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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Alla Pugatschowa

    Alla Pugatschowa

    „In der Enzyklopädie des dritten Jahrtausends wird zu lesen sein: Breshnew, Leonid – unwichtiger Politiker der Epoche von Alla Pugatschowa.“1 Treffend bringt dieser russische Witz die Bedeutung der Sängerin für den sowjetischen Schlager auf den Punkt. Unbestritten ist Alla Pugatschowa bis heute der größte Star der russischen Popmusik. Die New York Times nannte die Sängerin einmal „the Goddess of Russian Pop“.2 In der ehemaligen Sowjetunion ist die heutige Patronin der Estrada eine Symbolfigur der 1970er und frühen 1980er Jahre. Pugatschowa verkörpert hier den Typus der neuen sowjetischen Frau, die nach Freiheit, Eigenständigkeit und Glück strebt.

    Ihre seit 1976 veröffentlichten Solo-Alben sollen sich über 250 Millionen Mal verkauft haben – damit spielt die sowjetische Sängerin in einer Liga mit der US-Amerikanerin Madonna. In einer Umfrage der Zeitung Kommersant nach den beliebtesten Russen landete sie 2006 auf dem zweiten Platz hinter Präsident Putin. Dem deutschen Musikfreund ist Alla Pugatschowa vermutlich in erster Linie ein Begriff, weil sie während der Perestroika gemeinsam mit Udo Lindenberg auftrat. Vielleicht ist auch ihre recht erfolglose Teilnahme am Eurovision Song Contest 1997 dem einen oder anderen in Erinnerung.

    Eine Sängerin, die auf der Bühne weint

    Alla Pugatschowa wurde am 15. April 1949 als Kind musikbegeisterter Eltern in Moskau geboren. Bereits ihre Anfänge machen deutlich, dass sie eine ungewöhnliche und keineswegs stromlinienförmige Künstlerin ist. Ihren ersten Auftritt als Sängerin hatte sie mit dem Lied Robot (dt. „Roboter“) in der Radiosendung Guten Morgen – zu diesem Zeitpunkt ging die Sechzehnjährige noch zur Schule. Bei den Hörern kam die Sängerin dem Vernehmen nach gut an. Weniger gut gefiel Pugatschowa den kommunistischen Funktionären: Eine Sängerin, die auf der Bühne weinte, entsprach keineswegs dem sowjetischen Ideal, das eine zurückhaltende, korrekte Haltung von Schlagersängern verlangte.

    Für den Fernsehfilm Ironie des Schicksals von Eldar Rjasanow sang Alla Pugatschowa Lieder des Komponisten Mikael Tariwerdijew: Der Film wird bis heute jedes Jahr von Millionen Menschen vor allem zu Neujahr gesehen. Tatsächlich ist es seine musikalische Stimmung mit Vertonungen von Werken berühmter Dichter, die den Zuschauer in einen karnevalesken Illusionsraum versetzt, in dem das Werden der Liebe eines Moskauers zu einer Leningraderin erzählt wird. Zweifelsohne zählen die von Pugatschowa für Ironie des Schicksals gesungenen Lieder zum kulturellen Gedächtnis in den Nachfolgestaaten der UdSSR.

     
    Pugatschowa füllte das Lied „Arlekino“ mit unterschiedlichsten Emotionen, mit Schmerz und Trauer, aber auch mit Spott und Ironie an

    Von Estrada-Sängerin zu Primadonna

    Den entscheidenden Schritt zum Ruhm tat sie mit einem Auftritt bei dem internationalen Wettbewerb Goldener Orpheus 1975, bei dem sie das von Pawel Slobodkin für sie arrangierte Lied Arlekino (dt. „Harlekin“) sang. Das Stück begann mit der Melodie eines alten Zirkusmarsches, Pugatschowa füllte es mit unterschiedlichsten Emotionen, mit Schmerz und Trauer, aber auch mit Spott und Ironie an. Gerade in dieser Zweideutigkeit wuchs ihre Interpretation über die Eindeutigkeit verlangende Welt des sowjetischen Schlagers hinaus. Publikum und Jury werteten Pugatschowas Darbietung als Sensation. Ihr Auftritt veränderte, wie eine sowjetische Zeitung vielleicht etwas übertrieben meinte, „die ungeschriebenen Regeln dessen, was man auf einer Bühne tun kann“. Eine sowjetische Autorin meint, sie habe die Rolle der Frau in der Gesellschaft neu besetzt: Während andere ihrer Funktion als „sowjetische Frau“ nachkamen, habe Pugatschowa einfach „gelebt“.3

    Von einer „Pugatschowa-Explosion“ sprach bereits am 14. Juli 1975 eine sowjetische Zeitung.4 Die „maska“ des Clowns setzte sie erneut für das Festival in Sopot 1978 auf. Dort gewann sie mit Wsjo mogut Koroli (dt. „Könige vermögen alles“) den ersten Preis – ein Erfolg, der ihren Status als neuer sowjetischer Star bestätigte. Auch dieses Lied interpretierte sie mit der ihr eigenen Freiheitlichkeit.

    In Sopot machte sich bereits der Einfluss des Filmregisseurs Alexander Stefanowitsch bemerkbar, den sie 1976 kennengelernt und noch im selben Jahr geheiratet hatte. Diese Zeit wird nicht zu Unrecht von der Kritik als ihr „Goldenes Zeitalter“ gewertet. Der medienerfahrene Stefanowitsch betätigte sich als Image-Maker für seine Frau. Er stellte angeblich fünf Regeln auf, um Pugatschowa von einer einfachen Estrada-Sängerin in eine „Primadonna“ zu verwandeln: „Beicht“-Charakter der Lieder, Bild der einsamen Frau, keine Nachahmung westlicher Künstler, theatralisierte Auftritte und Skandalhaftigkeit, eine Qualität, ohne die das Show-Business vermutlich nicht funktioniert.5

     

    Dem deutschen Musikfreund ist Alla Pugatschowa vermutlich in erster Linie ein Begriff, weil sie während der Perestroika gemeinsam mit Udo Lindenberg auftrat

    Pugatschowa-Manie

    Im Einzelnen lässt sich über diese Punkte durchaus streiten. Zweifelsohne aber bot Pugatschowa dem Publikum etwas an, das es begierig aufnahm – vor allem waren es Frauen, die in der Sängerin nicht unbedingt ein Vorbild, aber doch ein Muster für das Abschweifen in Illusionswelten sahen. Der hohe Anteil alleinstehender Frauen in der sowjetischen Gesellschaft begünstigte wohl ihre Karriere. 

    Im 1979 veröffentlichten Film Shenschtschina, kotoraja pojot (dt. „Die Frau, die singt“) sang sie Lieder, die sie unter dem Pseudonym Boris Gorbonos selbst komponiert hatte. Dazu erklärte sie, sie wolle Lieder über sich selbst singen – das werde die Menschen mehr interessieren als ein für viele abstraktes Thema. Bei diesem von Alexander Stefanowitsch gesteuerten Schachzug ging es weniger um die Präsentation der musikalisch nicht sonderlich originellen Lieder, sondern vielmehr darum, Pugatschowa als Autorin und Repräsentantin ihres eigenen Ichs zu inszenieren. Die Reklame zum Film behauptete wider besseres Wissen, er basiere zum Teil auf Episoden aus dem Leben der Sängerin: Das Publikum strömte in Scharen in die Lichtspielhäuser. Auch wenn die Kritik den Film, der vor dem Hintergrund des anscheinend grauen sowjetischen Alltags das Leben einer Sängerin als Star entfaltet, verriss: Er markiert den Beginn einer Pugatschowa-Manie.

    Ein neues Frauenbild

    Ohne Zweifel entwickelte sich Pugatschowa Ende der 1970er Jahre zu einer polarisierenden Figur: Die einen sahen in ihr eine vulgäre, die Leidenschaft nach außen tragende Unperson, die anderen (Verehrerinnen) organisierten sich in Klubs und verfolgten sie mit ihrer Zuneigung. Sowjetische Zeitschriften und Zeitungen erhielten viele tausend Zuschriften zu Pugatschowa. Viele glaubten, der Star könne ihnen auch Hilfe in persönlichen Fragen geben. Ihre Fans identifizierten offenkundig tatsächlich die Heldinnen ihrer Lieder mit der Sängerin und fanden ihre eigenen Schicksale darin wieder.

    Alla Pugatschowa baute gleichsam eine Brücke zwischen der traditionellen Estrada und dem sowjetischen Underground. Ihr Erfolg beruht zum einen auf ihrem außergewöhnlichen Talent einer schauspielerischen Umsetzung von Liedinhalten. Zum anderen und vor allem aber war Pugatschowa anders. Auf der Bühne transportierte sie einen Begriff von Privatheit und „Freiheit“. Sie nahm vollends Abschied vom steifen, „korrekten“ Betragen eines Sowjetsängers. Wo in den 1960er Jahren Interpreten noch mit angedeuteten Tanzbewegungen für Aufsehen sorgten, fegte Alla wie ein Irrwisch über die Bühne. Ihre Werke vermitteln das Bild einer Frau, die ihr Leben nicht dem Dienst an der Gemeinschaft widmet. Die Heldinnen in Pugatschowas Liedern verfolgen ihre Ziele, neigen dabei zu Zweifeln und bemühen sich, ihren Lebenstraum zu verwirklichen. Gerüchte wie die von einem Selbstmord der Sängerin fügen sich in das System, mit Hilfe von Skandalen Aufmerksamkeit zu erzielen – eine Methode, die Pugatschowa bis heute nicht verworfen zu haben scheint. Progressiv war sie auch noch in den 1980er Jahren, als sie ganzheitliche Showprogramme auf die Bühne brachte.

     
    Ihre Werke vermitteln das Bild einer Frau, die ihr Leben nicht dem Dienst an der Gemeinschaft widmet

    Alla Borissowna

    Die Grande Dame der russischen Estrada, die in letzter Zeit auch mit ihrem Vatersnamen als Alla Borissowna bezeichnet wird, bekam unzählige Auszeichnungen sowohl in Russland als auch in anderen Ländern. Sie trägt die Ehrentitel Volkskünstlerin der UdSSR, Volkskünstlerin der RSFSR sowie Volkskünstlerin Russlands und ist Trägerin des Staatspreises der Russischen Föderation. Goldene Schallplatten erhielt sie in Schweden und Finnland, in der Bundesrepublik wurde sie mit dem Goldenen Mikrophon ausgezeichnet. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde sie auch als Unternehmerin zur bestimmenden Figur der Estrada. Sie gab eine Zeitschrift (Alla) heraus, rief eigene Rundfunksender ins Leben und inszenierte gemeinsam mit ihrem (damaligen) Mann Filipp Kirkorow ein Musical. Als Expertin nimmt sie regelmäßig an vielen Musikshows im russischen Fernsehen teil. Ihr privates Leben und vor allem die Beziehung mit ihrem dritten Ehemann, dem Komiker Maxim Galkin, fesselt immer noch die Aufmerksamkeit der TV-Zuschauer und Leser der Boulevardzeitungen. Als Galkin wegen seiner Kritik am russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine im September 2022 zu einem sogenannten „ausländischen Agenten“ erklärt wurde, löste Pugatschowa mit ihrem Solidaritäts-Post auf Instagram ein kleines Erdbeben aus: „Er ist ein ehrlicher, ordentlicher und aufrichtiger Mensch, ein wahrer und unbestechlicher Patriot Russlands, der seiner Heimat ein Aufblühen und ein friedliches Leben wünscht, Meinungsfreiheit und ein Ende des Sterbens unserer Jungs für illusorische Ziele, die unser Land zu einem Geächteten machen und das Leben der Bürger erschweren.“

    Aktualisiert am 19.09.2022


    1. Čeredničenko, Tat‘jana Vasil‘evna (1994): Tipologija sovetskoj massovoj kul‘tury: Meždu „Brežnevym“ i „Pugačevoj“, Moskva, S. 8 ↩︎
    2. The New York Times: A Superstar Evokes a Superpower; In Diva’s Voice, Adoring Fans Hear Echoes of Soviet Days ↩︎
    3. Serebrennikova, B. (1976): Pesennyj mir Ally Pugačevoj, in: Sovetskaja ėstrada i cirk, 1976/11, S. 20-21, S. 21 ↩︎
    4. Beljakov, Aleksej (1997): Alka, Alločka, Alla Borisovna: Roman-biografija ili kniga o žizni, ljubvi i pesnjach Ally Borisovny Pugačevoj, Moskva, S. 142 ↩︎
    5. Biografija Aleksandra Stefanoviča ↩︎

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  • Hetzjagd auf eine Rocklegende

    Hetzjagd auf eine Rocklegende

    Auf Andrej Makarewitsch und seine Band Maschina Wremeni – ein Urgestein der russischen Rockmusik – konnten sich jahrzehntelang breite Teile der Bevölkerung einigen. 

    Das änderte sich im Frühjahr 2014, als Makarewitsch – noch vor der Krim-Angliederung und dem Krieg im Donbass – vor einer „entfesselten Propaganda“ und einem möglichen Krieg mit der Ukraine warnte. Beim Friedensmarsch zeigte er sich mit einem Peace-Symbol und einer Schleife in den ukrainischen Nationalfarben. Wenig später hing im Zentrum Moskaus ein riesiges Banner mit der Aufschrift „Die Fünfte Kolonne“ – dazu die Gesichter von Makarewitsch, Juri Schewtschuk, Boris Nemzow, Alexej Nawalny und Ilja Ponomarjow.

    Die Lage spitzte sich weiter zu, als Makarewitsch im August 2014 ein Konzert in der Ukraine gab – in einem dortigen Lager für Geflüchtete aus den umkämpften Donbass-Gebieten. 

    Dem Musiker wurde öffentlich „antirussisches“ Handeln vorgeworfen, Politiker sprachen von „Kooperation mit Faschisten“, in staatsnahen Medien erschienen Beiträge und Sendungen wie 13 Freunde der Junta, die Makarewitsch als Volksverräter darstellten, und das Netz füllte sich mit Hasskommentaren über den Musiker.

    Die Shitstorms gegen Makarewitsch nehmen auch vier Jahre später kein Ende, wie ein aktueller Vorfall zeigt, in den sogar Außenamtssprecherin Maria Sacharowa involviert ist. Diesen kommentiert Oleg Kaschin auf Republic und fordert: Lasst den Klassiker in Ruhe!

    Bevor ihr jemanden vom Dampfer der Modernität werft, denkt an seine Bedeutung für die Kultur unseres Landes – möglicherweise wiegt sie schwerer als die Worte und Taten, für die ihr ihn bestrafen wollt. 

    Natürlich ist es in Zeiten von Harvey Weinstein und Kevin Spacey merkwürdig, das zu sagen. Am nächsten an Weinstein und Spacey dran scheint in unserem Kontext der Abgeordnete Sluzki, doch nein, eine lineare Logik greift hier nicht. Sluzki steht eine Untersuchung in der Staatsduma bevor, aber sonst wohl erstmal nichts; zumindest gibt es bisher keinen Anlass zu sagen, dass alle gegen Sluzki wären. Klar, da sind diese drei Journalistinnen, da sind ein paar ihrer Kollegen, die sogar vor der Duma protestierten oder wie Sergej Dorenko zum Boykott aller Nachrichten mit Sluzki aufriefen.

    Hingegen hat Wjatscheslaw Wolodin bereits Partei für den der Belästigung Beschuldigten ergriffen, und Duma-Kollegen, also Leute, die das Disziplinarverfahren gegen Sluzki durchführen werden, äußern sich nicht negativ über ihn. In diesem Sinne ist er von Weinstein offenbar noch meilenweit entfernt. 

    Weniger davon entfernt ist Andrej Makarewitsch. Der Vergleich mag weit hergeholt erscheinen, aber im Grunde ist es so: Den Platz, den in westlichen Gesellschaften sexuelle Belästigung einnimmt, besetzt bei uns echter oder (öfter) angeblicher Antipatriotismus.

    Die Rolle einer gesellschaftlichen Naturgewalt, die Makarewitsch auf die Unzulässigkeit seiner Worte hinweist, spielen die loyalistische Presse und einige offizielle Personen. Darunter auch Maria Sacharowa vom Außenministerium. Ihren Bemühungen ist es zu verdanken, dass ein beiläufiger Facebook-Kommentar ordentlich eingedampft wurde. Wörtlich hieß es da: „Mir scheint, die staatliche Propaganda hat ein 25. Einzelbild erfunden, das die Menschen wahrhaftig in boshafte Deppen verwandelt“ und daraus wurde dann: „Makarewitsch nannte die Russen boshafte Deppen.“ Ausgerechnet dank jenen, die sich derart ereifern, wurde dieser Satz dermaßen ungeheuerlich und unzumutbar, als hätte Makarewitsch Russland den Krieg erklärt, und nicht nur erklärt, sondern sofort auf Kreml, Christ-Erlöser-Kathedrale und noch auf irgendeinen Kindergarten das Feuer eröffnet.  

    Als Zielscheibe staatlicher und staatsnaher Kritik steht Makarewitsch nicht alleine da – die Propaganda fällt in Russland regelmäßig über Leute her, die etwas gesagt haben, was irgendwie daneben war. Das letzte prominente Beispiel war die „Kraft, Unverschämtheit und Grobheit“ des Schauspielers Alexej Serebrjakow [Hauptdarsteller in Leviathandek]. 

    Aber das Lieblings-Angriffsobjekt ist Makarewitsch, der die Macht der loyalistischen Missbilligung erstmals 2014 zu spüren bekam, als die Hetzjagd auf ihn begann für seinen Auftritt im Frontgebiet im Donbass, das von den ukrainischen Streitkräften kontrolliert wurde. Innerhalb von vier Jahren wurde Makarewitschs Image durch die Bemühungen von kremltreuen Medien und Aktivisten ernsthaft korrigiert – er ist nicht mehr unser Mick Jagger, kein ehrwürdiges Rock-Urgestein, sondern eher ein moderner Galitsch: für die einen Feind und ausgekochter Anti-Sowok, für die anderen, im Gegenteil, das Gewissen der Nation. In jedem Fall aber vor allem eine politische Figur, die vor einer einfachen Entscheidung steht – entweder durchhalten bis zum Zusammenbruch des Regimes, und dann am Tag der Bestattung der russischen „Himmlischen Hundertschaft“ am Roten Platz irgendwas Trauriges singen oder still und heimlich abziehen und seine Bürger-Lyrik einem immer größer werdenden Exilpublikum präsentieren. Klar ist die zweite Variante ungleich wahrscheinlicher und realistischer als die erste, doch eine dritte gibt es offenbar einfach nicht mehr (obwohl es sie ja gerade noch gab – vor nur zehn Jahren sang Makarewitsch bei der Inauguration Dimitri Medwedews und musste sich gegen Angriffe der liberalen Öffentlichkeit verteidigen).

    Es geschieht ein furchtbares Unrecht, wenn das Schicksal eines unbestrittenen Klassikers der heimischen Popmusik formal in die Hände der Jungs von Lenta.ru und der Mädels von NTW gerät. Die Band Maschina Wremeni wird kommenden Frühling fünfzig, mit ihren Songs sind tatsächlich mehrere Generationen aufgewachsen (Nasche obschtscheje detstwo proschlo na odnich bukwarjach/dt. „Wir haben als Kinder alle aus der gleichen Fibel gelernt“). Man kann sie durchaus als einzigartige kulturelle Institution bezeichnen – wenn schon nicht wie das Bolschoi-Theater, so doch mindestens wie das Alexandrow-Ensemble, und eine solche Institution hat in jedem Fall eine sorgsame Behandlung verdient. 

    Tun wir doch nicht so, als würden beiläufige Kommentare auf Facebook tatsächlich jemanden kränken. Das sieht mir eher nach dem Testlauf irgendwelcher Medientechnologien aus, nach der Konstruktion eines Skandals aus dem Nichts, einer Mobilisierung der öffentlichen Meinung. Gut, offenbar braucht ihr solche Experimente, wie man längst erkennen kann, seid ihr ganz versessen auf Informationskriege. Aber was veranlasst euch, gerade mit diesem Menschen zu experimentieren, einem altehrwürdigen Künstler? Wenn er dadurch einen Herzinfarkt erleidet, wie gut schlaft ihr dann noch, wie lebt ihr dann überhaupt weiter?

    Man kann darüber diskutieren, ob das Fernsehen seine Zuschauer zu boshaften Deppen macht, aber es steht völlig außer Frage, dass konkret Andrej Makarewitsch einen solchen Umgang nicht verdient, und sich ihm gegenüber so zu verhalten, wie seine Ankläger es tun, ist reinste, destillierte Niedertracht. 
    Rein formal ist nicht bekannt, ob diese Niedertracht einen konkreten Autor hat. Sie verteilt sich auf beliebte Online-Publikationen, Boulevardblätter, staatliche Fernsehsender und öffentliche Personen, die es anscheinend nötig haben, Makarewitsch einen Tritt zu versetzen. Aber all diese Medien und all diese Personen eint, dass jeder von ihnen durch einen einzigen Anruf aus dem Kreml zu stoppen wäre.

    Sergej Kirijenko, der 1999 beim Wahlbündnis Union der rechten Kräfte (SPS) die Liste anführte, sollte sich daran erinnern, wie während der Wahlkampfes gerade Maschina Wremeni Konzerte zur Unterstützung der SPS gab und in den TV-Wahlspots sang – wahrscheinlich für Geld, aber Kirijenko hat ja dieses Geld investiert, weil er dachte, gerade die Stimme Makarewitschs (und nicht etwa Kobsons) sei imstande, ihm die Stimmen der Wähler zu bringen.

    Die russische Gesellschaft und vor allem jener Teil, um den es beim Thema Hetze gegen Makarewitsch geht, befindet sich derzeit nicht in einem Zustand, wo man auf ihre Klugheit und Nachsicht zählen könnte. Daher hätte es keinen Sinn, Makarewitschs Äußerung und ihre Unzulässigkeit inhaltlich zu erörtern – die Wahrheit kommt derzeit oft nicht im Disput ans Licht, sondern in direkten Anweisungen.

    So wendet man sich besser direkt an Kirijenko und seine Kollegen: Zeigt Gewissen, gebietet der Jagd auf Makarewitsch Einhalt, und lügt nicht, dass ihr das nicht könnt. 

     

    Das Lied „Marionetten“ aus dem Jahr 1974 war in der Sowjetunion verboten. Erst während der Perestroika wurde es auf der Compilation „Zehn Jahre später“ veröffentlicht

     


     


    Ende Februar 2014 , direkt nach den Ereignissen auf dem Maidan und noch vor der Angliederung der Krim, äußerte sich Andrej Makarewitsch in einer Kolumne, die auf Snob erschien. Diese Äußerungen bilden den Anfang der Demontage, der der Frontmann der Gruppe Maschina Wremeni laut Oleg Kaschin bis heute ausgesetzt ist und die im obigen Text kommentiert wird.

    Deutsch

    Über die Widerwärtigkeit

    Ich mache mir Sorgen ob der Ereignisse in der Ukraine. Aber noch mehr Sorgen bereitet mir das, was in diesem Zusammenhang bei uns geschieht. Ich habe schon Eindruck, dass unsere Staatsmacht denkt: Das Land, das Volk – das sind die, die regieren. Wenn ein Herrscher jedoch nicht auf sein Volk hört und er ihm darüber hinaus Gewalt antut, so wird das Volk ihn wegfegen. Insofern hat in der Ukraine eine ganz typische Revolution stattgefunden. Und bei all meiner Abscheu gegenüber Revolutionen, kann ich sie nicht als ungerechtfertigt bezeichnen. Jetzt kann man, soviel man will, mit den Flügeln schlagen oder die aufständischen Bürger als „braune Pest“ bezeichnen – es sieht einfach widerwärtig aus.

    An eine solch entfesselte Propaganda und einе solche Menge von Lügen kann ich mich seit den besten Breshnew-Zeiten nicht erinnern. Und das lässt sich auch gar nicht vergleichen: Damals gab es viel weniger Möglichkeiten. Leute, was wollt ihr denn bloß? Ein öffentliches Klima schaffen für den Truppen-Einmarsch in das Gebiet eines souveränen Staates? Die Krim abhacken?

    Das Zentralkomitee der KPdSU hatte sich vor der Entsendung von Truppen in die Tschechoslowakei nicht mit dem Volk abgestimmt. Und was war, außer dass sie sich vor der ganzen Welt bloßgestellt haben?
    Heute sind dort zwei Länder statt einem. Und was ist mit dem einen und dem anderen? Haben wir ihre Liebe gewonnen? Oder sonst irgendwas?

    Es ist ja bereits gelungen, eine ziemlich große Masse von Idioten und Unbelehrbaren mit instabiler Psyche zu Zombies zu machen. Mit der Waffe in der Hand reißen sie sich schon darum, die russischsprachige Bevölkerung zu retten – als hätte sie darum gefleht. Und sie hat es tatsächlich geglaubt. Mensch, ihr Fernsehmacher, was wollt ihr denn bloß? Auf lange Zeit die Völker entzweien, die Seite an Seite leben? Das gelingt euch. Aber wisst ihr auch, wie das endet? Wollt ihr einen Krieg mit der Ukraine? Genau wie mit Abchasien wird das nicht klappen: Die Leute auf dem Maidan sind schon abgehärtet und wissen, wofür sie kämpfen: für ihr Land, für ihre Unabhängigkeit. Und für wen wir? Für Janukowitsch? 

    Mensch, Leute, warum habt ihr ihn in Russland versteckt? Ein ehrlicher Mensch wird keine Verbrecher und Diebe decken. Ein Dieb schon. Warum bringt ihr euch vor der Menschheit in Verruf? Ich weiß, es ist euch scheißegal, aber trotzdem?

    Natürlich wurden in der Ukraine zahlreiche Dummheiten begangen – mit der russischen Sprache, mit dem Abriss von Denkmälern. Aber es ist unvermeidbar, dass eine Revolution von solchen Dummheiten begleitet wird – eine gespannte Feder entlädt sich  in die Gegenrichtung. Aber danach findet alles seinen Platz – Dummheit kann nicht ewig dauern.

    Mensch, Leute, wir müssen mit denen leben. Wie bisher in Nachbarschaft. Und nach Möglichkeit in Freundschaft. Und wie sie leben, das entscheiden sie selber.

    Oder habt ihr Lust zu schießen? Es heißt, Patriotismus stärkt und festigt.

    Nicht für lange.


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  • Sergej Prokofjew

    Sergej Prokofjew

    Sergej Sergejewitsch Prokofjew starb am 5. März 1953, am gleichen Tag wie Josef Stalin. Angesichts der staatlich verordneten und von vielen sowjetischen Bürgern emotional durchlittenen Trauer um den verstorbenen „großen Führer“ erschien der Tod des Komponisten wie eine marginale Fußnote der Geschichte. Angeblich konnten nicht einmal mehr Blumen für sein Begräbnis aufgetrieben werden. Der gemeinsame Todestag mit seinem Peiniger erwies sich als letzte zynische Wendung von Prokofjews Lebensweg, der von Anziehung und Abstoßung, von Distanz und Nähe zum Sowjetstaat geprägt war. 

    Wie Dimitri Schostakowitsch war Sergej Prokofjew (1891–1953) ein Shootingstar der klassischen Musikwelt im ausgehenden Zarenreich gewesen. Nach seinem Abschluss am St. Petersburger Konservatorium 1914 hatte er sich als herausragender, rebellischer Komponist und Pianist in der Musikwelt einen Namen gemacht. Als er im Jahr 1914 mit seinem 1. Klavierkonzert einen Wettbewerb für die fünf besten Klavierabsolventen eines Jahrgangs gewann, schien sein kometenhafter Aufstieg auf einem vorläufigen Höhepunkt angekommen zu sein. 

    Der Erste Weltkrieg, die Oktoberrevolution und der folgende Zusammenbruch des vorrevolutionären kulturellen Lebens waren für ihn Beweggründe, die seit seinen ersten Auslandsgastspielen in London und Paris geknüpften Kontakte nach Westen zu nutzen, um fortan als Klaviervirtuose in den USA zu wirken. Sein Abschied aus Sowjetrussland im Jahr 1918 war also nicht politisch, sondern vor allem ökonomisch motiviert. Die neuen Machthaber gaben gern und rasch grünes Licht für seine Ausreise. Anatoli Lunatscharski, der damalige Volkskommissar für das Bildungswesen, hoffte gar, Prokofjew werde dem sowjetischen Projekt in der Neuen Welt zu Ruhm und Ehre verhelfen. 

    Musik oder Propaganda?

    Enthusiasmus und Enttäuschung kennzeichneten Prokofjews Werdegang im Exil: In San Francisco scheiterte zunächst sein Opernprojekt Die Liebe zu den drei Orangen. Prokofjew siedelte finanziell und künstlerisch schwer angeschlagen nach Paris über. Dort nahm er die früheren Kontakte zu Sergej Djagilews Ballets Russes auf, und es gelang ihm, in den 1920er Jahren einige Erfolge zu verzeichnen. Dazu gehörte auch das Ballet Le pas d’acier (dt. Stahlschritt), das Mitte der 1920er Jahre den konstruktivistischen Geist moderner Musik atmete.

    https://www.youtube.com/watch?v=Z_hOR50u7ek

    Der Stahlschritt vertonte die Industrialisierung der Sowjetunion in mechanistischen, repetitiven Gesten, die in ihrer Klangsprache neue Formen von Chromatik und Diatonik austesteten. Das Werk war eine willkommene Werbung für Stalins Aufbau der Sowjetunion – es wurde nicht nur vom Bolschoi-Theater aufgenommen, sondern auch in Paris über drei Spielzeiten gegeben und in Wien von Wilhelm Furtwängler dirigiert. Als das Werk 1931 in Philadelphia Premiere feierte, fragte sich die Zeitung The Public Ledger, ob es sich dabei um Musik oder Propaganda handele. Damit hatte die Zeitung auf ein Spannungsfeld verwiesen, das für Prokofjews Wirken in den 1930er Jahren entscheidend sein sollte.

    Rückkehr in die Sowjetunion

    Anfang der 1930er Jahre begann die „sowjetische Periode“ in Prokofjews Schaffen. Der Komponist legte damals die musikalische und ideelle Grundlage für seine Rückkehr in die Sowjetunion im Jahre 1936. Seine Musik war nun noch stärker auf das Ziel hin ausgerichtet, durch eine verständliche Klangsprache einen gesellschaftlichen Auftrag zu verrichten. Die unmittelbare Zugänglichkeit seiner berühmtesten Werke Peter und der Wolf (1936) und Romeo und Julia, die in der ersten Hälfte der 1930er Jahre entstanden, resultierte aus dieser Programmatik und garantierte letztlich ihren bis heute andauernden Erfolg auf allen Konzertpodien. Die Harmonik kehrte stärker zur Tonalität zurück, Dissonanzen waren häufig nur noch ein Stilmittel, um Chaos und Bedrohung darzustellen. Prokofjew stellte Musik nun verstärkt in den Dienst außermusikalischer Botschaften. Das galt auch und im Besonderen für seine ikonisch gewordene Filmmusik zu Sergej Eisensteins Film Alexander Newski. Eisenstein bestellte nicht einfach Hintergrundmusik für seine bewegten Bilder, sondern ließ sich durch Prokofjews Schaffen für das Ballett auch darauf ein, komponierte Musik mit neuen Filmszenen auszudeuten.1

    Die lebensweltlichen Gründe für Prokofjews Rückkehr in die Sowjetunion, kurz vor dem Beginn des Großen Terrors, sind bis heute Gegenstand wissenschaftlicher Debatten. Das sowjetische Projekt bot Prokofjew in jedem Fall Chancen und Möglichkeiten: Künstlerisch bedeutete das Ende der Formalismusdebatte im Jahr 1932 die Einrichtung einer stabilen Kulturlandschaft, in der der Komponistenverband über reichhaltige finanzielle Mittel verfügte. Politisch faszinierte der rasante Aufstieg der Sowjetunion zur industriellen Macht nicht nur Prokofjew, sondern viele Künstler, Literaten und Intellektuelle. Es sollte sich als besondere Tragik erweisen, dass bereits sein erstes Moskauer Projekt, eine gigantische Kantate zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution, ins Fadenkreuz ideologischer Kritik geriet. Auf dem Höhepunkt des Stalinschen Terrors sah sich Prokofjew mit Vorwürfen konfrontiert, „[Stalins] Worte, die dem Volk gehören, zu unverständlicher Musik zu setzen“.2

    Die Erwartung des Komponisten, in der Sowjetunion optimale Arbeitsbedingungen für ein freies Komponieren vorzufinden, sollten sich auch in den folgenden Jahren kaum erfüllen. Während des Zweiten Weltkrieges gelang ihm aber die Fertigstellung seiner fünften Symphonie, die 1944 als heroisch-patriotische Kriegssymphonie triumphal uraufgeführt wurde. Es folgten zwei Schläge, die sein letztes Lebensjahrzehnt entscheidend prägen sollten: Wenige Wochen nach der Uraufführung stürzte Prokofjew schwer auf den Kopf und war fortan auf permanente medizinische Betreuung angewiesen. 1948 erreichte ihn der Bannstrahl der Shdanowschtschina. Eine Resolution des Komponistenverbandes verbot einige seiner Werke, darunter viele erst kürzlich fertiggestellte Titel. Die Auswirkungen waren gravierend: Ähnlich wie Schostakowitsch sah Prokofjew sich einer generellen Skepsis gegenüber seinem Werk und seiner Person ausgesetzt, die die absolute Zahl von Aufführungen dramatisch sinken ließ. Prokofjew war nicht nur geächtet, sondern auch finanziell ruiniert. Der Versuch einer Rehabilitierung mit der Oper Die Geschichte vom wahren Menschen, die einen Kriegshelden ins Zentrum rückte, misslang. 

    Stalins Schatten

    Als Prokofjew an einem Schlaganfall verstarb endete ein Leben, das mit und durch die Ereignisse in der Sowjetunion unter Stalin geprägt war. Prokofjew konnte sich der utopischen Anziehungskraft des aufsteigenden Staates nicht entziehen, bekam aber auch seinen ideologischen Furor und seine unmenschliche Härte zu spüren. Die Sowjetskaja Musyka, eine der wichtigsten Musikzeitungen des Landes, widmete ihm erst auf den hinteren Seiten einen Nachruf. 

    In den Jahren des sogenannten Tauwetters wurde Prokofjew posthum rehabilitiert und gemeinsam mit Dimitri Schostakowitsch in den Olymp der sowjetischen Musik befördert. Seine Werke waren nun wieder auf den Konzertpodien zu hören. Mit dem Ende der Sowjetunion aktualisierte sich die Frage nach dem Verhältnis des Komponisten zum Regime Stalins ein weiteres Mal: Als der Dirigent Gennadi Roshdestwenski die 1936 komponierte Huldigungskantate aufführen ließ und dafür plädierte, ihren musikalischen Gehalt zu würdigen, debattierten Musiker, Musikwissenschaftler und Konzerthörer darüber, ob ein solches Vorgehen politisch vertretbar sei. Stalins Schatten war auch fünfzig Jahre nach dem gleichzeitigen Tod von Diktator und Komponist zu spüren.


    Zum Weiterlesen:
    Morrison, Simon (2009): The People’s Artist, Oxford
    Schipperges, Thomas (2005): Sergej Prokofjew, Reinbek bei Hamburg

    1. Bartig, Kevin (2017): Sergei Prokofiev’s Alexander Nevsky, New York ↩︎
    2. Redakcionnyje besedy. ‘Nedelja sovetskoj muzyki’, in: Sovetskaja muzyka 1 (1968), S. 21, zit. nach Morrison, Simon (2009): The People’s Artist: Prokofiev’s Soviet Years, New York, S. 65 ↩︎

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    AIGEL: 1190

    Die wunderbarste Erfolgsgeschichte einer Musikgruppe 2017: AIGEL ist das gemeinsame Projekt der Kasaner Dichterin und Sängerin Aigel Gaisina und des Petersburger Elektromusikers Ilja Baramija. Obwohl das Debutalbum 1190 eine Belastungsprobe ist – die Texte von Aigel Gaisina entstanden aus der Sorge um ihren Liebsten im Gefängnis, und Ilja Baramija legte einen harten Industrial Beat darunter – begann die Band augenblicklich, die größten Konzerthallen des Landes zu stürmen. Und Ende des Jahres geschah ein wahres Weihnachtswunder: Der Liebste von Aigel Gaisina kam auf Bewährung frei.


    BATTLE DES JAHRES

    Weshliwy Otkas: Wojennyje Kuplety (dt. „Kriegs-Couplets“)

    Das Vorgänger-Album Gusi-Lebedy (dt. „Gänse – Schwäne“) dieses Klassikers des Moskauer Experimental-Rocks kam vor sieben Jahren heraus – man musste also ziemlich lange warten. Dieses Mal dekonstruiert die Band unter der Führung von Roman Suslow das Genre der sowjetischen Kriegslieder und führt es über in gewohnt raffinierten, kunstvollen, ehrlichen Rock. Weshliwy Otkas ist fern jeden Verdachts, irgendeine Konjunktur bedienen zu wollen – was sie machen, ist reine Kunst; offenbar deswegen steckt in ihren klingenden Schlachtengemälden mehr russisches Leben und mehr Wahrheit als in dem, was man den Leuten derzeit im Kino oder Fernsehen zeigt.


    Nächtliches Rendezvous des Jahres

    Luna: Ostrow Swobody (dt. „Insel der Freiheit“)

    Hypnotisierender, atmosphärischer dance einer jungen ukrainischen Sängerin. Während die User in den Sozialen Medien noch die Single Tajet led (dt. „Das Eis schmilzt“) der Band ihres Mannes hörten, zog Kristina Bardasch leise ihre Kreise und nahm ein Album faszinierender Pop-Schlager auf, die in einen Klub genauso passen wie in eine Kunstgalerie, so eine schnelle Unterwasser-Diskothek ist das.


    Teamwork des Jahres

    Kubikmaggi: Things

    Kubikmaggi geht auf die Pianistin und Sängerin Xenia Fjodorowa zurück, Tochter des bekannten Leonid Fjodorow. In ihrem dritten Album hat sich die Petersburger Band in ein reifes, selbstsicheres und erfinderisches Team verwandelt, das instrumentale Stücke aufnimmt, die irgendwo zwischen Experimentaljazz, akademischem Minimalismus, blumigem Prog-Rock und romantischer Kinomusik liegen. Großzügige Musik, die von der Freude talentierter Musiker am gemeinsamen Spiel zeugt.


    Väter des Jahres

    Kasta: Tschetyrjochglawy orjot (dt. „Der vierköpfige Heuler“)

    Letzten Endes ist dies ein Album, das junge Papis geschrieben haben. Es ist das erste Album seit fast zehn Jahren der Rap-Autoritäten aus Rostow, und es stellt ein ganzes Bündel heikler Lebensfragen, beantwortet sie, und zwar so, wie es es Väter tun: ehrlich, genau, mit Humor und ausgiebig.


    Russische Marke des Jahres

    Utro: Treti Albom (dt.„Drittes Album“)

    Utro besteht aus Mitgliedern der Rostower Band Motorama, die als eine der berühmtesten russischen Indie-Rock-Bands im Ausland bekannt dafür ist, dass sie ihre Lieder auf Russisch singt. Und auf dem Treti Albom tun sie das ganz ausgezeichnet. Motorama und Utro gaben den Standard vor für existenziellen, repetitiven Post-Punk mit pulsierenden Rhythmen und dem Beigeschmack provinzieller Ausweglosigkeit, der in unseren Breiten (warum auch immer) sehr etabliert ist. Es gibt eine ganze Phalanx einander ähnlicher Bands, und ein Festival, wo sie voreinander auftreten. Utro und seine traurigen, schneebedeckten Lieder halten diese russische Marke auf Niveau.


    PLATTEN DES JAHRES

    Chaski: Ljubimyje pesni (woobrashajemich) ljudej (dt. „Die Lieblingslieder [ausgedachter] Leute“)

    Ein wesentlicher Teil des diesjährigen russischen Raps schien einem polierten Hochglanzmagazin entnommen zu sein, auf dessen Seiten junge Männer sich gegenseitig mit den Marken ihrer Autos, der Dicke ihres Geldbeutels und der Menge an persönlich beschlafenen Models salbungsvoll zu überbieten versuchen. Doch auf dem Album des in Ulan-Ude geborenen Dimitri Kusnezow ertönt in gereimten Versen die Stimme der Straße und Gassen, der neunstöckigen Plattenbauten und der dreckigen Hinterhöfe.


    Schwung des Jahres

    Noggano: Lakscheri (russ. Umschrift für engl. „luxury“)

    Eine extrem umfangreiche, fast dreistündige Album-Playlist von Bastas pöbelndem Alter-Ego, die von allem etwas hat: Von Verbrechergeschichten, die Naggano stets am besten gelingen, über Kosaken-Trap und noblen Restaurant-Sound bis hin zu absurdistischer Tanzfolklore, Bruder-Romantik der 1990er und phantasmagorischen Geschichten im Geiste Hunter S. Thompsons. Witzig und unglaublich lebendig.


    EIGENHEIT DES JAHRES

    Lena Tschernjak: Fbromance

    Die trübe Melange aus elektronischer Musik und Gesang der Petersburger und Pariser Sängerin ist der ideale Soundtrack für ein unvermitteltes Herausfallen aus der Wirklichkeit — weiß der Teufel wohin. Aufgenommen wurde das Ganze mit der Unterstützung zweier prominenter Vertreter der Petersburger Elektro-Szene: Alexander Saizew und Ilja Belorukow.


    MORAL DES JAHRES

    LSP: Tragic City

    Lifestyle-Rap als Moralität, als finsteres Arthouse-Drama über die furchteinflößende Leere, die sich in Wirklichkeit verbirgt hinter den meisten Rap-Songs über das schöne Leben und die Besteigung des Olymp.


    TRIP DES JAHRES

    PTU: A Broken Clock Is Right Twice a Day

    Wichtigste Meinungsmacherin und Propagandistin russischer Musik im Westen war auch im Jahr 2017 Nina Krawiz. Die sibirische DJane begann ihre Karriere in Berlin und veröffentlicht auf ihrem eigenen Label Trip klugen Techno und experimentelle elektronische Musik. Das größte Lob aus der Gruppe ihrer Protegés gab es für das Kasaner Duett PTU, das bei Nina Krawiz sein Album A Broken Clock Is Right Twice a Day herausbrachte. Ein leicht irrer elektronischer Sound, dessen Spektrum von Ambient bis Acid Techno reicht und zu dem man, erwiesenermaßen, hervorragend tanzen kann.


    ÜBERBLEIBSEL DES JAHRES

    Leonid Desjatnikow: Incidental

    Das russische Label Fancy Music, das für seine Zusammenarbeit mit zeitgenössischen Komponisten ernster Musik bekannt ist, beendet ein intensives Jahr mit dem heutzutage nur noch sehr selten zu hörenden und spezifischen Sound von Leonid Desjatnikow: Das Album enthält den Foxtrott aus Mischen [dt. „Zielscheibe“; ein Fantasy-Drama von 2011, zu dem Leonid Desjatnikow die Fimmusik schrieb – dek] das musikalische Thema aus einem der ersten postsowjetischen Thriller Prikosnowenije [dt. „Berührung“; ein Thriller aus dem Jahr 1992, vom Regisseur Albert Mkrtschjan – dek], Fragmente aus der Begleitmusik zum Theaterstück Shiwoi Trup [dt. „Der lebende Leichnam“, ein Stück von Lew Tolstoi – dek], einen Klezmer-Tango aus Sakat [dt. „Sonnenuntergang“, Film von Alexander Seldowitsch aus dem Jahr 1990, basierend auf dem gleichnamigen Theaterstück von Isaak Babel – dek], das frühe, auf französischen Märchentexten aus der Maghreb-Region basierende Tri Istorii Schakala  (dt. „Drei Geschichten des Schakals“), eine Romanze nach einem Brief, den Gidon Kremer als Kind schrieb, und vieles mehr. Das Album wurde drei Jahre lang aufgezeichnet, während derer man die Noten zusammensuchte, die Musiker versammelte und so weiter. Der Künstler selbst beschreibt es – gewohnt ironisch – als „Reste und Überbleibsel“, doch sind Reste dieser Art mit Gold nicht aufzuwiegen.

    Übersetzung (gekürzt): dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am 03.01.2018

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  • Lieder auf den Leader

    Lieder auf den Leader

    Kinder in Uniform trällern, dass sie „Onkel Wowa“ in die letzte Schlacht folgen würden. Mit der populären Losung Krim nasch besingen sie die Angliederung der Halbinsel an Russland, auch die Formel Alaska gehört zu uns bleibt nicht unerwähnt. Mittendrin die Duma-Abgeordnete Anna Kuwytschko. Nachdem das Musikvideo im November 2017 viral gegangen war, brachte diese Lobeshymne auf Putin der Abgeordneten letzten Endes allerdings mehr Kritik als Lob ein, auch in staatsnahen Medien. Selbst der nicht gerade als Putin-kritisch bekannte Moderator Anton Stepanenko sparte im staatsnahen Kanal Rossija 24 nicht mit Spitzen gegen Kuwytschko. Seine Sendung beendete er mit einem historischen Vergleich: Zu Sowjetzeiten, so Stepanenko, mussten Musiker ihr Repertoire erst von den Zensurbehörden absegnen lassen. Mit Glasnost wurde die Zensur aufgehoben. Heute, so der Moderator, könne man in Anbetracht mancher Werke sagen, dass das ein Fehler gewesen ist.

    „Onkel Putin, wir sind mit dir“ – Kinder in Uniform beteuern singend, dass sie Putin in die letzte Schlacht folgen würden


    Damit verdeutlichte Stepanenko tatsächlich einen wesentlichen Unterschied: Während die Propaganda in der Sowjetunion monopolisiert war und nicht genehmigte Beifallsbezeugungen aller Art üblicherweise gemaßregelt wurden, hat sich im modernen Russland eine ganze Gattung der Loblieder auf Putin etabliert, die staatlicherseits offenbar keinen Einschränkungen unterliegt.

    Imidshmeiking

    Imidshmeiking (engl. image making) beziehungsweise Piar (PR) des Präsidenten – so wird in Russland die von oben gesteuerte Polit-PR bezeichnet, die die Beliebtheit Putins steigern soll. Die intransparente Stiftung für effektive Politik soll dabei eine wichtige Rolle spielen1, Verteidigungsminister Sergej Schoigu soll dazu angeblich schon genauso wertvolle Tipps beigetragen haben wie der sogenannte „Kreml-Chefideologe“ Wladislaw Surkow. Beispiele gibt es viele, und sie sind hinlänglich bekannt: Putin als Judoka, der seine Gegner aufs Kreuz legt, als Reiter, der die Weiten Russlands erkundet, als Steuermann, der Schiffe, Flugzeuge, Mähdrescher und Rennautos lenkt. Antike Amphoren holt er vom Meeresgrund, als Musiker berührt er die Herzen, als Tierfreund spielt er mit dem Niedlichkeitsfaktor und als Federball-Spieler mit Dimitri Medwedew.

    Unabhängig von staatlich orchestrierter Polit-PR ist in Russland schon seit Jahren ein Imidshmeiking zu beobachten, das „aus dem Volk“ kommt. Seien es die Tausende2 poetischer Lobeshymnen auf stihi.ru oder die Elogen einiger Hobbyliteraten – die Gattung ist reich an Beispielen. Die Klickzahlen sind unbekannt. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die ursprünglichste Form der Lyrik – das Lied – den größten Resonanzraum findet.

    Einen wie Putin

    In der Hitparade solcher Loblieder besetzt die Girlband Pojuschtschije Wmeste (dt. etwa die gemeinsam Singenden) einen prominenten Platz: 2002 gegründet, gab die „Agitbrigade“3 sogleich das Lied Takowo kak Putin (dt. Einen wie Putin) zum Besten. Eigentlich ironisch angelegt, entwickelte sich der Gassenhauer zu einem Grundstein des Putin-Bildes, das manche Wissenschaftler als Personenkult beschreiben.4 Besungen werden Putins Stärke und seine Alkoholabstinenz. Diese Eigenschaften korrespondieren mit einer Umfrage aus dem Jahr 2012, der zufolge 39 Prozent der Befragten von allen Eigenschaften Putins vor allem seine Tatkraft und 35 Prozent seine Gesundheit schätzten.5 26 Prozent der Befragten war das Fehlen von schlechten Eigenschaften wichtig: Da Putin laut seiner oft vorgebrachten Bekundung nur wenig trinke, hebe er sich mit seiner Abstinenz von seinem Vorgänger Jelzin ab6 und biete mit seinem Lebenswandel ein gutes Vorbild für russische Männer.

    Dies war auch die wichtigste Botschaft von Pojuschtschije Wmeste, deren Bandname viele an Iduschtschije Wmeste (dt. etwa die zusammen Gehenden) erinnerte – eine mitunter als Putin-Jugend kritisierte Jugendorganisation. Nach dem großen Hit, der auch auf Englisch vertont wurde, verschrieb sich die Band vor allem der patriotischen Propaganda und besang Meinen Abgeordneten (russ. Moi Deputat), Unsere Stadt (russ. Nasch Gorod) und die Siegesparade (russ. Parad Pobedy). Erfolg, gemessen in YouTube-Klicks, war der Girlgroup allerdings nur mit ihrem Loblied auf Putin beschieden.

    „Takowo kak Putin“ – eines der erfolgreichsten Loblieder auf den Präsidenten


    Geblendet und verzaubert

    Mit ähnlich vielen YouTube-Klicks kam 2015 die bis dahin weitgehend unbekannte Sängerin Maschani zu Ruhm. Ihr Lied heißt schlicht Mein Putin (russ. Moi Putin), sie trägt es im Video in verschiedenen Garderoben vor: in einem Kleid, das wie die russische Trikolore aussieht, und in einem, das an die Flagge der Ukraine erinnert. Es bleibt verborgen, was die Sängerin mit ihrer Kleider-Allegorie ausdrücken will – vor allem, weil sie in dem Lied auch die Angliederung der Krim besingt:

    Du provozierst und holst die Krim zurück
    Und in der Folge
    – frei von allen Fesseln –
    wirst du die [Sowjet-]Union wiederbeleben
    Und ich?
    Geblendet und verzaubert,
    kann ich dich nicht vergessen

     

     

    „Geblendet und verzaubert, kann ich dich nicht vergessen“ – Sängerin Maschani singt über „ihren Putin“

    Timati und die Galeeren

    Der Mainstream-Rapper Timati geht 2015 mit seinem Homie Sascha Tschest andere Wege: Düstere Beats werden hier berappt mit den Worten Mein bester Freund, das ist Präsident Putin – diesem Song zufolge ein „cooler Superheld“: 

    Alle Mädchen verlieren den Kopf
    Mein bester Freund ist noch nicht verheiratet
    Arbeitet ohne Pause
    Von Montag bis Samstag


     

    Rapper Timati nennt Putin einen „coolen Superhelden“

    Hier geht es dem Duo um den in staatsnahen Medien oft thematisierten Arbeitseifer des nationalen Leaders. Er habe seit 2000 „wie ein Sklave auf Galeeren geschuftet“, sagte Putin selbst im Jahr 2008. Auch Ljudmila Putina schlug 2013 in dieselbe Kerbe, als sie meinte: „Unsere Ehe ist deshalb zu Ende, weil wir uns praktisch nie sehen. Wladimir Wladimirowitsch ist völlig in seine Arbeit vertieft.“7

    Putins Kalender auf kremlin.ru/trips ist tatsächlich nahezu lückenlos, laut manchen Beobachtern vermittelt er damit gezielt den Eindruck „eines Staatspräsidenten, der ohne Unterlass, ,rund um die Uhr‘ im Einsatz ist, sich bei der Ausübung seines Amtes nicht schont und damit das vertraute Bild vom guten Herrscher evoziert, der sogar noch nachts arbeitet, während sein Volk schläft.“8

    Alles Propaganda?

    Die meisten Loblieder stellen Putin als rastlosen und fürsorglichen Superhelden dar. Ist das Putin-Lied deshalb gleich so etwas wie (Graswurzel-)Propaganda? Also eine Art (bottom-up-)Legitimationsstrategie für das sogenannte System Putin? Vielleicht – wahrscheinlicher sind es jedoch bloß Versuche, mit einem populären Thema öffentliche Aufmerksamkeit zu erzeugen und damit auch als Trittbrettfahrer Berühmtheit zu erlangen.

    Mit Blick auf die vielen YouTube-Klicks scheint ein solches Kalkül tatsächlich aufzugehen. Doch sind zustimmende Kommentare eher selten, es überwiegen Kritik und Ironie.

    Schmählieder

    Kritik und Ironie kennzeichnen auch die vielfältigen Schmählieder über Putin. Die Tradition der massentauglichen Politsatire in Russland geht auf die Breshnew-Zeit zurück, schon damals hat sie ganz spezifische und teilweise sehr subtile Zugänge gefunden, um die Wlast zu kritisieren.

    Nicht ganz so subtil, vielmehr galgenhumorig, reiht sich die Band Rabfak in die Gattung der Schmählieder ein. Entstanden ist der Song im Vorfeld der Dumawahl 2011 und war bei den Anhängern der Bolotnaja-Bewegung populär. Er heißt schlicht Unsere Klapse (stimmt für Putin). Mit der Klapse ist Russland gemeint, das Lied stellt die Frage:

    Wer hat dem Volk Gazprom und Lukoil geklaut?
    Keine Antwort. Und für dich eine Spritze in den Arsch.

    Die Spritze dürfte eine Reminiszenz an die sowjetische Strafpsychiatrie sein, der Humor des Liedes ist derb und drastisch, die Wortwahl Mat-durchsetzt.


     

    Das Schmählied „Unsere Klapse (stimmt für Putin)“ war unter Anhängern der Bolotnaja-Bewegung populär

    Auch Wasja Oblomow kommt in seinem Schmählied von 2011 nicht ohne Schimpfsprache aus. Bleib locker, Bro heißt das Stück übersetzt, es ist noch einige Monate vor den Bolotnaja-Protesten entstanden. Hier resümiert der lyrische Putin seine positiven Eigenschaften: seine Stärke, seine Alkoholabstinenz, seinen Arbeitseifer. Auch, dass er Terroristen „im Scheißhaus kaltgemacht“ habe, bleibt nicht unerwähnt, genauso wie Putins Judoka-Coolness. In der ersten Strophe des Liedes sagt der lyrische Putin, dass er „für immer [an die Macht – dek] gekommen“ sei, in der letzten heißt es:

    Meine guten Taten werdet ihr nie vergessen!
    Was auch passiert, euch muss klar sein, dass ihr zu mir kommen müsst, wenn ihr Probleme habt.
    I’m back in the USSR, оh yeah!


     

    „Back in the USSR“ unterstellt Wasja Oblomow in seinem Lied von 2011

    1. vgl. Sartorti, Rosalinde (2007): Politiker in der russischen Ikonographie: Die mediale Inszenierung Vladimir Putins, in: Pietrow-Ennker, Bianka (Hrsg.): Kultur in der Geschichte Russlands, S. 333-348, hier S. 336 ↩︎
    2. republic.ru: V poiskach akyna: Obraz Vladimira Putina v narodnoj poėzii ↩︎
    3. Eigenbezeichnung des Band-Managers, vgl. peoples.ru: Pojuščie vmeste ↩︎
    4. Robert Henschel (2015): Sounds of Power: Music and the Personality Cults of Putin and Chávez ↩︎
    5. vgl. romir (2012): Neotvratimaja neotrazimost’ und Fleischmann, Eberhard (2010): Das Phänomen Putin: Der sprachliche Hintergrund, S. 30 ↩︎
    6. vgl. Engelfried, Alexandra (2012): Zar und Star: Vladimir Putins Medienimage, in: Osteuropa, 62. Jg., 5/2012, S. 47-67, hier S. 53 ↩︎
    7. zitiert nach: Moskowski Komsomolez: Ljudmila Putina: Vladimir Vladimirovič polnost’ju pogružen v rabotu ↩︎
    8. Sartorti, Rosalinde (2007): Politiker in der russischen Ikonographie: Die mediale Inszenierung Vladimir Putins, in: Pietrow-Ennker, Bianka (Hrsg.): Kultur in der Geschichte Russlands, S. 333-348, hier S. 339 ↩︎

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  • Musyka: Pharaoh – der Zar des russischen Hip-Hop

    Musyka: Pharaoh – der Zar des russischen Hip-Hop

    Er habe ein Bubigesicht wie Justin Bieber und eine Schwermut wie Kurt Cobain – das sagen Kritiker über den Rapper Pharaoh. Der tut alles, was im Grunde verboten ist: kifft, säuft und schimpft Mat gegen jedes System. So viel Anarchie kommt an bei der Generation Z, und dank Youtube ist Pharaoh ein Star, dessen Musikclips Millionen sehen.

    Julia Gussarowa von Snob traf den Jungstar, der 1996 geboren ist und mit bürgerlichem Namen Gleb heißt, im Moskauer Nobel-Restaurant Turandot – beim Modeshooting für das Magazin.

    Er tut alles, was im Grunde verboten ist: kifft, säuft und schimpft Mat – der Rapper Pharaoh / Foto © dead-dynasty.ru

    Pharaohs Auftauchen in der Hip-Hop-Szene war so seltsam, dass niemand recht wusste, was man von ihm halten sollte. Teenager ahmten seinen Kleidungsstil nach, junge Studenten erstellten Listen amerikanischer Rapper, von denen Gleb abkupfert (als würden diese Rapper nicht voneinander abkupfern), und unser damaliger Kulturredakteur wollte googeln, was der Satz bedeutet: „Ja podshigaju dshoint, on osweschtschajet put v Konochu“ [dt. „Ich zünde einen Joint an, er leuchtet den Weg nach Konoha“]. 

    Es war sinnlos, ihm zu erklären, dass die Musikstile Trillwave und Cloud Rap in ihren Liedtexten weder Logik noch Narrativ verlangen. Statt einer Botschaft ein Sammelsurium an Bildern, die Stimmung der Hörenden entsteht über Imaginationen, die vor dem inneren Auge entstehen. So ungefähr werden die Kulturwissenschaftler in 20 Jahren Trillwave beschreiben. 

    PR-Leute hatte er nie, auch jetzt nicht

    Vor zwei Jahren habe ich mich zum ersten Mal mit Gleb unterhalten. Ich hatte den Auftrag, ein Wörterbuch des russischen Trillwave zu erstellen. Aufgrund der oben genannten Besonderheiten des Genres hätte ein solches Verzeichnis überhaupt keinen Sinn ergeben, daher plauderten wir einfach an die zwei Stunden darüber, was er mag, was er nicht mag, was er sich anguckt und was er liest.

    Kaum hatten wir uns verabschiedet, begann ich, seine Biografie weiterzuspinnen: Bald wird er zwanzig, und ein anderer Typ wird ihn ausbooten, einer, der härter ist, authentischer, absurder, und Fara, wie ihn seine Fans nennen, wird in der Masse untergehen – ohne systematische PR ist es heute unmöglich, die Aufmerksamkeit der Leute langfristig zu halten. Und PR-Leute hatte er nie, auch jetzt nicht – wozu sollte ein Internet-Star wie er das auch brauchen.

     

     

    Inzwischen sind noch zwei Dutzend junger Leute aufgetaucht, die mit Auto-Tune auf Band krächzen, was sie sich wünschen: kiffen oder verrecken. Und Beatmaker (Komponisten für Hip-Hop-Artists) sind aus dem Boden geschossen wie Hochzeitsfotografen. Und zu Glebs Millionen Views auf YouTube sind noch ein paar Millionen mehr dazugekommen, der Song Pjat minut nasad [dt. Vor fünf Minuten], für dessen Ruhm zur Hälfte der aus Ufa stammende Boulevard Depo verantwortlich ist, wurde auf Firmenfeiern von Kreativagenturen zum Hit. Den Text dieses Erfolgshits können sogar glatzköpfige Musikkritiker mitsingen, die seelisch und geistig in den 1990ern steckengeblieben sind. 

    „Was finden die alle an ihm“ fragt keiner mehr

    Die Frage „Was finden die alle an ihm?“ stellt keiner mehr, doch der Prozess der Akzeptanz ist noch im Gang und nimmt bisweilen kuriose Formen an: In einem Käseblatt wurde der Song Diko, naprimer [dt. Wild, oder so] als Sommerhit bezeichnet. Obwohl ein Sommerhit ein ganz bestimmtes, bescheuertes Genre des frühen Glamours ist. Solche Lieder werden in speziellen Fabriken hergestellt, in der namenlose Arbeiter mechanisch „Blick“ auf „Glück“ reimen, und die Statisten im Clip heiße Klubnächte auf Ibiza mimen. Lustigerweise trägt Pharaoh im Video zu dem angeblichen Sommerhit einen schweren Pelzmantel, der wie ein ungehobelter Sarg wirkt, geht durch einen Wald, in dem noch der letzte Schnee liegt, und rappt einen Text darüber, dass wir irgendwann sterben werden. 

     

    Der Bühnenbildner baut im Palais-Restaurant Turandot-Barrikaden aus Stühlen, der Pelzsarg aus dem letzten Video baumelt an einem Kleiderhaken in einer improvisierten Künstlergarderobe. Auf meine sarkastische Bemerkung, er und seine Jungs hätten sich für das Video zurechtgemacht wie dunkelhäutige Zuhälter, reagiert Gleb gelassen: „Ich habe mir ausgemalt, wie wir in der Zeit vor der Revolution gefeiert hätten. Ich denke manchmal darüber nach, wie wir leben würden, wenn die Kultur und Ästhetik des zaristischen Russland nach der Machtübernahme durch die Bolschewiki nicht erstickt worden wären.“

    Die neuen Musiker, nicht nur Rapper, besingen ein Bild der postsowjetischen Heimat, das aus Landschaften mit Plattenbauten, rohem Kapitalismus, Gefängniskultur und Gopniki-Elementen modelliert ist. Eine Liebe zu Russland, die stellenweise an das Stockholm-Syndrom erinnert, ist stark in Mode. „Dieser Hang zum Post-Sowok, der jetzt zum ästhetischen Mainstream geworden ist, ist eine sehr bequeme Pose für mediale Persönlichkeiten. Eine Geschmacklosigkeit und Vergewaltigung des Gehirns, das wird bald vorbei sein. Das ist nichts für die Ewigkeit“, sagt Gleb, dessen Blick über die bronzenen Kandelaber irrt. Er ist fasziniert von der rissigen imperialen Vergoldung und dem französierten Asien. Das Logo seiner Band Dead Dynasty wurde geändert – jetzt ist es ein Skelett eines doppelköpfigen Adlers. Den Bandnamen selbst assoziiert man zufällig mit der Zarenfamilie. Oder auch gar nicht so zufällig. 

    Rapper als Topmodels des Streetstyle

    Er wird abgeholt, um für ein weiteres Video gestylt zu werden. Heutzutage kleiden Hochglanzmagazine niemanden so leidenschaftlich ein wie Rapper. Das Wachstum auf dem Markt für Männermode in den letzten zwei Jahren ist nicht zuletzt ihnen zu verdanken. Rapper sind die Hauptfiguren des Streetstyles, gern gesehene Gäste bei Modenschauen, und sie haben auf Instagram mehr Follower als die Redakteure von Modezeitschriften.

    Auch Pharaoh wird von Redakteuren umschwärmt. Tatler fotografierte ihn mit seiner Geliebten, dem Model Alessja Kafelnikowa im Stil rich & beautiful. Viele Bürschchen aus reichen Familien haben sich ihre Mäuler zerfetzt. „In unbekanntem Gewässer unterwegs zu sein, war stressig, aber spannend“, erinnert sich Gleb. „Die Tür zur Glamour-Welt war einen Spalt breit aufgegangen, und ich dachte: Das kann interessant werden. Mit den Leuten in Kontakt zu sein, war dann ziemlich unangenehm, weil die meisten mich von oben herab behandelten. Das hat mich gewurmt, aber auch motiviert, mehr zu arbeiten.“ 

    Er hätte das Zeug dazu, ein Influencer auf Instagram zu werden, wie viele internationale Rapper – doch er kann mit diesem ganzen Schnickschnack überhaupt nichts anfangen. Sobald der Fotograf das Schlusszeichen gibt, schlüpft er blitzartig in seine ausgelatschten Chucks. 

    „Von mir kommt bald was Neues raus“, sagt er und verwuschelt sich energisch die gestylten Haare. „Nur weiß ich nicht recht, wie ich das am besten nennen soll. Ich hab’s! Schreib, das wird eine Art Glam-Rock des Hip-Hop.“

    Übersetzung (gekürzt): Ruth Altenhofer
    Veröffentlicht am 26.09.2017

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  • Musyka: Soundtrack der Revolution

    Musyka: Soundtrack der Revolution

    „Die Russische Revolution von 1917 kann man sich ohne Marseillaise und rote Fahnen kaum vorstellen“, schreibt der Historiker Boris Kolonizki in seinem Buch Machtsymbole und Machtkampf. Und es geht nicht nur um Vertonung und Illustration. Zu Zeiten von sozialen Revolutionen, wie sie Russland im Jahr 1917 erlebt hat, werden Lieder zu einem der wichtigsten Instrumente des Machtkampfs. Sie konsolidieren und trennen gesellschaftliche Gruppen manchmal mehr als politische Programme und Reden. Da, wo staatliche Institutionen in Schutt und Asche liegen, da, wo das Rechtssystem stark beschädigt ist, können die bekannten Melodien Gewalt legitimieren und auch den politischen Ton mit angeben.
     
    Das gemeinnützige Medien-Projekt Arzamas stellt den Soundtrack der Revolution vor – die wichtigsten Lieder des Jahres 1917.

    Marseillaise

     

    Musik: Claude Joseph Rouget de Lisle
    Text: Pjotr Lawrow

    Solisten der Kiewer Oper und das Orchester der Schallplattenfirma Extrafon. Kiew 1917

    Die russischen Revolutionäre verglichen sich gern mit ihren französischen Vorkämpfern aus der Zeit von 1792, in der die Marseillaise entstanden ist. Pjotr Lawrow, Wissenschaftler und Angehöriger der [sozialrevolutionären – dek] Narodnikibewegung verlieh dieser Stimmung Ausdruck, als er 1875 einen neuen russischen Text zu der bekannten Melodie verfasste: „Lasst uns die alte Welt verdammen, // Lasst uns ihren Staub von den Füßen schütteln!“

    In Frankreich wurde die Marseillaise 1879 [endgültig – dek] zur Nationalhymne erklärt, was in den Beziehungen zwischen dem Russischen Reich und Frankreich als seinem engsten Verbündeten für peinliche Kollisionen sorgte. Denn nun galt es, neben Gott, schütze den Zaren auch das Revolutionslied zur Aufführung zu bringen.

    Im offiziellen Kontext gab es die Marseillaise in Russland entweder mit dem französischen oder ganz ohne Text – jegliche andere Darbietung war verboten. Zudem fügte sich Lawrows Text nicht allzu glatt in die französische Melodie, sodass der Komponist Alexander Glasunow die Musik ein wenig an den russischen Text anpasste. Ausländer wunderten sich, warum sie langsamer klang als das Original.

    „Man singt die Marseillaise bei uns auf eigene Art, und zwar schlecht, geradezu verhunzt wird dieses schwungvolle Lied“, klagte der Maler Alexander Benois.

    Zur Februarrevolution waren die russischen Musikkapellen mit der Marseillaise bereits vertraut, und der verbotene Lawrow-Text wurde im ganzen Land offen gesungen.


    Hymne auf ein freies Russland

     

    Musik: Alexander Gretschaninow
    Text: Konstantin Balmont

    Fjodor Oreschkewitsch und das Orchester der Schallplattenfirma Extrafon. Kiew 1917

    Die Hymne auf ein freies Russland ist das einzig wirklich neue Massenlied, das während der Revolution 1917 geschrieben wurde – alle anderen waren Umarbeitungen alter Lieder oder hatten schon vorher im Untergrund existiert.

    Im revolutionären Schwung schrieb der Moskauer Komponist Alexander Gretschaninow innerhalb einer halben Stunde die Melodie nieder, der symbolistische Dichter Konstantin Balmont verfasste den Text dazu. Wobei die ersten beiden Zeilen bei einem anderen Symbolisten, nämlich Fjodor Sologub, entlehnt waren: „Es lebe Russland, freies Land! Freie Urkraft, zu Großem bestimmt!“

    Das Lied verbreitete sich augenblicklich im Land, Orchester und Kapellen machten sich die Melodie zu eigen, die Hymne wurde auf Kundgebungen gesungen. Doch ihr ein offizielles Siegel aufzudrücken, war bis zum Oktober nicht gelungen oder nicht gewollt.

    Nach der Oktoberrevolution wurde die Hymne auf ein freies Russland zum Emigrationslied, das man in den Zwischenkriegsjahren in Europa und Amerika sang und auch aufnahm. Nach dem Krieg schließlich, noch zu Lebzeiten des Komponisten Gretschaninow, erlangte die Melodie weltweite Bekanntheit: als Sendezeichen von Radio Swoboda.

    Die hier vorliegende Aufnahme, eine der ersten, entstand in Kiew auf der Woge der immensen Popularität, die die Melodie innerhalb kürzester Zeit erreichte. Interpret ist der Tenor Fjodor (Theodor) Oreschkewitsch, der in Tbilissi und Warschau, im Marinski und im Bolschoi-Theater sang und 1917 Solist an der Kiewer Oper war. Sein stilvoller klassischer Gesang harmoniert nicht allzu gut mit dem schrillen Sound des Extrafon-Blasorchesters, doch über solche Kleinigkeiten sah man im Revolutionsjahr hinweg. 


    Trauermarsch
    „Wy shertwoju pali …“ („Ihr seid als Opfer gefallen …“)

     

    Musik: Alexander Warlamow

    Unbekannte Blaskapelle. Deutschland, ca. 1907

    [Der spätere Trauermarsch der Revolutionäre – dek] hat eine reiche vorrevolutionäre Geschichte. Die Melodie wurde in den 1830er Jahren von Alexander Warlamow komponiert, einem Klassiker des russischen Kunstlieds. Dem Text liegt ein Gedicht zugrunde, das Charles Wolfe 1816 zum Tod eines britischen Generals verfasst hatte. Iwan Koslow hat es bearbeitet.

    1870 fand das Lied Eingang in das revolutionäre Milieu, wo es einen neuen, feurigen Text erhielt, verfasst von dem Narodnik Anton Amossow: „Wy shertwoju pali w borbe rokowoi // Ljubwi bessawetnoi k narodu …“ (dt. „Ihr seid als Opfer gefallen im schicksalhaften Kampf // Der bedingungslosen Liebe zum Volk … “). Wy shertwoju pali (dt. Ihr seid als Opfer gefallen) wurde zum Trauerlied, dem Trauermarsch der Revolutionäre, mit dem sie von den gefallenen Kameraden Abschied nahmen.

    Man sang es während der Revolution von 1905, als man die Opfer des niedergeschlagenen Aufstands zu Grabe trug. Dann wurde es verboten und seine Aufnahmen heimlich nach Russland geschmuggelt. 1917 erklang das Lied erneut im bereits bekannten Kontext – „Ihr seid als Opfer gefallen …“ – sobald die Helden der Revolution die ersten Opfer ausriefen. Es war diese Trauermelodie, die bei ihrem Begräbnis am 23. März 1917 in Petrograd spielte.

    Die Schallplatte der legendären Plattenfirma Poliaphone, die hier zu hören ist, war etwa zehn Jahre vor dem Revolutionsjahr 1917 erschienen: Die Aufnahme (ohne Text) ist aller Wahrscheinlichkeit nach in Deutschland entstanden, wo die Platte gepresst wurde, auf dem Etikett ist jedoch die neutrale Bezeichnung Pochoronny Marsch (dt. Trauermarsch) zu lesen. Dort ist zur Tarnung auch eine Handelsfirma Poljakin und Söhne in Odessa angegeben, die nie existierte. Die Orchesterversion wirkt klangvoll und qualitativ hochwertig – die deutsche Aufnahmetechnik war damals eine der besten.


    „Vorwärts, Genossen, im Gleichschritt“

     

    Musik: Verfasser unbekannt
    Text: Leonid Radin

    Chor des Moskauer Staatstheaters. Moskau 1917

    Entstanden ist dieses Lied in Deutschland als Protestlied gegen den Einmarsch der napoleonischen Truppen. Im 19. Jahrhundert gehörte es zum Repertoire deutscher Gesangs- und Studentenvereinigungen.

    Nach Russland gelangte das Lied Mitte des 19. Jahrhunderts, gegen dessen Ende wurde es von den Revolutionären in Gebrauch genommen: 1898 verfasste der den Narodniki angehörende Chemiker Leonid Radin im Moskauer Taganka-Gefängnis einen neuen Text und studierte diesen sogar mit seinen Mitgefangenen ein. „Den Weg ins Glück der Freiheit wollen wir uns bahnen mit Macht.“ Mit diesen kämpferischen Zeilen büßte die bewährte Melodie ihren melodischen, walzerartigen Rhythmus ein und wurde zum Kampfmarsch.

    Nachdem sie 1905 erklungen war, blieb sie bei den Revolutionären eine der beliebtesten Melodien. 1917 war sie von Anfang an und überall zu hören. Nach der Revolution gelangte das Lied wieder nach Deutschland, wo es [unter dem Namen Brüder zur Sonne zur Freiheit dek] zunächst von Arbeiterchören und Kommunisten gesungen wurde, später dann auch von den Nazis.

    Doch in den Ländern Osteuropas bestand daneben auch die beinahe vergessene, langsame und melodiöse Version fort: Noch Mitte der 1930er Jahre sang man im unabhängigen Lettland auf diese Melodie von dem Mädchen eines Fischers, das sich nach dem Geliebten sehnt.


    Ukrainische Hymne

     

    Musik: Michail Werbizki
    Text: Pawel Tschubinski

    Ukrainischer Volkschor unter der Leitung von Alexander Koschiz. Kiew 1917

    Kiew gehörte nicht nur zu den Zentren der revolutionären Ereignisse von 1917, es spielte auch für die Schallplattenindustrie im vorrevolutionären Russland eine bedeutende Rolle.

    Hier betrieb die große Schallplattenfabrik der Firma Extrafon rege Geschäfte. In den Klang-Annalen der Februarrevolution hat die Firma eine besonders markante Spur hinterlassen. Auf ihrem Etikett, reich verziert mit Blättern von Kiewer Kastanien, nahm sich ein in den 1860er Jahren entstandenes Lied besonders eindrucksvoll aus, das feierlich (und erstmalig!) Ukrainische Hymne genannt wurde. Für die Ukraine erwies sich diese Aufnahme als eine Art Auftakt zu der [kurzen – dek] Epoche der Zentralna Rada, die die zeitweilige Unabhängigkeit der Ukraine proklamierte. 


    Hymne der Zionisten (HaTikwa)

     

    Musik: Samuel Cohen
    Text: Naphtali Herz

    Orchester spielt unter der Leitung von Arkadi Itkis. Kiew, 1917

    Auf der Schallplatte mit der Hymne der Ukraine war auch die Hymne der Zionisten – als B-Seite. Die Februarrevolution und die mit ihr aufgekommene Hoffnung auf eine neue nationale Identität hatten alte Konflikte vorübergehend abgemildert. Doch die Idee der Gemeinschaft von Ukrainern und Juden in einem von der Autokratie befreiten Land sollte nun ausgerechnet ein Lied verkörpern, das dazu aufrief, Russland so bald wie möglich zu verlassen.

    1888 hatte Samuel Cohen ein Gedicht von Naphtali Herz Imber über die Hoffnung auf die Rückkehr nach Palästina mit einer moldawischen Volksmelodie unterlegt. Heute ist dieses Lied die israelische Nationalhymne.

    1917 war die Hymne der Zionisten nicht unumstritten. Gewiss, den Verfechtern der Auswanderung stand es jetzt frei, nach Palästina zu gehen. Aber auch in Russland waren jahrhundertealte Grenzen gefallen – nämlich die des [sogenannten jüdischen – dek] Ansiedlungsrayons, was mitunter weitreichende Möglichkeiten eröffnete.

    Ein Beispiel hierfür ist etwa der Dirigent des Orchesters, das im revolutionären Kiew die HaTikwa eingespielt hatte. Gebürtig aus dem kleinen Städtchen Rschyschtschiw im Kiewer Gouvernement, bekleidete Arkadi Itkis nach der Revolution den Posten eines Regimentskapellmeisters der Roten Armee und wurde 1919 Inspekteur der ukrainischen Militärorchester. Ab 1924 war er Kapellmeister der Infanterieschule in Iwanowo-Wosnessensk und machte sich durch den Marsch Krasnaja Swesda (dt. Roter Stern) einen Namen.

    Text [02/2017]: Alexej Petuchow
    Übersetzung: Anja Lutter
    Veröffentlicht am 15.05.2017


    Quellen
    Druskin, M. S. (1954): Russkaja revoljuzionnaja pesnja [Das russische Revolutionslied – dek], Moskau
    Shitomirski, D. V. (1963): Is proschlowo russkoi revoljuzionnoi pesni [Aus der Geschichte des russischen revolutionären Liedes – dek], Moskau
    Kolonizki, B. I. (2012): Simwoly wlasti i borba sa wlast: K isutscheniju polititscheskoi kultury rossiskoi revoljuzii 1917 goda (Die Symbole der Macht und der Kampf um die Macht: Zur Untersuchung der politischen Kultur der russischen Revolution von 1917 – dek), St. Petersburg

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Musyka: „Ich gehe einfach raus und spiele“

    Musyka: „Ich gehe einfach raus und spiele“

    Boris Grebenschtschikow ist lebende Musiklegende Russlands: Seine Rockband Aquarium gehört zum Soundtrack von Perestroika und Glasnost, ist bis heute Kult und füllt ganze Hallen. Am liebsten aber tritt Grebenschtschikow nach wie vor auf der Straße auf. Alexandra Zhitinskaya traf ihn für Takie Dela in seinem Petersburger Studio, voller Bilder, Ikonen, einem Teetisch und „vorrevolutionärem“ Radio. Hier, in der Puschkinskaja 10, ist seine Kreativität „schon seit 1991 nicht zu stoppen“, wie er sagt.

    Boris Grebenschtschikow: „Wenn wir Lust haben und gutes Wetter ist, sieht man uns überall.“ / Foto © Alexej Abanin/Kommersant
    Boris Grebenschtschikow: „Wenn wir Lust haben und gutes Wetter ist, sieht man uns überall.“ / Foto © Alexej Abanin/Kommersant

    Alexandra Shitinskaja: Die Frage ist ein bisschen bescheuert, aber ziemlich grundlegend: Warum spielt ihr auf der Straße?

    Boris Grebenschtschikow: Die Antwort ist bescheuert und nicht weniger grundlegend: zum Spaß. Musik habe ich immer schon zum Spaß gemacht, von Anfang an. 

    Sie haben also den Drive, gratis zu spielen, einfach so für sich …

    Nicht für mich. Für die Menschen. Wenn du für die Menschen spielst, macht es dir Spaß. Wir spielen, weil es uns freut und weil es die Leute freut, so wie vor 40 Jahren auch. Früher wurden wir deswegen allerdings manchmal mit zur Polizeistation genommen.  

     

    Aber auf der Bühne spielen Sie ja auch für die Menschen.

    Bei den Konzerten zahlen die Leute. Das ist eine ernste Sache dort. Aber hier spielen wir, wo die Leute das nicht erwarten. Die Leute rechnen nicht mit dir, und so gibt es auch keine vorgefertigte Reaktion …

    Ich kann mir schwer vorstellen, dass Sie auf der Straße jemand nicht erkennen würde.

    Du bist einfach gut erzogen. Glaub mir: Der Großteil der Leute guckt angestrengt und schlägt sich mit der Frage rum: „Hm, kommt mir irgendwie bekannt vor, ist das nicht … Schewtschuk? Nein, Schewtschuk nicht.“ Als ich aus dem Dom Kino in Moskau kam, sagte einer zu mir: „Ah! Sie sind Juri! Juri Zoi von Maschina Wremeni!“ Der hat das vollkommen ernst gemeint. 

    Das heißt, Sie gehen raus und spielen, ohne das Gefühl, ein berühmter Musiker zu sein?

    Ich gehe einfach raus und spiele, ohne irgendein Gefühl.

     

    Was spielen Sie auf der Straße?

    Alles, was mir einfällt. Lieder, Improvisationen …

    Und wer spielt mit?

    Das sind alles Musiker aus der Band Aquarium.

    Aber in der Gruppe spielen ja ganz unterschiedliche Musiker, auch aus dem Ausland?

    Da möchte ich gleich was klarstellen: In dem Wort „Ausland“ schwingt etwas mir sehr Fremdes mit: „Hier sind unsere Leute in unserem Dorf, und draußen, jenseits der Grenzen, das sind wohl eher Feinde.“ 

    Geografisch gesehen – spielen Sie nur in Städten in Russland, oder spielen Sie auf den Straßen der ganzen Welt?

    Ganz einfach: Wenn wir Lust haben und gutes Wetter ist, sieht man uns überall. In Paris, in London, in Berlin haben wir schon gespielt …

    Wo finden Sie es am interessantesten?

    Ach, es ist überall schön!

    Was halten Sie denn selbst von Straßenmusikanten?

    Manchmal trifft man auf interessante, dann bleibe ich stehen, höre zu. Bei ungewöhnlichen Instrumenten zum Beispiel, da horch ich auf. Kürzlich habe ich in Tallinn einen Straßenmusikanten gesehen, der Hang spielte. Bei den Erinnerungen, wie der erste Hang-Spieler, Manu Delago, an unserem Album Belaja Lotschtschad (dt. Weißes Pferd) mitgewirkt hat, luden wir diesen jungen Mann ein, bei unserem Konzert mitzuspielen. Der kannte uns zwar nicht, war aber dabei.

     

    Geben Sie Straßenmusikanten oder einfach Leuten, die auf der Straße betteln, Geld? Haben Sie da keine Vorbehalte?

    Was für Vorbehalte soll ich denn haben?

    Es gibt die Meinung, dass das nicht wirklich arme Leute sind, illegale Geschäfte …

    Turgenjew oder Dostojewski, einer der beiden hat geschrieben: „Gott bittet euch um eine Gabe. Nicht um ein Urteil.“ Was der Mensch mit diesem Geld macht – das ist seine Beziehung zu Gott. Aber das Geben, das ist eure Beziehung zu ihm.   

    Hatten Sie [wegen der Straßenmusik – dek] nie Konflikte mit Behörden?

    Wieso denn?

    Na ja, immerhin sind das irgendwie Aktionen, die Behörden kriegen es ja mit der Angst zu tun, wenn sich ein paar Leute mehr auf der Straße versammeln … 

    Dann sind sie wohl selber nicht so ganz … wenn sie sich fürchten.

    Wie lange dauern Ihre Auftritte auf der Straße?

    Nicht lang. 20 Minuten, eine halbe Stunde maximal. Man darf das Publikum nicht überfordern. Mehr packen die Leute nicht, so auf der Straße.  

    Das glaube ich nicht. Die müssten Sie doch eher nicht mehr gehen lassen. Und schreien: „Halt, dageblieben, Zugabe!“

    Ja, das stimmt.

    Und ergeben sich nach den Auftritten manchmal Gespräche?

    Die Gespräche bestehen hauptsächlich darin, dass die Leute zu drängeln beginnen und sich um ein Autogramm reißen, für sich oder ihren Schatz, noch dazu ohne Kugelschreiber. Das ist recht unangenehm. 

    Wo würden Sie wirklich gern spielen in nächster Zeit ?

    In New York. Im Central Park. Da kommen viele gute Leute aus aller Welt zusammen, die ich sehr gern mag – Schüler des indischen Gurus und Philosophen Sri Chinmoy. Er war selbst ein hervorragender Musiker, hat alle Instrumente gespielt. Und einmal im Jahr versammeln sich seine Schüler und Freunde. Vielleicht können wir mit dem einen oder anderen von ihnen im Freien zusammen Musik machen. 

    Text: Alexandra Zhitinskaya
    Übersetzung: Ruth Altenhofer
    Veröffentlicht am 26.04.2017

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    Sergej Schnurow

    Einer wird gewinnen

    Russki Rock

    Schnur hält die Fäden zusammen

    Debattenschau № 47: ESC-Kandidatin Julia Samoilowa

    Musyka: Lucidvox

  • Musyka: Lucidvox

    Musyka: Lucidvox

    Ethnomusik – das sollte nicht nur was für „Leute, in T-Shirts mit Wölfen“ sein. Findet Lucidvox. Die Mädchen-Band aus Moskau will die Klischees aufbrechen. Am 3 Mai spielen sie in Hamburg und am 4 Mai in Berlin. Das unabhängige Internetmagazin Colta.ru hat die Band schon 2017 vorgestellt: Alina (Gesang), Galla (Gitarre), Nadja (Drums) und Anja (Bass). Und weil die vier gut vernetzt sind, ist aus dem Gespräch ein kleines Audio-Kaleidoskop der musikalischen, russischen Ethnoszene geworden:

    Foto © Anna Genwarewa/Colta.ru
    Foto © Anna Genwarewa/Colta.ru

    Denis Bojarinow: In eurer Musik verwendet ihr gezielt russische Klangfolgen, russische Texte und slawische Stilistik. Warum?

    Nadja: Ein gewisser Ethnocharakter ist von selbst entstanden; teilweise auch durch die jakutische Kultur, die Anja in die Band hineingebracht hat, und anscheinend fasziniert uns alle das Düstere, Geheimnisvolle, Verbindende – jetzt muss ich gerade an die Musik von Huun-Huur-Tu denken.

     

    Galla: Für mich ist wichtig, dass alles mit Geist gefüllt ist. Geschichte trägt viel davon in sich, und mir ist der Geist unserer Kultur sehr nah. Wenn du in einem ganz stillen verschneiten Wald bist oder im Nebel Sommerbeeren sammelst, an einem düsteren See, bei Sonnenuntergang – da kann man ihn immer noch finden.

    Alina: Wegen des slawischen Stils denken viele wahrscheinlich, dass wir Musik für Leute in T-Shirts mit Wölfen machen. Diese Symbolik ist ziemlich klischeebehaftet. Ich glaube, dass unsere Musik das aufbricht.

     

    Beschäftigt ihr euch auch mit Musik, die vor euch versucht hat, russische Wurzeln mit Rock-n-Roll zu verbinden? Habt ihr Idole in der russischen Rockmusik?

    Galla: Mir fällt da ehrlich gesagt nichts wirklich Beachtenswertes ein. Als Erstes kommt mir noch die Band Grashdanskaja oborona in den Sinn. In dem Frontmann Jegor Letow geisterte wirklich so eine schaurige russische Mystik. Heute wird diese Linie aus meiner Sicht von Shortparis fortgeführt.

     

    Nadja: Mir gefallen die russischen Wurzeln in der Musik von Lovozero und Tikhie Kamni. Galla und ich lassen uns von russischen (und nicht nur russischen) Chören inspirieren, außerdem hören wir auch Bands wie Goat, Flamingods, Lightning Bolt, Ty Segall, Show Me The Body. Aus alldem entsteht dann schließlich etwas Eigenes.

     

    Was müssen wir über das neue Minialbum Dym [dt. Nebel] wissen? Was habt ihr bei den Aufnahmen Neues für euch gelernt? 

    Galla: Was man wissen muss? Nichts, denke ich, seid unvoreingenommen. Alles, was wir zu sagen hatten, haben wir im Grunde gespielt.

    Alina: Ich habe gelernt, dass Duduk ein sehr schwieriges Instrument ist. Und wenn du mich ernsthaft fragst, dann haben wir gelernt, dass man die Arbeit am Material ohne Eile angehen muss. 

    Ihr fahrt zur Tallinn Music Week. Welche der Bands, die bei dem Festival Russland repräsentieren, sind euch bekannt, welche findet ihr interessant?

    Nadja: Wir kennen viele der Teilnehmer, aber am meisten und von ganzem Herzen drücke ich natürlich der Band Spasibo die Daumen. Vor Kurzem war ich mit ihnen beim slowenischen Festival MENT, und sie waren eine der wenigen Bands, die das Publikum von Anfang bis Ende völlig entfesselt zum Tanzen brachten.

    Besonders interessant finde ich die Band Shortparis, und zwar nicht nur unter den russischen Teilnehmern der Tallinn Music Week, sondern generell in unserer Szene.

     

    Alina: Mich interessieren weniger die Bands selbst, sondern wie die russischen Interpreten beim Festival aufgenommen werden. Ich fahre zum ersten Mal zu einem Festival ins Ausland, und ich finde es sehr spannend, wie die Bands in diesem etwas anderen Kontext klingen werden.

    Text: Denis Bojarinow
    Übersetzung: Andrej Steinke (gekürzte Version)
    Veröffentlicht am 22.03.2017

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    Sergej Schnurow

    Juni: Grooven auf den Leeren Hügeln

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    Debattenschau № 47: ESC-Kandidatin Julia Samoilowa

  • Debattenschau № 47: ESC-Kandidatin Julia Samoilowa

    Debattenschau № 47: ESC-Kandidatin Julia Samoilowa

    Wie politisch ist der Eurovision Song Contest (ESC)? Die Frage wurde schon mehrfach diskutiert, vor allem auch im vergangenen Jahr, als die Ukraine (ein Jahr nach der russischen Angliederung der Krim) die Krimtatarin Jamala ins Rennen schickte, diese prompt gewann und den russischen Kandidaten auf Platz 3 verwies.
     
    Nun hat der Erste Kanal die russische Kandidatin für den ESC 2017 in Kiew bekannt gegeben. Dass keine Zuschauerwahl stattfand, ist nicht gegen ESC-Regeln, aber ungewöhnlich. Und leistet dem Vorwurf Vorschub, dass die russische Seite versuche, die Gewinnerin zu instrumentalisieren: Julia Samoilowa hat 2015 einen Auftritt auf der Krim absolviert. Weil sie bei ihrer Einreise gegen ukrainisches Recht verstieß – sie hatte keine Einreiseerlaubnis der ukrainischen Behörden – droht ihr in diesem Fall eigentlich ein Einreiseverbot oder eine Geldstrafe. Da die 27-jährige Sängerin aber seit ihrer Kindheit im Rollstuhl sitzt und noch dazu in einem Interview sagte, schon immer von der Teilnahme beim ESC geträumt zu haben, sehen vor allem viele Ukrainer ihr Land moralisch erpresst. Am 15. März wurden laut Medienberichten schließlich alle Verbote gegen die Sängerin von ukrainischer Seite aufgehoben – für die Zeit des ESC [Update vom 22. März: Wie Interfax berichtet, wurde Samoilowa ein offizielles Einreiseverbot erteilt. Der Chef des ukrainischen Inlandsgeheimdienst SBU hatte bereits am 20. März angegeben, dass ein Dokument für ein Einreiseverbot gegen Samoilowa vorbereitet worden sei].

    In russischen wie ukrainischen Medien und Sozialen Netzwerken tobt seit Samoilowas Nominierung eine hitzige Debatte. Eine Debatte, die nicht nur das desolate Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine spiegelt, sondern auch positive wie negative Stereotype gegenüber Menschen mit Behinderung zum Vorschein bringt.

    Facebook Uliana Pcholkina: Gleiche Regeln für alle

    Die ukrainische TV-Moderatorin Uliana Pcholkina sitzt selbst im Rollstuhl. Auf ihrer Facebook-Seite wirbt sie für gleiche Regeln für alle – in jeder Hinsicht:

    [bilingbox]Die Kandidatin Russlands, die eine Behinderung hat, soll unter Verletzung der Gesetze unseres Staates in die Ukraine reisen. Der SBU untersucht den Fall bereits und wird überprüfen, ob Julia tatsächlich die ukrainische Grenze überschritten und ein Konzert auf der annektierten Krim gegeben hat.

    Aber hier gibt es noch eine andere Seite der Medaille. Im Internet schreiben einige, dass sie Favoritin würde, weil sie „ein armes Mädchen im Rollstuhl“ sei.

    Leute, meint ihr das ernst? Das ist ein Songcontest, und bewertet werden sollten der Gesang, das artistische Vermögen und der Auftritt selbst! Was spielt denn hier die Behinderung für eine Rolle? Wie hilft ihr diese beim Singen?

    […]

    Ich schlage vor, eine Aktion ins Leben zu rufen: „Ukrainische Menschen mit Behinderung gegen die Gesetzesbrecherin Samoilowa!“~~~Конкурсантка від росії, яка має інвалідність, має приїхати в Україну, порушуючи закони нашої держави. СБУ вже розглядає цей випадок і буде перевіряти, чи дійсно Юлія перетинала кордон України і давала концерти в анексованому Криму.

    Але, тут є і інша сторона медалі. Користувачі мережі, пишуть, що вона має стати фавориткою, бо „бєдна дєвочка в каляскє“ …

    Народ, ви серйозно? Це пісенний конкурс і оцінювати треба спів, артистичність і сам номер! При чому ту її інвалідність? Як вона допомагає їй співати?

    […] Пропоную, запустити акцію „Люди з інвалідністю України, проти порушниці закону Самойлової![/bilingbox]

     
    erschienen am 13.03.2017

    Republic: Revanche und Testballon

    Oleg Kaschin kommentiert auf dem unabhängigen russischen Portal Republic, dass die ESC-Teilnahme Julia Samoilowas für die Verantwortlichen Revanche und Testballon zugleich bedeute:

    [bilingbox]Nun wird niemand mehr glauben, dass der Skandal in der Show Minute des Ruhms unabhängig war von der geplanten Kandidatur der russischen Sängerin beim Kiewer ESC. Auf der Seite des Ersten Kanals finden sich die Clips nebeneinander in der Rubrik „Spezialprojekte“: Renata Litwinowa und Wladimir Posner entschuldigen sich bei dem einbeinigen Tänzer Jewgeni Smirnow für die Äußerungen zum „unerlaubten Kniff“, daneben das Mädchen im Rollstuhl, die Sängerin Julia Samoilowa mit ihrem Song Flame is burning, quasi als Fortsetzung des Themas „Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen im kulturellen und medialen Leben Russlands“.

    […]

    Die Sängerin Samoilowa befindet sich an einem Punkt, an dem gleich drei Probleme sich kreuzen, mit denen sie nichts zu tun hat. Die Revanche des Ersten Kanals nach der ESC-Niederlage im vergangenen Jahr, und jetzt, im Vorfeld der Wahl, das Austesten der Möglichkeiten des Fernsehens sowie der russisch-ukrainischen Beziehungen – das sind die drei Räder, auf denen der Rollstuhl der Sängerin ins Finale des Wettbewerbs gefahren ist.~~~Никто уже не поверит, что скандал на шоу «Минута славы» не был связан с запланированным выдвижением российской певицы на киевское «Евровидение». На сайте Первого канала эти два ролика висят рядом в разделе спецпроектов – Рената Литвинова и Владимир Познер извиняются («извиняются») перед безногим танцором Евгением Смирновым за слова о «запрещенном приеме», а рядом девушка в инвалидной коляске, певица Юлия Самойлова со своей песней «Flame is burning» как бы продолжает тему участия людей с ограниченными физическими возможностями в культурной и медийной жизни России. [….]

    Певица Самойлова находится в точке, в которой сошлись сразу три проблемы, не имеющие к ней никакого отношения. Реванш Первого канала после прошлогоднего отставания, предвыборные проверки возможностей телевидения и российско-украинские отношения – вот три колеса, на которых коляска певицы доехала до финала песенного конкурса.[/bilingbox]

     

    erschienen am 13.03.2017

    Komsomolskaja Prawda: Die Flamme brennt

    Das Boulevardblatt Komsomolskaja Prawda mutmaßt, weshalb Julia Samoilowas ESC-Teilnahme in Russland nicht unumstritten ist:

    [bilingbox]Von der Seite sieht das so aus: Nach Kiew kommt endlich der Armata T-14, fährt auf die Bühne des ESC und beginnt zu feuern. Flame is burning – die Flamme brennt. Und mit ihr die „europäischen Werte“, die gleichgeschlechtliche Liebe, die Transgender, Transvestiten, Transsexuellen und anderes profiliertes Publikum der Show.

    Das wäre ein zu konfrontatives Vorgehen. So scheint es vielen (bei einer Umfrage des KP-Radios sprachen sich 64 Prozent gegen die Kandidatur von Julia aus). Das wäre zu gemein, zu konjunkturell, zu spekulativ.

    Mit anderen Worten: ein „unerlaubter Kniff“.~~~Со стороны это выглядит так. В Киев наконец-то входит «Армата Т-14», заезжает на сцену «Евровидения» и начинает палить. Горит пламя. А вместе с ним — «европейские ценности», однополая любовь, трансгендеры, трансвеститы, транссексуалы и другая профильная аудитория шоу.
    То есть слишком лобовой ход. Так кажется многим (опрос на радио «КП» выявил 64% несогласных с кандидатурой Юли). Слишком пошло, слишком конъюнктурно, слишком спекулятивно.

    Другими словами, запрещенный прием.[/bilingbox]

     

    erschienen am 13.03.2017

    Apostrophe.ua: ESC als Plattform für hybriden Krieg

    Das ukrainische Onlinemagazin Apostrophe.ua empfindet die Kandidatur Samoilowas ebenfalls als eine Art „unerlaubten Kniff“: 

    [bilingbox]Die Russische Föderation nutzt den ESC nicht als Songcontest, sondern als ideologische Plattform für ihren hybriden Krieg.

    So haben sie ohne jegliche Vorauswahl Julia Samoilowa zur Kandidatin gekürt, zynisch eine Interpretin im Rollstuhl ausgewählt, um später zu zeigen, wie brutal die Ukrainer sind, weil die sie nicht reinlassen. Das ist der völlige moralische Verfall des putinschen Russlands sowohl in humanitärer als auch in politischer Hinsicht. Die Auswahl eines Mädchens, das sich im Rollstuhl fortbewegt – das ist für die ein völlig normaler propagandistischer Zug. ~~~РФ использует Евровидение не как песенный конкурс, а как идеологическую площадку в своей гибридной войне.

    И вот они без всякого отбора назначили кандидата Юлию Самойлову, цинично выбрав исполнительницу на инвалидной коляске, чтобы потом показать жестокость украинцев, которые не будут ее принимать. Это полное моральное падение путинской России как в гуманитарном, так и в политическом смысле. Выбор девушки, которая передвигается на инвалидном кресле, – для них нормальный пропагандистский ход.[/bilingbox]

     
    erschienen am 13.03.2017

    Blog Echo Moskwy: Verhängnisvolles Symbol

    Dimitri Bykow sieht in seinem Blog auf Echo Moskwy ein „gefährliches Symbol“ in einer Rollstuhlfahrerin, die Russland ausgerechnet in der Ukraine vertreten soll:

    [bilingbox]Russland und die Ukraine befinden sich vielleicht nicht im Kriegszustand, aber Frieden kann man das auch nicht nennen. In dieser Situation ein Mädchen im Rollstuhl auf die ukrainische Bühne zu schicken, bedeutet – besonders wenn man bedenkt, dass der ESC in Russland aus irgendeinem Grund als unglaublich wichtig und prestigeträchtig gilt, obwohl er das schon längst nicht mehr ist – einen gefährlichen symbolischen Schritt zu machen. Schließlich interpretieren wir jetzt jeden Wettbewerb, ob kulturell oder sportlich, im symbolischen Sinne. Und bei diesem Wettbewerb einen Invaliden vorzuschlagen, bedeutet ein gewisses doppeldeutiges Bild seines Landes zu schaffen. Nach der Art: Uns darf man nicht den Sieg verwehren, weil wir krank sind. Das wurde offenbar nicht so erdacht, aber aussehen tut es genau danach. Ist Russland heute daran interessiert, als Invalider zu erscheinen? (Besonders wenn man bedenkt, dass die Situation von Menschen mit Behinderung in Russland schwierig ist.)

    Ich persönlich will nicht, dass mein Land im Kontext höchst musikalischer Wettkämpfe als Paralympionike wahrgenommen wird. Auch wenn das heute der schnellste Weg zum Sieg ist. Aber vielleicht wissen wir einfach nicht alles über die wahre Sachlage?~~~Россия сейчас находится с Украиной не то чтобы в состоянии войны, но и миром это тоже не назовешь. В этой обстановке выпускать на украинскую сцену девушку в коляске — особенно если учесть, что Евровидение почему-то считается в России ужасно важным и престижным, давно не являясь таковым — значит совершать опасный символический шаг. Ведь мы теперь любое соревнование, культурное или спортивное, интерпретируем в символическом плане. И предлагать к участию в таком конкурсе инвалида — значит создавать какой-то двусмысленный образ своей страны. Типа нам нельзя не отдать победу, потому что мы больные. Это явно задумывалось не так, но выглядит это именно так. Заинтересована ли сегодня Россия в том, чтобы представать в образе инвалида? (Особенно если учесть, что положение инвалидов в России сложное.)

    Лично я не хотел бы, чтобы моя страна воспринималась в контексте сугубо музыкальных соревнований как паралимпиец. Даже если это сегодня кратчайший путь к победе. Но, может, мы просто не всё знаем об истинном положении дел?[/bilingbox]

     

    erschienen am 15.03.2017

    Nowoje Wremja: Nichts zu befürchten

    Bogdan Jaremenko ist ukrainischer Diplomat und Vorsitzender der Bewegung Maidan sakordonnich spraw. Was er am 14. März auf dem populären ukrainischen Onlineportal Nowoje Wremja vorschlägt, wurde schließlich umgesetzt: Für die Zeit des ESC darf Samoilowa in die Ukraine reisen [Update vom 22. März: Wie Interfax berichtet, wurde Samoilowa nun ein offizielles Einreiseverbot erteilt. Der Chef des ukrainischen Inlandsgeheimdienst SBU hatte bereits am 20. März angegeben, dass ein Dokument für ein Einreiseverbot gegen Samoilowa vorbereitet worden sei]:

    [bilingbox]Ich würde Samoilowa zum ESC in der Ukraine zulassen.
    Erstens haben wir gewisse Verpflichtungen gegenüber den Organisatoren und Zuschauern des Wettbewerbs. […] Und Verpflichtungen muss man erfüllen – einerlei, ob es für dich nutzbringend oder schwierig ist.
    […]

    Ja, wir haben das Hoheitsrecht, zu definieren, wen wir auf unserem Staatsgebiet sehen wollen oder nicht. Und selbstverständlich wird die Entscheidung, Samoilowa nicht zum ESC zu lassen, aus offensichtlichen Gründen unter vielen Ukrainern Anklang finden.

    Aber falls wir die Einreise verweigern, und zwar einer Sängerin, die noch dazu „ein Mädchen im Rollstuhl“ ist (Julia Samoilowa ist körperlich beeinträchtigt), schadet dieser von Russland provozierte Skandal der nationalen Sicherheit der Ukraine meines Erachtens mehr als wenn wir Julia Samoilowa für die ESC-Teilnahme in unser Staatsgebiet lassen.

    […]

    Und noch eine Sache: Ich habe mir Samoilowa angeguckt, ihr Lied angehört … Eine abgeleierte Melodie (würde mich wirklich wundern, wenn die nicht geklaut ist), ein einfach gestricktes Mädchen (und ihren Facebook-Posts nach – einfach ungebildet), irgendeine scheußlich-gelispelte englische Aussprache. In etwa so ist auch Russland. Da gibt’s nichts zu befürchten.~~~Я бы допустил Самойлову в Украину на Евровидение.

    Во-первых, мы имеем определенные обязательства перед организаторами и зрителями конкурса. […] Обязательства следует выполнять несмотря на то, выгодно, сложно это для тебя или нет.
    […] 
    Да, мы имеем суверенное право определять, кого хотим или не хотим видеть на территории своего государства. И, конечно, решение не допустить на Евровидение Самойлову по очевидным причинам найдет положительные отзывы среди многих украинцев.

    Но спровоцированный россиянами скандал вокруг нашего отказа допустить в Украину певицу, да еще и „девушку в инвалидной коляске“ (Юлия Самойлова имеет физические ограничения), с моей точки зрения, нанесет больше вреда национальной безопасности Украины, чем допуск на нашу территорию для участия в конкурсе Евровидение Юлии Самойловой.
    […]
    И еще одно. Посмотрел я на Самойлову, послушал ее песню… Банальный мотив (буду искренне удивлен, если не ворованный), простенькая девочка (а из постов в ФБ – то элементарно безграмотная), какое-то ужасно-шепелявое английское произношение. Где-то такой Россия и есть. Нечего бояться. [/bilingbox]

     

    erschienen am 14.03.2017

    InLiberty: Amputation des Gewissens

    Der Politikwissenschaftler und Historiker Sergej Medwedew ist eine der profiliertesten Stimmen des liberalen Lagers. Auf der unabhängigen Diskussionsplattform InLiberty geißelt er den Zynismus der Show-Produzenten:  

    [bilingbox]Samoilowas Problem besteht auf zwei Ebenen – auf der menschlichen und auf der politischen. Auf der menschlichen kann man ihr nichts anderes für den Wettbewerb wünschen als den Sieg, von dem sie schon jahrelang träumt. […] Möglicherweise wird ihr Auftritt allen helfen, die mit eigenen Verletzungen und Gebrechen kämpfen; die diese nicht verstecken, den Schmerz überwinden, die Isolation und die Anonymität. Vielleicht wird er ihnen helfen, sich vollwertig in die Gesellschaft zu integrieren. 

    Auf der politischen Ebene ist es unmöglich, sich nicht über den Zynismus dieser Show-Produzenten zu wundern, die Samoilowa nach Kiew schicken – lösen sie doch ihre propagandistischen Aufgaben mithilfe verwundbarer, abhängiger Körper. Im Übrigen, das Gewissen wurde ihnen schon vor Langem amputiert – wie auch unsere Fähigkeit verkümmerte, uns noch über irgendetwas zu wundern.~~~Проблема Самойловой существует на двух уровнях — человеческом и политическом. По-человечески нельзя не желать ей победы в конкурсе, о котором она мечтала долгие годы: Возможно, ее выступление поддержит всех, кто борется со своими травмами и недугами, не скрывает их, преодолевает боль, изоляцию и анонимность, поможет им полноценнее интегрироваться в общество. Но на политическом уровне нельзя не удивиться цинизму продюсеров этого шоу с отправкой Самойловой в Киев: они решают свои пропагандистские задачи при помощи уязвимых, зависимых тел. Впрочем, у них уже давно случилась ампутация совести — как и у нас атрофировалась способность чему-либо удивляться.[/bilingbox]

     

    erschienen am 14.03.2017

    dekoder-Redaktion

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