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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Wir sind in dem finsteren Märchen gelandet, von dem wir singen“

    „Wir sind in dem finsteren Märchen gelandet, von dem wir singen“

    Verbotene Musik?! In den letzten Wochen wurden zahlreiche Konzerte von russischen Rapmusikern und anderen Bands von den Behörden verboten oder abgebrochen. Das Thema beschäftigte inzwischen nicht nur die Duma, auch der prominente Moderator Dimitri Kisseljow griff es in seiner Sendung auf. 
    Vom Konzertverbot betroffen waren auch IC3PEAK. Ihr Konzert Anfang Dezember in Woronesh etwa wurde nach wenigen Minuten von den Behörden abgebrochen.

    Bereits mit einem ihrer ersten Videos Go With The Flow betrieben sie einen selbsterklärten „audiovisuellen Terrorismus“, der sich gegen die in Russland verbreitete Homophobie wandte. Zu den Zielen von Nastya und Nick gehört es, „die Hörer aus der Komfortzone herauszubekommen“.

    In einem Interview mit Fontanka äußert sich die Band aus Tula zu den Konzertverboten und erklärt, warum sie weiter gegen das System ansingt, und immer nur das macht, worauf sie Bock hat.

     

    Selbsterklärter „audiovisueller Terrorismus“ – „Go With The Flow“ von IC3PEAK

    Fontanka: Wie geht es euch denn, nachdem mehrere eurer Konzerte abgeblasen wurden?

    Nick: Surreal. Wir sind genau in dem finsteren, grimmigen Märchen gelandet, von dem wir singen. Es ist eine völlig irreale Geschichte: Der FSB ist hinter uns her, sie filzen uns, sagen unsere Konzerte ab. Und alles nur, weil wir Musik machen und unsere Videos drehen. Die wirklichen Gründe kennen wir nicht. Niemand hat uns was gesagt. 

    Nastya: Das ist so eine Schizophrenie, im Grunde ganz typisch für Russland. Aber wenn du selbst im Mittelpunkt des Geschehens bist, ist es manchmal sogar ganz lustig. Wenn dich ständig ein Auto mit durchtrainierten Typen verfolgt, fühlst du dich wie der Held in einem bescheuerten russischen Film. 

     

    „Wir sind genau in dem finsteren, grimmigen Märchen gelandet, von dem wir singen.“ – FAIRYTALE von IC3PEAK

    Der Chef von AGORA, Pawel Tschikow, hat eine Schwarze Liste erwähnt, auf der Namen von Musikern stehen. Habt ihr die gesehen?

    Nick: Es gibt zwei Informationsstränge – wenn man sie verbindet, kann man daraus schließen, dass ein solches „Dokument“ tatsächlich existiert. 
    Einerseits hieß es von seiten der Veranstalter wiederholt, es gebe einen „Befehl vom FSB“. Das haben die Clubbesitzer erzählt. Andererseits haben nicht nur wir solche Probleme, sondern auch andere Musiker. Das Muster ist ziemlich ähnlich. Und alles begann wie eine Welle. Innerhalb einer Woche kamen alle diese Verbote.      

    Nastya: Man hat den Eindruck, einem von denen da oben wurde die aktuelle russische Szene gezeigt – unsere Clips, und das ist jetzt die Reaktion: Da hat nun irgendjemand entschieden, was für unsere Jugend gut ist und was schlecht.    

    Wenn in eurem Lied nicht ein „Bulle ein Kätzchen überfahren“ würde und ohne das Händeklatschspiel vor der Lubjanka, bei dem ihr auf den Schultern von OMON-Männern sitzt – hätten sie euch nicht belangt?

    Nastya: Das ist der Punkt! Wir glauben auch, dass sie uns in Ruhe gelassen hätten.

    Nick: Offenbar haben wir „den Ort besudelt“. Und dann haben sie beschlossen, dass das nicht geht, das „werden wir verbieten“.   

     

    „Wir wollten schlicht und ergreifend selbst dieses Bild sehen – ein Klatschspiel, während wir auf den Schultern von OMON-Männern sitzen, im Hintergrund die Lubjanka.“ – „Smerti bolsche net“ von IC3PEAK

    Offenbar haben wir den Ort besudelt

    Das habt ihr doch aber mit Absicht gemacht. Ihr habt den Eisernen Felix doch absichtlich am Schnauzer gezupft?

    Nick: Wir haben das nicht wegen der Reaktionen gemacht. Wir wollten schlicht und ergreifend selbst dieses Bild sehen – ein Klatschspiel, während wir auf den Schultern von OMON-Männern sitzen, im Hintergrund die Lubjanka. Wir nehmen grundsätzlich nur das auf, was wir selbst sehen wollen. 

    Nastya: In erster Linie ist unser Video ein Statement. Wir finden, es ist ironisch, raffiniert und schön geworden. Mit Sinn für Humor.  

    Gibt es in Russland eine Politisierung der Jugend?

    Nastya: Wenn man bedenkt, dass es immer mehr politisierte Musikevents und Alben verschiedener, auch bekannter und beliebter Interpreten gibt, und dass Musiker einen großen Einfluss auf das Denken der Jugendlichen haben, dann vielleicht ja. Dann gibt es so eine Bewegung. 

    Wer gibt hier das Tempo vor? Wer treibt die Politisierung an? Die Staatsmacht oder die Musiker selbst, die ja oft schick sein wollen?

    Nastya: Die Zeit. Das ist kein konkreter Mensch, keine bestimmte Personengruppe. Die Zeit gibt das Tempo vor. Für die Politisierung der Jugend ist jetzt einfach die Zeit reif. 

    Nick: Das ist ein historischer Prozess. Die jungen Leute haben endgültig aufgehört, Fernsehen zu gucken. Sie sehen diese höllenhafte Propaganda und leben im Internet. Und dort gibt es mehr als eine Meinung. Unterschiedliche Meinungen legen nahe, dass man kritisch denken kann. Das ist alles ganz einfach.     

    Es gab ein spektakuläres Konzert für den verfolgten Husky, bei dem erfolgreiche Musiker wie Basta, Oxxxymiron und Noize MC auftraten. Hat’s euch gefallen?

    Nick: In unserem System gibt es leider keine andere Möglichkeit, mit dem Druck fertig zu werden. Per Gericht lässt sich das nicht lösen. Das geht nur über Schlagzeilen. Ihr Konzert hat Reaktionen ausgelöst. Eine Masse von Meinungen. 

    Nastya: Die Solidarität mit Husky war richtig. Er ist ein unabhängiger Künstler. 

    Im Kulturministerium heißt es, dass „Verbote keine Methode“ seien, man müsse jedoch „besonnener an die Texte herangehen“. Werdet ihr eure Songs jetzt „besonnener“ schreiben?

    Nastya: Ich glaube, ich gehe auch so besonnen genug an die Texte unserer Tracks heran. Ein Songtext ist vor allem ein Kunstwerk. Und es gibt Themen, über die man eigentlich nicht laut spricht, aber wenn man sie ausspricht, von mir aus auch metaphorisch oder bildhaft, fühlt man sich erleichtert. Daher der therapeutische Effekt der Musik: Menschen hören die Songs und spüren, dass sie mit ihrem Schmerz nicht allein sind, dass sie nicht einsam sind, denn Einsamkeit ist das Schlimmste, meiner Ansicht nach.     

    Propaganda für Selbstmord, Gewalt, Extremismus und dergleichen gibt es in unseren Songs absolut nicht, gab es auch nie und wird es nie geben. Wir verwenden nicht mal Mat. Wir reflektieren eine der Facetten der Wirklichkeit, in der unsere Generation lebt, ihre emotionale Seite.      

     

    „Menschen hören die Songs und spüren, dass sie mit ihrem Schmerz nicht allein sind“– „Sad Bitch“ von IC3PEAK

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  • Video #29: Kisseljow rappt Majakowski

    Video #29: Kisseljow rappt Majakowski

    Konzertverbote für Rapper – und nicht nur: Wochenlang haben russische Behörden Konzerte von Rappern und anderen Musikern abgesagt und verboten. Meduza hat eine Überblicksliste abgesagter Konzerte erstellt. Im Staatssender Rossija-1 griff Dimitri Kisseljow das Thema Anfang Dezember auf – und trat für die Rapper und für den Rap als „alternative Musikkultur“ ein. Er sagte: „Ein Vorreiter des Rap in unserer russischen Lyriktradition ist natürlich Wladimir Majakowski“, und gab selbst auch gleich ein paar Majakowski-Bars zum Besten (siehe Video unten).
    Kurz zuvor war der Rapper Husky wegen einer Rap-Performance auf einem Autodach zunächst zu zwölf Tagen Haft verurteilt, dann aber vorzeitig wieder aus der Haft entlassen worden. Während Beobachter über die staatsnahe Unterstützung für die Rapper rätselten, kommentierte Huskys Manager in der russischen BBC

    „Für mich ist das [Eintreten Kisseljows für Husky] so zu werten, dass zunächst von oben die Gegenrichtung vorgegeben wurde, dass jetzt konkret über Husky nur Gutes gesagt werden darf – und alle staatlichen Fernsehsender haben dann nur noch Gutes gesagt. Die Krönung des Ganzen war der Beitrag von Kisseljow. Schon klar, warum das so läuft, wir wissen alle ganz genau, wie Content in Staatssendern gemacht wird und wer der Auftraggeber ist.“

    Kurz darauf wurde in Woronesh ein Auftritt des Experimental-Duos IC3PEAK nach wenigen Minuten abgebrochen. Am selben Tag hatte die Duma einige Rapper zum Runden Tisch eingeladen. Dort hieß es unter anderem, sie hätten „die Werte eines würdigen, wertvollen und gesunden Lebens zu pflegen, das dem Land und der Gesellschaft diene“. Der bekannte Rapper Shigan verließ schließlich den Saal und sagte: „Das bringt nichts.“ 
    Dabei gab es beim Parteitag der Regierungspartei Einiges Russland von höchster Ebene Unterstützung für die Musiker. Sergej Kirijenko, Vizechef des Präsidialamtes, kritisierte die Behörden: „Wenn es mit Konzertverboten endet, ist das eine Dummheit.“ 

    Das Original-Video finden Sie hier.


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    erschienen am 14.12.2018

    Dieses Video wird gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Hip-Hop in Russland

    Hip-Hop in Russland

    Am Anfang war das Wort, und das Wort war Rap. Das etwa 25-minütige Programm Rap von DJ Alexandr Astrow und der Gruppe Tschas Pik (dt. Stoßzeit) gilt als erste russischsprachige Rap-Aufnahme, die 1984 im Nachtclub Kanon in Samara erklang. Musikalisch lehnte es sich stark an Rapper’s delight der US-amerikanischen Gruppe The Sugar Hill Gang (1979) an. Textuell bietet es vor allem eine scherzhafte Reflexion, ob Rap auf Russisch überhaupt möglich ist.

    Auch wenn eine Antwort damals alles andere als selbstverständlich war, entwickelte der russische – oder eher russischsprachige – Hip-Hop, im Gegensatz zu der Anpassung an US-amerikanische Formen in den frühen Jahren, allmählich eine eigene stilistische und musikalische Identität. Heutzutage steht er als ein eigenständiges Phänomen und als „dominante Gegenwartskultur“ da, eben auch in erster Linie als kulturelles Gut, das zudem nicht unrentabel ist.

    Für die breite Öffentlichkeit wird das allerdings erst 2017 klar. Am 6. August 2017 geraten in einem Battle-Rap zwei russische MCs aneinander. Auf der einen Seite steht Oxxxymiron, einer der bekanntesten und renommiertesten russischen Rapper. Auf der anderen Seite der außerhalb der Szene kaum bekannte Battle-MC Gnoiny (dt. Eitrig) aka Slawa KPSS. Die am 13. August online gestellte Aufzeichnung brach alle Rekorde und verzeichnete elf Millionen Aufrufe in einer Woche, über 37 Millionen bis heute.

    Aus dem Underground in die Pop-Kultur

    Der Battle wurde bis in die großen Nachrichtenagenturen wie RIA Nowosti wochenlang analysiert, rezensiert und kommentiert. Es ist schon an sich eine Schlagzeile, wenn zehn Prozent der russischen Bevölkerung sich eine Stunde lang elegante verbale Beschimpfungen, a capella vorgetragen, voller vulgärer Ausdrücke, Insider- und kultureller Querreferenzen anschauen. Selbst die, die mit dem Internet „per Sie“ sind, mussten sich mit der „neuen kulturellen Erscheinung“ vertraut machen: „Das Konzept des Rap-Battles war den meisten Russen vor einem Jahr noch unbekannt. Nun ist es praktisch in euer Leben getreten”, schrieb der Kommersant zu Beginn des Jahres.1So trat der Rap scheinbar plötzlich „aus dem Underground in die Pop-Kultur“ und wurde zum Massenphänomen: die Videoclips erreichen mehrere Millionen Internet-Nutzer, die Rapper füllen die größten Clubs und Konzerthäuser. Das war nicht immer so.

    Rap Battle Oxxxymiron VS Slava KPSS from n-ost on Vimeo.

     
    „Ich battle heute nur gegen einen Betäubten, eine graue Ratte“ – Der Battle brach alle Rekorde und verzeichnet bis heute 37 Millionen Aufrufe. Video: Maxim Kireev (Übersetzung) und Eva Famulla (Schnitt und Untertitel) / ostpol.de

    Geburt des Raps aus dem Geiste des Tanzes

    In den frühen 1980er Jahren gelangten die westlichen Rap-Aufnahmen, wie eben der Welthit Rapper‘s delight der Sugar Hill Gang erstmal als Raubkopien in die Sowjetunion und waren – wie auch Rockmusik und andere westliche Kulturgüter – der sowjetischen Jugend nicht länger vorenthalten.

    Zur Subkultur wurde Hip-Hop in der Sowjetunion vor allem über Breakdance. Ausgewählte Szenen in Filmen wie Tanzy na krysche (dt. Tänze auf dem Dach, 1985, Viktor Wolkow) oder Courier (1986, Karen Schachnasarow) inspirierten eine ganze Bewegung an B-Boys und B-Girls. 1985 entstanden in Moskau erste Tanzcrews und im Folgejahr fand in Litauen das erste sowjetische Breakdance-Festival statt.

    Auch frühe Rap-Gruppen wie Bad Balance oder MC Lika – die vermeintlich erste russische Rapperin – entstanden aus Tanzgruppen. Musikalisch unterscheiden sie sich auf den ersten Blick wenig von ihren US-amerikanischen Vorbildern. Manche Texte sind gar auf Englisch verfasst. Durch die Annahme US-amerikanischer kultureller Formen zeigen die Künstler ihre Kenntnis von und ihre Anbindung an eine zu der Zeit noch sehr US-amerikanisierte Hip-Hop Kultur, die sie durch Kassetten, Filme und seltener auch live konsumieren.

    „Keep it real!“

    Der Hip-Hop der Perestroika und des ersten Jahrzehnts nach der Auflösung der UdSSR bot der Jugend neben neuen Ausdrucksformen neue Identifikationsmöglichkeiten und künstlerische Freiheiten. Nicht zuletzt auch über ein gemeinsames Vokabular und Ethos. „Keep it real!“, also sowohl „Sei Hip-Hop“ als auch „Sei Du selbst“, ist ein zentraler Wert in der Hip-Hop Kultur. Für den Rap in Russland bedeutete das einerseits die Aufnahme externer Einflüsse, andererseits aber auch eine tiefe Verankerung im Hier und Jetzt. So hat sich das Genre, stets ein Spiegel seiner unmittelbaren Umgebung, zunehmend differenziert.

    Räumlich übt Moskau, das Moloch, an dem es sich zu messen gilt, mit seinen Labels und Konzerthäusern gewiss die größte Anziehungskraft aus. Es zieht zwar viele Rapper in die Hauptstadt, aber Hip-Hop ist keineswegs nur ein Moskauer Phänomen. Bad Balance vertritt Sankt Petersburg, die berühmten Basta und Kasta kommen aus Rostow am Don, Face aus Ufa. Gerappt wird sowohl über Moskauer Hochglanz als auch über panelki (dt. Plattenbauten) in der Provinz. Tatsächlich hat sich die russischsprachige Rap-Landschaft seit den 1990er Jahren erheblich erweitert, bis über die Landesgrenzen hinaus: Nicht wenige der aktuellen Größen im russischsprachigen Rap kommen aus postsowjetischen Staaten wie Kasachstan (Skriptonit) oder Belarus (LSP).

    „Ich brauche eine Pille“

    Der teils rebellische russische Oldschool-Rap der 1990er Jahre bringt auch manche Tabubrüche mit sich. Der wohl erste Rap-Skandal in Russland entflammte um den Track Seks bes pererywa (dt. Pausenloser Sex) der Gruppe Maltschischnik (dt. Junggesellenabschied). Das Stück war 1991 der wohl erste russische Rap-Hit – und ein Bruch mit der Kultur des Schweigens, die in der Sowjetunion um das Thema Sex herrschte.2 Aus heutiger Perspektive ist der Skandal kaum nachvollziehbar. Die zahlreichen sexuellen Anspielungen in Rap-Texten und Videoclips überraschen kaum und selbst der latente Sexismus einiger Künstler, am besten veranschaulicht durch die häufige Nutzung des Wortes suka (vgl. en. „bitch“), führt kaum zu öffentlichen Debatten.

    Nicht nur der Platz des Themas Sex hat sich seit den 1990ern erheblich geändert. Die urbane Rap-Welt an sich wandelte sich im Laufe der Zeit parallel der gesellschaftlichen Stellung der Rapper von einer Underground-Existenz zu einem glamourösen Leben. Wo Delfin „einer der feinsten Dichter der russischen Musikszene“3noch einen Diler (1996) verkörperte, ein „grässlicher Typ“ in einer makabren Umgebung, so treten Drogen mittlerweile vor allem aus der Perspektive des Konsumenten auf. „In meinem Herz hab ich ein Loch / Ich brauche eine Pille“ – besingt der Minsker Rapper LSP im Track Monetka die „furchteinflößende Leere“, die sich hinter dem Erfolg verbergen kann.

     
    „In meinem Herz hab ich ein Loch / Ich brauche eine Pille“: Drogen treten vor allem aus der Perspektive des Konsumenten auf.

    „Poesie aus drei Buchstaben“

    „Poschumim, bljad!“ – „Macht verfickt nochmal Lärm“: So beginnt jedes Battle-Rap der größten russischen Battle-Rap-Liga Versus. Nicht nur im russischsprachigen Rap sind Kraftausdrücke sehr verbreitet. Durch die Besonderheiten des Mat, der russischen Vulgärsprache, die sowohl besonders tabuisiert als auch besonders reichhaltig ist, ist die gekonnte Nutzung obszöner Begriffe oftmals Bestandteil der lyrischen Gewandtheit von MCs. „Poesie aus drei Buchstaben“4, betitelt der Ogonjok einen Artikel über Battle-Rap und lässt dabei offen, ob damit Rap oder ein bekannter Mat-Begriff (хуй [chuj], dt. „Schwanz“) gemeint ist. „Derbe Flüche sind die Perle der großen russischen Sprache“, bestätigt auch eine Battle-Line von Oxxxymiron diese Annahme.

    „Die russische Kultur hat erneut ihre Elastizität bewiesen – die Möglichkeiten der Sprache sind nicht erschöpft“, kommentiert Ogonjok die „recht originelle, tiefe und figurative Sprache“ des russischen Raps. Tatsächlich hört sich der Rap mancher Interpreten so an, als sei er „nichts weniger als konzeptuelle Poesie“.5 Wo Tschas Pik 1984 die Machbarkeit von russischsprachigem Rap noch in Frage stellte, wird der Rap heute zunehmend als literarisches Genre ernst genommen. So bot die staatliche Nachrichtenagentur TASS vor kurzem ihren Lesern an, Rap-Zeilen von Versen von Wladimir Majakowski zu unterscheiden.6

    Auch Oxxxymiron’s letztes Album Gorgorod (2015) kann als ein langes Gedicht wahrgenommen werden. Als solches stand es jedenfalls zu Beginn des Jahres in der Vorauswahl eines angesehenen russischen Literaturpreises.7 Tatsächlich wagt sich Oxxxymiron dabei an ein anderes Format, ein Konzeptalbum, in dem man von Track zu Track den künstlerischen und persönlichen Werdegang eines Schriftstellers in einer antiutopischen fiktiven Stadt verfolgt.

    Große Poesie und große Musik

    Rap ist natürlich mehr als nur Text. „Oxxxymiron hat allen bewiesen, dass Rap auf Russisch große Poesie sein kann. Skriptonit hat bewiesen, dass er große Musik sein kann“8, stellt Meduza in einer Kritik zwei der einflussreichsten Rapper der vergangenen Jahre gegenüber. Der kasachische Rapper Skriptonit9, bekannt für seinen abgehackten Flow, nutzt seine Stimme nicht nur als Sinnträger, sondern vor allem auch als ein Instrument unter anderen.

    Nicht zuletzt durch die technischen Entwicklungen im Hip-Hop und der Übergang von Samples (also Hip-Hop-Musik als Collage) zu eigen gefertigten Beats gewinnt der russischsprachige Rap zunehmend eine eigene musikalische Identität. Auch in Sachen visueller Ästhetik werden neue Akzente gesetzt. So mischt das Video zu Pharaohs Hit Diko, naprimer (dt. Wild, zum Beispiel, 2017) Bling-Bling mit einer Darstellung der Aristokratie aus dem Russland der Zarenzeit.

    „Mein bester Freund ist Präsident Putin“

    Anders als in den Vereinigten Staaten oder in Frankreich hat sich der Hip-Hop in Russland allerdings kaum als Gegenkultur etabliert, noch wurde er zum Sprachrohr für diskriminierte Minderheiten. Inhaltlich lässt sich der russischsprachige Rap nur schwer in ein politisches und ein unpolitisches Lager einteilen. Überhaupt wird Politik im engeren Sinne von Rappern selten angesprochen. Die Ausnahmen sind selten und sorgen stets für Aufruhr, links wie rechts. Timati steht exemplarisch für einen ausgeprägt regimetreuen Rap und macht aus seiner Nähe zu Präsident Wladimir Putin keinen Hehl: „Mein bester Freund ist Präsident Putin“, tönt gar der Refrain eines seiner Stücke (2015).

     
    „Wenn das Land ein Club ist, entscheidet alles DJ“: Timati macht aus seiner Nähe zu Präsident Wladimir Putin keinen Hehl.

    Der in den vergangenen zwei Jahren zunehmend aufsehenerregende Rapper Face, Jahrgang 1997, steht hingegen womöglich für eine politisierte jüngere Generation der Jahrtausendwende. Sein jüngstes Album Puti neispowedimy (dt. Die Wege sind unergründlich) bietet einen höchst kritischen Blick auf den Alltag: „Wir leben weiter und fühlen nicht das Land unter uns“, zitiert er in einem Track in Bezug auf die heutige Situation das fast gleichnamige Gedicht von Ossip Mandelstam, das eine harsche Kritik am Stalin-Regime darstellte. 

    In der Regel kann man das Verhältnis zwischen Hip-Hop und Regime in Russland hingegen am besten als ein gegenseitiges Ignorieren schildern. So zieht Rap bislang auch nur wenig Aufmerksamkeit der Behörden auf sich und genießt eine relative künstlerische Freiheit.10 Da, wo Rap an die Justiz gerät, ist es den Künstlern teilweise gar dienlich. So erlangte die 2003 von Absolventen der Moskauer Akademischen Kunsthochschule gegründete Gruppe Krowostok (dt. Blutrinne) erst durch das Verbot ihrer Webpräsenz durch ein Gericht 2015 einen weiten Bekanntheitsgrad. Grundlage für das nach einem halben Jahr aufgehobene Urteil war die „Apologie von Gewalt und Drogenkonsum“. Krowostoks Texte zeichnen sich tatsächlich durch eine äußerst ausgeprägte Nutzung von Mat und kriminellem Jargon aus. Sie binden sich damit gekonnt an die Tradition des Blatnoi-Chanson an.

    Rentables Geschäft

    Die relative Narrenfreiheit von Hip-Hop in Russland hat gewiss auch mit seinen Verbreitungskanälen und Business-Modellen zu tun. Rap verbreitet sich in erster Linie über das Internet und auch die großen Label wie Bastas Gazgolder sind aus dem Hip-Hop heraus entstanden. Im Fernsehen ist Hip-Hop hingegen relativ wenig vertreten. „Fast alle Werbegelder haben sich Stück für Stück vom Fernsehen ins Internet verlagert“, so Basta im Gespräch mit Kommersant.11 Zurzeit werde aktiv in Werbekampagnen und Product-Placement in der Hip-Hop Kultur investiert – so der renommierte Rapper und Hip-Hop-Unternehmer. 

    So geht die künstlerische Unabhängigkeit des Hip-Hop mit der wirtschaftlichen Eigenständigkeit einher. Auch die große Battle-Rap-Liga Versus finanziert sich über Klickzahlen und Sponsorenverträge. Nach dem Battle zwischen Oxxxymiron und Gnoiny bemerkte eines der Jurymitglieder: „Ich weiß nicht, wer von euren Kämpfen hier was hat, aber das russische YouTube gewinnt auf jeden Fall“.


    Playlist



     
    Tschas PikRap (1984): Der Urrap Rap, erstmals in Samara vorgetragen, bewegt sich noch an der Grenze von Elektro- und Hip-Hop und ist voller Zitate der Sugar Hill Gang oder von Grandmaster Flash.


     
    Bad Balance Gorodskaja Toska (1996): Städtische Sehnsucht, einer der ersten russischen Rap-Videoclips, ist eines von zahlreichen der Stadt gewidmeten russischen Rap Stücke und repräsentativ für den russischen Old-School. Bad Balance ist eines der Urgesteine des russischen Rap. 


     
    Zentr (feat. Basta) – Gorod Dorog (2008): Zwölf Jahre später nach Gorodskaja Toska von Bad Balance, ein anderer Beat, ein anderer Flow und es geht weiter um die Stadt. Für dieses Stück über die Hauptstadt erhielten die Moskauer Gruppe Zentr und der Rostower MC Basta den russischen MTV Music Award für das beste Hip-Hop Projekt.


     
    KastaNa Poryadok vysche (2002): “Vergiss nicht deine Wurzeln/ Erinner’ dich / Es gibt höhere Dinge/ Hörst Du!”, wenden sich die Rapper von Kasta an die, die Russland verlassen wollen. Das Album Gromtsche WodyNishe Trawy (dt. Lauter als Wasser, niedriger als Gras) war einer der ersten kommerziellen Erfolge des russischen Rap. 


     
    OxxxymironGorod pod Podoschwoj (2015): Oxxxymiron, Oxford-Absolvent, aufgewachsen in Essen und in London, steht an sich schon für die Fülle an Einflüssen des russischen Hip-Hop. In dem bekannten Stück reflektiert er über seinen fast nomadischen Werdegang, stets mit der „Stadt unter der Fußsohle“.  


     
    SkriptonitVBVVCTND (2014): Skriptonit kommt aus einem Vorort von Pawlodar, Nodkasachstan und rappt überwiegend über die dortigen Lebensumstände. So auch in seinem ersten Clip, der ihm einen Vertrag mit einem der größten russischen Labels einbrachte. Drei Alben später ist auch er ohne Zweifel zu einer der einflussreichsten Figuren des russischsprachigen Rap geworden. 


     
    PharaohDiko, naprimer (2017): Pharaoh (geb. 1996) gehört schon zur jüngeren Generation des russischen Rap. Diko Naprimer wurde 2017 zum Sommerhit und zeichnet sich neben seinem trägen Beat vor allem durch die besondere Ästhetik des dazugehörigen Videoclips aus.

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  • „Russland ist ein einziges großes Meme“

    „Russland ist ein einziges großes Meme“

    Eigentlich ist Rap in Russland Teil der Massenkultur. Timati, der als reichster Rapper des Landes gilt, besang auch schon mal Putin. Ansonsten zelebriert er wie viele andere genau das, was auch europäische und US-amerikanische Rapper tun: einen Lifestyle mit Benz, Bitches und viel Bling-Bling. 

    Auch Face gehörte bis vor Kurzem dazu. Mit seinen sexistischen Texten fand er durchaus Anklang bei der russischen Jugend. Sein neues Album ist anders, es führt gewissermaßen back to the roots: Rap wird zur Gegenkultur, wie zu den Entstehungszeiten in den USA. Unzufriedenheit mit Politik kommt dabei zu Tage, Protest und Wut.

    Meduza befragte Face zu seinem neuen Album und wie es dazu kam. Eschtschkere!

    „Ein russischer Rapper hat einfach die Pflicht, ein Album über soziale Probleme zu schreiben“. Foto: Alexander Anufriev / Meduza

    Alexander Gorbatschow: Du hast gesagt, du würdest Meduza ein Interview geben, weil wir nicht übertrieben russophob sind. Was meinst du damit?

    Iwan Face Drjomin: Es gibt einen Grad der Russophobie, der ist keine Russophobie, sondern gesunder Menschenverstand. In diesem Staat – und nicht nur in diesem, eigentlich in jeder Gemeinschaft – gibts das. Wenn du die Wahrheit sagst, wirst du unter Umständen sofort zum Gegner dieser Gemeinschaft, zum Oppositionellen. Es reicht doch schon zu sagen: „Es gibt Scheißbullen, die Geld abzocken.“ Wenn du eine mediale Person bist, kannst du sofort zum Volksfeind werden.

    Leute, die Schwarze oder Schwule hassen – das sind verfickte Faschisten!

    Gemeinschaften haben ihr Wesen, haben Regeln, die sie befolgen, damit es sich bequemer lebt und die Menschen nicht nachdenken müssen, denn Gedanken machen das Dasein zur Qual. Außerdem haben die Menschen eine sehr starke Bindung an ihre Eltern. Die Menschen wollen nicht genauer nachdenken, ob die Eltern ihnen Feind oder Freund sind, wollen sie nicht gleichsetzen mit anderen Menschen, die ihnen zum Beispiel Schmerzen zugefügt haben. Warum schalten die Leute nicht ihren Kopf an? Weil die Eltern das so gesagt haben.

    Wie soll man einem Durchschnittsrussen zum Beispiel erklären, dass Afroamerikaner oder Afrorussen, Chinesen, Japaner, Usbeken Menschen sind? Ein banales Beispiel, aber das ist oft ziemlich schwer. Und dann denkst du, du hast es ihm erklärt, und er nickt, aber dann gehts von vorne los: „Überall laufen hier diese Tschurken und Neger rum, hahaha, hihihi.“ Von Schwulen darf man gar nicht erst anfangen. Hier wird man Homosexuelle wahrscheinlich nie als Menschen betrachten. Wieso hackt man auf diesen Menschen rum? Wieso frikassiert man sie, nur weil sie sind, wie sie sind? Leute, die Schwarze oder Schwule hassen – das sind verfickte Faschisten!*

    Ist das ein russisches Problem oder ein allgemeines?

    Ein allgemeines. Und ehrlich gesagt, weiß ich nicht, was besser ist: Seinen Hass zu verstecken oder ihn zu zeigen. Es ist natürlich schlecht, ihn auf radikale Weise zu äußern. Wenn man nur eine Meinung formuliert, ist das eher besser, würde ich sagen. In Europa ist es oft ziemlich verfickt: Viele hassen Minderheiten und Migranten und verstecken das. Hier würde ich Russland gern freisprechen – Russland verdient mehr Respekt als ein Land mit aufgesetzter Toleranz. Es gibt sicher auch Länder mit echter Toleranz. Die haben meinen vollsten Respekt. Ich will Bürger einer solchen Polis sein.

    Mich würde deine persönliche Beziehung zu Gott interessieren. Das scheint in deinem neuen Album eine große Rolle zu spielen.

    Als Kind war ich krass gläubig. Wir waren gehirngewaschen, weil unsere Mutter tief gläubig ist. Dir wird keine Wahl gelassen, du darfst nicht selber nachdenken. Du bekommst ein Kreuz umgehängt und fertig: Du glaubst!

    Wir waren gehirngewaschen, weil unsere Mutter tief gläubig ist

    Für mich ist das Faschismus. Psychische Gewalt. Das ist wie mit der Musikschule. Ich weiß nicht, was ich mit sechs machen wollte, aber ich musste zur Musikschule, und ich habe es verdammt gehasst. Genauso ist es mit der Kirche, wenn man da um 9 Uhr morgens hingeschleift wird, obwohl man nicht will. Dafür habe ich null Verständnis. Aber ja, als ich Molitwa [dt. „Gebet”] schrieb, dachte ich daran, wie ich als Kind gebetet habe. Und ich habe selbst ein Gebet geschrieben. Aber in dem Song geht es eigentlich um etwas anderes. Ich habe Gott geliebt, aber wir sind zu verschieden. Das ist die letzte Zeile auf der Platte.

     
    „Ich habe den Herrgott geliebt, aber wir sind zu verschieden“ – Molitwa (dt. „Gebet“, 2018)

    Vorhin hast du gesagt, die Gemeinschaft reagiert negativ, wenn man die Wahrheit sagt. Jetzt hast du ein Album veröffentlicht, auf dem du – in deinen Augen – die Wahrheit sagst. Gibt es negative Reaktionen?

    Klar gibt es die. Es gibt Menschen, die sagen, was soll das, sing lieber über Burger. Dann gibt es welche, die sagen: „Fuck, sowas hab ich vor zehn Jahren schon gemacht, das Zentrum E hat mich auf den Index gesetzt, man bin ich krass.“ Warum sagen die das, wenn es um meinen Release geht? Weil sie sich auf Twitter feiern wollen. Aber so wie ich hat das noch niemand gemacht. Vor allem, wenn man mein Alter bedenkt und wer ich bin. Das war mutig, und ich bin stolz, dass ich dieses Album geschrieben und rausgebracht habe. Ich musste das einfach tun, um mich von meinen Kindheitstraumata zu befreien. Das habe ich gemacht – wie ich finde, erfolgreich.

    Meine Wahrheit liegt im Rahmen des Gesetzes. Nicht irgendein absurdes Gesetz, sondern das echte, menschliche

    Dann gibt es noch die Fraktion „Wieso erzählst du uns das? Wissen wir auch ohne dich“. Und so Clowns, die finden, ich wär russophob und würde auf die Heimat spucken, ein Volksfeind.

    Gut, Hater gab es bei uns wohl schon immer. Was ist mit dem Staat? BBC berichtete von Anrufen aus der Präsidialadministration, in denen es um deine Tweets geht. Wenn sie die Tweets lesen, wird ihnen nicht ein ganzes Album entgangen sein?

    Naja, es gibt schon Anfragen zu Konzerten, Gerüchte über Durchsuchungen, irgendwer hat von irgendwem irgendwas gehört … Aber ich versuche, das locker zu sehen, weil ich weiß, dass ich sauber bin. Ich sage meine Wahrheit, und die bewegt sich im Rahmen des Gesetzes. Nicht irgendein absurdes Gesetz, sondern das echte, menschliche. Aber auch im Rahmen des geltenden Gesetzes kann man mir nichts vorwerfen. Das würde ich auch nicht wollen. Wenn ich Krieg führen wollte, würde ich andere Wege gehen. Aber ich bin immer auf alles vorbereitet. Ich weiß, dass ich in dieser Situation nichts falsch gemacht habe und mache.

     

    „Ich fahr zu Gucci in Sankt Petersburg // Sie frisst meinen Schwanz als wärs ein Burger“ – Burger (2017)

    Wie ist die Musik zu Puti neispowedimy [dt. „Die Wege sind unergründlich”] entstanden? Sie ist etwas anders als früher – schwerer, ruheloser vielleicht.

    Diese acht Songs sind das Ergebnis der letzten zwei, drei Monate und der seelischen Krisen, mit denen ich zu kämpfen hatte, ich habe viel gerungen und ausprobiert. Der Sound ist hundertpro Meek Mill. Und Drake. Gemischt mit gesellschaftskritischem Rap. Ziemlich originell. Aber ich betrachte rezitativen Rap nicht wirklich als Musik, deswegen will ich nicht damit rumprotzen, was für gute Musik ich geschrieben habe. Guten Rap – ja, auf jeden. Wer was anderes behauptet, der kann mir verfickt noch mal den Schwanz lutschen. Weil die Zeile „Ein russischer Dichter, das ist einer, der eine spitze Feder trägt“ genial ist. Nochmal, ich bin 21. Ihr alten Säcke könnt euch verpissen, zum Arsch.

    Ein russischer Dichter, das ist einer, der eine spitze Feder trägt

    Man kann meine lyrischen Triumphe abtun und sagen: Alles Hype, Show, Performance, Pose, zu einfach usw. Aber es ist viel schwieriger, einfach und genial zu schreiben als umgekehrt. Ich sage nicht, dass ich genial bin, aber das Album ist eine 1-, mindestens eine 2+. Es ist ein wirklich gutes Rap-Album, mit dem ich im Grunde zufrieden bin.

    Warum nennen Sie keine Namen? Staatsbeamte, Putin meinetwegen?

    Das würde die ganze Geste entwerten. Wenn ich das wegen Knete machen würde, hätte ich das gemacht, aber es war nicht wegen Knete. Ich glaube nicht, dass man mit Namedropping von Politikern ein cooles Album machen kann. Ich könnte das nicht. Das würde nur prollig klingen.

    Wenn wir schon bei Kritik sind. Ich kenne Leute, die deine früheren Lieder als frauenfeindlich bezeichnen. Kannst du das nachvollziehen?

    Natürlich, denn es ist so. Diese Songs sind absolut frauenfeindlich. Ich musste sie singen, um dank ihnen und ein paar anderen Umständen dahinterzukommen, dass Frauen wundervolle Wesen sind, die man lieben muss.

    Diese Songs sind absolut frauenfeindlich. Das war meine Rache am weiblichen Geschlecht

    Ich war aus meiner Kindheit traumatisiert, war unglücklich verliebt. Außerdem hat eine Rolle gespielt, dass wir meiner Mutter megascheißegal waren. Das kam alles zusammen, natürlich war ich ein Frauenhasser. Ich habe sogar eine EP gemacht, Revenge – das war meine Rache am weiblichen Geschlecht. Meine Idee war: Ihr habt mich nicht geliebt, und jetzt hüpft ihr um mich rum, weil ich Geld und Ruhm hab und das alles. Ihr könnt euch alle mal verpissen!

     
    „Spiel nur keine Spielchen mit mir, du verlierst unter Garantie“ – Revenge (2017)

    Wirst du deine alten Songs noch performen?

    Ja, warum nicht? Die Leute sollen meine Entwicklung, den Weg sehen, den ich gegangen bin. Er soll sie dazu inspirieren, dass man aus Scheiße zum Künstler werden und statt über irgendeinen Bullshit zu singen was Wichtiges erzählen kann. Aus einem einfachen Typen aus Ufa, der seine Songs selbst zusammengebastelt und mit dem Geld seiner Oma aufgenommen hat, kann jemand werden, der ein glückliches Leben führt, im Reinen mit sich ist und etwas tut, das tausenden von Menschen gefällt. Oder auch nicht, aber jedenfalls ist er im Reinen mit sich, es fehlt ihm an nichts.

    Mein Weg soll sie inspirieren, dass man aus Scheiße zum Künstler werden kann

    Ich schäme mich nicht für diese Songs, falls das irgendwer denken sollte. Ich versuche das so zu sehen – auch wenn ich mir das vielleicht zurechtbiege, weil mir diese Legende gefällt: In diesen Songs bin ich ein Spiegel der Jugend. Ich habe das erst viel später verstanden, aber genauso ist es. Das ist die Gesellschaft. Frauenfeindlichkeit liegt in der Luft, alle wollen sich aufblasen, was beweisen – ich bin so reich, so cool, so berühmt. Das ist normal. Ich habe mit solchen Songs angefangen, dann habe ich ein Album aufgenommen, um mir die Seele zu erleichtern, wie man das als Russe manchmal eben tun muss. Ein russischer Rapper hat einfach die Pflicht, ein Album über soziale Probleme zu schreiben.

    Warum gibt es dann so wenig gesellschaftskritischen Rap?

    Weil die Leute Angst haben. Erstens vor Problemen mit den Staatsorganen. Zweitens, Geld zu verlieren, weil Konzerte verboten werden. Drittens, Geld zu verlieren, weil keiner zum Konzert kommt. Viertens, Geld zu verlieren, weil sich alle abwenden. Daher kommt auch diese ganze Schulterklopf-Rhetorik. Eigentlich gibt es nur einen Menschen, auf dessen Meinung wir was geben.

    Und wer ist das?

    Oxxxymiron.

    Warum ausgerechnet er?

    Oxxxymiron ist ein wirklich guter Rapper, eine bedeutende Persönlichkeit. Wir haben ein Rap-Album gemacht, und uns interessiert die Meinung des einzigen bedeutenden Rappers, der technisch echt was draufhat, was von Lyrik versteht, der interessant ist, originell. Er ist gut in dem, was er tut. Sehr gut sogar.

    Ich fühle, dass ich mit diesem Album rausgegangen bin und mit Kreide eine Linie gezogen habe. Mich abgesetzt habe. Ich bin wirklich der einzige. Wenn mir irgendjemand künstlerisch nahesteht, dann ist das Oxxxymiron.

     

    „Ich knocke den Westen aus, auf meinem Schwanz steht die gesamte Industrie der USA“ – Ja ronjaju Sapad (2017)

    Früher gab es in deinen Songs Sex, Geld und keine Politik. Und jetzt gibt es nur Politik und keinen Sex. Haben diese Themen für dich nichts miteinander zu tun?

    Was soll ich dazu sagen? Erstens habe ich seit einem Jahr nichts mehr veröffentlicht. In meinem Alter kann sich in einem Jahr viel verändern. Auf einmal war ich mit Geld und Popularität konfrontiert, einer ernsten Beziehung. Das alles hat mich geflasht, in ein emotionales Loch gestürzt, mich zum Nachdenken gezwungen. Ich habe bekommen, was ich wollte. Worüber habe ich früher gesungen? „Ich bin reich, ich bin berühmt“. Warum? Weil ich nicht reich und berühmt genug war, um darüber zu schweigen. Das habe ich jetzt geschafft. „Ich werd euch alle ficken, ficke alle“. Ich wollte einfach ein Mädchen kennenlernen. Ich war traurig, daher die Texte.

    Und dann? Ich wusste nicht, worüber ich singen sollte. Darüber, dass es mir schlecht geht mit meiner Liebsten? Ne, es geht mir ja verfickt gut mit meiner Liebsten. Darüber, dass ich jetzt scheiße viel Geld habe, dass ich berühmt bin? Wozu? Ich bin ja wirklich berühmt, ich habe wirklich Geld.

    Der hatte alles und keinen Schiss, es zu verlieren

    Ich habe so eine Ahnung: Wenn sich irgendwann mal die Spreu vom Weizen trennt, werden die Leute nicht denken: „Erinnerst du dich an den Vollpfosten, der dieses eine Jahr so gehyped wurde?“ Sie werden in anderen Kategorien denken: „Weißt du noch, dieser Typ, der immer noch verfickt gute Mucke macht: Als der Die Wege sind unergründlich rausgebracht hat, und niemand hat auch nur annähernd mitgeschnitten, was das für eine Hammergeste war? Ich mein, der hatte verfickt noch mal alles und hatte keinen Schiss, das alles zu verlieren.“

    „Ich fühle, dass ich mit diesem Album rausgegangen bin und mit Kreide eine Linie gezogen habe.“ Foto: Alexander Anufriev / Meduza

    Ein anderer möglicher Kritikpunkt: Du hast schon erwähnt, dass du ein relativ gutes Leben hast. Du wohnst mitten in Moskau, hast eine tolle Wohnung, isst in teuren Restaurants – und singst von Abgründen und Hölle, obwohl dein Leben heute ein ganz anderes zu sein scheint.

    Von den 21 Jahren meines Lebens hab ich nur das letzte Jahr so gelebt. Die 20 davor (und 17 davon – wirklich krass) habe ich gelebt wie jeder andere und habe jedes verschissene Recht darüber zu reden. Die, die sowas sagen, leben momentan im Durchschnitt schlechter als ich, und sagen: Du lebst hier dein Dolce Vita und lässt hier so nen Scheiß los. Aber den größten Teil ihres Lebens haben die besser gelebt als ich 20 Jahre. Das sind die von der Sorte: Wenn du nicht gesessen hast, bist du kein Russe. Du musst erst im Gefängnis gewesen sein, bevor du schreiben darfst, wie beschissen es den Leuten da drin geht.

    Ich habe gelebt wie jeder andere und habe jedes verschissene Recht darüber zu reden

    Es gab einen Moment, da hatte ich plötzlich, was ich wollte. Mir war alles scheißegal, das war alles ein einziges Meme für mich. Du kannst dir mein Interview mit [Juri] Dud angucken, da wird dir klar, dass das alles nur Memes für mich sind, Jokes.

    Vor einem Jahr war also alles nur ein Witz – und was ist dann passiert?

    Ich habe angefangen nachzudenken, als Bürger eine Haltung zu entwickeln. Und ich bedauere das nicht, denn je weniger Haltung du hast, desto weniger Sinn hast du im Leben. Du stehst für nichts ein, höchstens für das Stück Brot auf deinem Teller.

    Ist etwas schlecht an politischen Aktionen?

    Sie sind ein Instrument zur Einschüchterung und Kontrolle. Warum sind da so wenig Leute? Weil sie wissen: Du gehst hin und kriegst eins aufs Maul. Normalfall in Russland.

    Die Welt ist nunmal so geschaffen. Und hier ist es ganz deutlich: Der Stärkere hat Recht, und alle scheißen drauf. In diesem Land wird alles über rohe Gewalt, Geld und Beziehungen entschieden. Sonst nichts.

    Politische Aktionen sind ein Instrument zur Einschüchterung

    So läuft das doch: Wenn du in der Schule einen auf Macker machst, dann musst du damit rechnen, dass du nach der Schule eins aufs Maul kriegst. Hier [auf den Demos] ist das genau so: Du läufst herum, schreist irgendwas und und wirst durchgenudelt. Die Leute gucken sich das an und sagen sich, warum soll ich da hingehen. Sie haben Schiss.

    Du gehst auch nicht hin – hast du Schiss?

    Wir haben keinen Schiss. Als ich dieses Album geschrieben habe, habe ich darüber nachgedacht, wie weit ich bei diesem Thema gehen kann. Und weißt du, ich bin ziemlich weit gegangen. So weit, wie es Sinn macht. Weiter wäre sinnlos. Es macht nur Sinn, sich auszudrücken und anderen diese Möglichkeit zu geben – wenn jemand sich die Songs zu Hause anhört und mit dem Kopf nickt. Zu mehr sind die Leute nicht im Stande.

    Wenn du ein Held bist, macht es keinen Sinn, rauszugehen und im Namen der großen Gerechtigkeit zu sterben

    Wenn du ein Held bist, macht es keinen Sinn, rauszugehen und im Namen der großen Gerechtigkeit zu sterben. Was für Gerechtigkeit überhaupt, wenn die Leute drauf scheißen? Wenn ich jetzt rausgehe und irgendwas mache, wofür ich in Schwierigkeiten komme, werden alle drauf scheißen.

    Das heißt, wenn man versuchen würde dich einzusperren, würde sich niemand für dich einsetzen?

    Ich bin zu folgendem Schluss gekommen. Wenn du Business machen willst und Geld verdienen, dann geh verfickt noch mal Geld verdienen, du musst nicht Musik machen. Wenn du Politik machen willst, geh und mach Politik. Wenn ich auf die Barrikaden gehen würde, wäre das so, als würde Nawalny ein Album machen. Das wäre doch völlig absurd, oder?

    Überhaupt ist Russland ein einziges großes Meme. Genau deswegen stehen hier alle auf Meme-Interpreten und so Zeugs. Die Leute hier stehen auf billige Jokes. Das Leben ist viel zu kompliziert, und die Menschen nehmen das hin. Sie haben sich längst damit abgefunden, dass man nichts dagegen unternehmen kann, sie sind schwache, verängstigte Schäfchen.

    Alles, was wir können, ist über Memes lachen und in allem einen großen Witz sehen. Wenn ein Typ in den Knast kommt – ist das ein Meme, Nawalny – ist ein Meme. Nawalny – der ist kein ernstzunehmender Politiker, weil er das mitmacht. Echt mal, ein Typ, der sein Logo von Supreme abgekupfert, wird niemals Präsident.

    Ist es schlecht, dass Russland ein Meme ist? Oder hat das auch was Schönes?

    Es hat Charme. Aber erstens kann man in allem das Schöne sehen. Zweitens, auf der menschlichen Ebene … Spaß hin oder her, aber die Leute denken nicht darüber nach: Einmal kann man über etwas lachen – aber wenn es einfach so weitergeht, dann muss man etwas tun. Kaum jemand von denen lacht doch über einen Behinderten ohne Beine? Aber das hier ist dasselbe! Worüber die lachen, ist verfickt noch mal kein Stück witzig. Das Leben hier ist nicht witzig. Und sie leben dieses verfickte Leben. Sie sind einfach nur schwach, richtig schwach. Das einzige, was denen noch bleibt, ist ne Psychowaffe.

    Worüber die lachen, ist verfickt noch mal kein Stück witzig. Das Leben hier ist nicht witzig

    Genau, wie man meine früheren Songs als Psychowaffe gegen dieses Scheißleben sehen kann. Das ist alles, was dir bleibt. Ich habe Mitleid mit den Leuten, genau wie ich Mitleid mit dem kleinen Jungen, dem jungen Erwachsenen habe, der ich war. Es sind krass unglückliche Menschen, bei denen alles so zum Kotzen ist, dass ihnen nichts mehr bleibt, als darüber zu lachen. Und genau deswegen lieben sie diesen ganzen Entertainmentscheiß.

    Wie siehst du dich in einem anderen Land? Deine Songs schreibst du ja auf Russisch.

    Vielleicht schreibe ich irgendwann auf Englisch. Aber es ist kein Problem, für Konzerte nach Russland zu kommen. Ich bin Russe, mit meiner Sprache bin ich in voller Harmonie und habe auch weiterhin vor, auf Russisch zu schreiben, egal wo ich mich befinde. Is okna [Aus dem Fenster] habe ich zum Beispiel in Japan geschrieben, im Bus nach Osaka. Ich glaube also nicht, dass das was ändern würde.

    Gibt es schon konkrete Pläne?

    Wir haben noch kein konkretes Land im Blick, aber sind dabei.

    Ich finde, in dem Staat, in dem wir leben, ist das einzig Vernünftige, nicht auf die Barrikaden zu gehen, weil das einfach sinnloser Selbstmord ist, sondern ein Leben irgendwo anders auf unserem schönen Planeten zu suchen. Sich mit Leuten zu umgeben, die dir mit ihren Scheißvisagen zumindest nicht die Laune vermiesen und sich etwas Mühe geben, was gegen ihre sauren Fickfressen zu tun.

    Ich fordere niemanden zu irgendetwas auf. Ich erkläre nur, warum ich emigrieren will. Wie soll ich das sagen? Die größte Revolution, die du machen kannst, ist die Revolution in dir selbst, als Persönlichkeit. Das ist alles, was du für die Gesellschaft tut kannst. Aber es ist sauschwer, sich weiterzuentwickeln, wenn du selbst in die Höhe wächst und die Leute um dich herum verfickt langsam wachsen, oder eben gar nicht. Das zieht mich runter. Außerdem hab ich die Schnauze verfickt voll von der Kälte und der wenigen Sonne. Das ist alles. Für mich, mit meinen Depressionen und psychischen Problemen, an denen ich arbeite (und an denen alle arbeiten müssen), ist es einen Versuch wert. Der Rest wird sich zeigen.


    * Seit 2013 ist die Benutzung nicht-normativer Lexik (Mat) in russischen Medien gesetzlich verboten. Der stellenweise Gebrauch von Mat ist im Original durch Sternchen gekennzeichnet.

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  • Pussy Riot

    Pussy Riot

    Pussy Riot ist eine Gruppe von Kunstaktivistinnen. Ab Herbst 2011 traten Frauen in Sturmhauben und bunten Kleidern moskauweit an öffentlichen Orten mit feministisch motivierten Punkperformances auf. Den Höhepunkt bildete im Frühjahr 2012 der Auftritt mit dem Punkgebet in der Christ-Erlöser-Kathedrale. Für zwei der Mitglieder endete der anschließende Prozess mit Haft im Straflager. 

    Am 7. November 2011 kam es an öffentlichen Orten in Moskau zu wilden Spektakeln. Auf einmal standen da drei Frauen mit grellbunten Kleidern und Sturmmasken auf einer Arbeitsbühne in einer Metrostation und später auf dem Dach eines Trolleybusses. Zu Punk-Klängen aus einem portablen Abspielgerät brüllte die eine in ein Mikrophon, die andere krachte auf einer E-Gitarre, alle drei sprangen wild herum. Die Schaulustigen dürften den vorgetragenen Text wohl kaum verstanden haben. Auf dem Blog von Pussy Riot war jedoch bald das Musikvideo zu sehen, zu dessen Produktion die Konzerte gedient hatten – Leg das Pflaster frei!  war der erste Hit von Pussy Riot, gesungen über das geloopte Riff eines Oi-Punk-Klassikers.

    Als nur vier Monate später dieselben drei Frauen für ihren Auftritt in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale verhaftet worden waren, bezeichnete man sie in den Medien häufig als Punkband. Zwar waren die jungen Frauen sicherlich begeistert von der rohen, negativen Energie des Punk, sie ließen jedoch auch keinen Zweifel daran, dass sie ihn in den Dienst einer Kunstaktion stellten. Kenner der Aktionskunst wie der Veteran des Moskauer Aktionismus der 1990er Jahre Anatoli Osmolowski, erkannten daher auch intuitiv: Die eigentlichen Vorläufer von Pussy Riot waren weniger im Riot Grrrl Movement, der weiblichen Aneignung des Hardcore in den 1990er Jahren zu suchen, als in Künstlerinnen-Gruppen wie den Guerilla Girls. Deren Gorillamasken erfüllen eine ähnliche Funktion wie die Sturmhauben von Pussy Riot: Sie anonymisieren den weiblichen Protest. Der Blog von Pussy Riot listete etwa ein Dutzend Pseudonyme von Aktivistinnen auf.

     

     

    Wie die Künstlergruppe Woina, in der zwei der später verhafteten Aktivistinnen, Nadeshda Tolokonnikowa und Jekaterina Samuzewitsch, tätig gewesen waren, war Pussy Riot exzentrische Weggefährtin der russischen Oppositionsbewegung, deren Demonstrationstätigkeit um den Jahreswechsel 2011/2012 ihren Höhepunkt erreichte. Im Dezember traten sie mit dem Song Tod dem Gefängnis, Freiheit dem Protest! auf. Sie sangen auf einem Schuppen vor einem Moskauer Untersuchungsgefängnis, in dem verhaftete Demonstranten festgehalten wurden, im gleichen Monat sangen sie auf dem Roten Platz Revolte in Russland – Putin hat sich eingepisst. Auch dies war noch nicht strafwürdig, erst die Aktion in der Kathedrale führte zur Anklage von Tolokonnikowa, Samuzewitsch und Maria Aljochina.

    Obwohl die Anklage im Prozess das erste Mal den 2007 verschärften Chuliganstwo-Artikel (Störung der öffentlichen Ordnung)1 bemühte, gehört der Prozess aufgrund des zugeschriebenen Motivs der „Verletzung religiöser Gefühle“ in eine Reihe mit den Kunstgerichtsprozessen gegen die Ausstellungen Achtung, Religion! und Verbotene Kunst. Zwar hatten sich die Frauen in ihrem Punkgebet ja gerade an die Gottesmutter gewandt, sie möge doch Putin verjagen, doch wurden die Frauen nicht wie politische Aktivistinnen, sondern wie diabolische Junghexen behandelt. Jede politische, künstlerische oder auch nur kulturelle Facette ihrer angeblich blasphemischen Handlungen sollte ausgeblendet werden. Ihr aus der Punk-Szene übernommener Pogo-Tanz wurde so zum Veitstanz umgedeutet. Zeugen der Verteidigung wie die Theologieprofessorin Jelena Wolkowa oder der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny wurden nicht zugelassen, kirchliche Kodizes durchziehen die Urteilsbegründung – für Tolokonnikowa und Aljochina endete der Prozess mit Straflager, Samuzewitsch erhielt eine Bewährungsstrafe.

    Während das Urteil im Ausland mit großer Empörung aufgenommen wurde, ging das innenpolitische Kalkül der Kampagne gegen Pussy Riot durchaus auf. Insbesondere die vom Lewada-Zentrum für Meinungsforschung regelmäßig durchgeführten Umfragen zum Prozess dokumentieren, dass die massenmediale Inszenierung der Ereignisse um Pussy Riot in den kunst- und oppositionsfernen Schichten der russischen Bevölkerung der Regierung Putin merkliche Unterstützung brachte. Und das  in einer Zeit, in der sie durch Vorwürfe der Korruption und Wahlfälschung unter Druck geraten war.

    Seit Tolokonnikowa und Aljochina wieder auf freiem Fuß sind, leihen sie ihren politischen Zielen ihre von der Staatsmacht gewaltsam entblößten, medienwirksamen Gesichter. Neben der Gründung einer NGO, die sich für Gefangenenrechte in Russland einsetzt, kam es zu diversen Interaktionen mit big Politics, Musik- und Showbusiness. So traten Pussy Riot in einer Folge der Netflix-Serie House of Cards auf und produzierten für den Abspann mit Johanna Fateman der Riot-Grrrl-Band Le Tigre ein Musikvideo für den Abspann. Auf dem alten Blog von Pussy Riot kritisierten anonym gebliebene Aktivistinnen den „Ausverkauf“ von Pussy Riot scharf. Im Sommer 2015 beging die Frau mit der Sturmmaske virtuellen Selbstmord auf dem ursprünglichen Blog von Pussy Riot. Bemerkt hat diese Auflösung der Ursprungs-Gruppe jedoch kaum jemand.

    Zur Fußball-WM 2018 in Russland traten Mitglieder der Gruppe erneut in Erscheinung, als sie zum Endspiel in Polizei-Kostümen auf das Spielfeld rannten, um so auf eingeschränkte Meinungsfreiheit im Gastgeberland aufmerksam zu machen. Sie forderten unter anderem die Freilassung aller politischen Gefangenen im Land. Für ihre Aktion wurden vier Mitglieder von Pussy Riot zu 15 Tagen Haft verurteilt. Einer von ihnen, Pjotr Wersilow, kam am 11. September mit plötzlichen Sehstörungen und anderen Symptomen ins Krankenhaus. Als er schließlich in der Berliner Charité behandelt wurde, sprachen die Berliner Ärzte von einer „hohen Plausibilität“ dafür, dass Wersilow vergiftet wurde. Nach seiner Entlassung sprach er mit dem russischen Exil-Medium Meduza und sagte, dass er den Grund für die Vergiftung nicht in der Aktion beim WM-Endspiel, sondern bei seinen Recherchen in der Zentralafrikanischen Republik sehe. Dort waren Ende Juli drei russische Journalisten unter ungeklärten Umständen ermordet worden.
    Nur zwei Tage nach dem  WM-Finale kam Pussy Riot erneut in die Schlagzeilen: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stellte fest, dass die Russische Föderation mit ihrem Urteil über das Punk-Gebet in der Christ-Erlöser-Kathedrale die Menschenrechte der Aktivistinnen verletzt hatte. Russland muss nun Schmerzensgeld und Schadensersatz an die Verurteilten zahlen. Da der Oberste Gerichtshof Russlands schon im April 2018 eine Entscheidung des EGMR mit Schulterzucken quittierte, bleibt es fraglich, ob Russland tatsächlich die Verantwortung für die Menschenrechtsverletzung gegenüber Pussy Riot-Mitgliedern übernehmen wird.


    1. In der Form, in der er zur Anwendung kam, besteht der Artikel seit 2007. Damals hatte eine Gesetzesänderung auch nichtgewaltsame Handlungen unter strafrechtliche Verfolgung gestellt, wenn sie die „öffentliche Ordnung grob verletzen“, indem sie z. B. durch „politischen, ideologischen […] religiösen“ Hass eine „tiefe Verachtung der Gesellschaft“ deutlich machen. Für einen Überblick über die Gesetzesänderungen siehe Livejournal Rimma Poljak: Kakie izmenenija preterpela pri Putine statʼja 213 UK RF «Chuliganstvo» ↩︎

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  • Die Hymne der Russischen Föderation

    Die Hymne der Russischen Föderation

    Endlich: Die Fußball–WM in Russland wird am 14. Juni 2018 feierlich eröffnet, das Gastgeberland stellt sich in der Hauptstadt Moskau vor. Doch bevor das Eröffnungsspiel beginnen kann, wird die Flagge der Russischen Föderation auf dem Feld präsentiert. Langsam färbt sich auch die russische Fankurve in den Farben Weiß, Blau und Rot. Der mächtige Anfangsakkord der Hymne der Russischen Föderation ertönt. Und während die russischen Fans einstimmig die erste Zeile – „Russland, unser geheiligter Staat“ – anstimmen, werden die Zuhörer unbewusst Zeugen einer musikalischen Zeitreise: Das klangmächtige Laudato im Stadion verknüpft den gegenwärtigen Nationalstolz mit dem schwierigen Verhältnis zur eigenen sowjetischen Vergangenheit.


    Eröffnungsfeier der WM 2018 in Moskau

     

    Was heute die Stadien erfüllt, ertönte im Jahr 2000 zum ersten Mal im Kremlpalast – als neue Hymne der Russischen Föderation. Neu ist sie aber nur bedingt: Die majestätische Hymne in C-Dur mit dem markant punktierten Rhythmus komponierte Alexander Alexandrow bereits in den 1940er Jahren. Sie diente über 50 Jahre lang als Hymne der UdSSR. Untermalt mit den Worten des Schriftstellers Sergej Michalkow besang sie die „unzerbrechliche Union freier Republiken“ und die Partei Lenins, die das sowjetische Volk „zum Triumph des Kommunismus führt“. 
    Die pompöse Melodie kommt mit neuem Text daher. Dieser stammt jedoch vom gleichen Autor wie in der Originalversion. Anstelle der UdSSR wird nun Russland als „unser freies Vaterland“ gepriesen. Die Hymne leitet damit fast nahtlos vom Sowjetstaat zum heutigen Russland über.

    Zurück in die Vergangenheit

    Der Wiedereinzug der Hymne in das Reservoir russischer Staatssymbole war eine der ersten Amtshandlungen des frischgekürten Präsidenten Putin. Mit dieser akustischen Rolle rückwärts setzte Wladimir Putin eines der ersten Signale seiner Amtszeit. Die sowjetische Vergangenheit betrachtete er nicht länger als aufzuarbeitende, abgeschlossene Epoche, sondern als historisches Erbe und sinnstiftendes Element für die Herrschaftsinszenierung in der Russländischen Föderation der Gegenwart. Damit untermauerte Putin einen neuen Kurs: Nach den wilden 1990ern unter Boris Jelzin sollte eine neue, alte Ära der Stabilität und Größe angestrebt werden.

    Das patriotische Lied

    Die 1990er Jahre klangen noch ganz anders. Zu Beginn des Jahrzehnts – als die Auflösung der „sicheren Festung der Völkerfreundschaft“ (UdSSR) denkbar wurde – standen die Erbverwalter des Imperiums in Moskau und Leningrad vor einem handfesten Problem: Die Russische Sowjetrepublik (RSFSR) war die einzige Nation der Sowjetunion gewesen, der es im Vielvölkergebilde neben der übergeordneten Sowjethymne an einer eigenen mangelte. Als „Großer Bruder“ der Völkerfamilie und unbestrittener primus inter pares war es den Staatslenkern in Moskau bisher nicht nötig erschienen, eine eigene Staatssymbolik für Russland zu propagieren. 1990 trat dann das Patriotische Lied, eine lang vergessene Komposition Michail Glinkas (1804–1857), der als Ahnherr der russischen Musik gilt, in Erscheinung.

    Während einer Sitzung des Obersten Sowjets der RSFSR spielte ein Blasorchester die kurz zuvor entdeckte Komposition, die Glinka mutmaßlich als Hymne für das Zarenreich seiner Zeit angedacht, jedoch letztendlich nie vollendet und publiziert hatte. Weil das Musikstück dem beisitzenden Jelzin so gut gefiel, bat er das Orchester, das Stück erneut vorzutragen. Wie es normalerweise nur bei Nationalhymnen üblich ist, erhoben sich einige der Anwesenden zu den Klängen von Glinkas Patriotischem Lied, woraufhin dessen Status als Nationalhymne besiegelt schien.1

    Im Jahr 1993, als die Sowjetunion bereits aufgelöst worden und die RSFSR zur Russischen Föderation übergegangen war, griff Jelzin bei der Auswahl der Hymne auf eben jene Komposition zurück und entschied Glinkas Patriotisches Lied per Dekret zur Hymne der jungen Nation.

    Die stummen 1990er

    Dies sollte nun eine doppelte Leerstelle füllen: Auf der einen Seite führte es zur musikalischen (Re-)Nationalisierung Russlands im postsowjetischen Raum, auf der anderen Seite sollte das Werk angesichts der in Abwicklung begriffenen Sowjetunion neue Sinninhalte stiften. In den 1990er Jahren hatte das Patriotische Lied jedoch einen schweren Stand. Es wurde unfreiwillig zum Soundtrack von Turbokapitalismus und Hyperinflation, die vielen ehemaligen Sowjetbürgern den wirtschaftlichen und moralischen Boden unter den Füßen wegzogen. Außerdem fehlte es der Hymne an einem entscheidenden Detail: Glinka selbst hatte das Klavierstück instrumental komponiert und nicht mit Text unterlegt. Wer in die Melodie einstimmen wollte, dem blieb also nur das Mitsummen. Sehr spät, im Jahr 1999, suchte ein Wettbewerb nach Worten zur Melodie. Viktor Radugin gewann mit seinem Vorschlag Slawsja Rossija (dt. „Ruhm dir, Russland“), die Zeilen des Textes wurden jedoch letztendlich nicht zur Hymne hinzugefügt.

     


    In den 1990er Jahren lauschten russische Fußballspieler der Hymne schweigend

     

    Als Wladimir Putin im Mai 2000 das Präsidentenamt übernahm, vergingen nur ein paar Wochen, bis sich Athletinnen und Athleten angesichts der Olympischen Sommerspiele in Sydney an den neuen Machthaber wandten. Sie gaben zu Protokoll, wie sehr es sie gekränkt habe, im Gegensatz zu ihren Mitstreitern nicht ihre Hymne mitsingen zu können. Das Ersuchen nahm Putin als Steilvorlage, um mit der Einsetzung der neuen Hymne ein erstes Zeichen zu setzen.

    Politik mit Tönen

    Putin verzeichnete mit der Einführung der „neuen alten“ Hymne einen wichtigen Erfolg. Sie war ein kulturelles Vorzeichen für die in den folgenden Jahren dominante Erinnerungspolitik, die den Stolz auf das sowjetische Erbe über- und die Schattenseiten der eigenen Vergangenheit unterbetonte. Die Aneignung der Hymne in den folgenden Jahren machte jedoch auch die Widersprüchlichkeit dieser besonderen „akustischen Politik“ deutlich. Nicht wenigen dürfte das Erklingen der Hymne zur Beerdigung von Boris Jelzin im Jahr 2007 merkwürdig erschienen sein. Eine Umfrage aus dem Jahr 2009 behauptete, dass 56 Prozent der Befragten „stolz“ seien, wenn sie die Nationalhymne hörten. Gleichzeitig war es damals weniger als der Hälfte der Befragten möglich, die erste Zeile des Textes zu zitieren.2
    Zehn Jahre später wird vielen jungen Menschen in den Stadien des eigenen Landes der sowjetische Kontext der Hymne kaum mehr präsent erscheinen. Als musikalischer Zeitsprung verknüpft sie jedoch bis heute russische Gegenwart unmittelbar mit sowjetischer Vergangenheit.


    Weiterführende Literatur:
    Frolova-Walker, M. (2004): Music of the soul?, in Franklin, S. & Widdis, E. (Hrsg.): National Identity in Russian Culture: An Introduction, Cambridge, S. 116-131
    De Keghel, Isabelle (2008): Die Staatsymbolik des neuen Russland: Tradition – Integrationsstrategien – Identitätsdiskurse, Münster

    1. mehr darüber: de Keghel, Isabelle (2003): Die Staatssymbolik des neuen Russland im Wandel: Vom antisowjetischen Impetus zur russländisch-sowjetischen Mischidentität, in: Forschungsstelle Osteuropa Bremen: Arbeitspapiere und Materialien, S. 42 ↩︎
    2. Wciom.ru: Russian State Symbols: Knowledge & Feelings ↩︎

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    Kedr Livanskiy ist das neue, weibliche Gesicht des russischen Electro, beim US-Label 2MR records unter Vertrag – und in diesem Sommer in Deutschland auf dem MELT-Festival zu sehen und zu hören. Colta.ru hat die Künstlerin, die mit bürgerlichem Namen Jana Kedrina heißt, zum Interview getroffen.

    Das neue weibliche Gesicht des russischen Electro – Kedr Livanskiy / Foto © Kedr livanskiy/ Facebook
    Das neue weibliche Gesicht des russischen Electro – Kedr Livanskiy / Foto © Kedr livanskiy/ Facebook
    Kedr Livanskiy: Ich hab schon lange kein Interview mehr gegeben, fast zwei Monate nicht.

    Dennis Bojarinow: Du hast selbst Journalismus studiert und musstest sicher selbst schon mal Interviews führen. Warum hast du seinerzeit das Studium geschmissen?

    Irgendwas muss man ja studieren. Da bin ich an die journalistische Fakultät gegangen, denn ich habe mich schon immer für Literatur, Philosophie und Kunst interessiert. Und es gab dort tolle Dozenten. Im Prinzip habe ich mich da intensiv mit Literatur beschäftigt. Ich wollte aber nie Journalistin werden, ich habe dafür kein Talent, ich kann ganz schlecht Gedanken formulieren. Einmal haben wir als Semesterarbeit eine Zeitschrift gemacht und dafür Interviews mit Studierenden und Jugendlichen gemacht. Sie hatte den schrecklichen Namen JUM, so etwas wie Jugendlicher Maximalismus. Ich stand damals auf Punk-Rock, deshalb gingen mich diese Themen etwas an.

    Die Punk-Rock-Gruppe, in der du gespielt hast, war eine Frauenband?

    Nein, außer mir waren da nur Jungs. Ich habe gesungen und die Lieder und Melodien geschrieben. Die Lieder handelten von Partys, Drogen und Alkohol, so in dem Stil, worüber jetzt die Gruppe Poschlaja Molli singt. So Pop-Punk, aber nur mit Gitarre, ohne Electro. Ich habe mich an 1,5 Kilogramma otlitschnogo Pjure und Blink-182 orientiert. Wir hatten einen total plumpen Sound – nur der Bassist konnte wirklich spielen.

    Aufmerksamkeit haben wir bekommen, weil wir auf Russisch gesungen haben – und weil ein Mädel sang. Damals gab es im Punk-Rock wenig Frauen, ja das ist immer noch so. Überall.


    Was war das größte, was eure Band zustande gebracht hat?

    Eine Tour – vier Städte haben wir abgeklappert in dem Transporter, der als „Todesbus berühmt wurde. Das war unsere einzige Tour. Nach solch einer Tour muss man ein paar Monate auf Entzug. Wir waren in der Hölle und die Zuschauer auch, aber deswegen sind sie ja zu den Konzerten gekommen. Ein einziges gemeinsames dionysisches Bacchanal!

    Wir waren in der Hölle und die Zuschauer auch

    Parallel dazu habe ich mich mit Literatur beschäftigt und der höfischen Kultur hingegeben. Viele meiner Punk-Kumpel haben nichts davon geahnt, haben gedacht, die säuft nur.

    Warum ist es für dich vorbei mit dem Punk?

    Ich glaube nicht, dass Punk stumpf ist. Aber aus dem Punk, den wir gespielt haben, bin ich rausgewachsen. Es kommt der Moment, da nervt es, wenn du immer außer dir bist. Dann will man etwas Ernsteres. Selbst als ich zu Punk- und Hardcore-Konzerten gegangen bin, habe ich weiter Alternative und Electro gehört, CocoRosie, Xiu Xiu, Boards of Canada.

    Wann hast du angefangen, elektronische Musik zu machen?

    Mit 23. Ich bin in einem Kreis von Leuten gelandet, die den Club NII betrieben und die Labels Gost Zvuk und John’s Kingdom. Die Zeit forderte einen neuen Schritt. Wir waren alle Musiker. Gingen zu Partys und auf Electro-Konzerte. Zuerst haben wir alles zusammen gemacht, dann sind wir auseinandergegangen – und jeder hat für sich allein weitergemacht.


    Moskauer Plattenbau-Meere aus Drohnenperspektive mit „Vtgnike“ von „Gost Zvuk“
    Und wie bist du in den Kreis hineingeraten?

    (Lacht.) Ich habe einfach mit dem Oberhaupt der Gruppe angebandelt, mit Pascha Miljakowy, der ist jetzt als Buttechno bekannt. Aber der hatte nichts direkt mit dem zu tun, was ich mache. Wir sind zusammen gewachsen, ich glaube, dass unsere Beziehung unseren Projekten in ihrer Entwicklung geholfen hat.

    Als ich mit Punk aufgehört habe, wollte ich unbedingt Musik machen. Aber ich kann kein Instrument spielen. Ich habe mal Gitarre gelernt, aber um so zu spielen, um es richtig ordentlich zu können, braucht man viel Geduld. Um elektronische Musik zu machen, muss man nicht unbedingt Instrumente spielen können (lacht).


    „Buttechno“-Set bei einer Party von „Boiler Room“. Das Projekt „Boiler Room“ organisiert geheime Electro-Events an verschiedenen Orten der russischen Hauptstadt

    Ja, das ist für viele verlockend.

    Das Tolle ist – ich mache jetzt vier Jahre Electro, und ich beherrsche das Instrument schon intuitiv; ich weiß, wo was ist, und spüre die Harmonien.
    Ich schaue immer mal wieder Tutorials auf YouTube. Aber cooler ist, jemanden zu besuchen und dann zusammen Musik zu machen, dann sehe ich wie dieser Mensch die Software benutzt.

    Mein Hauptinstrument ist beispielsweise Ableton, aber zehn Leute können das auf zehn verschiedene Arten benutzen. Du schnappst das eine oder andere auf und entdeckst dann für dich etwas Neues. Wenn ich grad mal Geld habe, kaufe ich Instrumente, Synthesizer oder Drum Machines. Aber ich benutze sie nicht bei Konzerten. Meine Musik ist sehr geeignet, um gleichzeitig zu spielen und zu singen.

    Ich mache jetzt vier Jahre Electro, und ich beherrsche das Instrument schon intuitiv; ich weiß, wo was ist, und spüre die Harmonien / Foto © Kedr livanskiy/ Facebook
    Ich mache jetzt vier Jahre Electro, und ich beherrsche das Instrument schon intuitiv; ich weiß, wo was ist, und spüre die Harmonien / Foto © Kedr livanskiy/ Facebook

    Du machst zu Hause Musik – bist eine typische Bedroom-Musikerin. Denkst du manchmal, dass du einen Schritt weiter gehen musst in ein professionelles Studio?

    So ein professionelles Niveau ist keine unbedingte Voraussetzung für gute Musik. Zum Beispiel Timati und Black Star Burger, die machen das auf so professionellem Niveau, nehmen alles im Studio auf, und? Natürlich muss man sich mit der Materie auskennen, muss mixen und mastern können. Aber du kannst auch zu Hause gute Ergebnisse erzielen, wenn du Studiomonitore hast. Und wenn nicht, dann gehst du zu Freunden, die mehr von Sound Engineering verstehen.

    Das ist jedenfalls nicht die Richtung, in die ich strebe. Mir ist schon klar, dass es für ein Massenpublikum einen anderen Sound braucht, glatter, und so. Aber ich habe nicht das Anliegen, ein großes Publikum zu erobern.

    Und welches Anliegen hast du dann?

    Mehr Musik zu machen, die sich transformiert und entwickelt und mir weiterhin Freude macht. Ich mag es, wenn alles harmonisch geschieht. Ich habe nicht das Anliegen, Ruhm und Ehre zu erwerben, vielleicht würde meine Psyche das gar nicht aushalten.

    Vor welchen Electro-Musikern aus Russland hast du ernsthaft Respekt?

    Vor allen Musikern bei den Labels Gost Zvuk und RASSVET records, das Pascha Miljakow gegründet hat, auch vor denen vom Samaraer Label Oblast. Die sind zwar nicht sehr berühmt, aber ich sehe, wie diese Jungs und Mädels leben. Nur 200 oder 300 Leute, die ins NII gehen, kennen sie, aber die sterben für die Musik. Die haben keine Ego-Motive. Das ist geil.


    „Lapti“ von „Gost Zvuk“ mit einem Video im Trashpop-Stil

    Wie kam es, dass du berühmter geworden bist als sie?

    Meine Musik ist einfacher. Sie basiert auf Melodien. Sie ist verständlich und eingängig. Aber einfacher heißt nicht schlechter.

    Um experimentelle Musik verstehen zu können, braucht es Erfahrung und Wissen. Man muss sich dahinterklemmen und lernen, Schönheit in anderen Dingen zu sehen.

    Derzeit arbeitest du mit dem US-amerikanischen Label 2MR records zusammen. Wie ist euer Verhältnis zueinander? Hast du einen Vertrag?

    Ja, ich habe einen Vertrag. Ich bin bei solchen Dingen recht leichtfertig. Erst vor Kurzem wurde mir bewusst, dass ich einen Vertrag über vier LPs unterschrieben habe!

    Erschienen ist bisher eine.

    Genau. Und noch eine EP, ein Mini-Album, aber das zählt nicht. Und das ist ein bisschen traurig, weil mich auch andere Label anschreiben, echt gute. Aber alles, was ich mache, muss ich 2MR geben oder zumindest mit ihnen absprechen. Und die wollen niemandem was geben. Ich bin also in einer Art Geiselhaft, aber bisher bedrückt mich das nicht.

    Ich bin leider keine sehr produktive Künstlerin. Ich kann nicht pro Jahr ein Album machen.

    Du schuldest ihnen noch drei Alben, was schulden sie dir? Wie sieht es mit einer Finanzierung aus?

    Sie können mir einen Vorschuss zahlen, pro Videoclip kriege ich beispielsweise 1000 Dollar. Aber dieses Geld wird später von der Beteiligung abgezogen, die aus dem Verkauf bei mir landet. Sie leihen mir was. Das sind keine Mäzene, das ist ein Label.

    Machen sie dir Vorschläge, wie du deine Musik besser vermarkten könntest, nach dem Motto: Wir müssen jetzt einen Clip drehen, was hältst du von diesem wunderbaren Regisseur hier?

    Zum Glück nicht. Nur manchmal schubsen sie mich ein bisschen, schreiben mir zum Beispiel: Dem und dem musst du unbedingt ein Interview geben. Oder sie schreiben: Jana, in dieser Welt kann eine Künstlerin nicht drei Monate am Stück schweigen – du musst unbedingt mit einer Single oder einem Clip kommen. Und ich antworte ihnen: Sorry, Leute, später (lacht).


    Dir stehen Auftritte auf großen europäischen Festivals bevor: Primavera in Barcelona und MELT in Deutschland. Willst du da irgendwas besonderes machen?

    Ich will mit Visuals, also mit Videobegleitung auftreten. Normalerweise ging das immer ohne, aber wenn da mehr als 2000 Leute im Publikum sind, kann ich nicht ganz allein auf der Bühne stehen. Außerdem will ich mich noch mit einem Tonmeister treffen und mit ihm mein Live-Programm durchgehen, vielleicht mischen wir das nochmal neu ab.

    Jana, in dieser Welt kann eine Künstlerin nicht drei Monate am Stück schweigen

    Ich bin schon in anderen Ländern aufgetreten, aber eher auf Partys, zu dem mein Publikum kommt, für die, die meine Musik kennen. Hier muss ich die Aufmerksamkeit eines Publikums gewinnen, das mich überhaupt nicht kennt. Das ist eine echte Herausforderung!

    In der Musik von Kedr Livanskiy steckt eine klare russische Identität, die fehlt fast überall – nicht nur in der elektronischen Musik. Du hast das: russische Texte, sogar russische Lyrik, und das Flair der New Wave aus der Spätperestroika und der Elektronik wie bei NII Kosmetika. Arbeitest du absichtlich in diese Richtung?

    Nein, nicht absichtlich. Als ich versucht habe, etwas absichtlich zu machen – Mensch, jetzt mach ich mal so was wie Stuk Bambuka w 11 Tschassow, da kam bei mir gar nichts raus (lacht). Es war einfach nur Zeug.

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    Schanson à la russe

  • Schanson à la russe

    Schanson à la russe

    Was den Franzosen die Liebe, ist den Russen der Knast? Zumindest ist ein wichtiger Zweig der russischen Populärmusik inspiriert von Lagergesängen, die die Gulag-Insassen einst aus den Weiten der sibirischen Steppe mitbrachten. Pawel Belosludzew hat den russischen Chanson für Batenka unter die Lupe genommen.

    Interesse an der Gefängnis-Subkultur gewann ich als Teenager, als ich einen Mitschüler dabei ertappte, wie dieser ehrfürchtig Michail Krug lauschte. Der Typ pinnte sich auch Bilder mit A.U.E.-Symbolik an die Wand, teilte Zitate von Knastbrüdern in Sozialen Medien und hatte ganz allgemein ein Faible für die Gefängnis-Mythologie. Ich kann mich sogar erinnern, dass er einmal in vollem Ernst zu mir sagte: „Vor dem Bau bist du nie sicher.“ Goldene Worte, danke dir, Wowan.

    Damals schon fragte ich mich: Wie kann es sein, dass erstens ein Kind, und zweitens eines, das – klar! – nie gesessen hat, in den Bann der brutalen Ästhetik krimineller russischer Superhelden gerät? Warum beißen Leute, die mit dieser Kultur absolut nichts zu tun haben, bei Liedern über Tattoos mit Kirchenkuppeln oder Spielkarten-Assen an? Was ist daran für sie romantisch? Ist das krankhafte Empathie oder Liebe zur Exotik? Keine Ahnung, echt. Aber dass gegenwärtig die Gefängnismusikindustrie in die Ewigkeit eingeht, muss ich und müsst ihr wohl einsehen.

    Gefängnisfolklore – erste Dokumentationen

    1908 bereiste der Volkskundler und Komponist Wilhelm Harteveld die rauen sibirischen Weiten, um erstmals die Musikkultur in den Straflagern Sibiriens zu dokumentieren. Seine Sammlung aus gut 200 Liedern über das schwere Dasein der Zwangsarbeiter nannte Harteveld dementsprechend: Lieder der Katorga.

    „Ich bin glücklich, wenn Sie anhand dieser Lieder erkennen, dass die Menschen, die sie gemacht haben, genau solche Menschen sind wie Sie“, begann Harteveld seine Vorträge und meinte das absolut ernst, denn wie wir wissen, unterschied sich die gesellschaftliche Wahrnehmung des Gefängnisses in der Vergangenheit leider nicht sonderlich von der heutigen.

    Die Nacht vor der Strafe, aus der Sammlung Lieder der Katorga
    [bilingbox]

    Verzeih mir, Heimat, schönes Land!
    in Verbannung ich mich fand,
    Auf ewig dort, wo furchtbare Minen sind,
    Wo Türme stehen wie ein Gebirgskamm,

    Harmlosen Spaß gibt es hier nicht,
    nicht Flachland und geschmückte Felder.
    Vorwurf und Verachtung – 
    die werden dort in meine Seele dringen.

    Hier wird die Sehnsucht meine Freundin,
    weit weg von meinen Lieben leb ich als Waise
    Erinnerung und Schmerz der Trennung
    lassen mich leiden bei hundert Jahren Arbeit!~~~«Ночь перед наказанием», из сборника «Песни каторги»

    Прости отчизна, край отрадный!
    В изгнанье вечно я решён,
    Туда, где россыпи ужасны,
    Как башни, где хребты, стоят,

    Где нет невинных развлечений,
    Равнин, украшенных полей
    И где упрёки и презренья
    Должно нести душе моей.

    Там буду жить с подругой-скукой,
    Вдали от милых, сиротой,
    С воспоминаньем и разлукой
    Страдать в работе вековой![/bilingbox]

    18 Jahre später stirbt Harteveld, ohne auch nur zu ahnen, wie weit es sein ethnografisches Erbe noch bringen wird.

    Die Gefängnismusikindustrie des letzten Jahrhunderts (genauer, der Sowjetzeit) hat etwas Paradoxes. Aspekte, die gut nachvollziehbar die Straflagerexistenz aufgreifen, und mit ihr die geächtete Popularisierung und Romantisierung einer kriminellen, marginalen Lebensweise, wurden damals von bekannten Lied- und Chanson-Interpreten besungen: zum Beispiel von Leonid Utjossow:Gop so smykom S odesskogo kitschmana, Irtlatsch Strongilla:Na Bogatjanowskoj otkrylasja piwnaja, Arkadi Sewerny:Nu, ja otkinulsja, kakoi basar-woksal, Michail Gulko:Berjosy Murka. Es ist aber auch klar, dass die Musiker das nicht aus propagandistischen Motiven heraus machten, sondern wegen des Stils und der damit verbundenen Haltung. Nicht einmal um zielgerichtet Kontakt zum Gefängnis-Milieu bekommen, hatte je einer von ihnen gesessen. Nur Arkadi Sewerny hatte irgendwelche kriminellen Verbindungen, doch darum geht es hier nicht.

    Worin besteht die Problematik des Katorga-Milieus? Ganz einfach: Eine Gefängnis-Musikkultur, die die Gemeinschaft der Häftlinge als einheitliche, unabhängige Stimme hätte repräsentieren können, gab es überhaupt nicht. Sie trug die Bürde eines gesichts- und namenlosen Medienprodukts, das keine Chance hatte, auf den Markt zu gelangen, einfach weil es keine geeigneten Ressourcen und Vertriebswege gab. Durch das Fehlen von Helden und von Möglichkeiten, den Trend zu popularisieren, behielt das Knast-Producing die Form eines Ausflusses lyrischer Stilmittel, wurde aber keineswegs zu einem vollwertigen Konzept, das massentauglich gewesen wäre.

    Grauer Anzug von Alik Berison

    [bilingbox]

    Ein grauer Anzug, die neuen Stiefel knarzen
    – hab ich getauscht gegen die Jacke aus dem Knast.
    Acht Jahre hab ich nun viel Leid erlebt,
    Und nicht nur eines meiner Haare ist ergraut~~~Алик Берисон, «Костюмчик серенький»

    Костюмчик серенький, колёсики со скрипом
    Я на тюремные бушлаты променял.
    За восемь лет немало горя мыкал,
    И не один на мне волосик полинял.[/bilingbox]

    Vermutlich lag das auch an der Kriegs- und Nachkriegskrise: am enthemmten Zustand des Justizsystems und an der fehlenden Meinungsfreiheit.

    Eine neue Welle intellektueller Knast-Erzeugnisse kam in den 1950er Jahren herangerollt, als massenweise politische Gefangene freigelassen wurden. Zwar gab’s die heutigen Informationskanäle noch nicht, dafür aber die mündliche Überlieferung.

    Die Märchen aus der Gefängniswelt verbreiteten sich in Windeseile, und manche von ihnen schafften es sogar in das Liedgut, das man im Hinterhof zur Gitarre sang (Schol Stolypin). Die letzte Welle kam in den 1990ern und gewann nach dem Zerfall der sowjetischen Ordnung an Wucht, als klar wurde, dass man seine Ideen umsetzen kann, ohne bestraft und daran gehindert zu werden. So erschienen Michail Krug, Alexander Djumin, Michail Swesdinski und andere Celebrities des neuen russischen Blatnjaks, den man nun dank erfolgreicher Kommerzialisierung und kultivierter Mimikry den neuen russischen Chanson nennt. Oder den kriminellen – jeder wie er will.

    Der revolutionäre Durchbruch des Genres und dazugehöriger Persönlichkeiten der Subkultur in Radio und Fernsehen erlaubten es der Häftlingsseele, wie ein Dschinn ins Freie zu drängen und endlich der Welt ihre Werte zu lehren. In dieser Zeit wurde auserlesener Blatnjak auf allen Musikkanälen rauf- und runtergespielt, an diesem Hype kam niemand vorbei. Und im Jahr 2000 entstand eine Hochburg für einschlägige Interpreten – der Radiosender Schanson, den täglich allein in Moskau eine Million Menschen hören.

    Trotz seiner Popularität (die übrigens bis dato nicht nachlässt) treten intellektuelle Gesellschaftsschichten gegen die Popularisierung des Chanson auf und sprechen von der Geschmacklosigkeit und Minderwertigkeit des Genres.

    Eines der interessantesten Phänomene rund um den russischen Chanson ist, wie die Leute über ihn denken: die Kritiker negativ, und das Publikum positiv. Wie bei Filmen mit Jim Carrey. Das macht den Reiz aus.

    Symbolische Einsamkeit

    Man geht allgemein davon aus, dass der russische Blatnjak die Musik von Einzelpersonen ist. Dass es immer weiter Soloprojekte sind, mag an der symbolischen Einsamkeit liegen, die im Schaffen von Chansonniers und Chansonnetten häufig durchscheint, oder auch an einer charakterlichen Besonderheit moderner „Katorgaer“. Natürlich gibt es auch Ausnahmen der Regel, etwa Butyrka, Worowaiki, Zona, Pjatiletka und Belomorkanal

    Bild der Vergangenheit von Michail Swesdinski

    [bilingbox]

    Noch nie hat mich jemand Vater genannt,
    auch Ehemann sagte bisher keiner.
    Kann sein, dass mein Leben in Einsamkeit vergehen wird
    und Familiengemütlichkeit werd ich wohl kaum erleben.~~~Михаил Звездинский, «Картина прошлого»

    Меня ещё отцом никто не называл,
    Как мужем до сих пор не называли.
    Быть может, в одиночестве вся жизнь пройдёт —
    Уют семьи увижу я едва ли.[/bilingbox]

    Zum Teil liegt es sicher daran, dass das Genre gewissermaßen eine russische Form der DIY-Kultur ist. In den 1990ern war das auf jeden Fall so, als sich zahlreiche Musiker eigenständig auf den Markt hinauswagten, ohne Unterstützung von Producern, einfach indem sie ihre Alben zu Hause aufnahmen oder in Studios von Freunden. Heute wird der Chanson bereits gesponsert und gut bezahlt, wie man an der Vielzahl an Plattenlabeln sieht, die dank der neuen Beliebtheit des Genres aus dem Boden geschossen sind.

    Die Semantik des Gefängnischansons – Mama, Glaube und Tattoos

    Es ist unmöglich, eine einheitliche Antwort darauf zu finden, was genau denn nun der Kriminal-Chansonnier populär machen will und welchen Überzeugungen er anhängt. Allerdings gibt es doch Gesetzmäßigkeiten. Im Mitteilungsblatt des Kasaner Instituts für Rechtswissenschaften des russischen Innenministeriums erschien 2017 ein Aufsatz von Anton Schalagin und Olga Chrustaljowa zum Thema Gefängnisfolklore im Kontext der kriminellen Subkultur. Darin versuchen die Autoren das ideologische Profil des modernen kriminellen Helden zu klassifizieren. Aufgezählt werden Charakteristika wie: gezieltes Begehen von Finanzdelikten, demonstratives und übersteigertes Konsumverhalten, kriminelle Verbindungen und unmoralisches Verhalten, darunter Geringschätzung althergebrachter Traditionen.

    Die Themen, die die Ästhetik der Gefängnislieder ausmachen, sind dieselben wie vor hundert Jahren. Am häufigsten und typischsten finden sich:

    Die Mutter. Lesen Sie sich die Titel der Knastlieder der 1990er und 2000er Jahre durch, und sehen Sie selbst. Hallo, Mama von Krug, Mutter von Alexander Djumin, Mama von Viktor Petlura. Jeder Chansonnier, der etwas auf sich hält, singt ein Lied über die Mutter. Die Bedeutung der Texte läuft immer auf dasselbe hinaus: „Verzeih mir, Mama“, „Mamachen, schenk mir Wodka nach“. Die Mutter ist im Chanson zum ideologischen Kult erhoben.

    Interessanterweise kommt der Vater in den Liedern viel seltener vor. Vielleicht ist das einfach die Knast-Symbolik. Aber wer weiß.

    Der Glaube. Fast in jedem Lied hört man etwas, das mit der Kirche zu tun hat. Jeder anständige Chansonnier muss ein Lied über erlöschende Kerzen, Kuppeln (egal ob echte oder tätowierte) oder Gebete um die Vergebung seiner Sünden im Repertoire haben. Der Tätowierer richtet mir den Rücken – ein Kloster mit lauter Kuppeln (Alexander Djumin Blagoweschtschenski zentral), Goldene Kuppeln erfreuen mein Herz (Michail Krug Goldene Kuppeln), Gott bewahre uns vor dem Gericht (Andrej Sarja, Dialog s sowestju).

    Russian criminal tattoos und sonstige Knastmoden. Jeder anständige Chansonnier hat ein Lied über Tattoos. So will es die Seele der Kriminalität. Das Tattoo ist in der Gefängnisreligion gleichsam das Geschichtsbuch. Für jeden der persönliche Schutzengel. Ein Lied mit dem Titel Nakolotschka findet man bei mindestens zwei Interpreten: Michail Schufutinski und Alexander Udatscha.

    Ansonsten zählt zur Knastmode auch alles andere aus der Welt des russischen Gefängnisses: So gibt es Lieder über Pritschen, über Diebe im Gesetz, über im Gefängnis verlorene Freunde, Landstreicherei, kriminelle Machenschaften, Banden, Strafkolonien und dergleichen mehr.

    Die Natur. Ja, das Verbrechervolk ist auch zur Wahrnehmung der Umwelt fähig, kann auch ästhetisches und seelisches Vergnügen an der Betrachtung äußerer Schönheit empfinden. Vieles dreht sich in den Naturliedern um die Liebe zu heimatlichen Gefilden.

    Weiße Birke von Alexander Djumin

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    Überm Fluss über dem Wald ein gelockter Ahorn stand
    Verliebt war er in eine Birke mit ihrem weißen Band,
    und wenn über dem Feld der Wind sich legte,
    für die Birke sein Lied sich regte:

    Ach, weiße Birke, ick liebe dir!
    Deinen schlanken Zweig streck aus nach mir
    Verloren bin ich ohne Liebe, ohne Zärtlichkeit.
    Meine liebe weiße Birke, ich bin zu allem bereit!~~~Александр Дюмин, «Белая берёза»

    Над рекой над лесом рос кудрявый клён,
    В белую берёзу был тот клён влюблён.
    И когда над полем ветер затихал,
    Он берёзе песню эту напевал

    «Белая берёза, я тебя люблю.
    Ну протяни мне ветку свою тонкую.
    Без любви, без ласки пропадаю я.
    Белая берёза, ты — любовь моя»[/bilingbox]

    Die Liebe. Wie denn auch ohne? In der Knastlyrik ist sie natürlich ein wenig seltsam, und eigentlich durch und durch sexistisch (man denke nur an das berühmte Zitat von Michail Krug: „Ich mag keine Frauen, die eine eigene Meinung haben. Sobald eine Frau anfängt zu glauben, sie sei klug und habe Verstand, wie ein Mann, hört sie auf eine Frau zu sein. Wieso soll ich ihr dann in der Straßenbahn den Vortritt lassen, ihr die Hand reichen, wozu Blumen schenken?“), aber es gibt sie. Erinnerungen, romantische Oden, das war’s dann schon.

    Beim Versuch, in den Texten der Knastmusik die wichtigsten Schlüsselwörter auszumachen, erörtert Glaskowa im erwähnten Aufsatz, dass im neuen russischen Chanson drei Gefühle vereint seien, die zur russischen Seele gehören: Kränkung, Sehnsucht und Gram. Kein Wunder. Fast jedes Lied handelt von Enttäuschung vom Leben. Sogar wenn es eigentlich um Tattoos geht. Oder um schöne Mädchen.

    Das Schicksal – die Böse von Iwan Kutschin

    [bilingbox]

    Weiße Rosen blühen, die roten sind gewelkt
    Entweder hab ich den Traum versoffen 
    oder es hat ihn sich jemand gegriffen.~~~Иван Кучин, «Судьба-злодейка»

    Розы белые цветут, красные завяли,
    То ли я пропил мечту, то ль её украли.
    [/bilingbox]

    Opferdarstellung: Fake-Blatnjak

    Noch so ein aufwühlendes Phänomen ist beim russischen Chanson, ähnlich wie beim Rap, die Frage nach der Authentizität, der Glaubwürdigkeit. Während beim Rap die Polemik bei Ghetto- und Straßen-Metaphern ansetzt, lautet hier die Frage: Kann einer, der nie in Haft war, Kriminal-Chansonnier sein? Genrekönig Michail Krug, Sergej Nagowizyn – fast keiner der Blatnjak-Sänger hat je gesessen. Krug outete sich dazu sogar einmal: „Warum wollen denn alle diese Parallele ziehen: Er singt Knastlieder, also hat er gesessen – ich hab nicht gesessen!“

    Ein interessanter Fall war die Sängerin Katja Ogonjok, die zu Lebzeiten (sie starb 2007 im Alter von 30 Jahren) behauptete, sie sei zwei Jahre in Haft gewesen. Im Nachhinein dementierte ihr Producer Wladimir Tschernjakow die Legende. Was ist die Logik dahinter? Warum tun die Leute so, als wären sie kriminelle Autoritäten? Für das Show-Business oder aus Sympathie für die Subkultur? Das Phänomen der Glaubwürdigkeit ist in soziokultureller Hinsicht nicht ausreichend erforscht.

    Gefängnis-Underground

    Kehren wir zur Kriminallyrik als Konzept zurück, so zeichnet sich innerhalb des Gefängnisakademismus auch ein Underground ab – im wörtlichen Sinn das, was nicht aus den Zellen dringt, was nicht kommerzialisiert wird: radikale Selfmades, Amateur-Sänger hinter Gittern und Randerscheinungen aller Art. Sucht man auf Youtube nach „Gefängnismusik“ oder „Blatnjak“, erhält man einen Haufen Nonames, mit alten Handys aufgenommene Videos, in denen Alltagsszenen aus dem Häftlingsleben abgespult werden.

    Die Knastepoche: ein langes, glückliches Leben

    Der Knast braucht keinen Harteveld mehr. Das Internet ermöglicht es den Menschen, ungehindert und selbständig für ihre Ideen und Werte einzustehen. Das betrifft auch die Gefängnisfolklore: Das 21. Jahrhundert ist mit seinem Siegeszug der digitalen Technologien zumindest für jene Leute ein Goldschatz, die in strengen Vollzugsanstalten ein schweres Dasein fristen und keine richtige Gelegenheit zur Selbstverwirklichung haben.

    Sieht man auf dem Bildschirm die Gesichtslosigkeit derer, die vom schweren Los des Gaunerlebens singen, und denkt über die Bedeutung der globalen Knastlyrik nach, dann ist man verwirrt und verunsichert: Welche Art von Mitgefühl ist hier angebracht? Und was das russische Chanson angeht: Wird es weiter bestehen? Dieser Frage kann man nur mit Empirie beikommen, mit einfachen Worten: Warten wir mal hundert Jahre – dann wird man sehen. Zu die Bude.


    In dieser Übersetzung wurden Ausschnitte folgender Lieder zitiert:
    Leonid Utjossow Gop so smykom und S odesskogo kitschmana; Irtlatsch Strongilla: Na Bogatjanowskoj otkrylasja piwnaja; Arkadi Sewerny: Nu, ja otkinulsja, kakoj basar-woksal; Michail Gulko: Berjosy und Murka; Jelena Entina: Shol Stolypin; Michail Krug: Hallo, Mama; Alexander Djumin: Mama und Blagoweschtschenski zentral; Viktor Petlura Mama; Iwan Kutschin: Sudba-Slodejka

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  • Murka

    Murka

    Im Kultfilm Mesto wstretschi ismenit nelsja (dt. „Den Treffpunkt darf man nicht ändern“), mit dem berühmten Sänger Wladimir Wyssozki in der Hauptrolle, gibt es eine Szene, die ebenso Kultstatus erreichte: Ein Mitarbeiter des Moskauer Kriminalamtes kommt zu einer Bande und gibt sich als Kleinkrimineller aus, der gerade aus dem Gefängnis entlassen worden sei und eine wichtige Information von einem Insassen zu überbringen habe. Da die Kriminellen befürchten, er könne ein Polizist sein, wird Wolodja Scharapow, so der Name des Kriminalbeamten, von ihnen verhört: Wer er sei, wie er ins Gefängnis geraten sei, was er davor gemacht habe. Als Wolodja sagt, er habe in Restaurants Klavier gespielt, soll er ein Stück zum Besten geben. Er spielt eine Etüde von Chopin. Die Banditen scheinen wenig überzeugt. „Was soll ich denn sonst spielen?“, fragt Wolodja. „Murka!“, kommt es wie aus der Pistole geschossen.

    Murka ist wohl das bekannteste russische Lied, das mit kriminellen Subkulturen und dem sogenannten russischen Chanson verbunden ist. Als Urheber gilt zwar der Dichter Jakow Jadow (1873–1940), das Lied existiert aber in zahlreichen Varianten und gehört eher zum allgemeinen Liedgut. Wenn es auch in Details, Reimen und im Text Unterschiede gibt, bleibt das generelle Sujet des Liedes stets unberührt: Es geht um Liebe, Verrat und Tod.

    Sujetwandel

    Murka ist ein üblicher Name für Katzen, eine Lautmalerei, denn mur-mur machen Katzen auf Russisch. Außerdem ist Murka ein – vielleicht auch wegen des Liedes derzeit eher unüblicher – weiblicher Kosename, abgeleitet von Maria (Mascha, Marusja). 
    In der vermutlich älteren Varianten des Liedes, die der russische Volkskundler und Liedersammler Wladimir Bachtin entdeckt hatte1, war kein Bezug auf die kriminelle Welt vorhanden: Das lyrische Ich, das mit Murka in einer Beziehung war, sieht diese im Restaurant tanzend mit einem Hallodri, lauert ihr dann vor ihrem Haus auf, und erschießt sie: „Du hast mich geliebt, dann hast du mich vergessen / und dafür bekommst die Kugel“, lauten die letzten Zeilen des Liedes.

    Schon seit den 1920er Jahren kursieren aber Versionen, in denen Murka zur kriminellen Autorität einer Bande in der südlichen Hafenstadt Odessa wird. Mal wird ihre Schönheit besungen, mal ihre List und ihr Mut. Einmal gehen die Mitglieder der Bande auf Diebeszug in ein Restaurant, wo sie Murka sehen – mit Agenten des Moskauer Kriminalamtes und mit einer Nagant Pistole – ein Kennzeichen der sowjetische Polizei. Ähnlich wie in der nicht-kriminellen Variante des Liedes wird Murka am Ende umgebracht: „Stumme Stille, nur der Wind heult / Wir fanden eine verborgene Ecke / und haben Murka in ihrer Lederjacke [auch ein Kleidungsstück, das für die Geheimpolizei in der Sowjetunion sehr typisch war – dek] umgebracht … / Der rote Kamm ist aus dem Haar gerutscht“, so eine der Varianten.

    Murka – MUR – Moskauer Kriminalamt

    Berühmt wurde das Lied in dieser kriminellen Variante. Der Name Murka steht hier auch für die russische Abkürzung des Moskauer Kriminalamtes: Moskowski ugolowny rosysk, kurz: MUR.

    Immer wieder werden Versuche unternommen, die „reale Grundlage“ des Liedtextes aufzudecken. In manchen Varianten wird Murka sogar namentlich genannt, nämlich als Marusja (Maria) Klimowa („Murka, Marusja Klimowa, verzeih deinem Geliebten!“). Die Boulevardzeitung Sowerschenno sekretno (dt. „Streng geheim“) veröffentlichte Artikel über die einzige bekannte Maria Klimowa, geb. 1897, die im Moskauer Kriminalamt tätig war und als Kapitän der Miliz beurlaubt wurde.2 Ob sie mit dem Lied etwas zu tun hat, ist allerdings höchst umstritten, und selbst wenn, bleibt Murka eher eine folkloristische als reale Figur, die ein ganz eigenes Leben in der sowjetischen und auch postsowjetischen Kultur entfaltet hat.3

    Obwohl es um Kriminelle und Banditen geht, und das Lied voller Jargonwörter ist, die nicht einmal jeder Muttersprachler kennt, ist der Chanson weit über die Grenzen der kriminellen Subkultur hinaus beliebt. Wladimir Bachtin meint, „die Intelligenzija erlebe seine Ungewöhnlichkeit, Exotik, erlebe es ästhetisch“.

    Da ist nicht nur die Grundlage des Sujets, die manch gebildeten Zuhörer sicher an Carmen erinnert oder an die Gestalt von Katka aus dem revolutionären Poem Zwölf von Alexander Blok.4 Sondern da ist auch die Tango-Melodie, die zur Grundlage auch für viele andere blatnyje Chansons geworden ist, und der Text selbst: einfache, nicht stilisierte Wörter, lebendige Intonationen.

    Zeichen der Zugehörigkeit

    Das Lied wurde dementsprechend nicht nur von „russischen Chansonniers“, wie Grigori Leps und Michail Schufutinski, sondern auch von Schlager- und Popsängern sowie Symphonieorchestern interpretiert. Erhalten geblieben sind ebenfalls Murka-Aufnahmen von Wladimir Wyssozki. Auch Politiker wie Wladimir Shirinowski, Natalja Poklonskaja und, nach eigenen Angaben, Wladimir Putin5 gaben den Chanson zum Besten. Somit ist Murka nicht nur Teil der kriminellen Subkultur, sondern auch der Pop-, und sogar der internationalen Klassikkultur sowie ein Element des politischen Lebens.

    Als Wolodja, der Protagonist des eingangs erwähnten Filmes, Murka auf dem Klavier vorspielt, wird er sofort als ein Krimineller akzeptiert. Im Film führt das Kriminalamt am Tag darauf einen Spezialeinsatz durch, bei dem die gesamte Bande festgenommen wird. In gewisser Hinsicht schließt sich hier der Kreis: Der Kriminalbeamte rächt im Film den im Lied begangenen Mord an einer seiner Kolleginnen. Ob es bei den Darbietungen des Liedes von russischen Politikern um eine Message an die Wählerschaft gehen soll, ist unklar. Wenn ja, kann sie sicher nicht eindeutig interpretiert werden. Einerseits kann es heißen: Wir sprechen dieselbe Sprache wie ihr und gehören zur gleichen Kultur. Andererseits: Passt auf, es geht um einen Sondereinsatz. So oder so, an der Beliebtheit des Liedes ändert es nichts.

     


    1. Bachtin, Wladimir (1997): „Murkina“ istorija, in: Neva, Nr. 4, S. 129 ↩︎
    2. Sovsekretno.ru: Murka iz MURa ↩︎
    3. Das Sujet lag auch der gleichnamigen Serie „Murka“ zugrunde, die 2016/2017 im Ersten Kanal gezeigt wurde. ↩︎
    4. Nikolaeva, T. M.: Russkaja ženščina v gorodskom (blatnom) šansone, in: Fol’klor i postfol’klor: struktura, tipologija semjotika ↩︎
    5. NTV: „Ja že vydajuščijsja muzykant“: Putin rasskazal kak igral „Murku“ ↩︎

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    Russland und der ESC

    2009 richtete Vorjahressieger Russland zum ersten Mal den Eurovision Song Contest aus. Und wie: Zur Eröffnung des ersten Halbfinals trat das international bekannte russische Duo t.A.T.u. mit seinem Hit Not gonna get us auf. Bei der Aufführung war auch das Alexandrow-Ensemble, einer der bedeutendsten und ältesten Soldatenchöre in Russland, dabei. Als Bühnendekoration dienten ein Jagdflieger und ein pinkfarbener, blumengeschmückter Panzer. Hinter der Bühne war eine rote Kremlmauer zu sehen.

    Die Inszenierung verdeutlicht die widersprüchliche Haltung Russlands zu Europa und zum ESC: Einerseits bedient man den Mainstream-Geschmack und die ESC-übliche Sehnsucht nach Glitzer und Glamour. Andererseits folgt Russland seinen eigenen Regeln, gleichzeitig mit dem Anspruch, auch für die anderen Maßstäbe zu setzen. Gerade in Georgien wurde so kurz nach dem Kaukasuskrieg von 2008 der Panzer als Affront aufgefasst und kritisiert.

    Die Ereignisse rund um den ESC 2017 in Kiew – mit dem Einreiseverbot für die russische Sängerin Julia Samoilowa in die Ukraine und drohenden Sanktionen von der European Broadcasting Union (EBU) sowohl für die Ukraine als auch für Russland – warfen eine alte Frage wieder neu auf: Wie politisch ist der ESC?

    Selbst zu Zeiten der Sowjetunion, als Russland noch gar nicht an dem Musikwettbewerb teilnahm und er auch noch nicht übertragen wurde, war der Grand Prix in gewisser Hinsicht politisch – insofern, als das bunte Spektakel als Sinnbild der kapitalistischen Konsumgesellschaft galt.

    Um den Wettbewerb zu verfolgen, mussten die Zuschauerinnen und Zuschauer ausländische Fernsehprogramme empfangen können. Seit 1956, dem Beginn des Grand Prix Eurovision de la Chanson, wie er damals in Deutschland hieß, wurden bis zum Zusammenbruch der UdSSR nur drei Ausnahmen gemacht: 1965 und 1968 konnten die Sowjetbürger den Grand Prix im Fernsehen mitverfolgen, 1987 zeigte die Sendung Melodii i ritmy sarubeshnoi estrady (dt. etwa: Melodien und Rhythmen aus der ausländischen Schlagerwelt) elf der insgesamt 22 Auftritte. 

    Ostblock-Gegenmodell zum Grand Prix

    Als Gegenmodell zum westlichen Vorbild der Eurovision wurde 1977 die Intervision (russ. Interwidenije) gegründet und propagiert. Für das osteuropäische Gegenstück zum Grand Prix griff man auf das bereits bestehende Format des Musikwettbewerbs im polnischen Sopot zurück. Die Lebenszeit der Interwidenije war wiederum aus politischen Gründen nur kurz: Die Streiks der polnischen Gewerkschaft Solidarność im Sommer 1980, die anschließende Niederschlagung samt Verhängung des Kriegsrechts setzten dem Wettbewerb in dieser Form ein Ende. Ab 1984 fand der Wettbewerb wieder in seiner früheren Form als Sopot-Musikfestival statt.1

    Postsowjetisches Nation Branding

    Nach dem Zerfall der UdSSR war der Grand Prix Eurovision de la Chanson für viele mittel- und osteuropäische sowie postsowjetische Länder mit das erste europäische Format, das ihnen offenstand und in das sie sich integrierten. Entsprechend ernst nahmen sie den Wettbewerb. 
    Bevor im Jahr 2004 zehn Länder der EU beitraten, gewann Estland 2001 den Grand Prix, gefolgt von Lettland. Im Jahr 2002 bekam der Wettbewerb auch seinen neuen, englischen Namen: Eurovision Song Contest, kurz ESC.

    Für Estland kam der Sieg 2001 zu einem entscheidenden Zeitpunkt, nämlich während der EU-Beitrittsverhandlungen. Bei der Rückkehr des Siegerduetts Tanel Padar und Dave Benton nach Estland soll der damalige Premier Mart Laar gesagt haben: „Wir haben das russische Imperium singend zu Fall gebracht. Jetzt klopfen wir nicht an die Tür Europas, sondern treten einfach singend ein.“2

    Das russische Nation Branding durch den ESC verlief da wesentlich holpriger. Nach dem Beitritt zur European Broadcasting Union (EBU) nahm die Sängerin Youddiph 1994 zum ersten Mal für Russland am Grand Prix Eurovision de la Chanson teil. In den Folgejahren setzte man auf altbekannte Estrada-Größen – diese Strategie ging jedoch nicht auf: Filipp Kirkorow landete 1995 mit Kolybelnaja dlja Wulkana (dt. Wiegenlied für einen Vulkan) auf Platz 17 von 25. 1997 kam dann Alla Pugatschowa mit dem Lied Primadonna auf Platz 15.

    https://www.youtube.com/watch?v=QVJnjdROPOA

    Drei Mal war die Teilnahme für Russland überhaupt nicht möglich: 1996 konnte sich Russland in einer Grand Prix-internen Qualifizierungsrunde nicht durchsetzen und nahm entsprechend nicht am Finale teil. Aufgrund der auch sonst schlechten Platzierungen konnte Russland, so wollte es die damalige Regelung, 1998 nicht teilnehmen. Der Wettbewerb wurde deswegen nicht im russischen Fernsehen übertragen, was wiederum gegen Eurovisions-Regeln verstieß. So blieb Russland auch 1999 ausgeschlossen.

    Gelungenes Comeback

    Russland vollzog schließlich eine 180-Grad-Wende und ließ fortan nur noch junge Stimmen mit Songs von international renommierten Komponisten und Produzenten antreten. Im Jahr 2000 schaffte die Sängerin Alsou, im Vorfeld erfolgreich als „russische Britney Spears“ lanciert, mit ihrem zweiten Platz für Solo ein gelungenes Comeback.

    Diese Weichenstellung sorgte auch dafür, dass bei mehr und mehr jungen Menschen Interesse geweckt wurde: Der Wettbewerb avancierte auch in Russland zum generationenübergreifenden Familienprogramm.

    https://www.youtube.com/watch?v=nz_JyKIey-8

    Russland wollte es jetzt wirklich wissen. 2003 trat das damals auch im Westen bekannte russische Duo t.A.T.u. mit dem Lied Ne wer, ne boisja, ne prosi (dt. Glaube nicht, fürchte dich nicht, bitte nicht) an. Auf den T-Shirts der beiden Sängerinnen war die Nummer 1 zu sehen. Standen Julia Wolkowa und Jelena Katina nebeneinander, bildeten sie ihre Startnummer, die 11. Einzeln genommen drückten die T-Shirts den russischen Siegeswillen aus. Am Ende des Abends landete t.A.T.u. auf Platz drei.

    Beachtliche(r) Bilan(z)

    2006 war Dima Bilan noch enttäuscht, dass er trotz seiner Favoritenrolle nicht mit dem Sieg belohnt wurde und nur auf Platz zwei landete. Für Bilans zweiten Versuch 2008 wurden keine Kosten und Mühen gescheut. Bei seinem Auftritt mit dem Lied Believe stand ihm der ungarische Geiger Edvin Marton mit einer Stradivari zur Seite, während Jewgeni Pljuschtschenko, Olympiasieger im Eiskunstlauf, auf einer künstlichen Bahn Pirouetten drehte. Der finanzielle Aufwand wurde mit dem ersten Sieg für Russland belohnt.

    2009 bei der Austragung des ESC in Moskau wurde in ähnlichem Maßstab geklotzt. Für die Bühne wurde ein Drittel der damals europaweit vorhandenen LED-Bildschirme verbaut. Für 40 Millionen Dollar lieferte Moskau den bis dahin teuersten ESC.3

    Ein Sieg, vier Mal zweiter und drei Mal dritter Platz – bei insgesamt 20 Teilnahmen hat Russland inzwischen eine durchaus beachtliche Bilanz vorzuweisen. 

    https://www.youtube.com/watch?v=-72s4WzUcKI

    Zuschauer beim „schwulen ESC“

    Im postsowjetischen Russland war und ist der ESC ein populäres Fernsehformat, das in der Regel von den Sendern Erster Kanal und Rossija 1 übertragen wird. 2016 verzeichnete Rossija 1 für das Finale 5,5 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer, eine Quote von 8,1 Prozent, ein Fünfjahreshoch.4 In der Wahrnehmung des Wettbewerbs in Russland und in Europa sind aber eklatante Unterschiede festzustellen.

    Der ESC wird seit Jahrzehnten in vielen westlichen Teilnehmerländern von LGBT-Vereinigungen auch und gerade als ihr Fest betrachtet. Die Extravaganz der Kostüme ist zuweilen so bunt und ausgefallen wie die Paraden am Christopher-Street-Day. In Russland verhält es sich anders. Während des ESC in Moskau 2009 wurden LGBT-Aktivisten drangsaliert,5 die sich während des ESC öffentlich für ihre Belange einsetzten.

    Beim Sieg der österreichischen Conchita Wurst 2014 wurde im Fernsehen das bekannte Denk- und Sprachmuster vom „verfaulten Westen“ bemüht.6 Interessanterweise wich die Bewertung der russischen Jury, die Österreich den elften Platz zuwies, deutlich vom Votum des Publikums ab, das Conchita auf Platz drei sah. Letztlich vergab Russland fünf Punkte an Österreich.7 Von offizieller Seite gab es Überlegungen, bei dieser dekadenten Veranstaltung erst gar nicht mehr anzutreten. Schon älter ist der Vorschlag, stattdessen das alte Intervision-Format neu zu beleben.8

    Russland und die Ukraine

    Nicht angetreten ist Russland jedoch erst 2017. Der Sender Erster Kanal kürte die Sängerin Julia Samoilowa zur Kandidatin. Aufgrund ihrer Auftritte auf der russisch annektierten Krim, durfte sie aber nach ukrainischer Gesetzgebung nicht nach Kiew reisen. Das Angebot, Samoilowa per Satellit zuzuschalten, lehnte Russland kategorisch ab. Die Nominierung Samoilowas wirkte kalkuliert: Die Entscheidung für sie wurde, wie es seit 2013 Praxis ist, intern im verantwortlichen Fernsehkanal gefällt, man verzichtete auf ein Zuschauer-Voting. Die EBU hatte für den politischen Schlagabtausch auf Kosten des ESC Sanktionen sowohl gegen Russland als auch gegen die Ukraine angemahnt. 
    2018 schickte Russland, wie im Vorjahr angekündigt, erneut Julia Samoilowa als Kandidatin ins Rennen. In Lissabon konnte sie mit ihrem englisch gesungenen I Won’t Break aber nicht überzeugen und schied im ESC-Halbfinale aus.

    Das spätestens seit der Orangenen Revolution 2005 angespannte Verhältnis Russlands zur Ukraine wirkte sich auf den ESC allerdings auch schon früher aus. So machte sich die Ukrainerin Anastasija Prichodko, die 2009 für Russland ihr Lied Mama/Mamo auf Russisch und Ukrainisch sang, beim russischen Publikum mit nationalistisch-ukrainischen Äußerungen unbeliebt.

    https://www.youtube.com/watch?v=fqQwapIxP3U

    Der ESC-Sieg der Ukraine 2016 wurde in Russland gleich doppelt kritisch aufgenommen. Schon vor dem Wettbewerb hatte Russland gegen Djamalas Lied 1944 bei der EBU protestiert. In dem Lied geht es um die Deportation der Krimtataren von der Krim im Großen Vaterländischen Krieg, der Liedtext kann aber als Anspielung auf die Krimannexion 2014 verstanden werden.9 Es verstoße gegen die Regeln, da es politisch sei. Die EBU lehnte den Einspruch ab, das Lied enthalte keine politische Botschaft. Wenige Tage nach dem Finale wurden Details über das Abstimmungsverhalten bekanntgegeben und in Russland war man wieder verärgert. Das europäische Publikum hatte den russischen Sänger Sergej Lasarew auf Platz eins gewählt. Weil aber die Expertenjurys den Beitrag wesentlich schlechter bewerteten, landete Russland schließlich hinter der Ukraine und Australien auf Platz drei. 

    Wie politisch ist also der ESC? Er verbietet in seinen Regeln explizit politische Äußerungen. Allerdings: Ob offensichtlich oder gefühlt bis eingebildet – politische Überlegungen spielen immer eine Rolle. Politisch ist manchmal auch die Reaktion des internationalen Publikums. So wurden die russischen Tolmatschowa-Zwillingsschwestern beim ESC 2014 in Kopenhagen ausgebuht – was nichts mit ihrem Gesang, aber viel mit der öffentlichen Ablehnung der russischen Annexion der Krim wenige Monate zuvor zu tun hatte. 


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