst verlassen und wurden schließlich zum ersten Axiom der neuen russischen Staatlichkeit, auf dem alle Theorien und Praktiken der aktuellen Politik aufbauen.

    Die Illusion der Wahl ist die wichtigste aller Illusionen. Sie ist der Paradetrick der westlichen Lebensart im Allgemeinen und der westlichen Demokratie im Besonderen […].~~~

    «Это только кажется, что выбор у нас есть». Поразительные по глубине и дерзости слова. Сказанные полтора десятилетия назад, сегодня они забыты и не цитируются. Но по законам психологии то, что нами забыто, влияет на нас гораздо сильнее того, что мы помним. И слова эти, выйдя далеко за пределы контекста, в котором прозвучали, стали в итоге первой аксиомой новой российской государственности, на которой выстроены все теории и практики актуальной политики.  

    Иллюзия выбора является важнейшей из иллюзий, коронным трюком западного образа жизни вообще и западной демократии в частности, […].[/bilingbox]

    So beginnt Surkows Text Der langwährende Staat Putins, der am 11. Februar in der Nesawissimaja Gaseta erschienen ist. Die Frage, woher der Ausspruch „Es scheint nur so als hätten wir eine Wahl” stammt, wurde anschließend vielfach diskutiert. Es sei ein Zitat aus dem Buch Schwarze Stadt des russischen Schriftstellers Boris Akunin, sagt eine Theorie, eine andere wiederum ist, dass Surkow es einfach erfunden habe. Doshd-Journalist Michael Fischman bringt es in Verbindung mit der Rede Putins nach dem Terroranschlag von Beslan 2004. Wladislaw Surkow soll sie geschrieben haben, vielerorts gilt sie als ein Startschuss der autoritären Konsolidierung Russlands. 
    Darin sagt Putin: „Es scheint so, als hätten wir eine Wahl: entweder wir stellen uns [den Terroristen – dek] entgegen oder wir erfüllen ihre Ansprüche. Wir ergeben uns und lassen es zu, Russland zu zerstören und zu ,zerfleddern', in der Hoffnung, dass sie uns letztendlich in Ruhe lassen.“

    Nach dieser Rede, so Fishman, habe Putin die Gouverneurswahlen ad acta gelegt und angefangen, ein personalisiertes Regime aufzubauen.

    Auf sie könnte Surkow also zu Beginn seines Textes Bezug genommen haben. Die „Illusion der Wahl”, so führt er in der Nesawissimaja weiter aus, habe Russland abgelegt:

    [bilingbox]Es taten sich Wege zu einer freien Staatsbildung auf, die nicht von importierten Hirngespinsten geleitet waren, sondern von der Logik historischer Prozesse und damit der „Kunst des Möglichen“.~~~Открылись пути свободного государственного строительства, направляемого не импортированными химерами, а логикой исторических процессов, тем самым «искусством возможного».[/bilingbox]

    Den Umstand, dass westliche Demokratien die Vorbestimmung ablehnen, versteht Surkow als eine Art Verstoß gegen die Logiken und Gesetzmäßigkeiten der Geschichte. Der russische Staat unter Putin habe demgegenüber den „anti-historischen Zerfall Russlands“ gestoppt und den einzig wahren historischen Weg erwählt – den vorbestimmten. 

    Solche teleologischen Vorstellungen entnimmt der Autor der Historiosophie. Diese Geschichtstheorie gehört für manche Historiker zu populärsten Formen der Geschichtsschreibung in Russland. Da die Historiosophie die Geschichte als ganzheitlich und unverbrüchlich versteht, werfen ihr Kritiker jedoch fehlende Wissenschaftlichkeit vor, sehen in ihr einen „Gegenstand des Glaubens“ und nicht der „kritischen Analyse“.

    Eben an dieser Stelle wurde Surkow auch in der Debatte unter russischen Liberalen mehrfach kritisiert:

    Novaya Gazeta: Mit dem Verstand nicht zu begreifen

    „Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt“, so ungefähr kommentiert der Politikredakteur der unabhängigen Novaya Gazeta, Kirill Martynow, Surkows Traktat:

    [bilingbox]Erstens wird hier jegliches Wissen ignoriert, das die Menschheit bis ins 21. Jahrhundert angehäuft hat, von der Geschichtswissenschaft bis hin zur Verhaltenspsychologie. Und man ist auch noch stolz darauf: Wo Russland nun einen Sonderweg geht, haben westliche Schlauköpfe uns nichts zu sagen, westliche Theorien sind auf unseren Erfahrungsschatz nicht anwendbar. In der Wissenschaftssoziologie wird ein solcher Denkstil abwertend als „endemische Wissenschaft“ bezeichnet.
    Zweitens gibt es keine Methode, mit der eine derartige Historiosophie bestätigt oder entkräftet werden kann – man kann sie nur mit dem Herzen begreifen.~~~Во-первых, они игнорируют все социальное знание, накопленное человечеством к XXI веку, от истории экономики до поведенческой психологии. И даже гордятся этим: раз уж у России особенный путь, то и западные умники нам не указ, никакие западные теории к нашему опыту неприменимы. В социологии науки такой стиль мышления называется обидными словами «туземная наука». Во-вторых, не существует никакого способа подтвердить или опровергнуть подобную историософию, ее можно только «принять сердцем».[/bilingbox]

    erschienen am 12.2.2019, Original

     

    Für Surkow dagegen ist der russische Staat unter Putin ein „auf organische Weise entstandenes politisches Organisationsmodell, [das …]

    [bilingbox][…] ein effektives Mittel für das Überleben und Erheben der russischen Nation sein wird – und dies nicht nur auf Jahre, sondern auf Jahrzehnte hinaus, wahrscheinlich aber für das gesamte kommende Jahrhundert”.~~~[…] явится эффективным средством выживания и возвышения российской нации на ближайшие не только годы, но и десятилетия, а скорее всего и на весь предстоящий век.[/bilingbox]

    Während manche Kritiker spotteten, weshalb Surkow nicht gleich vom „Tausendjährigen Reich“ spreche, betrachtet Politikwissenschaftler Grigori Golossow die Ausführungen Surkows distanzierter. 

    Facebook/Grigori Golossow: Gefundenes Fressen

    Es sei irreführend, Surkows Thesen in die Nähe des Faschismus zu rücken, schreibt Golossow auf Facebook. Außerdem sei es zu viel der Ehre, wenn man seine Gedanken gar als „russische Ideologie” auffasse.

    [bilingbox][…] Es gibt die Kategorie „westliche Russlandexperten“ und denen hat Surkow wahrlich ein Geschenk gemacht. Dabei geht es nicht nur um die, die sich wissenschaftlich beschäftigen mit der „russischen Ideologie“ (die es gar nicht gibt, nach Meinung der Mehrheit von Wissenschaftlern mit gesundem Menschenverstand), sondern gerade um die, die den faschistischen Charakter dieser Ideologie nachweisen wollen. Für die ist das ein gefundenes Fressen.~~~[…] есть категория зарубежных специалистов по России, которым Сурков сделал настоящий подарок. Это – не просто те, кто занимается изучением "российской идеологии" (по мнению здравомыслящего большинства ученых, ее нет), но именно те их них, кто обосновывает фашистский характер этой идеологии. Для них там каждое лыко в строку.[/bilingbox]

    erschienen am 11.2.2019, Original


    Mit seiner Kritik an der wissenschaftlichen Belastbarkeit bezieht sich Golossow vermutlich auch auf Passagen wie folgende: In der russischen Geschichte, so Surkow, habe es insgesamt vier Grundmodelle des Staates gegeben […]

    [bilingbox][…] die durchaus nach ihren Schöpfern benannt werden können: Der Staat Iwans des Dritten; der Staat Peters des Großen, der Staat Lenins und der Staat Putins.

    Dies sind große politische Maschinen, die, um es mit Gumiljow zu sagen, von Menschen des langen Willens erschaffen wurden. Sie haben einander abgelöst, wurden dabei immer wieder repariert und adaptiert und haben die russische Welt über die Jahrhunderte auf einen Weg gebracht, der unbeirrbar aufwärts führt.~~~[…]которые условно могут быть названы именами их создателей: государство Ивана Третьего (Великое княжество/Царство Московское и всей Руси, XV–XVII века); государство Петра Великого (Российская империя, XVIII–XIX века); государство Ленина (Советский Союз, ХХ век); государство Путина (Российская Федерация, XXI век). Созданные людьми, выражаясь по-гумилевски, «длинной воли», эти большие политические машины, сменяя друг друга, ремонтируясь и адаптируясь на ходу, век за веком обеспечивали русскому миру упорное движение вверх.[/bilingbox]

    Neben heilsgeschichtlichen Versatzstücken bemüht der Autor hier das sogenannte Ethnogenese-Konzept des russischen Philosophen Lew Gumiljow (1912–1992). Es gilt als einer der Vorläufer des gegenwärtigen Neo-Eurasismus, dessen bekanntester Vertreter Alexander Dugin ist.
    Das „stereotype Verhalten“ einer Ethnie sieht Gumiljow als „empfindungs-abhängig“ von vorherrschenden klimatisch-geographischen Faktoren. Die daraus bezogene „biochemische Energie“  sei für die Integration einer Ethnie entscheidend und dieser Integrationsprozess durch eine „kosmische Strahlung“ beeinflusst. Wenn Menschen in der Lage sind, mehr von dieser Strahlung aufzunehmen als für sie nötig ist, dann könnten sie dieses Übermaß an ihre Umwelt weitergeben. Solche Menschen sind für Gumiljow Menschen langen Willens beziehungsweise Passionare

    Facebook/Grigori Judin: Immer aus der gleichen Mottenkiste

    An solchen Passagen entzündete sich die Kritik mehrfach. Soziologe Grigori Judin etwa konstatiert auf Facebook, dass die ideologischen Versatzstücke, derer sich Surkow bedient, immer derselben Mottenkiste entsprängen:

    [bilingbox]Nun, natürlich: Das existentielle Grauen vor jeglichen Veränderungen, aus dem heraus der Surkowsche Text geschrieben ist und mit dem die russische Elite das alles betrachtet, ist schon beeindruckend. Allein Putin ist ewig. Und wenn Putin das nicht versteht und dagegen ist – dann bringen wir ihn dazu, dass er es versteht.

    Alle offiziellen Ideologen sind mittlerweile vollkommen voraussag- und berechenbar. Alle Schritte sind im Voraus bekannt, sie sind durchschaubar, und es ist völlig klar, wie so eine Art von Ideologie funktioniert.~~~Ну и, конечно, экзистенциальный ужас перед любыми переменами, из которого написан сурковский текст и из которого смотрит российская элита – он впечатляет. Только Путин навсегда. А если Путин не понимает и будет против – мы его заставим.

    Вообще официальные идеологи стали полностью предсказуемы и легко просчитываемы – все шаги заранее известны, все швы видны, и хорошо понятно, как эта идеология работает.[/bilingbox]

    erschienen am 11.2.2019, Original

    Als würde Surkow einer solchen Kritik der Rückwärtsgewandtheit vorgreifen, erklärt er, dass Putinismus eine Ideologie der Zukunft sei:

    [bilingbox]Das Erkennen, das Durchdenken, das Beschreiben des Regierungssystems Putin sowie des gesamten Komplexes der Ideen und Dimensionen des Putinismus als Ideologie der Zukunft, ist notwendig. „Der Zukunft“, weil der gegenwärtige Putin wohl kaum Putinist ist – ebenso, wie etwa Marx kein Marxist war und nicht unbedingt einer hätte sein wollen, wenn er erfahren hätte, was das ist. Es ist für all jene notwendig, die nicht Putin sind, aber gerne wären wie er. Um seine Methoden und Ansätze auf künftige Zeiten übertragen zu können.~~~Необходимо осознание, осмысление и описание путинской системы властвования и вообще всего комплекса идей и измерений путинизма как идеологии будущего. Именно будущего, поскольку настоящий Путин едва ли является путинистом, так же, как, например, Маркс не марксист и не факт, что согласился бы им быть, если бы узнал, что это такое. Но это нужно сделать для всех, кто не Путин, а хотел бы быть, как он. Для возможности трансляции его методов и подходов в предстоящие времена.[/bilingbox]

    Snob: ***

    Viele Beobachter sehen in Surkows Text den Versuch eines Manifests, das nur dazu da sei, den wahren Messias zu preisen. Der Journalist Ilja Milstein fragt auf Snob, wie ein solch exaltiertes Loblied mit der Realität in Einklang gebracht werden kann:

    [bilingbox]Putin, der kein Marxist ist, genauer – kein Putinist. Putin, der Putin nicht das Wasser reichen kann. Ich preise den Putin, wie er ist, doch dreimal mehr preise ich den, der noch kommen wird. 
    Was kann man da sagen, wie kommentieren? Dazu kann man gar nichts sagen, außer die höchst leidenschaftlichen russischen Worte, die man nicht drucken darf.~~~Путин, который не марксист, вернее, не путинист. Путин, недотягивающий до Путина. Путина славлю, который есть, но трижды — который будет. Что тут скажешь, как прокомментируешь? Ничего тут не скажешь, кроме предельно восторженных русских слов, как назло непечатных.[/bilingbox]

    erschienen am 12.2.2019, Original

    Surkow sieht das politische System Russlands dabei auch als ein Modell für andere Staaten:

    [bilingbox][…] das in Russland erschaffene politische System taugt nicht nur für die Zukunft des eigenen Landes, sondern hat offenkundig ein erhebliches Exportpotenzial. Es gibt bereits Nachfrage danach oder nach einzelnen seiner Bestandteile. Seine Erfahrungswerte werden untersucht und seine Praxis wird teilweise übernommen; Regierungs- und Oppositionskreise in vielen Ländern ahmen es nach.~~~[…] сделанная в России политическая система пригодна не только для домашнего будущего, она явно имеет значительный экспортный потенциал, спрос на нее или на отдельные ее компоненты уже существует, ее опыт изучают и частично перенимают, ей подражают как правящие, так и оппозиционные группы во многих странах.[/bilingbox]

    Desweiteren geht er auch auf den Vorwurf ein, Russland habe sich in Wahlen eingemischt – und setzt diesem sogar noch eins drauf:

    [bilingbox]Tatsächlich ist es noch ernster als das: Russland mischt sich in ihre Gehirne ein, und sie wissen nicht, was sie mit ihrem veränderten Bewusstsein tun sollen. […] Aus Ratlosigkeit haben sie die Invasion des Populismus verkündet. So kann man es auch nennen, wenn einem die Worte fehlen.~~~Россия вмешивается в их мозг, и они не знают, что делать с собственным измененным сознанием. […] Растерявшись, они объявили о нашествии популизма. Можно сказать и так, если нет слов.[/bilingbox]

    Solche Kritik am Westen ist bei Surkow nicht neu. Bereits im November 2017 veröffentlichte er einen Artikel mit dem Titel Die Krise der Heuchelei – I hear America singing. Nach dem Zusammenbruch von Sinn-Konstruktionen im Westen, so hieß es darin, seien „soziale Energien“ freigeworden. Und es sei fraglich, ob es den westlichen Regierungen gelingen werde, diesen Werteverfall durch Sport-Shows, Konzerte oder andere Unterhaltungen zu kompensieren. Falls nicht, so prognostizierte Surkow 2017, münde das westliche System in Revolution und großen Krieg. 

    Auch in seinem neuen Text schreibt der Autor über „soziale Energien“ –  die Menschen im Westen dürsteten förmlich nach Propheten wie Putin, ihre Regierungen setzten ihnen stattdessen aber den „tiefen Staat“ vor – eine Art Staat im Staate, der wider seiner demokratischen Verfassung Machenschaften triebe und Trugbilder oktroyiere: 

    [bilingbox]Die Illusion der Wahl, das Gefühl der Freiheit, die Vorstellung von der eigenen Überlegenheit und so weiter.~~~[…] иллюзия выбора, ощущение свободы, чувство превосходства и пр.[/bilingbox]

    Russland sei demgegenüber „ehrlicher“, es gebe hier keinen „tiefen Staat“. Dagegen lebe in Russland ein „tiefes Volk“, und dieses sei aufs engste mit dem obersten Regenten verbunden. Die Beziehung zwischen beiden regeln demnach nicht demokratische Institutionen, die eher einem Ritual glichen und allein der Außenwirkung dienten, sondern sie basiert laut Surkow auf dem Vertrauen, das das Volk diesem Regenten entgegenbringt. Darin sei das russische Modell dem westlichen schließlich auch überlegen: 

    [bilingbox]Die Fähigkeit, das Volk zu hören und es zu verstehen, es in seiner ganzen Tiefe zu durchschauen und entsprechend zu handeln – das ist der einzigartige und wichtigste Verdienst des Putinschen Staates. Er entspricht dem Volk und geht mit ihm, deshalb ist er keiner destruktiven Überlastung durch Gegenströmungen der Geschichte ausgesetzt. Aus diesem Grund ist er effektiv und langlebig.~~~Умение слышать и понимать народ, видеть его насквозь, на всю глубину и действовать сообразно – уникальное и главное достоинство государства Путина. Оно адекватно народу, попутно ему, а значит, не подвержено разрушительным перегрузкам от встречных течений истории. Следовательно, оно эффективно и долговечно.[/bilingbox]

    Rosbalt: Nun sei bitteschön glücklich!

    Wirtschaftswissenschaftler Dimitri Trawin meint auf Rosbalt, das „tiefe Volk“, von dem Surkow philosophiert, sei ein Volk hinter Gittern:

    [bilingbox]Welch stille freudige Welt entsteht, wenn alle Ideologen im Fernsehen immer wieder behaupten, es gäbe keine Wahl, du seiest nun mal auf Gedeih und Verderb dazu verdammt, in einem Staat zu leben, der schon lange aufgehört hat sich weiterzuentwickeln, und sollst bitteschön glücklich sein, dass dein Leben unter der wohlmeinenden Führung des unabsetzbaren Herren nicht schlechter geworden ist?
    Genau diese Weltsicht vermittelt uns Surkows Philosophie. Eine Philosophie der Angst vor dem Leben. Eine Philosophie der absoluten Zerrüttung. Die Philosophie vom [Volk als einem – dek] Tier im Käfig, das schon dankbar ist, wenn man es wenigstens noch gelegentlich füttert.~~~Каково строить свой тихий радостный мир, когда всякие идеологи твердят тебе с телеэкрана, будто бы никакого выбора нет, будто ты обречен на убогость в государстве, давно уже переставшем развиваться, и должен радоваться тому, что при благословенном правлении бессменного государя тебе не стало хуже?

    Именно такое мировоззрение предлагает нам философия Суркова. Философия страха перед жизнью. Философия полной деградации. Философия зверя в клетке, благодарного уже за то, что его еще хотя бы изредка кормят.[/bilingbox]

    erschienen am 11.2.2019, Original

    Dabei hat Surkow dieses Programm schon in seinen früheren Schriften angerissen: In seinem Schlüsseltext Russische politische Kultur aus dem Jahr 2007 schlug er vor, den Holismus (Ganzheit) des russischen politischen Bewusstseins als ein Axiom zu betrachten. Daraus leitete er ab, dass die russische politische Kultur anhand dreier Kriterien zu definieren sei: „Streben zur politischen Ganzheit mittels Zentralisierung von Macht-Funktionen“, „Idealisierung der Ziele von politischen Kämpfen“ und „Personifizierung von politischen Institutionen“.

    So etwas wie der Kitt dieser Ganzheit, so führt er nun aus, sei das „Vertrauen“: 

    [bilingbox]Das moderne Modell des russischen Staates beginnt mit Vertrauen und gründet auf Vertrauen. Darin unterscheidet es sich grundlegend vom westlichen Modell, das Misstrauen und Kritik kultiviert. Und eben das ist die Stärke des russischen Modells.~~~Современная модель русского государства начинается с доверия и на доверии держится. В этом ее коренное отличие от модели западной, культивирующей недоверие и критику. И в этом ее сила.[/bilingbox]

    Facebook/Alexander Morosow: Gibts noch mehr Ideen?

    Ist Surkows Text tatsächlich ein Manifest? Steckt dahinter eine Ideologie des Systems Putin? Diese Frage sei noch nicht zu beantworten, meint Alexander Morosow auf Facebook:  

    [bilingbox]Wird es von den Putinisten ein weiteres Konzept geben, wie der Putinismus fortgesetzt werden kann? Irgendjemand von den Stakeholdern (oder den ihnen nahestehenden Publizisten) muss nach vorne treten und sagen: „Ja, Wladislaw Jurjewitsch, das sind interessante Ideen, das ist aber nicht die einzige Variante, wie es weitergehen kann. Hier, die zum Beispiel, die gefällt uns besser.“ Wenn so etwas aber nicht kommt, dann bleibt Surkows Text einfach nur ein Teil seiner unterhaltsamen Biografie. Und als einziges Ergebnis bleibt nur, dass dieser Text „von allen liberalen Hunden der ganzen Gegend angebellt“ wurde. Das aber ist ein uninteressantes Ergebnis.~~~будет ли альтернативная концепция "продолжения путинизма" со стороны самих путинистов. Кто-то из стейкхолдеров (или из близких им публицистов) должен выступить и сказать: "Да, Владислав Юрьевич, это интересные идеи, но это не единственный вариант продолжения. Вот нам, например, нравится – вот такой". А если этого не будет – то текст Суркова просто останется внутри его увлекательной биографии. И единственным результатом окажется только то, что его "облаяли либеральные собаки всей округи". Но – это неинтересный результат.[/bilingbox]

    erschienen am 12.2.2019, Original

    Vedomosti: Gibt es noch was Leckeres zu essen?

    Andrej Kolesnikow, politischer Analyst beim Carnegie-Zentrum Moskau, zeigt sich von Surkows Thesen gänzlich unbeeindruckt. Er witzelt auf Vedomosti, wie unbeholfen die Machthaber ständig nach neuen (Sinn-)Angeboten für das Volk suchten:

    [bilingbox]Die gleichgültige Mehrheit des „tiefen Volkes“ schaut sich aber auch diesen Werbespot wie in einem dunklen Kinosaal an, mit Bier und Popcorn: „Was zeigen sie uns denn noch so? Russland great again – wer will das bestreiten? Gibt es noch was Leckeres zu essen?“~~~Но и этот рекламный ролик равнодушное большинство «глубинного народа» смотрит как в темном зале кинотеатра – с пивом и попкорном: что там еще нам покажут. Россия great again, кто бы спорил, а что-нибудь еще вкусненькое есть?[/bilingbox]

    erschienen am 12.2.2019, Original

     

    Übersetzung Surkow: Anselm Bühling
    Kontextualisierung und Übersetzung der Debatten-Ausschnitte: dekoder-Redaktion

    Weitere Themen

    Die Wegbereiter des Putinismus

    Wer kommt nach Putin und wenn ja, wie viele?

    Demokratija

    100 Jahre geopolitische Einsamkeit

    Russland und Europa

    Moskau. Kreml. Putin.

  • „Es herrscht ein aggressiver Individualismus“

    „Es herrscht ein aggressiver Individualismus“

    Um das gegenwärtige Russland zu erklären, bemühen viele russische Sozialwissenschaftler Weimar-Vergleichе: Nach dem Systemzusammenbruch kam es in beiden Ländern zu massiven wirtschaftlichen und politischen Krisen. Politiker und Intellektuelle beider Länder sprachen oft über Identitätskrisen und über Demütigungen durch Feinde, über die Wesensfremdheit der liberalen Demokratie für ihr Volk. Die Demokratie scheiterte und wurde hier wie dort zum Schimpfwort. Schließlich gab es in beiden Ländern die Phönix aus der Asche-Erzählung, in Russland hat sich dafür die Formel „Erhebung von den Knien“ etabliert. 

    Einige Sozialwissenschaftler sehen auch zwischen der Wilhelminischen und der Gesellschaft des Homo Sovieticus Parallelen. Diese seien von Untertanen durchsetzt gewesen, wie sie zum Beispiel Heinrich Mann beschrieb: obrigkeitshörig, kollektivistisch und konformistisch. Und diese Eigenschaften, so die Behauptung der Wissenschaftler, würden sowohl die politische Kultur der Weimarer Republik als auch die des gegenwärtigen Russland prägen. 

    Die Beweisdecke für solche Thesen ist sehr dünn, meint dagegen Grigori Judin. In einem Interview mit der Novaya Gazeta räumt der Soziologe mit gängigen Klischees auf. 

    „Atomisierung – das ist der Begriff der Stunde.“ – Soziologe Grigori Judin / Foto © Wlad Dokschin
    „Atomisierung – das ist der Begriff der Stunde.“ – Soziologe Grigori Judin / Foto © Wlad Dokschin

    Novaya Gazeta: In einem Vortrag sprachen Sie kürzlich über das Modell des Homo Sovieticus, das von vielen russischen Soziologen aufgegriffen und von prominenten Persönlichkeiten unterstützt wird: Wladimir Putin etwa spricht von einem „Element des Kollektivismus“ in den Herzen der Russen. Ist da etwas dran?

    Grigori Judin: Es gibt die Sichtweise, die UdSSR habe eine neue anthropologische Art hervorgebracht, die zudem noch schrecklich resistent ist: Nichts kann ihr etwas anhaben. Dieser Typus vernichtet sämtliche Institutionen, die auf seine Transformation abzielen. Zu seinen typischen Eigenschaften gehören Konformität, Paternalismus; er liebt jede Form von Gleichmacherei. Insgesamt also ein höchst unangenehmer Typ, der bei jedem normalen Menschen Abscheu hervorrufen muss. All dem liegen zwei Dinge zugrunde, die man mit dem sowjetischen Menschen assoziiert: der Kollektivismus und der Hass auf den Individualismus.

    Das bringt uns in eine recht merkwürdige Situation. Denn sämtliche Studien zeigen, dass es überhaupt keinen Grund gibt, weder über den sowjetischen noch den heutigen russischen Menschen so zu denken. Überhaupt ist die Gegenüberstellung von Individualismus und Kollektivismus aus Sicht der Sozialwissenschaften ein fragwürdiges Unterfangen: Ihre Gründerväter waren eher um eine Synthese bemüht. 

    Russland ist eines der individualistischsten Länder überhaupt

    Und selbst wenn wir diese Dichotomie bemühen, stellen wir fest, dass im heutigen Russland die individualistische Denkweise viel stärker ausgeprägt ist. Zu diesem Ergebnis kommt jedenfalls die internationale Werte-Forschung, die es uns erlaubt, Russland mit anderen Ländern zu vergleichen. Wie sich herausstellt, ist Russland eines der individualistischsten Länder überhaupt.

    Womit hängt das zusammen?

    Das ist nicht weiter überraschend, denn die Institutionen des Kollektiv- oder gemeinschaftlichen Lebens, die den Individualismus ausgleichen würden, sind bei uns nicht entwickelt. Sie wurden in einem hohen Maß bereits in der späten Sowjetunion unterdrückt, und danach hat sich überhaupt niemand mehr darum gekümmert. Seit den 1990er Jahren versuchen wir, eine liberal-demokratische Gesellschaft aufzubauen, aber von den zwei Komponenten haben wir nur an eine gedacht. Wir haben eine gestutzte Version des liberal-demokratischen Systems importiert: einen Liberalismus ohne Demokratie.

    Wir haben eine gestutzte Version importiert: einen Liberalismus ohne Demokratie

    Damals bestand die Hauptaufgabe darin, eine Marktwirtschaft aufzubauen, wirtschaftliches Wachstum zu sichern, Konkurrenz zu schaffen. Unter Existenzangst verlangte man den Menschen Unternehmersinn ab und lehrte sie, dass niemand für sie sorgen wird, wenn sie es nicht selbst tun. Heute ist die Gewissheit, dass du keine Hilfe zu erwarten hast und jeder sich selbst retten muss, zum Grundprinzip des russischen Lebens geworden. 

    Das Ergebnis ist eine zunehmend radikale Entfremdung der Menschen voneinander und der fehlende Glaube an das gemeinschaftliche Handeln.
    Für den demokratischen Aspekt interessierte sich so gut wie keiner. Doch genau das, was wir also links liegen ließen, weil es uns unwichtig erschien, ist das Allerwichtigste: Institutionen der regionalen Selbstverwaltung, regionale Vereinigungen, Berufsverbände. Um den Ausbau der regionalen Selbstverwaltung hat sich in den 1990er Jahren niemand  gekümmert, und später wurde sie ganz bewusst unterdrückt. Niemand hat für Initiativen von unten und Berufsverbände gesorgt, ganz im Gegenteil, in allen Bereichen, die traditionell in den Händen von Fachleuten lagen, sehen wir heute die uneingeschränkte Macht von Managern.

    Aber dieser Individualismus ist keiner, den man als positiv bezeichnen kann. 

    Kürzlich wurde ich bei einem Vortrag gefragt: Welcher Schlüsselbegriff beschreibt die russische Gesellschaft, wenn es weder der Kollektivismus noch der Individualismus tun? Atomisierung – das ist der Begriff der Stunde.

    Aus soziologischer Sicht geht es nicht um einen Gegensatz von Individualismus und Kollektivismus. Moderne Gesellschaften können nur bestehen, wenn ein gesundes Gleichgewicht zwischen den beiden existiert. Unser Problem ist, dass in Russland ein aggressiver Individualismus vorherrscht, der von Angst genährt wird und deshalb in brutale Konkurrenz, totales gegenseitiges Misstrauen und Feindschaft umschlägt.

    Verstehe ich richtig, dass ein gesunder Kollektivismus nicht das Primat der Gruppe über das Individuum meint, sondern die Idee eines Gemeinwohls? In Russland steht man dieser Sicht ja eher zynisch gegenüber.

    Genau das ist das Schlüsselwort, das die Alltagsmoral in Russland beschreibt: Zynismus. Wenn du dich lächerlich machen willst, musst du nur das Wort „Gemeinwohl“ in den Mund nehmen: Wo hast du denn so was je gesehen? Weißt du denn nicht, wie es auf der Welt zugeht? Genau diese ethische Grundeinstellung resultiert aus einem mangelnden Gleichgewicht, einem unterentwickelten Gemeinschaftsleben.

    Das Interessanteste ist, dass wir die Propaganda der Sowjetzeit gemeinhin belächeln, aber sobald es um den sowjetischen Kollektivismus geht, schenken wir ihr aus irgendeinem Grund weiterhin Glauben. Die UdSSR existiert seit 30 Jahren nicht mehr, aber wir glauben immer noch, dass die Sowjetmenschen echte Kollektivisten waren. Was an der spätsowjetischen Zeit so kollektiv gewesen sein soll, ist dabei völlig unklar. Es ist jedoch bequem, an die Mär vom schrecklichen sowjetischen Kollektivisten zu glauben – so können wir skeptisch herabschauen, anstatt zu handeln, und dabei auch noch das eigene Ego streicheln (ich bin ja ganz anders, weil ich Wert auf Persönlichkeit und Individualität lege).

    Richtet sich die heutige TV-Propaganda nicht in genau diesen Begriffen an das kollektive Unterbewusstsein der Russen? „Wir sitzen alle in einem Boot“, „wir müssen uns verbünden“ und so weiter.

    Natürlich, diejenigen, die diese Botschaften aussenden, wollen, dass wir uns mit ihnen verbünden. Gleichzeitig sagt man uns: Verbündet euch ja nicht untereinander. Das ist furchtbar gefährlich und kann nur in einer Revolution enden, diese Botschaft „Verlasst euch auf die Führung, unterstützt sie, und sie wird euch voreinander und vor heimtückischen Feinden beschützen“.

    Die Propaganda verbreitet also eine verzerrte Botschaft über die Notwendigkeit des Zusammenhalts, der Geschlossenheit. Aber funktioniert sie auch, oder macht das alles keinen Sinn?

    Sie funktioniert, man muss nur richtig verstehen, worauf sie abzielt. Das Ziel ist, die Atomisierung als eine unvermeidbare Tatsache hinzustellen. Die Botschaft der offiziellen Propaganda ist nicht, dass wir in einem perfekten Land mit tadelloser Regierung leben. Ganz und gar nicht – vielmehr sagt uns die Obrigkeit: „Ja, ich bin schlecht, aber wenn ich nicht da bin, wird es euch noch schlechter gehen, so ist das Leben. Jeder Mensch und jeder Politiker kümmert sich nur um sich selbst, das ist die menschliche Natur. Kollektives Handeln ist unmöglich. Und ganz egal, wer nach mir kommt, er wird kein bisschen besser sein, aber er wird euch nicht vor der Außenwelt beschützen können oder wollen. Es wird Chaos und Anarchie geben.“
    Die Hauptemotion, mit der die Propaganda arbeitet, ist die Angst, und das Hauptmotiv, dessen sie sich bedient, ist die Suche nach Schutz.

    Ein Thema, das aus den Nachrichten nicht mehr wegzudenken ist, sind die Beziehungen zur Ukraine. Das ist eine ziemlich schmerzhafte Geschichte: Ganze Familien sind wegen der Krim, dem Maidan und so weiter zerbrochen. Wie passt das zusammen mit dem ungesunden Individualismus der russischen Gesellschaft? Hat dieser Konflikt Konsequenzen, die nicht einkalkuliert waren?

    Wenn man sagt, dass es in Russland an kollektivem Leben mangelt, heißt das auch, dass das Bedürfnis danach immer da ist. Es gibt eine ganze Reihe von Anzeichen, dass die Menschen insgesamt nur schwer mit diesem Mangel umgehen können. Dieses Problem haben nicht nur wir: Immer häufiger hört man von der Rückkehr der Identität als einer der Haupttendenzen der liberalen und postliberalen Welt.

    Eine ganze Weile schien es, als würde unsere Welt flexibler werden, zu einem Ort, an dem sich jeder nach Belieben seine eigene Identität wählen und gestalten kann. Jetzt aber sehen wir, dass die Menschen überall auf der Welt versuchen, zu ihren Wurzeln zurückzukehren. Daher auch der Rechtsruck und das Erstarken der konservativen Kräfte, die keine klaren Programme anbieten, sondern an die erwachenden Emotionen appellieren.

    Überall auf der Welt versuchen die Menschen, zu ihren Wurzeln zurückzukehren. Daher auch das Erstarken der konservativen Kräfte

    Die Menschen streben stets nach einem kollektiven Leben, und in Russland sehen wir dafür viele Beweise. Die Geschichte mit der Krim kam 2014 – ein oder zwei Jahre, nachdem unterschiedliche  Teile der russischen Gesellschaft begonnen hatten, ihr Bedürfnis nach kollektivem Handeln zum Ausdruck zu bringen und sich Bewegungen und Demonstrationen anzuschließen.

    Sie meinen die Bolotnaja?

    Nicht nur, das ist ein Beispiel von vielen. Parallel dazu konnte man einen Boom beim ehrenamtlichen Engagement beobachten, der sich nur teilweise mit den Protestbewegungen überschnitt. Es gab ein allgemeines Bedürfnis, das auch heute noch spürbar ist. Der Mensch ist so geschaffen, dass er kollektive Ziele braucht, eine Identität.

    Die Mobilisierung von 2014 war ein Mittel der Machthaber, auf dieses Bedürfnis zu reagieren – teils unbewusst, teils aber auch mit Kalkül.

    Wir haben gesehen, wie dieselben Leute, die zwei Jahre zuvor bei diversen Bewegungen mitgelaufen waren, nun zum Gewehr griffen und in den Donbass fuhren. Und alles nur, weil sie, grob gesprochen, einen Sinn im Leben brauchten. Das ist das Problem im heutigen Russland: Die Menschen sehen keinen Sinn, sie sehen keine Ziele, die gesellschaftlich akzeptiert wären. Initiativen von unten werden im Keim erstickt; das einzige Lebensmodell, das angeboten wird, ist die Erhöhung des Konsumstandards. Aber Konsum kann keinen Sinn liefern, für den man lebt. 

    Das ist das Problem im heutigen Russland: Die Menschen sehen keinen Sinn

    Die Mobilisierung von 2014 hat gezeigt, dass die „konservativen Werte“, die dieses Vakuum vielleicht hätten ausfüllen können, gar nicht existieren. Viele Familien wurden entlang der Linie Russland/Ukraine gespalten. Jetzt beobachten wir die Spaltung der orthodoxen Kirche. Genau das meine ich mit Atomisierung – wenn die Institutionen des kollektiven Lebens schwach sind, ist es sehr einfach, die Menschen gegeneinander aufzuhetzen.

    Bis vor Kurzem schien es, als würde die Ukraine in den Hintergrund rücken. Jetzt ist sie wieder in den Nachrichten. Werden die Aufrufe der Propaganda wieder Gehör finden?

    Diesen Bonbon kann man nicht ewig lutschen. Ein paar Mobilisierungs-Reserven stecken vielleicht noch in diesem Thema, vor allem, wenn etwas Unerwartetes geschieht: Eine Verschärfung der Situation mit der Ukraine oder einem beliebigen anderen angrenzenden Gebiet – das könnte noch einmal denselben Effekt haben. Aber es ist klar – dies ist eine hohle Identität: Ja, es gibt Menschen, die zum Kämpfen in den Donbass gegangen sind, aber alle anderen sitzen weiterhin vor dem Fernseher. TV-Solidarität ist ein Surrogat, und Mal um Mal schwindet dessen Wirkung dahin.

    Die Fake-Mobilisierung übers Fernsehen findet ihr Ende. Auch wenn man die Dosis der Verstrahlung durch Propaganda noch erhöhen kann – eine solche Geschlossenheit wie früher wird es nicht mehr geben, denn die Propaganda ist zur Gewohnheit geworden. Die Nachfrage nach einer kollektiven Identität ist jetzt außer Kontrolle des Präsidenten und seiner Administration geraten. Deren Repertoire ist ausgeschöpft. Deswegen fangen die Menschen an, selbst etwas zu suchen, von unten.

    Weitere Themen

    Business-Krimi in drei Akten

    Wandel und Handel

    „Die öffentliche Meinung ist ein Produkt von Umfragen“

    Besondere russische Werte?!

    Panel #1: Gelten in Russland andere Werte als im Westen?

    Moskau. Kreml. Putin.

  • Verfassungskrise 1993

    Verfassungskrise 1993

    Nachdem sich der Rauch verzogen hatte, blieb in der Fassade des Weißen Hauses ein großes, schwarzes Loch. Die Panzergranaten waren in der 14. Etage auf Geheiß des Präsidenten Boris Jelzin eingeschlagen, um den Widerstand des Parlaments zu brechen. Es war dasselbe Weiße Haus, vor dem Boris Jelzin zwei Jahre zuvor, während des Augustputsches gegen Michail Gorbatschow, noch auf einen Panzerwagen gestiegen war und zur Verteidigung der Errungenschaften der Perestroika aufgerufen hatte; dasselbe Haus, in dem sich die Befürworter der Perestroika 1991 verschanzt hatten und dabei von tausenden Moskauern schützend umringt worden waren.

    In der politischen Ikonografie Russlands ist das Weiße Haus damit ein höchst widersprüchliches Symbol: Es steht für die letzte Phase der sowjetischen Macht und für den Aufstieg Jelzins zum Sinnbild der Demokratie in Russland, zugleich markiert es aber auch den Anfang vom Ende einer jungen postsowjetischen, parlamentarischen Demokratie.

    Der Beschuss des Weißen Hauses ist bis heute für manche russische Beobachter ein Verbrechen1, andere sehen darin eine Notwendigkeit. Der Oktober 1993 bedeutet tatsächlich einerseits die Geburtsstunde der demokratischen Verfassung Russlands, setzt andererseits aber auch den Grundstein für das heutige illiberale politische System des Landes.

    Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war die Verfassung der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik von 1978 zunächst in Kraft geblieben. Am 27. Oktober 1989 wurde sie angepasst: Zum obersten gesetzgebenden Organ wurde der neugeschaffene Volksdeputiertenkongress bestimmt. Aus den jährlich zusammenkommenden 1000 Volksdeputierten ging der permanent tagende Oberste Sowjet mit 252 Abgeordneten hervor, an deren Spitze der damals 48-jährige Ruslan Chasbulatow stand.

    Was diese modifizierte Verfassung nicht vorauszusehen und abzufedern vermochte, war die Reibung, die zwischen dem im Sommer 1991 geschaffenen russischen Präsidentenamt und dem Parlament entstand. Es trafen politische Kulturen, persönliche Ambitionen und verschiedene gesellschaftliche Vorstellungen aufeinander. 
    So gingen für das Parlament die politischen und ökonomischen Reformen des Präsidenten zu schnell. Folgerichtig verweigerte es im Dezember 1992 dem wirtschaftsliberalen Premier Jegor Gaidar die Bestätigung im Amt. Der Präsident Boris Jelzin dagegen wollte in erster Linie schnelle Reformen: Politik und Wirtschaft sollten in Einklang mit Gaidars Vorstellungen ohne Rücksicht auf soziale Folgen nach demokratisch-marktwirtschaftlichem Muster umgekrempelt werden. Dazu hatte ihn das Parlament zuvor mit temporären Vollmachten ausgestattet, doch nun drohte es dem Präsidenten, ihm diese wieder zu entziehen. 
    Hinzu kamen das Charisma und das politische Gewicht Jelzins, im In- wie im Ausland, die mit seiner verfassungsmäßig nachrangigen Position nicht im Einklang standen. So wurden die alte Verfassung und das Parlament für Jelzin zu einem politischen Hindernis, das es zu beseitigen galt.

    Jelzin gegen alle

    Ein Referendum im April 1993, das Jelzin als eine Art Vertrauensfrage definierte, konnte er weitgehend für sich entscheiden. Das Ergebnis bot ihm eine hinreichende Basis, im September das Dekret Nr. 1400 und damit die Auflösung des Parlaments zu erlassen. 
    Doch der Volksdeputiertenkongress wehrte sich gegen die Auflösung sowie gegen einen Verfassungsentwurf, der das Verschwinden des Kongresses vorsah. Nicht zu Unrecht berief er sich auf die eigene demokratische Legitimität, die rechtlich nicht geringer war als jene Jelzins.

    Der Vorsitzende des Obersten Sowjets, Ruslan Chasbulatow, und der Vizepräsident Alexander Ruzkoi, widersetzten sich nun dem, was sie als einen präsidialen Handstreich empfanden. Dabei bekamen sie Rückendeckung vom Verfassungsgericht unter Waleri Sorkin, das Jelzins Dekret für verfassungswidrig erklärte. Chasbulatow und Ruzkoi bildeten ein Schattenkabinett und glaubten, genug Rückhalt in Gesellschaft und Militär zu besitzen. Doch hatten sie nur eine obsolete Rechtsordnung auf ihrer Seite, und Jelzin schickte sich nun an, diese zu ändern.

    Die Ereignisse eskalierten: Chasbulatow, Ruzkoi und andere Volksdeputierte verschanzten sich im Weißen Haus, die Proteste gegen Jelzin schwollen an und führten am 2. Oktober zu massiven Zusammenstößen. Das Militär schlug sich größtenteils auf Jelzins Seite und ging gewaltsam gegen die Protestierenden vor. Es rückte zum Weißen Haus vor und beschoss es, bis der Widerstand der Parlamentarier am 5. Oktober in sich zusammenbrach.

    Laut offiziellen Angaben starben dabei 187 Menschen, über 400 wurden verletzt. Jelzin wurde weder für die Gewalt noch für den Verfassungsbruch belangt. Er habe, so die Argumentation, einen Bürgerkrieg abgewendet. Der Verfassungsbruch sei eine durch die Geschichte diktierte Notwendigkeit gewesen.2

    Eine politische Kultur der Stärke und Kompromisslosigkeit

    Es mag richtig sein, dass das Parlament, wie der Politologe Alexander Sungurow argumentierte, nie wirklich ein Parlament im westlichen Sinne gewesen sei: Es war vielmehr der letzte Sowjet der sozialistischen Periode, ein Rat, der über deutlich mehr Vollmachten und Kompetenzen verfügte als eine demokratische Legislative üblicherweise hat.3 Dennoch war die Verfassungskrise von 1993 ein Test für die Demokratie und ein Grundstein für die gegenwärtige politische Kultur Russlands. Diese ist nun von der sogenannten Machtvertikale geprägt, die Stärke für alles hält und Kompromisse als Zeichen von Schwäche verachtet. Stärke, so die Befürworter dieser Machtvertikale, sei das Kennzeichen der Macht. Stärke produziere Angst und, wie Sergej Lawrow unlängst formulierte, „aus Angst entsteht Respekt“.4 In dieser Einschätzung spiegelt sich für viele Beobachter die Mentalität der politischen Klasse Russlands.

    1993 war Wladimir Putin noch ein unscheinbarer Beamter in Sankt Petersburg. Doch offensichtlich lernte er die Lektion, die sein späterer Ziehvater Jelzin ihm 1993 gab: Wie Gleb Pawlowski bemerkte, schuf Jelzin damals erst die Bedrohung eines aufsässigen Parlaments, die er dann mit Gewalt aus der Welt schaffte.5 Auch Putin schuf vor seinem Amtsantritt im Jahr 2000 eine Drohkulisse: Kaum im Zentrum der Macht angelangt, schickte er das Militär wieder nach Grosny. Bei diesem zweiten Angriff auf Tschetschenien ließ die russische Militärmaschinerie so gut wie keinen Stein auf dem anderen. Diesmal war diese politische Kultur der Stärke und Kompromisslosigkeit aber schon vollends durch die russische Verfassung gedeckt.

    Superpräsidentialismus statt Parlamentarismus

    Die Folgen der Ereignisse von 1993 sind heute verfassungsrechtlich ebenso schwerwiegend wie politisch-kulturell. Dass die alte Verfassung von 1978 nicht für das postsowjetische Russland taugte, wussten damals beide demokratisch legitimierten Institutionen. Doch sie fanden aus dieser Sackgasse keinen legalen Ausweg und stellten sich solange stur, bis Jelzin Panzer auf die Straßen Moskaus schickte.
     

    Panzer der Jelzin-treuen Streitkräfte gaben am 4. Oktober 1993 Schüsse auf das Weiße Haus in Moskau ab. / Foto © ITAR-TASS/imago-images

    Letztlich drückte er mit Waffengewalt eine Verfassung durch, die einen möglichen russischen Parlamentarismus im Keim erstickte und seitdem nur noch ein Zentrum der Macht vorsieht: den russischen Präsidenten. Zwar ist diese Verfassung formal die demokratischste, die das moderne Russland jemals hatte, doch fehlen ihr Checks and Balances, die wechselseitige Kontrolle der Institutionen. Der Präsident schwebt förmlich über dem politischen System, während Parlament und Regierung kaum mehr als Ausführungsorgane der Politikvorgaben aus dem Kreml sind.

    Die neue demokratische Verfassung begründete einen Superpräsidentialismus, wie ihn kaum eine andere demokratische Verfassungspraxis kennt. Eine demokratische Verfassung allein vermag also nicht, eine liberal-demokratische Ordnung zu begründen. Denn es ist diese Zentralität des Präsidenten, die das politische System Russlands nach wie vor prägt.

    Die Wurzeln liegen in den Ereignissen vom Oktober 1993. Apologeten des Systems weisen darauf hin, dass nur die Machtfülle des Präsidenten einen „Erfolg“ im Zweiten Tschetschenienkrieg brachte, und dem Land Wirtschaftswachstum sowie Stabilität beschert hätte sowie zuletzt territoriale Zugewinne. All dies war aber auch untrennbar mit der autoritären Konsolidierung des Landes verbunden. Mag das schwarze Loch im Weißen Haus nun schon lange übertüncht sein, die politische Ordnung Russlands bleibt mit dem Makel der Gewalt von 1993 behaftet.

     

    Zum Weiterlesen:
    Bruner, M. Lane (2002): Strategies of Remembrance, Columbia
    Lukin, Alexander (2000): The Political Culture of the Russian ‘Democrats’, Oxford

    Diese Gnose wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

    Weitere Themen

    Der Mythos vom Zerfall

    Die 1990er

    Die Honigdachs-Doktrin

    Die Verfassung der Russischen Föderation

    Wörterbuch der wilden 1990er

    Die Wilden 1990er

    Bumm Bumm Bumm

  • Kann Russland überhaupt Demokratie?

    Kann Russland überhaupt Demokratie?

    Brauchen die Russen eine harte Hand? Haben sie die Regierung, die sie eben verdienen und schließlich ja auch gewählt haben? Oder sind sie naiv und von der Staatsmacht verführt? Wirtschaftswissenschaftler Dimitri Trawin fragt und kommentiert auf Rosbalt.

    Dieser Artikel ist nicht für Menschen, die denken, dass an den russischen Problemen die Engländer, Amerikaner oder dеr Backstage-Bereich der Welt schuld sind, dass Obama in unsere Hauseingänge gepisst hat, und Uljukajew (aus dem Kerker) im Auftrag des CIA oder des State Department das Rentenalter anhebt. Dieser Artikel ist, genau genommen, nicht mal für die, die nach Schuldigen suchen, sondern für die, die mal richtig aufräumen und die Perspektiven unseres Landes verstehen wollen.

    Es gibt zwei uralte Bonmots zum Verhältnis von Staatsmacht und Gesellschaft. Das erste lautet: „Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient“, das zweite: „Nach all dem, was die Regierung dem Volk angetan hat, ist es ihre Pflicht, das Volk auch zu heiraten.“ 
    Das erste Bonmot erlegt die Schuld dem Volke auf, das nicht in der Lage ist, sich für eine anständige Regierung zu entscheiden. Das zweite setzt die Beziehung zwischen Staatsmacht und Gesellschaft einer Vergewaltigung gleich, oder zumindest einer zynischen Verführung, bei der das naive, empfängliche Volk eher zu bemitleiden denn zu verurteilen ist.

     Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient

    Aus dem Unterschied dieser analytischen Ansätze ergibt sich auch ein Unterschied im praktischen Vorgehen. Wenn das Volk unfähig ist und selbst das Regime hervorbringt, das ihm das Fell über die Ohren zieht, dann hieße das, dass es für Russland wenig Hoffnung gibt: Unsere Wirtschaft wird auf ewig stagnieren, reich werden nur diejenigen, die Zugang zum Kreml haben, während für das Volk höchstens mal das Renteneintrittsalter, mal die Steuern erhöht werden. Und ergo jeder, der so nicht leben will, sollte sich wohl besser auf und davon machen.
    Wenn es sich bei dem Problem aber um Vergewaltigung oder Verführung handelt, dann gäbe es perspektivisch Hoffnung. Schließlich könnte das Leben ohne den Vergewaltiger oder Verführer anders werden, natürlich nur, wenn das Volk nicht auf ein Abenteuer aus ist, mit dem es sich ins eigene Fleisch schneidet.

    Auf den ersten Blick scheint es, als habe das Volk genau das, was es verdient. Wir gehen zur Wahl, werfen Stimmzettel ein, unterstützen ein ums andere Mal die immer Gleichen, auch wenn das Leben dadurch keineswegs besser wird. Wir liebedienern, fallen vor unserem Herrn auf Knie, damit er uns verschone und jene bestrafe, die uns beleidigen. Wir arbeiten schlecht: sind alle hinter dem Öl her, hinter dem Gas, oder wollen unbedingt bei den Silowiki unterkommen, in den Sicherheitsapparaten, wo das Einkommen höher ist und die Arbeit weniger … Wenn das Volk mehr in jenen Bereichen arbeiten würde, wo es keine monströsen Einkommen gibt, wo wenig gezahlt wird, der Nutzen für die Gesellschaft aber groß ist … Das wäre vielleicht gut …

    Rationales Verhalten

    Stopp. Wir bauen ja nicht den Kommunismus auf, sondern entwickeln eine Marktwirtschaft. Und wir erkennen an, dass wir des Geldes wegen arbeiten, dass wir unsere Familie gut versorgen und ein gemütliches Zuhause und ein Auto haben wollen – und nicht den Traum von einer lichten Zukunft, die irgendwann anbricht … oder wohl eher nicht anbricht. In der Marktwirtschaft – in unserer, in der finnischen, in der amerikanischen – versuchen die Menschen, sich rational zu verhalten, also eben dort zu arbeiten, wo es ihnen etwas bringt.
    Eine andere Frage ist jedoch, dass es in einigen Ländern etwas bringt, ein Unternehmen aufzubauen, sich fortzubilden, Geld in langfristige Projekte zu investieren, während es in anderen besser erscheint, beim Staat unterzukommen, in der Hoffnung, wenigstens einen kleinen Teil jener Ölrente zu ergattern, von der sich vor allem diejenigen eine Scheibe abschneiden, die Verbindungen zur obersten Etage der Macht haben. Bei uns ist das zweite der Fall.

    Einfacher gesagt, verhalten sich die Menschen bei uns ungefähr so wie Menschen in anderen Marktwirtschaften auch: Sie suchen sich einen Platz, wo es gut ist, und sind bei entsprechenden Anreizen bereit, ordentlich zu schuften. Unser Staat hat allerdings ein System von Anti-Anreizen geschaffen und nötigt die Gesellschaft weniger zur Arbeit denn zur Raffgier. Und die Leute raffen, wie an ihrer Stelle und unter diesen Umständen auch Finnen oder Amerikaner raffen würden. Eine Marktwirtschaft mit guten Institutionen (Spielregeln) ist eine Methode, um reicher zu werden. Eine Marktwirtschaft mit schlechten Institutionen bedeutet den Weg in den Niedergang.

    Rational in der Wirtschaft, irrational in der Politik?

    Aber halt, könnte nun jemand sagen, der der Ansicht ist, dass das Volk bei uns dennoch nicht ganz richtig tickt. In der Wirtschaft verhalten sich diese Menschen womöglich rational, fast wie die Menschen im Westen, aber in der Politik sind sie irrational. Sie wählen Putin und demzufolge jene hässlichen Spielregeln, die er für sie geschaffen hat. Somit wäre das Volk dennoch eines solchen Präsidenten mit all seinen Deputaten, Bürokraten, Abreks und Kunaks würdig.

    Nehmen wir einmal an, das Volk würde das verdienen. Doch wenn es unsere Aufgabe ist, nicht einfach nur das Volk zu verurteilen und selbst aus Russland zu verduften, sondern auch zu verstehen, was man tun kann, dann werden wir wiederum weniger vom Volk enttäuscht sein. 
    Schließlich versucht Putin strikt, jedwede Alternative zu ihm, dem Geliebten, aus der Politik fernzuhalten, und versetzt den Wähler in eine ausweglose Lage. Wahlen geraten zu einem formalen Urnengang ohne reale Wahl – und die scheinbare Demokratie wird zu einem typischen autoritären Regime. In diesem Regime macht es keinen besonderen Unterschied, ob wir für Putin stimmen oder etwa diese Farce von Wahl boykottieren. Ein rational veranlagter Wähler denkt sich doch: Wenn mir die Wahl geboten wird zwischen einem realen Anführer, mit dem ich schon fast 20 Jahre mehr schlecht als recht lebe, und einer Truppe Clowns, von denen wer weiß was zu erwarten ist, wäre es da nicht besser, Putin zu unterstützen?

    Und die Deutschen?

    Rein moralisch erscheint mir persönlich eine solche Auswahl sehr schlecht. Aber wie bei der Abwanderung in die Sicherheitsbehörden oder in die Gaswirtschaft um des vielen Geldes wegen wirkt eine Stimmabgabe für Putin rational. Unser Wähler fürchtet das Chaos, ganz wie es auch der wohlsituierte Bürger eines westlichen Landes fürchtet. Allerdings wäre da noch der Umstand, dass der russische Durchschnittsbürger heute die Gefahren eines Lebens ohne das Patronat Putins sehr übertreibt, was angesichts der Propaganda, die sich über sein schwaches Haupt ergießt, auch nicht verwunderlich ist. In einer solchen Situation wären die Deutschen genauso durch den Wind wie Angehörige vieler anderer Nationen, die heute durchaus als zivilisiert angesehen werden.

    Die Deutschen, wie auch andere Völker hatten jene menschenverachtenden Regierungen durchaus verdient, die sie sich geschaffen hatten. Und sie verhielten sich diesen Regierungen gegenüber durchaus rational. Wobei sie mit dieser Rationalität bis zur Unmenschlichkeit gingen. So ermordeten sie beispielsweise Juden, weil diese Grausamkeit damals befördert wurde. Und als das Regime gewechselt hatte, machten sich die Deutschen umgehend an den Aufbau einer zivilisierten Gesellschaft mit Demokratie und Toleranz. Weil unter dem neuen Regime genau dies befördert wurde. 
    Aus moralischer Sicht ist die Leichtigkeit, mit der ein Volk sich einerseits dem Bösen, andererseit dem Guten hingeben kann, natürlich widerwärtig: Nicht umsonst zeigen die Deutschen bis heute Reue. Wenn wir jetzt nicht das Problem der Moral analysieren, sondern der Frage einer normalen gesellschaftlichen Entwicklung nachgehen wollen – nach dem Wechsel von einem menschenverachtenden Regime hin zu einem menschlichen – stellt sich heraus, dass so etwas durchaus möglich ist.

    Das Rationale gerät zum Konformismus

    „Also ist es so, dass jedes Volk jederzeit in der Lage ist, eine Demokratie zu errichten?“, würde jetzt lächelnd ein Skeptiker fragen, der nicht an die Möglichkeit glaubt, dass sich Russland entwickeln könnte. Natürlich nicht jedes Volk. Eine normale Entwicklung ist für gewöhnlich dann nicht möglich, wenn in der Gesellschaft irrationales Verhalten gegenüber rationalem eindeutig dominiert. Wenn man also, sagen wir mal, unbedingt Kommunismus aufbauen will, auch wenn einem der gesunde Menschenverstand sagt, dass sich das nicht umsetzen lässt. Oder wenn Gebete als Mittel zur Lösung von Problemen des Diesseits (Lohnerhöhung, bestandene Prüfungen usw.) angesehen werden. Oder wenn plötzlich freigesetzte Leidenschaft über den Verstand dominiert.

    Vor rund hundert Jahren dominierten in Russland Leidenschaften, Gebete und phantastische Träume der breiten Masse deutlich über dem rationalen Wunsch eines kleinen Teils der Gesellschaft nach dem Aufbau von Marktwirtschaft und Demokratie. Heute ist das umgekehrt. Die Massen sind höchst rational geworden. Allzu rational, wie es manchmal scheint. Das Rationale gerät zum Konformismus und zu offenem Opportunismus und Duckmäusertum. Bei Leuten mit Gewissen ruft das Abneigung hervor. Und es fallen Schlagwörter wie: „Gesocks“, „Watniki“, „Sowok“.

    Nichtsdestotrotz können die pragmatischen, rationalen und konformistisch eingestellten Russen – wie in der Vergangenheit auch andere Völker – leicht zu normalen Bürgern einer zivilisierten Welt werden, wenn das Regime aufhört, uns alle möglichen destruktiven Stimuli zu bieten.

    Normale Wahlen bringen uns dazu zu überlegen, welcher Kandidat besser ist (wie es die Menschen Anfang der 1990er Jahre taten). Eine normale Wirtschaft bringt uns dazu, Waren herzustellen, die nachgefragt werden (wie es Ende der 1990er, Anfang der 2000er Jahre der Fall war), und nicht dazu, sich einem gaunerhaften Staat anzudienen.

    Wie aus diesem destruktiven System ein normales Russland aufzubauen wäre, ist eine gesonderte Frage, die sich in einem kurzen Artikel nicht erörtern lässt. Dass aber unser Volk bei vernünftigen Spielregeln zu einer konstruktiven Entwicklung in der Lage ist, daran habe ich persönlich keinen Zweifel.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

    Weitere Themen

    Der Geist der Korruption

    Infografik: Wahl 2018

    Panel #1: Gelten in Russland andere Werte als im Westen?

    „Wir zerstören, was wir erreicht haben”

    Russland und Europa

    Zitat #4: „Prozess der Deputinisierung“

  • Voucher-Privatisierung

    Voucher-Privatisierung

    Tschubais ist an allem schuld“, so lautet das geflügelte Wort, das den ehemaligen Vize-Ministerpräsidenten Russlands zum Sündenbock für die Fehlentwicklungen der 1990er Jahre macht. 1992 legte Tschubais den Grundstein für seinen Spitznamen „Vater des russischen Kapitalismus“, indem er die größte Privatisierungsreform der Weltgeschichte in Gang setzte: Der überwiegende Großteil der staatlichen Unternehmen wurde mittels Voucher in Privatbesitz überführt. Es war die wichtigste Marktreform im Russland der frühen 1990er Jahre. 
    Durch die Privatisierung sollte die siechende sowjetische Planwirtschaft in eine florierende Marktwirtschaft umgewandelt werden. Die Architekten der Reform beabsichtigten, die Wirtschaft vom Einfluss des Staates und somit von der Politik zu befreien. Die Reform selbst war jedoch im Kern sehr politisch. Ihr Ziel war es, eine breite Klasse von Kapitaleigentümern zu schaffen, eine neue russische Bourgeoisie. Stattdessen ermöglichte sie aber den Aufstieg von Oligarchen.

    Am 5. Juni 1992 unterschrieb der damalige russische Präsident Boris Jelzin die Neufassung des Gesetzes „Über die Privatisierung der staatlichen und kommunalen Unternehmen in der Russischen Föderation“. Die eigentliche Privatisierung begann aber am 14. August desselben Jahres mit Jelzins Ukas „Über das Inkrafttreten des Systems von Privatisierungsbons in der Russischen Föderation“. Die daraufhin emittierten Bons wurden als Voucher bezeichnet, in Anlehnung an die Bezeichnung der emittierten Wertpapiere bei der tschechischen Privatisierungsreform.

    Jeder Voucher hatte einen Nennwert von 10.000 Rubel, nach damaligem Umrechnungskurs etwas mehr als 30 US-Dollar.1 Dieser Wert ergab sich daraus, dass das zu privatisierende Volkseigentum, das zunächst 35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts umfasste, auf 1,5 Billionen Rubel geschätzt wurde. 1,5 Billionen Rubel geteilt durch die Einwohnerzahl von 150 Millionen ergab 10.000 Rubel. In Wirklichkeit waren die einzelnen Voucher jedoch viel weniger Wert, viele Russen verkauften sie für rund sieben US-Dollar. Es befanden sich viel mehr Voucher im Umlauf als geplant und die Anzahl der begehrten Unternehmen war begrenzt, wodurch der Wert von einzelnen Vouchern de facto sank.2

    Entpolitisierung der Wirtschaft

    Die Reform wurde initiiert, nachdem der Prozess der schleichenden Privatisierung bereits mehrere Jahre im Gange war. Die Direktoren der sowjetischen Unternehmen hatten auch im jungen Russland Kontrolle über selbige behalten und waren mit asset stripping beschäftigt, mit der Ausschlachtung von Anlagen. Mit einer geregelten Privatisierung sollte dieser Prozess nun gestoppt werden.

    Die Wirtschaftsberater der russischen Regierung, unter anderem die Harvard-Ökonomen Maxim Boycko, Andrei Shleifer und Robert Vishny, erhofften sich auch eine Zurückdrängung des Einflusses sowjetischer Nomenklatura auf die Unternehmen. Die neuen Eigentümer sollten transparente und effiziente Managementstrukturen schaffen und planwirtschaftliche Dinosaurier tilgen. Laut Boycko und seinen Kollegen waren die „Politiker“ das Hauptproblem der russischen Wirtschaft, der politische Einfluss auf die Wirtschaft sollte auf ein Minimum gesenkt werden.

    Demokratische und gerechte Reform?

    Die Vorstellungen über die Reform waren zunächst sehr idealistisch. Der damalige Präsident Boris Jelzin stellte sie als demokratisch und gerecht dar. Demnach sollte jeder Bürger in Besitz eines Vouchers kommen, mit dem er an einer beliebigen Privatisierungsauktion teilnehmen konnte. In der Theorie hätte schon ein einziger Voucher in einen Anteil eines Unternehmens umgewandelt werden können, in der Praxis führten aber erst zehntausende Voucher zum Erwerb von nennenswerten Unternehmensanteilen.

    Während der Reform waren viele Kleinunternehmer und Gauner, die im Volksmund ironisch als „Investoren“ bezeichnet wurden, damit beschäftigt, Voucher aufzukaufen. Zu solchen Kleinunternehmern gehörte unter anderem auch der spätere Oligarch Oleg Deripaska. Die Armut grassierte und viele Menschen wollten ihre Voucher schnell zu Geld machen, was zu einem massiven Preisrückgang führte. Alternativ gab es die Möglichkeit, Voucher einem Investitionsfonds (Tschekowy Inwestizionny Fond) zu verkaufen, der als ein institutionalisierter Investor während der Privatisierungs-Auktionen auftrat. Es gab ungefähr 600 solcher Fonds. Anatoli Tschubais, der für die Durchführung der Reform verantwortlich war, legte zum Beispiel seinen Voucher im Ersten Voucher-Fonds (Perwy Wautscherny Fond) an. Dieser Fond half ausländischen Holdings, sich in russische Unternehmen einzukaufen.

    Neue Schicht Kapitaleigentümer

    Geschäfte mit Vouchern und Aktien führten zur Etablierung einer neuen Schicht Kapitaleigentümer. Zu solchen gehörten beispielsweise die als „Spekulanten“ verfemten Händler, die Preisunterschiede innerhalb bestimmter Zeiträume ausnutzten und mit dem Voucher-Handel Gewinne erwirtschafteten.  Die sogenannten „Manager“ (russ. uprawljajuschtschie) wandelten Voucher demgegenüber in Unternehmens- oder Investitionsfonds-Aktien um und verkauften sie anschließend gewinnbringend.3

    Anders als von Tschubais und Jelzin geplant, machte die Reform aber nur einen kleinen Teil der russischen Gesellschaft zu Kapitaleigentümern. Die Privatisierung sollte vor allem deshalb „gerecht“ sein, weil alle Bürger voraussetzungslos und nach dem Gleichheitsprinzip jeweils einen Voucher bekamen. Der Verlauf und die Konsequenzen der Reform brachen aber den Gerechtigkeitssinn der Russen, wie Tschubais 2013 selbstkritisch eingestand.4

    One Size Doesn’t Fit All

    Die Wirtschaftsberater der Regierung hatten es abgelehnt, die Reform an Werte, kulturelle Praktiken und den Wissensstand der russischen Gesellschaft anzupassen. Die russischen Bürger würden genauso auf Anreize reagieren und ihre Interessen genauso verfolgen, wie die Bürger in Ländern mit längerer Tradition des Kapitalismus, so die These des Harvard-Ökonoms Maxim Boycko.5

    Dies war vor allem deshalb ein Fehlschluss, weil es an institutionellen Instrumenten mangelte, um kriminelle Praktiken bei der Durchführung der Reform zu verhindern. Hinzu kamen gravierende politische Fehler bei der Ausgestaltung der Reform. Schließlich fehlten dem Großteil der russischen Gesellschaft Kenntnisse von marktwirtschaftlichen Mechanismen. Aus diesen Gründen war es für Manager und Oligarchen ein leichtes Spiel, Kontrolle über den Privatisierungsprozess zu erlangen und zu behalten. Sie konnten den Verlauf der Privatisierung nach ihren Interessen gestalten und schafften es bis 1996 18 Prozent der Aktien zu erwerben und weitere 40 Prozent der Aktien im Streubesitz zu kontrollieren.6 Vor allem aus diesem Grund gilt die Voucher-Privatisierung im nationalkonservativen Diskurs als „Raub am Volk“.


    1. vgl. Gustafson, Thane (1999): Capitalism Russian-Style, S.41 ↩︎
    2. vgl. o. A. (2002): Theft of the Century. Privatization and the Looting of Russia. An Interview with Paul Klebnikov. In: The Multinational Monitor 23 (1 & 2), Januar/Februar ↩︎
    3. vgl. Baškirova, Valerija; Aleksandr Solov’jov; Vladislav Dorofeev (2012): Geroi 90-ch. Ljudi i den’gi. Novejšaja istorija kapitalizma v Rossii, S. 98 ↩︎
    4. vgl. Aven, Pjotr; Al’fred Koch (2013): Revoljucija Gajdara. Istorija reform 90-ch iz pervych ruk ↩︎
    5. vgl. Appel, Hilary (2000): The Ideological Determinants of Liberal Economic Reform: The Case of Privatization. In: World Politics Vol. 52, Nr. 4 (July), S. 520-549, hier S. 538 ↩︎
    6. vgl. Aslund, Anders (2007): Russia’s Capitalist Revolution: Why Reform Succeeded and Democracy Failed ↩︎

    Weitere Themen

    Lektionen aus dem Zerfall eines Landes

    Wandel und Handel

    Bringen Sie uns bloß die Wirtschaft in Ordnung!

    „Nur ein Idiot versteht den Ernst der Lage nicht“

    Wörterbuch der wilden 1990er

    Besondere russische Werte?!