дekoder | DEKODER

Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Schnur hält die Fäden zusammen

    Schnur hält die Fäden zusammen

    Er füllt Clubs und Konzerthallen zuverlässig: Musiker und Rüpel Sergej Schnurow mit seiner Ska-Punk-Band Leningrad. Er ist das Aushängeschild des russischen Undergrounds. So sehr, dass Schnurow eigentlich schon wieder kein Underground ist: Weil er zu den beliebtesten Musikern in Russland zählt. Jedenfalls für die Menschen, bei denen er mit seinem exzessiven Schimpfwortgebrauch – in Russland ist so etwas ein absolutes Tabu – den Ton für ein Lebensgefühl trifft. Und das seit knapp 20 Jahren. Wie schafft er das, fragt sich Jan Schenkman in der Novaya Gazeta? Ein Porträt.

    Wir bringen den Menschen Lachen und Freude – Sergej Schnurow / Foto © Gennadi Guljaew/Kommersant
    Wir bringen den Menschen Lachen und Freude – Sergej Schnurow / Foto © Gennadi Guljaew/Kommersant

    Angst, blöd rüberzukommen, kennt Schnurow nicht, das ist ihm schon lange scheißegal. Seit vielen Jahren sagt er immer dasselbe, verändert nur die Form, aber mit ihm zu reden, ist immer wieder interessant. Der Bandleader von Leningrad versteht es wie sonst niemand, die kompliziertesten Dinge auf das Wesentliche zu reduzieren. Jede Antwort ein Aphorismus, wie der Refrain: „Nüchtern bin ich ein Leningrader, betrunken ein Petersburger.“ 

    – Wovor haben Sie am meisten Angst?

    – Ich habe manchmal Anfälle absoluter Furchtlosigkeit. Das macht mir Angst.

    Eine blitzschnelle Reaktion, aber man sieht sofort, wie müde er ist. 2017 feiert Leningrad Jubiläum – 20 Jahre. Nach wie vor macht es Schnurow Spaß, Lieder zu schreiben und zu spielen, das gelingt ihm immer noch gut. Aber was er echt nicht versteht: Wieso soll er für das gesamte Gefüge der Welt geradestehen und Fragen zum Thema „Wie gestalten wir Russland“ diskutieren? Warum wählt ihn das Männermagazin GQ mit beneidenswerter Regelmäßigkeit zum Mann des Jahres, und das ganze Land freut sich? Warum ändert sich so lange nichts?   

    Ganz einfach. Man kann gut und gerne sagen, Russland sei hoffnungslos in den 2000er Jahren stecken geblieben und könne sich nicht davon lösen – und der wichtigste Gestalter der 2000er ist nun mal Sergej Schnurow. Er hat die Tür nach den 1990-ern eigenhändig geschlossen und sich dabei als letzter unter unseren Rockstars eingereiht, obwohl er sich gar nicht als Rocker sieht. Von daher haben viele das Gefühl: Es hatte doch alles so gut begonnen – Grebenschtschikow, Zoi, Schewtschuk – und am Ende dann: Schnur. Haben wir etwa davon geträumt? Sind das nicht Anzeichen von Verfall?

    Die Kritik trifft den Falschen. Jede Zeit hat ihre Lieder, und für die Zeit, in der wir leben, hat er ein sehr genaues und feines Gespür. Die 2000er Jahre haben, ganz ihrem Namen entsprechend, alle Werte annulliert und uns von der Pflicht befreit, klug, ehrlich und gut zu sein. Genau das hat auch Schnur getan, noch dazu auf geistig und künstlerisch hohem Niveau. Seine zentrale Botschaft: Ja, so missraten sind wir, aber drauf geschissen, entspannt euch, besaufen wir uns, und komme, was da wolle.    

    Einen anderen, der es schafft, unsere entzweigerissene, hasserfüllte Gesellschaft zu vereinen, haben wir schlichtweg nicht

    Oh, wie euphorisch wir in den Clubs abgetanzt haben! Zu Ljudi ne letajut (dt. Menschen fliegen nicht) und Po kakoj-to gluposti nam wsem moshet powesti (dt. Aus Dummheit kann jeder mal Glück haben). Das war der nächste Schritt nach Mamonows Ja gadost, ja dran, sato ja umeju letat (dt. Ich bin widerlich und dreckig, aber dafür kann ich fliegen!). Nicht mal fliegen war also unbedingt nötig. Ja, so sind wir, na und? Wir können nichts, wir wollen nichts, Hauptsache der Ölrubel rollt, bei Auchan ist Ausverkauf, und ein Türkeiurlaub kostet sowieso nichts.

    Er sang: Nikowo ne shalko, nikowo, ni tebja, ni menja, ni ewo (dt. Leid tut einem niemand, nicht du, nicht ich, nicht er). Und wenn einem niemand leid tut, kann man sich alles erlauben. Lügen und Betrügen, Diebstahl und Besäufnis, dumme Weiber und debiles Gerede über Handys und Kohle. Ja, so sind wir.     

    Klingt fürchterlich, aber man kann es auch anders sagen: Schnurow hat uns erlaubt, wir selbst zu sein und uns darüber keinen Kopf zu machen. Die PR-Agenten von Pelewin, falls sich noch jemand erinnert, haben Unruhe verkauft, Schnur hingegen wirkt trotz seiner Exzentrik tröstlich. „Du kannst damit leben, es als Teil von dir annehmen“, sagte er bei Posner, „und es damit auch ein klein wenig überwinden. Die Energie der russischen Selbstzerfleischung verwandeln wir in eschatologische Begeisterung.“  

    https://youtu.be/Lq7gJqXobcE?t=14m

     
    Sergej Schnurow bei Wladimir Posner: „Du kannst damit leben, es als Teil von dir annehmen.“

    Sein liebster Trick – die Latte so tief zu hängen, dass man gar nicht tief fallen kann. Er identifiziert sich weder mit  Großmachtstreben noch mit Antitotalitarismus, weder mit Avantgardekunst noch mit den Klassikern der russischen Literatur, so etwas nervt ihn ernsthaft. Es widerspricht seinem inneren Grundprinzip, sich selbst als schwarzes Schaf zu lieben. Sein Credo: Was auch immer der Mensch aus sich gemacht hat, von seinen Höhlen bewohnenden Vorfahren hat er sich nicht weit entfernt. Egal ob im Beamtensessel, unter der Brücke, auf dem Bolotnaja-Platz oder auf der Baustelle – alle sind gleich und ebenbürtig, wie nackt in der Banja. Niemand ist besser.

    Wegen seiner landesweiten Popularität, seiner Ausgelassenheit und seines zwielichtigen Anstrichs wird Schnur oft mit Jessenin und Wyssozki verglichen. Hört man allerdings genau hin, dann ist die Analogie eine andere, nämlich Dowlatow:

    „Tolja“, sage ich zu Naiman. „Lass uns doch Lew Ryskin besuchen.“ – „Nein, will ich nicht. Der ist so sowjetisch.“ – „Wie, sowjetisch? Sie irren sich!“ – „Na, dann eben antisowjetisch. Ist doch egal.“ 

    In diesem Sinne ist Schnurow natürlich eine Klammer. Einen anderen, der es schafft, unsere entzweigerissene, hasserfüllte Gesellschaft zu vereinen, haben wir schlichtweg nicht. Dass in seinem Lied 37 nicht das Jahr ist, in dem die stalinistischen Repressionen ihren Höhepunkt fanden, sondern lediglich eine Schuhgröße, ist ja kein Zufall. Und es ist auch kein Zufall, dass im Clip zu V Pitere – pit (dt. Piter – das heißt Trinken) ein Verkehrspolizist zuerst in die Newa geworfen wird, und später säuft man dann gemütlich miteinander. Denn eine Uniform lässt sich ausziehen und zu 1937 kann man so oder so stehen, aber Frauen wollen Kleider und Männer wollen Wodka – das wird keine Ideologie der Welt jemals ändern.     

    Mir gegenüber hat er diesen Gedanken mal anders ausgeführt: Die Band Leningrad stehe für Party und Liebe. Selbst wenn man eins hinter die Löffel bekommt, am Schluss müssen sich alle umarmen. Seine Lieblingsplatte sind die Bremer Stadtmusikanten, und das erklärt einiges: „Wir bringen den Menschen Lachen und Freude.“

    Man findet bei ihm massenhaft vulgäres Mat, auch Brutalität und Grobheiten, aber nie Bosheit und Aggressionen. Wissenschaftlich sind schwere Schlägereien bei Leningrad-Konzerten jedenfalls keine belegt. Und selbst wenn etwas passiert, liegen sich am Ende tatsächlich alle in den Armen. Es gibt keinen Grund, einander ernsthaft böse zu sein.   

    Nur wenige bemerken, dass diese Musik eigentlich sehr warmherzig ist. Die Lippen formen sich von selbst zu einem Lächeln, alle sind glücklich. Das Geheimnis ist einfach: „Ich verspüre keinen Hass auf mein Volk“, sagt Schnurow. „Ich lebe hier, ich bin genau so, und ich bin auch nicht von mir begeistert. Man braucht sich nur nicht über andere zu stellen, dann ist niemand sauer.“

    Aber gerade das ist es, was sie sauer macht – die einen wie die anderen: Liberale genauso wie Patrioten. Dass der im Großen und Ganzen harmlose und apolitische Schnur auf einmal so viele aufregt, ist ein zuverlässiges Zeichen für tektonische Verschiebungen in der Gesellschaft.  

    Folgendes ist passiert: Als er jegliche moralische Ansprüche auf null herunterschraubte und den Leuten ihr wahres Wesen zurückgab, war Schnur sich sicher, dass dieses Ass nicht übertrumpft würde. Für die 2000er Jahre stimmte das auch. In den 2010er-Jahren zeigte sich aber, dass es auch unter null geht. Schnur hat sich nicht geändert, er hat im Grunde getan, was er immer getan hat: Freude verbreitet, den Skomoroch, den Possenreißer gespielt. Ich weiß noch gut, wie bei einer Feier in seinem Betrieb Männer im Smoking und Frauen im Abendkleid einträchtig das Drei-Buchstaben-Wort schrien, das die Aufsichtsbehörde Roskomnadsor verboten hat. Genau das gleiche taten die einfach gekleideten Besucher auf seinen Stadionkonzerten. Und alle waren happy.

    Doch dann kam es irgendwie unbemerkt zu einem Aufwallen von Wut. Schnur ist allerdings bis dato überzeugt, dass sich der Shitstorm hauptsächlich auf das Internet beschränkt, während im echten Leben eigentlich alle ganz normal sind. Dass alle, wie Babel schrieb, nach wie vor nur daran denken, ein gutes Gläschen Wodka zu trinken, irgendwem eins auf die Schnauze zu geben, und an die eigenen Pferde – sonst nichts.   

    Nicht alle. Sonst hätte sein Song mit dem Refrain Ty wse Rossiju proslawljajesch, a lutsche b musor wynosil  (dt. Dauernd lobst und preist du Russland, bring doch lieber Müll runter) nicht so viele negative Gefühle hervorgerufen. Ja, sogar die völlig harmlosen Louboutins, die ein Publikum der Bevölkerungszahl Finnlands begeisterten, kamen auf einmal irgendwem sexistisch vor. Die Liberalen motzen: Im Land herrscht Totalitarismus, und er singt von Titten. Nichts anderes als ein Handlanger des Regimes. Und so weiter … Man braucht ja nur Nachrichten zu lesen, um sich ein Bild vom Ausmaß des Unheils zu machen, von der Zerrüttung in den Köpfen.  

    Nun gut, Schnur hatte ernsthaft gedacht, es sei unmöglich, die Latte niedriger zu hängen als er, aber die Gesellschaft hat sich ordentlich ins Zeug gelegt und das fertiggebracht. Und es ist erstaunlich: der Einzige, der dem entgegensteht, ist er. Er  behält seine Position bei, aufseiten der Normalität, und verteidigt diese Normalität nach Leibeskräften. Denn Punk sein bedeutet heute nicht, auf facebook über Russland zu schimpfen und Fotoausstellungen zu demolieren, sondern man selbst zu bleiben und sich nicht dem Irrsinn hinzugeben.  

    Weitere Themen

    Pussy Riot

    Ein bisschen Frieden

    Juni: Grooven auf den Leeren Hügeln

    Russki Rock

    Russische Rockmusik

    Mat – russische Vulgärsprache

  • Sergej Schnurow

    Sergej Schnurow

    Ehemann kommt stockbesoffen nach Hause: Ich war heut besoffen und am Arsch. Du sagst, deine Nerven sind auf Abmarsch. Du sagst, du kannst nicht mit mir. Du sagst, du krankes Alki-Tier. Ich sag, scheiß drauf, mir schnurz, zieh Leine, ich bin Agent 007 auch alleine. Du sagst, du liebst mich nicht mehr. Du sagst, ein Schwein macht da mehr her. Ich sag, scheiß drauf, mir schnurz, hau ab, 0,5 Liter Wodka kauf ich vorab.

    Ein typischer Liedtext von Sergej Schnurow – in diesem Fall aus dem Album Datschniki (dt. soviel wie Kleingärtner), mit dem er und seine Band Leningrad im Jahr 2000 berühmt geworden sind. Es ist ein schlichtes Sujet mit eigener Sprache, wie in vielen seiner Lieder: Schnurows Protagonist schuftet, kommt besoffen nach Hause, setzt sich vor die Glotze, streitet mit seiner Frau, schimpft über den Westen und verwendet ständig Kraftausdrücke (Mat). Auf diese Art thematisiert und ästhetisiert Schnurow ein Lebensgefühl und eine Lebensweise, die von vielen Menschen in Russland aufgrund ihrer Derbheit verachtet werden. Und doch wurde Schnurow in kürzester Zeit zu einem der populärsten Musiker Russlands, und seine Konzerte ziehen bis heute zigtausende Menschen an.

    Sergej Schnurow, kurz Schnur genannt, mimt den russischen Mann und Macho in einer dezidiert rauen und brutalen Ausprägung. Mit dieser Rolle repräsentiert er ein Stereotyp, spielt ironisch damit und revoltiert gleichzeitig gegen eine süßliche, verweichlichte und angepasste Popkultur, die auf Russisch abwertend auch als popsa bezeichnet wird.

    Diese männliche Wildheit der Band Leningrad wird auf mehreren Ebenen inszeniert. Dazu gehören, erstens, ein exzessiver Alkoholkonsum der Musiker und ihrer Konzertbesucher sowie das Besingen einer derben Saufkultur, zweitens ein ebenso exzessiver Gebrauch des russischen Mat, und drittens eine souverän gespielte Mischung aus Ska, Punk-Rock und Chanson mit eingängigen ekstatischen Rhythmen.

    Sergej Schnurow wurde 1973 in der Stadt des russischen Rocks – in Leningrad – geboren und dort sozialisiert. Eine Ausbildung zum Restaurator brach er ab, wie er auch ein Philosophiestudium nicht abschloss.1 Gleichzeitig begann er Anfang der 1990er Jahre damit, Musik zu machen. Als Gründungsdatum der Gruppirowka Leningrad, wie sich die Band offiziell bezeichnet, gilt der 9. Januar 1997, damals noch mit Igor Wdowin als Lead-Sänger und Sergej Schnurow als Komponisten und Bass-Gitarristen.

    Programm gegen verweichlichten Pop – die Band Leningrad – Foto © Irina Bushor/Kommersant
    Programm gegen verweichlichten Pop – die Band Leningrad – Foto © Irina Bushor/Kommersant

    Seit 1999 führt Schnurow selbst die bis zu 17-köpfige Band als Frontmann an. Die Mitglieder wechseln immer wieder, während er zu ihrem unverwechselbaren Gesicht geworden ist und inzwischen einen beachtlichen Output vorweisen kann: über 20 Studio- und Konzertalben, weit mehr als 100 Videoclips und auch einige Film-Soundtracks zählen dazu (unter anderem zu dem im Jahr 2003 entstandenen Film Bumer unter der Regie von Pjotr Buslow). Sergej Schnurow ist darüber hinaus ein gefragter Einzeldarsteller und spielt immer wieder in Filmen mit. Er tritt auch als Opernsänger, Fernsehmoderator und Maler in Erscheinung, und ist zudem in Werbespots zu sehen, so zum Beispiel für ein Potenzmittel oder für das Telekommunikationsunternehmen Ewroset (wobei letzterer Spot fast ausschließlich aus Pieptönen besteht, die Schnurows Mat gespielt zensieren). In Interviews gibt sich Schnurow dagegen durchaus auch als belesener Petersburger Intellektueller, oder er posiert in teurer Markenkleidung.2

    Ein Narkotiseur Russlands

    Obwohl Schnurow quer durch die Gesellschaft des ganzen Landes enorm beliebt ist und in seinen Liedern auch auf aktuelle politische Ereignisse reagiert, ist seine gesellschaftliche Rolle alles andere als unumstritten. So bezeichnet ihn der bekannte Musikkritiker Artemi Troizki als einen „Narkotiseur Russlands“, als „Lackierer der russischen Realität“, der einerseits das „wahre“ Leben besinge, in dem alles scheiße sei – wir, ich, du –, dabei gleichzeitig aber zu verstehen gebe, „wie cool das alles ist und wie fröhlich es sich hier leben lässt“.3 Das spiele – so Troizki – dem Kreml in die Hände, weswegen Schnurow eine der wichtigsten „geistigen Klammern“ der russischen Gesellschaft sei – neben dem Tag des Sieges und der Angliederung der Krim. Die Staatsführung, die traditionelle Werte propagiert und mit einem gesetzlichen Verbot gegen Mat in den Medien und in der Kunst vorgeht, toleriert die Auftritte von Leningrad und würdigt die Band sogar öffentlich.4

    Männliche Wildheit und Saufkultur

    Schnurow ist jedoch zweifelsohne kein ideologiekonformer Patriot. Eines seiner Erfolgsgeheimnisse liegt vielmehr in seiner affirmativen und gleichzeitig ironisch-distanzierten Haltung gegenüber seiner medialen Persona. So besingt Schnurow die im russischen Selbstbild verankerte besondere „männliche Souveränität“ in der Welt mit den Worten „überall ist es besser, wo wir sind / wo wir aber nicht sind, ist es schlecht“ („Choroscho tam, gde my est / no gde nas net, tam plocho“), während das männliche Selbstbewusstsein in anderen Liedern wieder als vom Wodka beflügelter Größenwahn und national-patriotischer Chauvinismus entlarvt wird. Dies geschieht im Song Kogda-nibud (dt. Irgendwann), der in das Album Vetschny ogon (dt. Ewiges Feuer, 2011) Eingang fand. Schnurows Ironie geht hier bereits aus dem Titel hervor: Denn das Plattencover zeigt nicht etwa wie der Albumtitel ausgehend von bestehenden Ehrenmalen vermuten ließe eine den gefallenen Soldaten des Großen Vaterländischen Kriegs gewidmete Gedenkstätte, sondern den bläulichen Flammenkranz eines Gasherdes.

    Lachen über sich selbst

    In Kogda-nibud sind alternierend eine männliche und eine weibliche Stimme zu hören. Während der männliche Part eine grobe und aggressive Ansammlung patriotischer Phrasen herausbrüllt, auf Deutsch sinngemäß „wir, verdammt, sind Kulturträger / wir sind ein orthodoxes Land“ („My, bljad, nositeli kultury / my prawoslawnaja strana“), holt die sanfte weibliche Gegenstimme diesen Höhenflug, der in dem animierten Clip als sowjetischer Traum vom Kosmos daherkommt, auf den Boden der Realität zurück: „Irgendwann wirst du das Trinken aufgeben / und ich werde dich zum Arzt bringen“ („Kogda-nibud ty brosisch pit / ja otwedu tebja k wratschu“).

    Auf diese Weise gelingt es Schnurow, die Rolle des „Volkssängers“ und die des Gesellschaftskritikers in sich zu vereinen. Damit erreicht er, was nur Wenigen gelingt, nämlich dass das von ihm besungene russische „Volk“ mitunter auch über sich selbst lachen kann. Wie Schnurow selbst in einem Interview sagte: „Solange wir über uns selbst lachen können, […] bleiben wir im Rahmen des Vernünftigen. Wenn wir das einmal nicht mehr können, ist alles [pisdez] im Arsch.“5


    1. vgl. snob.ru: Sergej Šnurov: Glavnoe – sozdat’ mif ↩︎
    2. snob.ru: Sergej Šnurov: Glavnoe – sozdat’ mif ↩︎
    3. vgl. Echo Moskwy: Osboe Mnenie, 24.05.2016 ↩︎
    4. Beispielsweise hat Vize-Premierminister Dimitri Rogozin im Mai 2016 vorgeschlagen, Sergej Schnurow 2017 zum Eurovision zu schicken., sh. lenta.ru: Rogozin predložil otpravit’ Šnurova na „Evrovidenie“ ↩︎
    5. RBC.ru: Sergej Šnurov – RBK: „Obraz v majke-alkogoličke realizovan uže na 120%“ ↩︎

    Weitere Themen

    Oktoberrevolution 1917

    Ein bisschen Frieden

    Russischer Mat – kulturhistorische Aspekte

    Russki Rock

    Russische Rockmusik

    Mat – russische Vulgärsprache

  • Russki Rock

    Russki Rock

    „Zoi ist tot“ prangt seit Ende Juni in riesigen Lettern auf der Moskauer Viktor-Zoi-Gedenkmauer, der inoffiziellen Pilgerstätte für einen der wichtigsten russischen Rockmusiker. Sein Todestag jährt sich am 15. August.

    Viele sahen in dieser Aktion unbekannter „Künstler“ einen symbolischen Sinn: Die Zerstörung des Denkmals für den Mann, der einst die Perestroika-Hymne My shdjom peremen (dt. „Wir warten auf Veränderungen“) sang, entspricht ganz und gar dem Zeitgeist.

    Wie Letzterer mit der Musik zusammenhängt und warum die Protestsong-Tracklist in Russland noch heute aus Werken längst vergangener Tage besteht, darüber sprach Rus2Web mit Juri Saprykin, Musikkritiker, Publizist und ehemaliger Chefredakteur der Zeitschrift Afischa.

    Extreme Popularität und ein unglaublicher, geradezu religiöser Status – Viktor Zoi und seine Band Kino / Foto © Dmitriy Konradt
    Extreme Popularität und ein unglaublicher, geradezu religiöser Status – Viktor Zoi und seine Band Kino / Foto © Dmitriy Konradt

    Sie sagten eben, dass Sie praktisch keine aktuelle russische Musik mehr hören. Was sind die Gründe dafür? Worin unterscheiden sich heutige Interpreten von den Künstlern der 1980er und 1990er, die Ihnen so am Herzen liegen?

    Also ganz so ist es nun auch nicht. Es gibt immer noch bestimmte Richtungen, die ich verfolge, es sind bloß einfach deutlich weniger geworden. Zum Teil liegt das daran, dass Geschmack sich verändert, zum Teil aber auch an, naja … warum hören Menschen überhaupt Musik? Sie wollen starke Gefühle erleben, sich selbst darin wiederfinden, Schwingungen auffangen, die sich mit dem eigenen Lebensgefühl decken. Die russische Pop- und Rockmusik liefert das alles nicht mehr.

    Haben die Stars der Rockmusik in letzter Zeit irgendetwas [Erwähnenswertes] hervorgebracht oder ist ihre Zeit abgelaufen?

    Splin zum Beispiel geben Konzerte im Moskauer Sportkomplex Olympiski, und die Riesenhalle ist dann rappelvoll. Diese Band ist extrem gefragt. Die Musiker der 1980er und 1990er, das war die letzte Generation, die es geschafft hat, zu Nationalhelden zu werden, und nach Splin oder Korol i Schut gibt es keine Band mehr, die solche großen Hallen füllen könnte.

    In den 1980er Jahren war die sozial relevante und inhaltlich aussagekräftige Musik der Rock, und der formierte sich als Gegengewicht zur konventionellen sowjetischen Unterhaltungsmusik. Ende der 1990er, Anfang der 2000er Jahre hatten diese Inhalte einiges an Anziehungskraft verloren, scheint mir. Welche Erklärung haben Sie dafür?

    Zunächst mal beruhte die Hauptwirkung der Rockmusik Ende der 1980er Jahre nicht auf irgendeiner sozialen Aussage, sondern darauf, dass diese Musiker einfach vollkommen andere Menschen waren – sie sahen anders aus, sprachen eine komplett andere Sprache.

    Als ich beispielsweise zum ersten Mal Aquarium hörte – ich glaube, das war der Song Ja smeja (dt. „Ich bin eine Schlange) oder Slushenje mus ne terpit kolessa (dt. „Der Musendienst duldet kein Rad) – also darin war nicht das kleinste Quentchen Soziales. Aber wenn du diese Musik gehört hast, hast du begriffen, dass bestimmte Mauern eingerissen sind.

    Alle bisherigen Vorstellungen davon, wie Musiker aussehen und was für Musik sie machen können, welche Wörter man im Russischen aneinanderfügen kann – alles hatte sich komplett verändert oder sollte sich im allernächsten Augenblick verändern.

    Die Wirkung dessen, was die Leute Ende der 1980er machten, hing nicht damit zusammen, dass sie irgendwelche verbotenen Themen aufwarfen.

    Dieses Explosionsgefühl kam vor allem daher, dass innerhalb kürzester Zeit eine ganze Reihe vollkommen unterschiedlicher Musiker auf der Bildfläche erschienen und jeder von diesen Leuten Sachen machte, die auf einer sowjetischen Bühne bis dahin ganz und gar unvorstellbar gewesen waren.

    Wenn man heute Russkoje Radio oder Nasche Radio einschaltet oder selbst die Flow-Playlist von Apple Music, da ist einem in etwa klar, was die Leute da singen – alles klingt mehr oder weniger wie das, was man kennt. Mitte der 1980er Jahre aber machten ein paar Leute plötzlich etwas wirklich vollkommen anderes, etwas absolut neues. Da ging es eher um den Effekt der Neuartigkeit und darum, dass sich plötzlich sämtliche Grenzen auflösten, als um irgendwelche sozialen Aussagen.

    Ich dachte bei der sozialen Dimension weniger an Aufrufe, auf die Straße zu gehen, als an den allgemeinen Protest gegen Beschränktheit und Einförmigkeit.
    Wie hat sich dieser Protest, wie hat sich diese Musik seit Ende der 1980er Jahre verändert? Wie würden Sie die Veränderungen der 1990er und der 2000er Jahre charakterisieren?

    Mit überraschend neuen Erkenntnissen kann ich da wohl kaum aufwarten. Klar ist, die zweite Hälfte der 1980er – das war eine Explosion, mit einem Mal tauchten da diese ganzen abgefahrenen Leute auf, die unterschiedlichsten Musiker, und die landeten dann sehr schnell auf der professionellen Bühne und in der kommerziellen Musikindustrie, wofür sie eindeutig nicht bereit waren.

    Alle, die damals anfingen, seien es Aquarium, Kino, Kalinow Most oder Grashdanskaja Oborona – alle gingen fest davon aus, dass sie die ganze Sache ausschließlich für sich selbst und für ihre nicht allzu zahlreichen Freunde machten, dass sie lediglich Unannehmlichkeiten zu erwarten hatten und das alles mit Geld und Karriere nichts zu tun hatte. Wer Geld und Karriere machen wollte, musste sich gänzlich anders orientieren. Und dann werden diese Leute nach ein paar Jahren der Mühen und Entbehrungen tatsächlich zu kommerziell erfolgreichen Superstars.

    Das war eine Herausforderung, die alle ziemlich dramatisch durchlebten damals, und nicht alle haben das gemeistert.

    Ich würde sagen, die letzten Jahre der 1980er und die erste Hälfte der 1990er, das war die Zeit, als diese Musikergeneration sich in der neuen sozialen Wirklichkeit selbst zu finden suchte. Als das für unerschütterlich gehaltene sowjetische Haus mit einem Mal anfing zu bröckeln und man lernen musste, mit einem neuen Status zu leben – dem eines erfolgreichen, gut verdienenden Musikers.

    Meiner Meinung nach waren die 1990er für die russische Musik eine ziemlich verhängnisvolle Zeit. Es gab eine ganze Menge guter Sachen, zum Beispiel Grashdanskaja Oborona und die ihnen nachfolgenden sibirischen Punkgruppen, die in dieser Realität nicht heimisch wurden; oder der ganze aus Moskau und Tjumen stammende Underground, also Gruppen wie Solomennye Jenoty (dt. Die Stroh-Waschbären“), Banda Tschetyrjoch (dt. Die Viererbande“) und so weiter – das waren Leute, die sich komplett außerhalb der Medienöffentlichkeit befanden, die die neurussische Weltordnung explizit ablehnten und sich ihr – nicht auf der sozialen, sondern eher auf der existenziellen Ebene – widersetzten.

    Ende der 1990er begann dann bereits eine völlig andere Geschichte, Mumi Troll (dt. Der Mumin-Troll“) tauchte auf und nach ihnen eine regelrechte Welle von Bands, die so einen solide gemachten, westlich orientierten Trend-Pop mit menschlichem Antlitz und lebendigen, mysteriösen Texten machen. Unter anderem entstand auf dieser Welle auch [der Rock-Radiosender] Nasche Radio. Das war in gewisser Weise das Ende des Undergrounds und der Beginn einer neuen Popmusik-Ära.

    Naja und alles, was dann in den 2000er Jahren kam … da ist ja im Prinzip alles bekannt. Allmählich bildete sich der russische Hip-Hop heraus, der heute, Mitte der 2010er Jahre, endgültig zur neuen Volksmusik geworden ist, zum russischen Chanson 2.0.

    Andererseits verabschiedeten sich allmählich auch alljene Musiker, die seit den 1980er, 1990er Jahren dabeigeblieben waren und mit unterschiedlichem Erfolg weiter interessante oder auch uninteressante Sachen gemacht hatten. Abgesehen vom Hip-Hop in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen ist in den 2000er Jahren in Russland wahrscheinlich nichts Neues entstanden.

    Und warum nicht? Wollen die Leute nichts Neues hören?

    In den 1980ern war das, was einen jungen Musiker vor allem reizte, eine gewisse Weltflucht, der Versuch, einer drückenden und verhassten Realität zu entfliehen und sich eine ästhetische Nische zu suchen, in der man sich cool und stark, in der man sich als Held fühlen konnte.

    In den 2000ern war der Anreiz ein vollkommen anderer – vor der Wirklichkeit fliehen wollte jetzt keiner mehr, im Gegenteil, man wollte sich allmählich in ihr einrichten. Die Rezepte dafür waren ja bereits da. Mach es wie Mumi Troll oder wie Semfira, halte dich an Splin oder auch an Korol i Schut. Bitte sehr, es gibt jede Menge Beispiele dafür, wie man es machen muss, wenn man Erfolg haben will.

    Verlaufen die Entwicklungslinien von Musik und Gesellschaft deckungsgleich?

    Nein, die Musik und die Gesellschaft bewegen sich in unterschiedliche Richtungen. Das heißt, es gibt vermutlich irgendeine Korrelation, aber die ist schwer zu erfassen, besonders wenn man so dicht dran ist. Im Nachhinein, mit einem Abstand von 10 bis 20 Jahren erkennt man die Zusammenhänge, aber so auf Anhieb ist das kaum zu erfassen.

    Sie haben zu den Protesten auf dem Bolotnaja-Platz eine Tracklist erstellt …

    Richtig, das habe ich damals.

    Auf dieser Liste fanden sich all die üblichen Verdächtigen der 1980er und 1990er, darunter der besagte Zoi-Titel Peremen (dt. „Veränderungen“), die dort so offen gefordert werden …

    Nennen Sie mir mal einen weiteren Titel von Viktor Zoi, der irgendeine Forderung beinhaltet.

    Viele seiner Lieder haben einen offensichtlichen Subtext.

    Nein. Die Leute machen sich immer an Peremen fest, als ob es das wäre, was Zoi ausgemacht hat. Meiner Ansicht nach hat es das überhaupt nicht. Seine extreme Popularität und sein unglaublicher, geradezu religiöser Status hatten überhaupt nichts mit dem Lied My shdjom peremen (dt. „Wir warten auf Veränderungen“) zu tun.

    Wenn in Zois Musik der Zeitgeist zum Ausdruck kam, dann darin, dass er auf seinen letzten Alben ein unwahrscheinlich romantisches und zugleich äußerst tiefgründiges Bild vom Krieg als dem natürlichen Zustand der Menschheit entworfen hat. Einem Krieg, an dem teilzunehmen weder Sünde noch Übel oder Fluch ist, sondern ein ganz natürlicher Teil des Lebenskreislaufs, wenn auch nicht der erhebendste.

    Das ist ein uraltes östliches Verständnis, das vor allem den jungen Menschen in jener extrem schweren Zeit damals offenkundig auf der Seele lag. Ich meine Krieg nicht im Sinne mit Waffengewalt ausgetragener Konflikte, sondern als Zustand des Konflikts mit der Realität auf den verschiedensten Ebenen.

    Wenn es bei Zoi eine historische Mission gibt, dann nicht die, dass er die Leute darauf vorbereitet hat, vors Weiße Haus oder zum Bolotnaja-Platz zu ziehen, eher hat er sie für die zahlreichen Konflikte mit der Realität gewappnet, mit denen seine Hörer in den 1990er Jahren konfrontiert wurden. Zoi hat ihnen geholfen, diese Konflikte zu überstehen … denen, die noch am Leben geblieben waren.

    Gibt es einen Viktor Zoi 2016?

    Nein, den gibt es nicht. Es gibt niemanden, in dessen Liedern die Menschen heute Antworten auf die großen Fragen des Lebens suchen würden, dessen Lieder nahezu religiösen Status hätten.

    Sollte denn ein Musiker seiner politischen Haltung außerhalb seiner Musik Ausdruck verleihen?

    Ein Musiker sollte gar nichts. Du bist ein König: Leb allein auf deinem Thron. Ein Musiker macht das, was seiner Natur entspricht. Es gibt Leute, die kann man sich sofort auf den Barrikaden vorstellen, die begeben sich gerne in die Politik. Und es gibt solche, denen liegt das gänzlich fern. Das sind unterschiedliche Temperamente und unterschiedliche Schaffens- und Lebenswege. In dieser Frage lässt sich unmöglich eine allgemeingültige Regel aufstellen.

    Apropos Politik in der Musik. Dass Juri Schewtschuk [damals] nach Grosny gefahren ist, wird nicht als Politik wahrgenommen – er hat ja eh alles, was er dort zu Gesicht bekommen hat, in Musik umgesetzt. Heutzutage machst du entweder Musik und redest generell nicht über soziale, politische Themen oder du redest drüber, aber dann wirst du automatisch zur politischen Figur …

    Ich sehe Schewtschuks Reise nach Grosny definitiv nicht als musikalisches Ereignis. Er hat da am Lagerfeuer gesessen und zur Gitarre Poslednjaja Ossen (dt. „Der letzte Herbst“) gesungen. Und politisch war an der Aktion offen gestanden auch nichts. Es war eine ganz natürliche menschliche Geste: Da sterben unsere Jungs, sie machen dort eine schwere Zeit durch, und ich möchte bei ihnen sein.

    Das Lied Kapitan Kolesnikow pischet vam pismo (dt. „Kapitän Kolesnikow schreibt euch einen Brief; Kapitänleutnant Dimitri Kolesnikow war als Besatzungsmitglied der im August 2000 gesunkenen Kursk ums Leben gekommen – Anm.d.R.), das er später schrieb –  einfach herzzerreißend – das ist auch so eine menschliche Geste. Es ist nicht gegen Putin, es ist nicht für Putin, es ist über Menschen, die auf dem Grunde des Meeres für ihre Heimat sterben, während diese Heimat sie längst vergessen hat.

    Heutzutage kommt es vor, dass selbst eine einfache menschliche Geste am Ende eine Fernseh-Hetzjagd und abgesagte Konzerte zur Folge hat, wie es zum Beispiel Andrej Makarewitsch erlebt hat.

    In der Situation eines tiefgreifenden inneren Konflikts, eines kalten Bürgerkriegs, wie wir ihn im Frühjahr 2014 erlebt haben – einer Situation, die gerne als völliger Triumph und als große Einigung des Volkes im Rausch der Begeisterung über die Krim-Annexion beschrieben wird, die in Wirklichkeit aber ein innergesellschaftlicher Konflikt von unglaublicher Heftigkeit war –, in einer solchen Situation kommt jedes zu diesem Konflikt geäußerte Wort einem Schuss gleich. Das liegt auf der Hand, und dafür braucht man nicht Makarewitsch zu sein.

    Du postest auf facebook ein Foto von deinem Kätzchen, und sofort melden sich mehrere hundert Kommentatoren zu Wort, die sich gegenseitig an die Gurgel gehen und den Chochly dieses und den Moskali jenes anlasten. Wenn du dich dann auch noch zu diesem Konflikt äußerst, selbst wenn du einen allgemein menschlichen, humanistischen oder sonst einen Standpunkt vertrittst, wirst du für einen Teil der Gesellschaft auf jeden Fall zum erbitterten Feind.

    Seit Ende der 1980er Jahre hat die russische Gesellschaft so etwas nicht gesehen, eine derart offen an den Tag gelegte Konfrontation.

    Auf Ihrer Bolotnaja-Tracklist fanden sich neben Viktor Zoi Stücke von Aquarium, AuktYon, Grashdanskaja Oborona, ein paar Songs von DDT und Kasta. Welche aktuelleren Titel könnten auf Ihrer Protest-Tracklist von 2016 stehen?

    Auf den Kundgebungen [damals] habe ich immer davon geträumt, Uprising von Muse aufzulegen und den Song bis zum Ende rauf und runter zu spielen. Alles andere ist dann schon ein Kompromiss. Was Besseres ist mir zu dem Thema bislang nicht eingefallen.

    Weitere Themen

    Fernseher gegen Kühlschrank

    Die Silikonfrau

    Gorbatschow und die Befreiung von der Lüge

    Ein bisschen Frieden

    Das besondere Theater

    Sprache und das Trauma der Befreiung

  • Russische Rockmusik

    Russische Rockmusik

    „Ein fremder Baum, der in unsere Erde gepflanzt wird, kann keine Früchte tragen“1 , so bewertete die Zeitung Komsomolskaja Prawda im Jahr 1982 die Rockband Maschina Wremeni. Dieses Zitat  spiegelt sinnfällig das jahrzehntelange Misstrauen wieder, das das sowjetische Regime gegenüber einheimischen Künstlern empfand, die musikalische Formen oder Ideen aus dem Westen auf russische Bühnen brachten.

    Die Rockmusik in der Sowjetunion orientierte sich stark an Vorbildern aus England oder den USA. Allerdings handelte es sich beim russischen Rock, der sich seit den späten 1960er Jahren entwickelte, nicht um eine bloße Nachahmung des Westens. Die politischen Rahmenbedingungen in der Sowjetunion bewirkten, dass Rockmusik von Anfang an einen oppositionellen Charakter hatte.

    Künstler und Fans maßen den Texten eine ausgesprochen große Bedeutung bei, in denen sich häufig verschlüsselte kritische Aussagen über die sowjetische Gesellschaft verbargen. Auch in Kleidung und Verhalten bildeten die Rockmusiker einen Gegenentwurf zu dem, was die offizielle sowjetische Musikkultur ausmachte.

    Lieferte den Soundtrack einer neuen Zeit – die Gruppe Aquarium / Foto © Dmitriy Konradt
    Lieferte den Soundtrack einer neuen Zeit – die Gruppe Aquarium / Foto © Dmitriy Konradt

    Staat und Partei in der Sowjetunion betrachteten schon seit dem Oktoberumsturz 1917 alles, was an musikalischen Neuerungen aus dem Westen kam, mit ausgeprägtem Misstrauen. Als „Grunzen eines metallenen Schweines“ und „Balzgequake eines riesigen Frosches“ verunglimpfte der Schriftsteller Maxim Gorki etwa den Jazz. Dennoch gelangte – selbst unter Stalin – unablässig westliche Musik in die Sowjetunion. Als Mittler fungierten westliche Radiosender, aber auch sowjetische Diplomaten, die Schallplatten für ihre Kinder aus Westeuropa oder Amerika mitbrachten.

    Auf der östlichen Seite des Eisernen Vorhangs

    Das Jahr 1964 bedeutete nicht nur für Europa eine Zeitenwende. The Beatles dominierten – nach ihrem Durchbruch in Großbritannien und Westeuropa – die amerikanische Hitparade. Ihre auf Schallplatte oder Tonband ins Land geschmuggelte Musik verursachte auch in der Sowjetunion nachhaltige Erweckungserlebnisse. Das „Yeah, yeah, yeah“ aus dem frühen Beatles-Hit She Loves You ertönte als die kommunistischen Funktionäre verschreckender Ruf einer Generation, der auch auf der östlichen Seite des Eisernen Vorhangs zu hören war. Da die englischen Top-Gruppen in der Sowjetunion nicht auftreten durften, heimsten Bands große Erfolge ein, die Musik und Auftreten der Briten nachahmten.2

    Die Politik der bedingten Duldung ermöglichte in den 1970er Jahren die Existenz von vielen frühen Rockgruppen wie zunächst Maschina Wremeni (dt. „Zeitmaschine“) und später auch der von Boris Grebenschtschikow gegründeten Band Aquarium. Seit den 1970er Jahren verstanden sich viele Rockmusiker als Akteure der Gegenkultur. Während einige Künstler wie Alexander Gradski zumindest im Fernsehen und auf Schallplatte auch Lieder von „offiziellen“ Komponisten sangen, lehnten viele andere die staatlich geförderte Unterhaltungsmusik der sogenannten Estrada ab.

    Generation der Hausmeister und Wächter

    Die Machthaber missbilligten die Rockmusik nicht allein wegen ihrer musikalischen Form. Besonderen Argwohn erfuhren die Texte, die sich oft kritisch mit den sowjetischen Gegebenheiten auseinandersetzten. Sie würden angeblich „fremde Ideale und Auffassungen“ propagieren, wie es in einer Verordnung des Kulturministeriums hieß. Ohne die Möglichkeit, offizielle Konzerte zu geben oder Schallplatten zu veröffentlichen, mussten sich die Musiker der sogenannten „Generation der Hausmeister und Wächter“ ihren Lebensunterhalt in einfachsten Brotberufen verdienen. Häufig fanden Konzerte – die sogenannten kwartirniki (von kwartira, dt. „Wohnung“) – in heimischen Wohnzimmern statt. Die Alben erschienen als Kassetten im Samisdat und wurden von Gerät zu Gerät weiter überspielt, bis statt der Musik nur noch ein Rauschen zu hören war.

    Soundtrack der neuen Zeit

    Das äußere Erscheinungsbild der Rockmusiker mit ihren langen Haaren, westlichen Designerjeans und Basketballschuhen erregte das weitere Missfallen der Funktionäre. Die Rockmusik erschien den Jugendlichen im Gegensatz zur offiziellen Musikkultur mit ihren allgegenwärtigen Baritonen authentisch: Sie eröffnete ihnen glaubwürdige emotionale Gegenwelten zum offiziellen sowjetischen Raum. Rockmusik wirkte in der Zeit von Perestroika und Glasnost durchaus systemverändernd: Die Musik von Gruppen wie Aquarium, Kino oder DDT bildete gleichsam den Soundtrack der neuen Zeit. Seit Anfang der 1980er Jahre gab es mit dem Leningrader Rock-Klub sogar eine offizielle – wenngleich streng vom Geheimdienst KGB beobachtete – Institution, die Musikern Auftrittsmöglichkeiten verschaffte.

    Für die russische Rockmusik sind die Texte von besonderer Bedeutung. Viele Lieder wie Poworot (dt. „Wendung“) von Maschina Wremeni oder Chotschu peremen! (dt. „Ich will Veränderungen!“) von Kino waren offen gesellschaftskritisch. Die Texte anderer Lieder erschienen melancholisch und unverständlich oder hatten einfache und alltägliche Inhalte. Sie vermittelten den Zuhörern, auch wenn sie nicht prononciert systemkritisch waren, ein Gefühl von Freiheit und begleiteten damit den gesellschaftlichen Umbruch der 1990er Jahre.

    Den gegenkulturellen Nimbus hat die Rockmusik heute in Russland wie im Westen längst verloren, auch wenn die seit den 1970er Jahren tätigen Musiker immer noch aktiv sind und junge Musiker, die ein nonkonformistisches Image pflegen, ebenfalls ihr Publikum finden. Längst bedienen sich aber auch Rechts- oder Linksextremisten der musikalischen Ästhetik des Rock. Den Machthabern jagt die Rockmusik keine Angst mehr ein, wenngleich ihre Protagonisten – wie Juri Schewtschuk (DDT) – immer wieder regierungskritisch Stellung beziehen und dafür auch – wie Andrej Makarewitsch (Maschina Wremeni) – bedrohliche Medienkampagnen in Kauf nehmen müssen.


    -> Mehr zu russischem Rock in diesem Artikel auf dekoder.


    1. Komsomolskaja Prawda: Ragu iz sinej pticy ↩︎
    2. Besonders erfolgreich waren die Pojuščie gitary aus Leningrad, die in den späten 1960er Jahren Stadien füllten. Ihre Musik konnte dabei so gut wie niemand hören, weil die technischen Anlagen nicht annähernd ausreichten, um Stadien zu bespielen. Wichtiger war dem Publikum offenkundig ohnehin das Gefühl, Teil eines Konzerterlebnisses zu sein, das sie für ein oder anderthalb Stunden in eine andere Welt entführte. Zwar kamen die Pojuščie gitary in den offiziellen Medien kaum vor, ihre Musik war aber immerhin nicht verboten, und vereinzelt konnten auch Schallplatten mit Beatmusik erscheinen. ↩︎

    Weitere Themen

    Pussy Riot

    Leonid Breshnew

    Die Wilden 1990er

    Auflösung der Sowjetunion

    Perestroika

    Tauwetter

  • Ein bisschen Frieden

    Ein bisschen Frieden

    Spot an, die halbe Welt schaut zu: Die ukrainische Krim-Tatarin Jamala gewinnt den Eurovision Song Contest 2016 – nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen mit Russland und mit einen Lied, das die leidvolle Geschichte ihres Volkes unter Stalin besingt. „Zu politisch“, kritisierten manche, die den Song auch als eine Anspielung auf die Situation der Krim-Tataren heute verstehen.

    Andrej Archangelski befindet auf Colta.ru: Ja, der ESC ist politisch. Und das ist gut so.

    Derzeit begegnen Millionen russischer Fernsehzuschauer einmal jährlich dem realen Europa – wortlos, wie Stierlitz seiner Frau. Millionen russischer Fernsehzuschauer haben Gelegenheit – ohne ideologische Interpretation und in natürlicher Umgebung – eben jene Europäer anzuschauen. Die uns unsere Identität nehmen wollen und denen deswegen der Untergang droht. Europa wirkt dabei ziemlich einheitlich: einander ähnelnde Frauen in glitzernden Roben, beziehungsweise Männer in gestreiften Jacketts mit lustigen Fliegen.

    Der will uns vernichten? Der mit der Streifenhose und dem lustigen Namen?

    Die Bilder vom ESC müssten im Prinzip hart aufeinanderprallen mit dem, was der Fernsehzuschauer täglich von Europa zu sehen und hören bekommt. Im Prinzip müsste er sich fragen: Das also sind unsere Feinde? … Die sollen uns vernichten wollen? … Der da? Mit seinem Propeller und der Streifenhose und dem lustigen Namen? …   

    Doch die Moderatoren schlagen an diesem Tag tatsächlich einen anderen Ton an als sonst. Als ESC-Kommentator muss man, abgesehen von der grundlegenden Intonation, auch auf die Spielart achten – wie in einer Partitur: „wohlwollend, aber mit leichter Ironie“ oder „mit einem Anflug von Ärger“. All diese Nuancen wurden bereits in der sowjetische Sprecherschule erarbeitet,  Vorbilder gibt es also genug. Doch eines ist klar – diese Sendung bleibt harmlos (krass wird’s erst morgen). 

    Es ist eine heikle Arbeit: Millionen von Zuschauern wissen zu lassen, dass die Eurovision in unserem Fernsehen „eine vorübergehende Erscheinung“ ist, „ein Spiel“, „ein Muss“ – und dabei mit der Stimme regelrecht zu zwinkern. Und all das nur, weil es der russischen Staatsmacht kurioserweise immens wichtig ist, den Wettbewerb derjenigen zu gewinnen, deren Lebensstil sie erklärtermaßen verachtet.

    Worte, wie in Bronze gegossen

    Der Sieg Jamalas war für alle überraschend (deswegen ist ein Wettbewerb ein Wettbewerb), für das russische Fernsehen aber ganz besonders. Bei der Jurywertung war ja mit riesigem Abstand Australien auf Platz 1 gelandet, beim Publikumsvoting Russland.

    „Die Politik war am Ende stärker als die Musik“, so begann der Moderator bei Rossija 1 Boris Kortschewnikow seinen Kommentar zum Ergebnis. Bis zum nächsten Morgen waren diese Worte in Bronze gegossen, wie auch folgende fixe Formulierungen: „Die Völker Europas haben für den russischen Interpreten gestimmt“, und: „Die Abstimmung war politisch“. Für die Propaganda eine tadellose Formel.

    Hier können uns Linguisten weiterhelfen: Das Wort „Politik“ gehört in Russland dem Staat. Er hält 99 % der Aktien an diesem Wort. Als psychologischen Abwehrmechanismus auf dieses unnatürliche Monopol entwickeln die Menschen seltsame Konzepte, an die sie irgendwann selbst glauben, wie etwa: „Kultur und Politik existieren unabhängig voneinander“, Kultur oder Sport „sollen nicht politisch sein“.

    Wenn man das so sagt, kann man genauso gut sagen: „Kultur und Sport dürfen nicht den Menschen gehören“, denn Politik umfasst sowohl Sport als auch Kultur.

    Bei einem Menschen oder einem Ereignis das Politische vom Nichtpolitischen zu trennen, ist äußerst schwierig. Und wozu auch? Wenn das Politische doch ursprünglich das „Menschliche“ bedeutet.

    Natürlich ist der ESC politisch – das ist weder ein Geheimnis, noch ein Problem

    Die schreckliche Wahrheit ist, dass der Eurovision Song Contest tatsächlich politisch ist – doch ist das weder ein Geheimnis, noch ein Problem. Und zwar genau deswegen, weil Politik eigentlich den Menschen gehört und niemand Angst vor ihr hat.

    Der Wettbewerb ist schon allein dadurch politisch, dass jede Abstimmung von Millionen Menschen über eine beliebige Frage auch immer ein Plebiszit ist. Und wird auf einen Staat Einfluss haben. Allein durch seine Existenz glättet der Wettbewerb internationale Wogen, bringt Menschen auf andere Gedanken.

    Wenn 26 Länder einander Herzchen und Likes schicken – klar ist das Politik. In ihrer neuen Bedeutung, wo im Zentrum der Mensch steht, und nicht der Staat. Dass einige Länder nie für bestimmte andere voten – auch das ist Politik. Wie im übrigen auch, dass manche Punkte als symbolische „Bitte um Verzeihung“ zu verstehen sind (Deutschland hat seine 12 Punkte Israel gegeben) – auch das wird keine musikalische Bedeutung haben.

    Vielleicht geht das als „erster Schritt zur Versöhnung“ in die Geschichte ein

    Dass die Ukraine und Russland einander im Publikumsvoting „wieder, als ob nichts gewesen wäre, wie damals“ fast die höchste Punktzahl gaben (Russland der Ukraine 10 Punkte, die Ukraine Russland 12) – das zeigt, dass die Eurovision geschafft hat, was bisher niemandem gelungen ist.

    Gott sei Dank gibt es diese Art von Politik. Beten sollte man für eine solche Politik, auf die Knie fallen vor ihr. Dass der russische Sänger der ukrainischen Sängerin zum Sieg gratulierte – wer weiß, vielleicht geht das als erster Schritt zur Versöhnung in die Geschichte ein, und insofern ist Sergej Lasarew durchaus ein Sieger, aber in einem anderen, wichtigeren Sinn – dem moralischen.    

    Der politische Konflikt zwischen Russland und der Ukraine wurde eins zu eins auf die Musik übertragen. Und dabei wohlgemerkt nicht geglättet, dafür ganz und gar ins Menschliche gedreht. Natürlich konkurrierten nicht die Sänger, sondern das Image des jeweiligen Landes. In diesem Wettkampf hat die Ukraine gesiegt. Weil (zumindest) in der heutigen Kultur ein Opferkult und kein Siegerkult vorherrscht, was Michail Jampolski sehr treffend beschreibt.

    Heute gewinnt man nicht mit Panzern, sondern mit Liedern

    Das ist für die russische Propaganda eine wertvolle Lektion – heute gewinnt man nicht mit Panzern, sondern mit Liedern. Mit dem Ergebnis, dass die Ukraine wieder weltweit im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Der nächste Songcontest ist ein Garant der Sicherheit für die Ukraine, denn jetzt werden alle teilnehmenden Länder, einschließlich Russland, daran interessiert sein, dass die Ukraine ein sicherer Ort ist.

    Mit anderen Worten: Der Sieg der Ukraine bedeutet die Legitimität der Ukraine. Und diese Tatsache wird, um es mit dem sowjetischen Agitprop zu sagen, manch heißen Kopf herunterkühlen.

    Schon jetzt gibt es rhetorische Figuren: Teilnehmen oder nicht teilnehmen, und wenn ja, mit wem (еine Variante wäre Schnur von der Petersburger Gruppe Leningrad). Das wird nun  eine politische Entscheidung, und gefällt wird sie nicht im Fernsehen.

    Wenn es heißt, nächstes Jahr braucht Russland einen Künstler „mit so einem Lied, wie Jamala“, der bitte auch von tragischen Vorfällen singt (gemeint sind etwa die tödlichen Ausschreitungen in Odessa 2014), dann vergisst man komplett die unterschiedlichen Auswahlverfahren in Russland und der Ukraine.

    Russland will vorerst „weiter mitspielen“

    Jamala gewann aufgrund einer landesweiten Abstimmung, sie hatte starke Konkurrenz und setzte sich mit nur wenig Vorsprung durch: Eben weil es riskant ist, mit so einem Lied an einem Wettbewerb für Unterhaltungsmusik teilzunehmen. Doch ein Künstler kann ein solches Risiko eingehen, ein Staat nicht.  

    In Russland wurde der diesjährige Kandidat von einem TV-Sender ausgewählt; das wird wahrscheinlich auch nächstes Jahr so sein – und die Bürokratie trifft keine riskanten oder extravaganten Entscheidungen. Am ehesten wird es ein Kompromiss werden, eine möglichst neutrale Variante. Für das „Teilnehmen“ hat sich bisher (gleich nach dem Finale, das ist wichtig) die erste stellvertretende Vorsitzende des Kulturausschusses der Staatsduma, Jelena Drapeko, ausgesprochen. Ein gutes Zeichen: Man will also vorerst „weiter mitspielen“ und nicht die Welt ignorieren.    

    Die Welt ignorieren funktioniert ohnehin nicht. Unmöglich. Das ist das wichtigste Ergebnis des Eurovision Song Contest – für Russland. Natürlich nur, wenn es fähig ist, das zu verstehen.

    Weitere Themen

    Gibt es Leben in Donezk?

    Nach dem Bruderkuss

    Wer lebt glücklich in Russland?

    Die Kirschhölle

    Das besondere Theater

    Angstfreiheit als Kunst