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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Playlist: Best of Protest

    Playlist: Best of Protest

    Die politischen Freiräume werden fortschreitend eingeschränkt, aber kritische Stimmen gibt es weiterhin und immer wieder auch Protest. Dieser wird nicht selten von Musik begleitet, aber auch von ihr angetrieben. Jekaterina Lobanowskaja hat für 7×7 reingehört und die besten Protestsongs des Jahres gekürt.  

    Noize MC – 26.04

    Zum 34. Jahrestag der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl veröffentlicht Noize MC das Musikvideo 26.04. Iwan Alexejew vergleicht darin die Geschehnisse von 1986 mit der ersten Welle der Coronavirus-Pandemie. Dem Musiker zufolge verhielten sich die Menschen im April 2020 genauso wie vor 34 Jahren: Sie bestritten die Gefahr des Virus, folgten nicht den Empfehlungen der Ärzte und trafen sich, als die Pandemie ihren Höhepunkt erreichte, mit Freunden und Verwandten zum traditionellen Schaschlik.

    Der Musiker versprach, den gesamten Erlös aus der Veröffentlichung der Single 26.04. an den gemeinnützigen Verein zur Unterstützung des medizinischen Personals WBlagodarnost zu spenden.

    Max Korsh – Teplo

    Die Single Teplo (dt. Wärme) wird einen Tag vor der Präsidentschaftswahl in Belarus veröffentlicht. Sie erzählt das Märchen von einem Weisen, der den Menschen die Sonne wegnahm und dafür Ordnung schuf, aber es zeigte sich, dass die Leute zwar nicht viel Wärme brauchen, wohl aber Sonnenauf- und -untergänge, um „Kraft zu schöpfen und zu träumen“.

    Nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse [Anfang August 2020 – dek] und den ersten Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften postete Korsh auf Instagram einen Beitrag, in dem er die Menschen dazu aufrief, damit aufzuhören – wofür man ihn in den sozialen Netzwerken kritisierte. Der Musiker äußerte sich im Weiteren nicht mehr zu den Protesten, kam jedoch am 15. August ins Minsker Untersuchungsgefängnis Okrestina, um die bei den Protestaktionen inhaftierten Demonstranten zu unterstützen.

    Kasta – Wychodi guljat

    Ein weiteres Musikvideo über die Ereignisse in BelarusWychodi guljat (dt. Komm mit spazieren) – bringt die Band Kasta im November 2020 heraus. Es zeigt einen Sicherheitsbeamten, der nach seiner Schicht nach Hause kommt und am Esstisch Blut an seinen Händen bemerkt, das sich nicht abwaschen lässt. Diese Szenen wechseln sich mit Aufnahmen ab, die zeigen, wie Menschen hinter den verschlossenen Türen der Justizbehörden misshandelt werden.

    Schyma, ein Mitglied der Gruppe, berichtete in einem Interview mit Afisha, dass der zugrundeliegende Song Wychodi guljat bereits 2019 veröffentlicht wurde. Inspiriert wurden die Musiker dazu ursprünglich durch die Massenproteste in Russland, angefangen mit den Kundgebungen auf dem Bolotnaja-Platz im Jahr 2010. Lange Zeit konnte sich die Band nicht auf einen Inhalt für das Video festlegen. Die Idee kam dann infolge der Proteste in Belarus. Übrigens fanden am Tag der Veröffentlichung des Videos, am 15. November, in Belarus Kundgebungen unter dem Slogan „Ja wychoshu“ (dt. „Ich gehe raus“) statt. Es war der letzte Satz, den der Belarusse Roman Bondarenko schrieb, bevor er von Unbekannten in Zivil im Hof ​​seines Hauses zusammengeschlagen wurde und daraufhin seinen Verletzungen erlag.

    Pornofilmy – Album Eto proidjot

    Im Februar 2020 präsentiert die Punkband Pornofilmy (dt. Pornofilme) das Album Eto proidjot (dt. Es geht vorbei), auf dem mindestens vier Titel auf politische Ereignisse und soziale Tendenzen im modernen Russland Bezug nehmen. 

    A nas dogonit ljubow (dt. Die Liebe wird uns einholen) ist die Geschichte eines Moskauer Soldaten der Russischen Nationalgarde, der sich in ein Mädchen verliebt, das im Gefängnis sitzt – weil es bei einer Kundgebung einen Plastikbecher nach ihm geworfen hatte. In dem Song Djadja Wolodja (dt. Onkel Wolodja, Koseform von Wladimir (Vorname Putins) – dek) geht es um einen Nachbarn, einen KGB-Oberst, der ordentlich die Daumenschrauben anzieht. Tschushoje gore (dt. Fremdes Leid) handelt davon, dass das, was im Land passiert, das Ergebnis des Schweigens und der Untätigkeit der großen Mehrheit ist. 

    Der zentrale Song des Albums ist der gleichnamige Titel Eto proidjot (dt. Es geht vorbei). Das Lied, das während der Moskauer Kundgebungen 2019 veröffentlicht worden war, wurde zur Protesthymne. So sangen Angehörige der Angeklagten und Aktivisten, die die Beschuldigten im Fall Seti (dt. Netzwerk) unterstützten, Es geht vorbei vor dem Gerichtsgebäude und den Mauern des Untersuchungsgefängnisses, in dem die Angeklagten festgehalten wurden. 

    Der Musikproduzent und -agent Oleg Rubzow über den Song:

    „Ich mag die Band Pornofilmy überhaupt nicht, und ich könnte am Text des Songs sowohl ideologisch als auch ästhetisch einiges beanstanden, aber meiner Meinung nach entfaltete er dank der Verweise auf den Fall Seti eine enorme Wirkung. Und im Laufe des Prozesses wurde er immer wieder mit neuen Bedeutungen gefüllt. Ihn unter den Fenstern der behördlichen Einrichtungen zu spielen, wurde zu einem festen Ritual, er verfolgte buchstäblich die Akteure und Beteiligten des Prozesses und wurde bei den Sitzungen zu einem ähnlich unverzichtbaren Attribut wie die richterliche Robe oder die Worte ‚Bitte erheben Sie sich …‘. Eine solche gegenseitige Durchdringung und Beeinflussung von Realität und künstlerischem Ausdruck ist der Traum eines jeden Künstlers, der gesellschaftlich etwas bewirken will“, so der von 7×7 befragte Experte.

    Ne neshnaja – Orgasm

    Tatjana Mingalimowa, Autorin und Moderatorin des YouTube-Kanals Neshny redaktor, veröffentlicht am 24. November 2020 das Musikvideo Orgasm (dt. Orgasmus), in dem sie den Feminismus, die Rollenerwartungen an Frauen und das Selbstvertrauen besingt. Die Journalistin schrieb in ihrem Instagram-Account, sie habe davon geträumt, einen Titel zu machen, bei dem „sich Mädchen aufrichten und ihre innere Stärke spüren“. Ihrer Meinung nach wird den Mädchen schon in der Kindheit keine Selbstliebe eingeimpft, und daher rührt die Unsicherheit, die zu destruktiven Beziehungen, Abhängigkeiten und psychischen Traumata führt.

    Shortparis – KoKoKo/Struktury ne wychodjat na ulizy

    Das Musikvideo zu diesem Song veröffentlicht die Band Shortparis im September 2020. Die Musiker inszenieren darin Hahnenkämpfe, tanzen auf Ladentheken und hängen in der Schlachterei an Fleischerhaken. Viele dachten, das Video spiele auf die Ereignisse in Belarus an. Doch die Musiker wiesen diese Vermutungen in einem Interview mit der Zeitschrift Meduza zurück.

    „Der Text des Liedes und das Skript zum Video entstanden in den ersten Monaten der Quarantäne und beruhen natürlich auf den Besonderheiten unseres Landes. Doch die weltpolitische Realität lieferte in Windeseile Ereignisse, die es fast unmöglich machten, keine Analogien zu ziehen. Wir sind der Meinung, dass die Darstellung aktueller Geschehnisse ein banales, verbotenes Verfahren ist, das in eine Sackgasse führt. Es vereinfacht das Denken und macht die Musik zu einem Diener der Gesellschaft, deshalb können wir nur müde mit den Schultern zucken, nachdem es zum dritten Mal in unseren Videoarbeiten Überschneidungen mit gesellschaftlichen Ereignissen gibt“, so die Künstler von Shortparis.

    DDT – 2020

    Die Band DDT zieht dagegen eine Bilanz für das Jahr 2020. In ihrem Song 2020 erinnern sich die Musiker an die Pandemie, die Isolation und daran, wie schwierig das vergangene Jahr mit all seinen Verwundungen und Verlusten war. Und obwohl „die Welt sich verändert hat und eine andere geworden ist“, lässt die jüngste Geschichte auf Besserung hoffen. Im Interview mit dem Korrespondenten von Nasche Radio sagte Juri Schewtschuk, es gehe in diesem Lied um Optimismus.

    Original: 7×7
    Übersetzerin: Henriette Reisner
    erschienen am 15.01.2021

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  • 3. Advent: Stille Nacht mit Cream Soda

    3. Advent: Stille Nacht mit Cream Soda

    Advent, Advent auf dekoder: Jeden Adventssonntag zünden wir hier zwar kein Kerzchen an, aber Gnosenautoren und Klubmitglieder geben ausgesuchte Geschenk-, Lese- oder einfach Kulturtipps. Zum dritten Advent empfiehlt die Slawistin Olga Caspers ihren musikalischen Favoriten 2020. … und stellt eine neue Ästhetik vor, die derzeit die russische Jugendkultur prägt.

    Allen, die für die Feiertage nach einer Alternative zu Stille Nacht & Co. suchen, möchte ich die russische Band Cream Soda empfehlen. In der Pandemiezeit wirken ihre stimmungsvollen Musikvideos sehr inspirierend. 

    Das bekannteste von ihnen – Platschu na techno (dt. Ich weine auf einer Technoparty) – ist mitten im Lockdown erschienen. Es zeigt Raver in Moskau, die in Selbstisolation auf Balkonen exzessive Partys feiern – im Drag Queen- und Voguing-Style. Das Video ging viral (40 Millionen Aufrufe) und rief zahlreiche Flashmobs hervor, die Balkon-Raves auf der Datscha oder in Plattenbauten zelebrierten. 

    Nahezu prophetisch kamen Cream Soda daher, als sie bereits neun Monate vor der Pandemie gesagt hatten, dass die Zeit der Partys vorbei sei: Das Motiv verbotener Partys prägte ihr Video Nikakich bolsche wetscherinok (dt. Keine Partys mehr). Versteckt im Wald schmissen darin vier Männer eine queere Party, auf der sie in Seide, Glitzer und Feder gekleidet tanzten.  

    Tipp: Über „Einstellungen“ werden in diesem Video ganz passable englische Untertitel angezeigt

    Hinter den Videos steht Alexander Gudkow: Showman, Moderator und Drehbuchautor. Durch seine zahlreichen extravaganten Medienauftritte avancierte der Macher einiger sehr bekannter Fernsehshows zu der prägenden Figur der neuen russischen Popkultur. Seine Kreationen schöpfen ihren Unterhaltungswert aus der Synthese der queeren Ästhetik, Selbstironie und Nostalgie der 1990er Jahre. In Platschu na techno tritt Gudkow in seiner provokanten Manier neben den Drag-Queens und Voguing Tänzern in einem Eiskunstläuferin-Kostüm auf. Wie in vielen seiner Videos, spielt Gudkow auch in Nikakich bolsche wetscherinok mit.

    Gudkows Kreationen schöpfen ihren Unterhaltungswert aus der queeren Ästhetik und Nostalgie der 1990er Jahre / Foto © Screenshot aus dem Video Nikakich bolsche wetscherinok/Alexander Gudkow, Youtube
    Gudkows Kreationen schöpfen ihren Unterhaltungswert aus der queeren Ästhetik und Nostalgie der 1990er Jahre / Foto © Screenshot aus dem Video Nikakich bolsche wetscherinok/Alexander Gudkow, Youtube

    Platschu na techno ist die gleichnamige Coverversion eines Songs der Band Chleb (dt. Brot) und greift so  vorsichtig das Thema der Grenzen der Autorenrechte in der Zeit des Internets und digitaler Technologien auf. Dieser Umgang mit fremden Kompositionen gilt neben der Neuen Aufrichtigkeit und Selbstironie als die wichtigste Komponente der neuen – von Gudkow propagierten – Ästhetik. 

    Das Video korrespondiert mit dem Interview, das Juri Dud im November 2020 mit einem anderen bekannten Showman – dem derzeit erfolgreichsten Rapper Russlands – gemacht hat: Morgenshtern. Es sorgte ebenfalls für viel Resonanz (rund 21 Millionen Aufrufe), vor allem weil der Musiker darin zugespitzt die wichtigsten Aspekte der jugendlichen Popkultur verdeutlichte. 

    In diesem Stil ist auch das dritte Musikvideo von Cream Soda gedreht: Serdze led (dt. Eisherz), es kam im Juli raus. Auf dem Höhepunkt der Verbreitung von pandemischen Verschwörungsmythen macht es allgemeine Ängste zum Thema: Die Moskauer Untergrundwelt ist von menschenähnlichen Reptiloiden bewohnt, die ausgiebig feiern und sich vermehren, um später die Welt zu erobern.  

    Diese drei Musikvideos bilden zusammen einen visuellen Hypertext, der ironisch mit den Ereignissen des Pandemie-Jahres umgeht. Neben Unterhaltung und guter Tanzmusik bildet er aber auch die wichtigsten Tendenzen der aktuellen russischen Popkultur ab. Die Videos bieten sich außerdem gut an, um sich entweder auf ein schmales Festprogramm einzustimmen oder einen Balkon-Rave zu veranstalten, ohne gegen die Corona-Regeln zu verstoßen.


    Olga Caspers ist promovierte Slawistin und Dozentin an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zu ihren Forschungsinteressen und Arbeitsschwerpunkten gehören inter- und transkulturelle Medienanalyse, moderne russische Kultur (insbesondere Pop-Kultur) und Fashion Studies.

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  • Viktor Zoi

    Viktor Zoi

    Als am 6. August 2020, kurz vor der Präsidentschaftswahl in Belarus, hunderte Einwohner von Minsk – Familien, Alte und Jugendliche – zu dem Platz kamen, auf dem ein staatlich organisiertes Familienfest stattfand, geschah plötzlich etwas Außergewöhnliches: Ein bekanntes, unverwechselbares Gitarrenriff dröhnte aus den Boxen, viele Menschen streckten die Fäuste gen Himmel und spätestens beim Refrain stimmten fast alle auf dem Platz mit ein: „Peremen, my shdjom peremen“ („Wandel, wir warten auf den Wandel!“). Die Besucher der Veranstaltung waren hauptsächlich Anhänger der Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja, die sonst keinen Platz für eine geplante Kundgebung erhalten haben: All die wenigen Plätze, die in Minsk für politische Aktionen vorgesehen sind, wurden von ähnlichen staatlich organisierten Veranstaltungen besetzt. Die beiden DJs des Familienfestes drückten ihre Solidarität mit den Anhängern Tichanowskajas aus, indem sie dieses Lied auflegten: Chotschu peremen (dt. Ich will den Wandel) von Kino stammt aus dem Jahr 1986 und gilt vielfach als Hymne der Perestroika. Und Viktor Zoi, Sänger der Kultband, galt schon damals als Idol der sowjetischen Jugend. Nachdem er am 15. August 1990 durch einen Verkehrsunfall ums Leben gekommen war, nahmen sich Dutzende Jugendliche das Leben. Sein früher Tod leistete der Legendenbildung Vorschub: Bis heute hält sich um den Sänger ein Erinnerungskult, der von Jugendgeneration zu Jugendgeneration weitergegeben wird. Und seine Lieder sind mehr als nur ein Denkmal ihrer Zeit. Sie sind zum Symbol politischer Veränderungen im postsowjetischen Raum geworden. Die beiden DJs, die das Lied in Minsk im Vorfeld der Präsidentschaftswahl abspielten, wurden jeweils zu zehn Tagen Haft verurteilt.

    Heute lassen sich die Lieder Zois als akustisches Symbol für eine Zeit hören, in der Veränderungen möglich schienen. Das gilt vor allem für sein Lied Chotschu peremen, das 1986 im Leningrader Rock-Klubmit seiner Wut wie eine Bombe“ (Olga Caspers) einschlug. Zwar gibt es vereinzelte Stimmen, die die Bedeutung Zois eher in seiner Beschreibung des Kriegs „als dem natürlichen Zustand der Menschheit“ (Iwan Martynenko) sehen. Dazu passt, dass Zoi als Jugendlicher Bruce Lee bewunderte und asiatischen Kampfsport betrieb. Doch nichtsdestoweniger gilt auch für Popmusik die Feststellung, dass ihre Bedeutung vor allem darin liegt, wie sie vom Publikum wahrgenommen wird – und nicht so sehr darin, was sie vielleicht aussagen wollte. Daher nimmt das Lied Chotschu peremen im überschaubaren, gut 100 Lieder umfassenden Schaffen von Zoi eine Sonderstellung ein. Im übrigen gibt es einige andere Lieder, die aus diesem Themenbecken schöpfen.  

    Generation der Straßenfeger und Wächter

    Viktor Zoi wurde am 21. Juni 1962 in Leningrad als Sohn eines koreanischstämmigen Ingenieurs und einer russischen Sportlehrerin geboren. Künstlerisch inspirierten ihn englische Bands wie die Beatles und die Rolling Stones, aber auch sowjetische Sänger und Schauspieler wie Michail Bojarski und Wladimir Wyssozki. Bereits als Jugendlicher spielte Zoi in einer Schülerband, etwas später auch in einer der ersten sowjetischen Punk-Bands mit. Seine Schullaufbahn verlief entsprechend den Bedingungen im Sowjetstaat: Aufgrund eines Konflikts mit einem Lehrer über die Geschichte der Kommunistischen Partei musste Zoi die Schule verlassen und den Beruf eines Holzschnitzers erlernen. Später übte Zoi lange Jahre den Beruf eines Heizers aus, selbst als er bereits ein Star in der Sowjetunion war. Wie viele andere Rockmusiker der „Generation der Straßenfeger und Wächter“, wie sie Grebenschtschikow in einem Lied nannte, konnte er unter den Bedingungen des Kommunismus von seiner Kunst nicht leben. 

    Das erste Konzert mit einer neugegründeten Band spielte Viktor Zoi im Sommer 1981 auf der Krim. Im Winter 1981/82 erhielt seine neue Gruppe den Namen Kino, den sie bis zu Zois Tod und der darauf folgenden Auflösung der Gruppe behielt. Kino wurde Teil des legendären Leningrader Rock-Klubs, in dem die Gruppe 1982 ihr erstes Konzert gab. Bei diesem spielte unter anderem Boris Grebenschtschikow mit, der mit seiner Gruppe Aquarium vermutlich wichtigste Protagonist der alternativen Pop- und Rockmusik

    Ausdruck der sowjetischen Jugend

    In dieser Zeit nahm Zoi mit Kino sein erstes Kassettenalbum auf. Es erhielt den Titel 45, weil es genau 45 Minuten lang war. Grebenschtschikow und Musiker von Aquarium beteiligten sich an diesem Album. In den Liedern von 45 drückte Zoi ganz unmittelbar und neuartig das Empfinden sowjetischer Jugendlicher aus. Das Stück Elektritschka lässt sich zum Beispiel als Metapher auf den Sowjetkommunismus lesen und ironisiert dabei die eng mit dem Glauben an den technischen Fortschritt verknüpften ideologischen Schablonen des Sowjetkommunismus: „Die Elektritschka bringt dich dorthin, wo du gar nicht hin möchtest.“  

    Aber auch alltägliche, die Langeweile und zeitweilige Trostlosigkeit der Jugend widerspiegelnde Situationen werden auf dem Album beschrieben: 

    [bilingbox]Du gehst allein die Straße entlang.  
    Du gehst zu irgendeinem von deinen Freunden.  
    Ohne Grund besuchst du jemanden  
    und fragst nach Neuigkeiten.
    Du willst einfach nur wissen, wo und was gerade so los ist. ~~~Идешь по улице один.
    Идешь к кому-то из друзей.
    Заходишь в гости без причин
    И просишь свежих новостей.[/bilingbox]

    Langeweile und Ziellosigkeit – das waren Kategorien, die im hergebrachten sowjetischen Unterhaltungsgenre Estrada bis dahin keinen Platz hatten.

    Auch wenn die musikalische Qualität des mit einfachen Mitteln aufgenommenen Albums etwas zu wünschen übrig lässt: Die Einfachheit der Aufnahme macht ihren Charme und ihre Unmittelbarkeit aus. 45 ist eines der ersten sowjetischen Alben, auf dem ein Drum-Computer eingesetzt wurde, und zwar aus reiner Not: für die Aufnahmen fehlte ein Schlagzeuger. In der Folge wurde die Nutzung des Drum-Computers stilbildend für die Gruppe und machte den besonderen Klang der Band aus, der zwischen Punk, New Wave, Rock’n’Roll und Synthie-Pop schwankt. Prägend für die Songs von Kino war zudem der ganz eigene Charakter des Gesangs von Viktor Zoi, der zugleich melancholisch und klar war.   

    Auf dem Höhepunkt der Popularität 

    Die Lieder der Gruppe wurden in der Mitte der 1980er Jahre immer politischer: Beim zweiten Leningrader Rock-Festival 1984 spielte die Gruppe das Antikriegslied Ja objawljaju swoi dom mit der Textzeile „Ich erkläre mein Haus zur atomfreien Zone“. Damit gewann Kino den Preis des Rock-Klubs. 

    Die Perestroika-Politik der zweiten Hälfte der 1980er Jahre ermöglichte Zoi, sein Schaffen nun auch einer breiteren Öffentlichkeit zu präsentieren: An seinem Album Natschalnik Kamtschatki (dt. Der Kommandeur von Kamtschatka) wirkte erneut Boris Grebenschtschikow mit. Die Lieder wurden politischer, die Texte aber auch komplexer. Die Lieder besangen das einsame Individuum – eine neue Note im sowjetischen Zusammenhang. Rasch erschienen weitere Alben mit Hits wie Mama – anarchija (dt. Mama ist die Anarchie). 

    Viktor Zoi, Sänger der Band Kino, galt schon vor seinem frühen Tod als Symbol der sowjetischen Jugend / Foto © Galina Kmit / Sputnik
    Viktor Zoi, Sänger der Band Kino, galt schon vor seinem frühen Tod als Symbol der sowjetischen Jugend / Foto © Galina Kmit / Sputnik

    Zoi beschränkte sich nicht auf die Musik. Als Schauspieler wirkte er 1988 unter anderem an den Filmen Assa von Sergei Solowjow und Igla (dt. Die Nadel) von Raschid Nugmanow mit. Teil des Soundtracks von Assa war das Lied Chotschu peremen. Der Film Igla und das ebenfalls 1988 erschienene Album Gruppa krowi (dt. Blutgruppe), das auch im Ausland auf den Markt kam, erzeugten in der Sowjetunion eine regelrechte Kinomanie. Die Band trat nun auch in Ländern des Westens auf, in Dänemark, Frankreich und Italien. 

    Die Auftritte der Gruppe wurden immer größer – Viktor Zoi war zum Star geworden. Am 24. Juni 1990 gaben Kino im Moskauer Stadion Lushniki vor 62.000 Zuschauern ihr bis dahin größtes und zugleich letztes Konzert. Im Anschluss an diesen Triumph machte sich Zoi mit dem Gitarristen Juri Kasparjan auf einer Datscha bei Jurmala (Lettland) an die Arbeit an einem neuen Album. 

    Früher Tod und Legendenbildung

    Am 15. August 1990 kam Viktor Zoi bei einem Autounfall in der Nähe des lettischen Tukums mit nur 28 Jahren ums Leben. Der Unfall bildete unter anderem auch den Anlass für Verschwörungstheorien: Noch heute gibt es Gerüchte, Zoi sei nicht verunglückt, sondern ermordet worden – eine angesichts anderer Operationen östlicher Geheimdienste nicht unwahrscheinlich anmutende Version des Todes. Zur Legende gehört auch die Erzählung, das Band mit der Aufnahme des Gesangs von Zoi habe den Unfall unversehrt überstanden, obgleich das Auto ansonsten völlig zerstört gewesen sei. Der Gitarrist Juri Kasparjan korrigierte diesen Mythos jedoch bereits 2002 in einem Interview.3 Postum erschien das Tschorny Albom (dt. Schwarzes Album), dessen Gesangsspur Zoi bereits eingesungen hatte. 

    Vielleicht stimmt die Auffassung, gerade der frühe Tod Zois habe bewirkt, dass der Sänger nachhaltig zur Legende wurde – Viktor Zoi also gleichsam als russischer James Dean. Andrej Tropillo, der als Toningenieur unter anderem das erste Album von Kino aufgenommen hatte, meinte im Nachhinein, Zoi sei gerade „rechtzeitig“ gestorben: Der Zenit seines Schaffens sei bereits überschritten gewesen, die letzten Alben seien künstlerisch bereits schwächer geraten als die ersten.4 Ganz gleich, ob diese etwas zynisch anmutende Sicht der Wirklichkeit nahekommt, in einem Punkt hat Tropillo zweifellos recht: Die Legendenbildung um Zoi hat der frühe Tod des Sängers erst ermöglicht. 

    Erinnerungskult

    Noch heute wird Zoi in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion nahezu kultisch verehrt. Symbolhaft steht er für die Zeit der Perestroika, in der Veränderungen nicht nur wünschenswert, sondern auch – anders als vielleicht heute – möglich schienen. Das Gedenken trägt besondere Züge, und es hält bis heute an: Der Regisseur Kirill Serebrennikow verarbeitete das Leben Zois 2018 in dem biographischen Spielfilm Leto (dt. Sommer), der mit einem Europäischen Filmpreis gewürdigt wurde. Die Preisübergabe in Cannes konnte allerdings nicht stattfinden, weil sich Serebrennikow damals in Moskau in Hausarrest befand. 

    Auf dem Moskauer Arbat etwa gibt es eine inoffizielle Zoi-Gedenkmauer mit Graffitis, die an den Sänger erinnern. Auch in anderen Städten der früheren Sowjetunion sind ähnliche Mauern zu finden. Den Status eines Naturdenkmals erhielt im Februar 2020 eine Zoi-Trauerweide in Kiew. Am Unfallort selbst, aber auch an anderen Plätzen in den Ländern der früheren Sowjetunion, erinnern Denkmale an Viktor Zoi, den sein Tod gleichsam unsterblich machte.


    1. Zvezda po imeni Viktor Zoj: Interv’ju s Juriem Kasparjanom, in: Tinejdžer, № 54, 21. bis 27. Juni 2002 ↩︎
    2. topdialog.ru: «Vovremja ujti — eto pravil’no. Russkij narod očen‘ ljubit mertwecov»: Andrej Tropillo o Viktore Coe ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Wladimir Wyssozki

    Wladimir Wyssozki

    Gegen Ende Juli 1980 hatten sich die meisten MoskauerInnen aus der Stadt auf die Datscha geflüchtet: In den Sportstätten fanden die Olympischen Spiele statt, die zwar von vielen westlichen Staaten wegen des Afghanistan-Kriegs boykottiert wurden, aber dennoch BesucherInnen aus aller Welt anzogen. Doch als am 26. Juli in zwei Zeitungen auf der letzten Seite in der untersten Ecke die wenige Zeilen umfassende Meldung vom Tod des „Theaterschauspielers“ (russ. artista teatra) Wladimir Wyssozki erschien, wussten bereits fast alle auf den Datschen um Moskau und auch in weit entlegeneren Winkeln der Sowjetunion vom Tod des Dichters, Sängers, Schauspielers:
    „Das Ministerium für Kultur der UdSSR, das Staatskino der UdSSR … geben bekannt, dass …“ der am 25. Januar 1938 in Moskau geborene Wyssozki am 25. Juli 1980 mit genau zweiundvierzigeinhalb Jahren „plötzlich verstorben ist“. 
    Ohne genaue Angabe in irgendeiner Zeitung, ohne ein Wort in Radio und Fernsehen, Jahre vor jeglicher Internet-Kommunikation erfuhren die MoskauerInnen dennoch irgendwie von Ort und Zeit seines Begräbnisses: Hunderttausende SowjetbürgerInnen aller Altersklassen erwiesen ihrem geliebten Helden bei der Beerdigung am 28. Juli 1980 die letzte Ehre. Ältere Leute merkten an, dass seit dem Tod Stalins im März 1953 zum ersten Mal wieder auf den Straßen geweint wurde. 
    Wer war dieser Wyssozki, dessen Ruhm an diesem Tag erst richtig begann?

    Vom Schreier von Gaunerliedern zum genialen Sänger

    Als Wyssozki Ende Juli 1980 starb, galt er in vielen sowjetischen intellektuellen Kreisen als ein etwas ungehobelter Schreier von Gaunerliedern oder als ein Sänger von Schlagern in sowjetischen Filmen. Andere hielten ihn für einen durchschnittlich begabten Filmschauspieler, für einen umschwärmten Frauenheld, oder einen Alkoholiker, der an irgendeinem Moskauer Theater sein Brot verdiente.
    Seine krächzende Stimme kannte man vor allem von Liedern, welche die Vaterlandsverteidigung des Weltkriegs verklärten. Mehrere Artikel in Provinzblättern hatten ihm seit den späten 1960er außerdem den Ruf eines Rowdys (russ. chuligan, von engl. hooligan) eingebracht, dessen Lieder im Gaunermilieu spielen und dazu noch das Vaterland mit sowjetkritischen Anspielungen in Verruf bringen. So kam es, dass zum Zeitpunkt seines Todes gerade einmal ein (!) Gedicht in einer zentralen Publikation erschienen war (im Sammelband zum „Tag der Dichtung“, 1975). Und auf den wenigen 45t-Singles der Monopol-Firma Melodija konnte man einen Wyssozki hören, der begleitet von einem braven sowjetischen Variété-Orchester harmlose Scherzlieder oder Soldatenlyrik von sich gab.
    Seine übrigen Texte wurden bis dahin jedoch lediglich in Eigeninitiative von Hand zu Hand gereicht und seine Lieder in den Wohnungen, Hinterhöfen und in der freien Natur gesungen. 

    Heute dagegen wir stehen vor einem vielseitigen, komplizierten, facettenreichen, bisweilen genialen Werk. Wir kennen nahezu 500 Lieder in Form von vielen tausenden Aufnahmen, erhalten sind mehrere hundert nicht vertonte Texte, daneben gibt es Prosaskizzen, Tagebücher, Videodokumente seiner Theaterarbeiten, Interviews, Rollen in Kino- und TV-Filmen und vieles mehr. Wyssozkis unvergleichliche posthume Popularität eint – und spaltet manchmal – heute noch eine Fangemeinschaft. Die lässt nichts über ihren Abgott kommen, und hält, ähnlich den Millionen russischer Puschkin-Verehrer, jede einzelne seiner Zeilen für genial und unsterblich. Sie sieht ihn als einen begnadeten Schauspieler an – und übersieht dabei, dass seine Theater- und Kinorollen natürlich nur das Produkt dessen darstellen, was unter den Bedingungen der bornierten Zensur einer Diktatur (zwar nicht des Proletariats, aber einer stumpfsinnigen Nomenklatura) gerade noch möglich war. Freilich waren auch Meisterwürfe darunter, wie seine Rollen als Hamlet oder als Brechtscher Galilei im Moskauer Taganka-Theater, eine gewinnende Darstellung eines Weißgardisten im Film Es dienten zwei Kameraden (Slushili dwa towarischtscha, 1968), oder die fast Kultstatus genießende Verkörperung eines Moskauer Kriminalpolizisten in der Fernsehserie Den Treffpunkt darf man nicht ändern (Mesto vstretschi ismenit nelsja, 1979). Doch das waren Glücksfälle, die erahnen lassen, wozu Wyssozki unter freien Bedingungen vielleicht in der Lage gewesen wäre. 

    Sprengkraft des Autorenlieds

    Schon zu Lebzeiten stieg Wyssozki zu einer Kultfigur auf, die Beliebtheit bei Parteibonzen, Durchschnittsbürgern, Proletariern, Alkoholikern und Dissidenten genoss. Allein an den Texten konnte es nicht liegen: Diese erwiesen sich 1981, als sie erstmals – wenn auch zensuriert – in einem mit dem Wort Nerv betitelten Sammelband erschienen, als eher durchschnittliche Gedichte. Wenn man sie jedoch auf den immer zahlreicher auftauchenden Tonband- und Videoaufnahmen erlebt, strotzen sie vor Energie und Kraft. Man denkt unwillkürlich an Richard Wagners Konzept des Gesamtkunstwerks: Autor-Komponist-Interpret, so der französische Begriff für das, was im Deutschen Bänkelsänger hieß, und im Russischen mit den Begriffen Autorenlied oder ganz einfach Bardenlyrik umschrieben wird. 

    (Nicht nur) Für seine Fangemeinde ein begnadeter Schauspieler und genialer Sänger – Wladimir Wyssozki / Foto © Galina Kmit/Sputnik
    (Nicht nur) Für seine Fangemeinde ein begnadeter Schauspieler und genialer Sänger – Wladimir Wyssozki / Foto © Galina Kmit/Sputnik

    Wyssozki erklärte in seinen Konzertkommentaren die Sprengkraft dieses Autorenlieds: Er brauche kein Orchester, keine Scheinwerfer, keine Bühne. Was er brauche, sei eine Gitarre, die Augen der ZuhörerInnen und seine Stimme, denn so entstehe eine Atmosphäre der Vertrautheit. 
    Die auf dem Papier relativ banal wirkende Fabel vom jungen Wolf etwa, der sich bei einer Treibjagd nicht durch die roten Fähnchen auf der sich zuziehenden Schlinge beirren lässt und über diese hinweg in die Freiheit springt, verwandelt sich in der Interpretation durch Wyssozki in ein Meisterwerk – einen Schrei der russischen Seele, die nach einem „Schluck anderer Luft“ dürstet, wie es in einem weiteren Lied heißt. Vor uns entsteht das Schauspiel eines Kampfes von Unterdrückten gegen ihre Unterdrücker – und das Lied, doppelbödig angelegt (so wurden die Wölfe in Zentralrussland tatsächlich ausgerottet), lässt keinen Zuhörer gleichgültig: Man identifiziert sich mit dem jungen Wolf, mit dem mutigen Barden. Das Lied sollte 1968 in einem Theaterstück des Ljubimowschen Taganka-Theaters erklingen, schaffte es jedoch nicht durch die Zensuraufführung und wurde zum Anlass für ein Aufführungsverbot des ganzen Stücks. Es markierte, gemeinsam mit der Entlassung des Dichters Alexander Twardowski als Chefredakteur der liberalen Zeitschrift Nowy mir, das Ende des Chruschtschowschen Tauwetters.

     

    Die relativ banal wirkende Fabel vom jungen Wolf verwandelt sich in der Verkörperung durch Wyssozki in ein Meisterwerk, einen Schrei nach einem „Schluck anderer Luft“

    Freies Wort zur Gitarre mit kritischen Blick auf Realität

    Wyssozki stand nicht an der Wiege des russischen literarischen Chansons neuen Typs, dafür war der 1938 geborene Moskauer zu jung. Diese Leistung erbrachte bereits Mitte der 1950er Jahre Bulat Okudshawa (1924–1997), ein Provinzschullehrer. Der Sohn eines in der Stalinzeit ermordeten georgischen Vater schrieb zunächst einfache Lyrik, die er dann zu drei, später vier und fünf Gitarrenakkorden seinen Freunden vorsang.
    Wyssozki war auch nicht der mutigste Vertreter dieses Genres. Dieses Verdienst gebührt dem 1918 geborenen und 1972 ausgebürgerten Alexander Galitsch, einem Filmschauspieler, Drehbuchautor und als solchem in jeder Hinsicht privilegierten Kulturschaffenden, welcher der bürokratisierten und korrupten Sowjetmacht einen Spiegel vorhielt, den diese nicht ertrug.
    Wyssozki vereinte jedoch in gewisser Hinsicht die besonderen Eigenschaften der beiden. Er übernahm von Okudshawa den menschlichen Aspekt des freien Wortes zur Gitarre, während er von Galitsch den kritischen Blick auf die Sowjetrealität erlernte. 

    Doch Wyssozki hatte noch andere, eigene Themen – seine ersten Gehversuche zur Gitarre waren von den in allen Hinterhöfen zu hörenden Liedern der Häftlinge geprägt, die in Scharen aus den stalinistischen Lagern zurückgekehrt waren. Viele von Wyssozkis frühen Liedern wurden zunächst für originale Lager- und Gaunerfolklore gehalten. Bald mischten sich dazu persönliche Motive – im Lied Der große Karetny (1964) besingt er seinen Freundeskreis, in einem Igor Kochanowski gewidmeten Lied die Verflochtenheit des vergangenen Terrors mit der Gegenwart: „Mein Freund ist auf nach Magadan … nicht mit einem Straftransport“ (Moi drug ujechal w Magadan, 1965). Alles dies war für eine offizielle Verwendung in der sowjetischen Kulturlandschaft nicht geeignet, und Wyssozki musste lang warten, bis seine ersten Lieder offizielles Gehör erlangten. Schließlich erschienen sie auf – oft biegsamen – Single-Schallplatten, die man nur abhören konnte, wenn man sie auf richtige Vinyl-Platten drauflegte: Wyssozkis Werk gestützt auf Sowjetplatten – rückwirkend gesehen eine erschreckende Metapher oder auch pure Ironie. 

    Offizieller und verbotener Wyssozki

    Wyssozki lavierte zeitlebens zwischen „erlaubten“ Themen einerseits und regimekritischen Themen andererseits. Von der offiziellen Kulturpolitik wurden mit mehr oder weniger großer Freude die Lieder zum Thema des Zweiten Weltkriegs aufgenommen. Wyssozki wurde nicht müde zu behaupten, dass er gern am Krieg teilgenommen hätte, konnte diesen aber aufgrund der späten Geburt nicht aktiv erleben – die späte Geburt sah er also nicht als Gnade. Auch einige seiner Mini-Dramen, in denen er in die Maske verschiedenster Sportler kroch (z. B. Das Lied vom sentimentalen Boxer, 1966), konnten die sowjetische Zensur passieren. 

     

    Einige seiner Mini-Dramen, in denen er in die Maske verschiedenster Sportler kroch, konnten die sowjetische Zensur passieren

    Weniger gut erging es seinen frühen Meisterwerken, der schon erwähnten Wolfsjagd (Ochota na wolkow, 1968) oder dem Monolog aus dem Schwitzbad aus demselben Jahr (Banka po-belomu), gesungen mit der Stimme eines Deklassierten, der sich, zu Unrecht verhaftet, wünschte, dass der auf seiner Brust im Profil eintätowierte Stalin seine Rufe hören möge. Noch schwerer hatten es Texte, in denen er sehr früh Privilegien anklagte, wie in seinem Lied über das Schlangestehen („Die Leute murrten und murrten, die Leute wollen Gerechtigkeit …“, 1966) oder den Antisemitismus aufs Korn nahm (Die Antisemiten, 1964, Mischka Schifman, 1972). Lieder aus der ersten Gruppe schafften es auf Schallplatten oder sogar in Filme. Jene aus der zweiten nicht – sie wurden allerdings dennoch sehr bekannt, weil sie von Freunden auf Tonband aufgenommen und vielfach überspielt weitergegeben wurden. 

    Chronist des homo sovieticus

    Es entstand also, analog dem Samisdat, das Phänomen des Magnitisdat, dem die Machthaber ebenso machtlos gegenüber standen wie Ersterem. So kam es, dass Wyssozki bei einem „Treffen mit dem Schauspieler“, wie die offizielle Bezeichnung lautete, in einer sibirischen Stadt ein wenige Tage zuvor geschriebenes Lied zum Besten gab, dessen Text ihm schon aus dem Publikum eingeflüstert wurde – so schnell hatten sich Tonbandkopien bis nach Sibirien verbreitet. Die Frage, warum aus Wyssozki ein Volksheld wurde, während Galitsch von den durchschnittlichen Sowjetbürgern abgelehnt und gehasst wurde, ist vielleicht so zu beantworten: Galitsch blickte auf das Sowjetsystem zwar aus der Perspektive des einfachen Mannes (seines Helden Klim Petrowitsch), jedoch mit dem Bewusstsein eines Dissidenten, der das System bekämpfte. Wyssozki dagegen behielt nicht nur die Perspektive, sondern auch das Bewusstsein des Sowjetmenschen bei. 

    Und dieser Chronist des homo sovieticus, gerade in Theater und Film angekommen, lernte am Moskauer Kinofestival 1967 plötzlich eine junge Frau kennen, von der die ganze Sowjetunion schwärmte – Marina Vlady, eine Französin russischer Herkunft, die in einer bezaubernden Szene des Films Die Zauberin (La sorcière, Regie: André Michel, 1956) die Herzen der sowjetischen Kinobesucher längst erobert hatte. Die Gitarre und seine Stimme taten das Übrige dazu, und bald waren die beiden, den bürokratischen Hindernissen zeitlebens trotzend, ein Paar. Vlady erleichterte nicht zuletzt durch ihren „Flirt mit der KPF“ (so Vlady in ihren Erinnerungen) Wyssozki das Leben im Kampf gegen die bürokratische Macht. Sie eröffnete ihrem Mann aber auch den Westen, indem sie ihm Reisen nach Frankreich ermöglichte. Ohne diese Erfahrung wäre Wyssozki vielleicht ein durchschnittlicher Barde geblieben, und nicht jener tiefsinnige Dichter geworden, als den wir ihn heute kennen. 

    Wyssozki suchte nicht den Weg in die Emigration, da er begriff, dass er im Land gebraucht wurde. Durch die Flucht in den Alkohol und später in Drogen beschleunigte und antizipierte er allerdings seinen frühen Tod. Sein Werk bleibt ebenso wie jenes von Okudshawa und Galitsch bestehen, auch wenn es für die heranwachsenden Generationen zunehmend nur noch mithilfe von Kommentaren und Erklärungen zugänglich ist. 
    Wyssozkis Abschiedszeilen, die er seiner Frau widmete, lauteten: „Ich habe etwas zu singen, wenn ich vor dem Allmächtigen stehen werde, ich habe etwas, womit ich mich rechtfertigen kann.“ Dem kann man nur voll und ganz beipflichten.

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    Playlist: Best of 2019

    Nach den zahlreichen Konzertverboten Ende 2018 sagte Wladimir Putin, dass diese kontraproduktiv seien, sie hätten „genau den gegenteiligen Effekt wie erwartet, so viel steht fest.“ Wenn man den Erfolg an den Klickzahlen festmacht, dann hat die gesellschafts- und kremlkritische Musik im Jahr 2019 in der Tat einen regelrechten Boom erlebt. Die Gegenkultur wurde damit ein Stück weit Mainstream.

    Ist der Erfolg der Gattung auf die Verbote zurückzuführen? Oder sind etwa die üblichen Kommerzialisierungs-Mechanismen der Musikindustrie dafür verantwortlich? 

    Während Soziologen und Musikkritiker über solche Fragen nachsinnen, hat die Colta-Redaktion traditionsgemäß die besten Alben des Jahres gekürt. Protestmusik darf hier natürlich nicht fehlen, in den Top-12 findet sich aber ein bunter Mix: von Rap mit Punchlines à la deine Mudda bis zum feingeistigen Jazz.

    1. Rap des Jahres 

    Scriptonite
    2004

    Nach seinem kryptischen Doppelalbum Uroboros, in dem es darum geht, dass Ruhm und Erfolg eine schwere Bewährungsprobe sind, verkündete Adil Zhalelov, er wolle sich aus dem Rap zurückziehen, weil er damit nichts mehr zu sagen habe. Und tatsächlich widmete er sich zunächst völlig anderen Dingen – experimentierte in seiner Band Scriptonite mit lateinamerikanischen Vibes und produzierte Alben von Künstlern seines eigenen Labels Musica36. Umso mehr schlägt 2004 ein, das kurz vor Jahresende erschien. Der Form nach ist es ein typisches Rap-Album wie zu Beginn der 2000er Jahre: mit Selbstdarstellungen, Skits, Interludes und sogar versteckten Angriffen auf die Kollegen der eigenen Zunft. Um es richtig zu würdigen, muss man die von Scriptonite im Sprachmix der wilden Vorstädte geschriebenen sarkastischen Texte Zeile für Zeile auseinandernehmen – dann erweist sich diese Zusammenstellung makellos klingender, betörend grooviger Rap-Hits als eine Sammlung von Geboten für die Gerechten.

    2. Antiutopie des Jahres

    Delfin
    Krai

    Das Album Krai (dt. Rand) lässt sich auf unterschiedliche Weise interpretieren, ebenso wie sein mehrdeutiger Titel und das enigmatische Cover. Am leichtesten erkennt man darin die Reaktion des Bürgers und Dichters Andrey Lysikov auf die gesellschaftlichen und politischen Ereignisse des vergangenen Jahres bis hin zum Moskowskoje Delo. Delfin zufolge sind die Lieder jedoch schon lange vor den besagten Ereignissen entstanden, außerdem entspräche es nicht seiner Art, Lieder über das aktuelle Zeitgeschehen zu schreiben. Allem Anschein nach haben wir es mit einem Beispiel künstlerischer Vorahnung zu tun, und wenn die Realität weiterhin das in Krai beschriebene Szenario abbildet, haben wir 2020 nichts Gutes zu erwarten – es ist ein böses und verzweifeltes Album: Eine Antiutopie, in der junge, ungestüme Herzen zu Kanonenfutter werden. Allerdings verbirgt sich in Krai auch die Antwort auf die Frage, wie man in dieser Hölle überleben kann.

    3. Non-standard Jazz des Jahres

    Makar Novikov & Hiske Oosterwijk
    Stereobass

    Das Sankt Petersburger Jazzlabel Rainy Days, 2018 vom Schlagzeuger Sascha Maschin gegründet, nahm 2019 so richtig Fahrt auf und brachte eine Reihe von Alben heraus, die von den renommiertesten Kennern auf diesem Gebiet hoch gelobt wurden. Stereobass, eingespielt von den KontrabassistInnen Makar Novikov und Daria Chernakova und der holländischen Sängerin Hiske Oosterwijk gehört zu jenen Alben, die auch für Menschen, die nicht jeder Entwicklung des Genres folgen, verständlich und interessant sind. Denn es handelt sich um eine seiner traditionellsten Spielarten – den Vocal Jazz, allerdings in modernster Form. Makar Novikov hat die markanten Melodien der Lieder von Hiske Oosterwijk über ein raffiniert konstruiertes rhythmisches Gerüst gespannt, das über zwei Stereokanäle erklingt (ein Kontrabass ertönt von links, der andere von rechts). Daneben verleihen die filigranen Soli des Pianisten Alex Iwannikow und die explosiven Beats von Sascha Maschin den Liedern eine feine Dramaturgie. Stereobass ist Vocal Jazz, wie man ihn sich für das 21. Jahrhundert wünscht.

    4. Comeback des Jahres

    Alyans
    Chotschu letat (dt. Ich will fliegen)

    Dieses Album der Moskauer Neo-Romantik-Pioniere Alyans hätte bereits Anfang der 2000er Jahre erscheinen sollen. Durch die jahrelange Reifezeit ist es wertvoller und interessanter geworden. Für diejenigen, die mit der Geschichte der Band vertraut sind, ist Chotschu letat (dt. Ich will fliegen) ein epochales Ereignis: Denn es handelt sich um die Reunion des Bandleaders von Alyans Igor Shurawljow mit dem Keyboarder Oleg Parastajew, dem Autor des größten Hits der Band Na sare (dt. Im Morgenrot) – nur dass diese ein paar Jahrzehnte länger als vermutet auf sich warten ließ. Ein zweites Morgenrot sucht man hier vergebens, aber es finden sich einige erstklassige Lieder wie der Titelsong, in dem wie in einer Zeitkapsel das Bittersüße der Romantik von Alyans bewahrt ist – der leidenschaftliche Wunsch zu Fliegen, gesteigert durch die Gewissheit, dass der Flug unweigerlich mit einem Fall enden wird.

    5. Debüt des Jahres

    Maslo tschornogo tmina
    Kensshi

    Maslo tschornogo tmina (dt. Schwarzkümmelöl) folgt der Linie des kasachischen Rap. Das Projekt des in Karaganda lebenden Aidyn Sakarija hat tatsächlich eine Hip-Hop-Genealogie und einen Sound, der an einige Scriptonite-Tracks erinnert. Doch das ist nur der Ausgangspunkt, und aus Kensshi wird deutlich, dass Sakaria einen anderen Weg einschlägt – irgendwo Richtung britischer Trip-Hop zwischen Portishead und King Krule: verdichtete Melancholie, langsame ausgedünnte Beats, ein somnambuler Bass, bittere Reime, suggestive Bilder, Jazz-Samples und das Rascheln der Nadel auf der Vinyl-Schallplatte. Mit seinen effektvollen Sound- und Textleerstellen ähnelt Kensshi der faszinierenden Skizze eines großartigen Albums, das noch folgen wird. Und was will man mehr von einem Debüt?

    6. Widerspruch des Jahres

    Shortparis
    Tak sakaljalas stal (dt. So wurde der Stahl gehärtet)

    Der Titel dieses Albums lässt sich durchaus auch auf die Geschichte von Shortparis selbst übertragen – es scheint, dass keine andere aktive russische Band so polarisiert und so heftige Diskussionen hervorruft, was die Methoden angeht. Nur wenige können von sich behaupten, gleichzeitig als größter Hoffnungsträger und absolute Luftnummer unserer Zeit bezeichnet zu werden. Doch für Shortparis ist es normal, den einen wie den anderen Ruf gleichzeitig für sich zu beanspruchen. Im Prinzip ist die Arbeit mit schärfsten Widersprüchen eine der wichtigsten Fähigkeiten von Shortparis: Kaum einer kann so geschickt Folk und Industrial, Straßenjargon und ästhetisches Drama, zutiefst persönliche und verallgemeinerte soziale Aspekte miteinander verbinden, ohne dabei direkte Antworten auf die aufgeworfenen Fragen zu geben.

    7. Gipfelglück des Jahres

    AIGEL 
    Edem (dt. Eden)

    Aigel Gaissina kehrt nach Hause zurück und findet dort Inspiration für AIGELs eindringlichstes und emotional aufgeladenstes Album. Auf Musyka (dt. Musik), dem zweiten Album, hatte das Duo Aigel Gaissina und Ilja Baramija sich an vielen verschiedenen Themen gleichzeitig versucht und ein wenig die generelle Richtung aus den Augen verloren. Edem korrigiert den Kurs selbstbewusst: Es ist ein Album über Wurzeln und Verästelungen, darüber, wo man anfängt und wie man etwas fortschreibt, wenn man unweigerlicher Teil davon ist. Diese für jeden Menschen äußerst wichtigen Themen treiben AIGEL an. Wie ein persönliches Gipfelglück des Dichters und der Sängerin entpuppt sich Edem sowohl stimmlich als auch textlich als ein absolutes Feuerwerk.

    8. Therapie des Jahres

    Kira Lao
    Trewoshny opyt (dt. Beunruhigende Erfahrung)

    In den vier Jahren, die zwischen Trewoshny opyt und dem vorangehenden Album Woda (dt. Wasser) von Kira Lao liegen, hat sich für Kira Wainstein vieles verändert: darunter zum Beispiel der Wechsel vom Status einer Band-Sängerin zu einer Solokünstlerin. Trewoshny opyt ist zugleich ein Tagebuch dieser schwierigen Zeit und der Versuch, das Blatt zu wenden und alle Schwere von Innen nach Außen zu kehren. Das Kunststück der Erfahrung liegt darin, dass Kira für Unruhe und Chaos, für Zweifel und Ängste nicht nur Worte, sondern auch eine musikalische Sprache findet. Das Ergebnis ist  eine Session in experimenteller Klangtherapie, in der sich, denke ich, jeder erwachsene Hörer wiederfindet. Das Experiment funktioniert also nicht nur für die Künstlerin selbst, sondern für uns alle.

    9. Retro des Jahres

    Inturist (dt. Ausländischer Tourist)
    Ekonomika (dt. Ökonomie)

    Das zweite Album der Art-Jazz-Post-Punk-Formation von Jewgeni Gorbunow zeugt von unbeirrter und sinnvoller Arbeit an sich selbst. Ekonomika poliert den absurden Retrosound des ersten Albums Komandirowka (dt. Geschäftsreise) wunderbar auf und verbannt gleichzeitig kompromisslos die ihm innewohnenden Längen und Unschärfen. Im endlosen Netz der lärmenden Instrumentalimprovisationen muss der Inturist sich nicht mehr zurechtfinden – auf dem Album Ekonomika weiß die Band genau, was sie zu tun hat, und fliegt als leuchtender Pfeil in die richtige Richtung.

    10. Hilferuf des Jahres

    Foresteppe
    Karaul

    Noch eine Chronik einer beunruhigenden Erfahrung: Jegor Klotschichin hat Wehrdienst bei den Raketentruppen geleistet und unter dem Eindruck dieser Phase seines Lebens ein Album aufgenommen. Es verwundert nicht, dass Klotschichins selbstgemachter pastoraler Ambient-Sound auf dieser Platte düsterer und angespannter, unruhiger und scharfkantiger daherkommt. Es ist anzunehmen, dass sich in diesem Jahr viele Menschen ungefähr so gefühlt haben, deren persönliche Utopie durch die Ereignisse in den Fenstern ihrer Browser als auch beim Blick aus dem echten Fenster neue, beunruhigende Schattierungen annahm.

    11. Dancefloor des Jahres

    Samoe Bolshoe Prostoe Chislo (dt. Die größte Primzahl)
    Nawernoje, totschno (dt. Wahrscheinlich, genau)

    In den letzten gut zehn Jahren hat sich die Band von Kirill Iwanow bis zur Unkenntlichkeit verändert und ihre Musik immer wieder neu erfunden. Das Album Nawernoje, totschno gehört in die letzte Etappe dieser endlosen Transformation: Ein Gründungsmitglied, Ilja Baramija, hat die Band endgültig verlassen, um sich auf das Duo AIGEL zu konzentrieren. Dafür ist die Sängerin Jewgenija Borsych der Band beigetreten und hat die zweite, manchmal auch die Lead-Stimme übernommen. Der Idee nach macht SBPC das Gleiche wie auf den beiden vorherigen Alben: Lieder für junge tanzwütige Beine, die den besten Beispielen grooviger Musik folgen – von Old-School-Hip-Hop bis Afrobeat – aber auch für erwachsene Köpfe und Herzen: Die Texte von Kirill Iwanow sind es wie immer wert, in Aphorismen zerlegt zu werden, die unsere Wirklichkeit im Hier und Jetzt beschreiben.

    12. Kooperation des Jahres

    Sojus
    II

    Die Minsker Gruppe Sojus hat den Ruf eines Ensembles, das Musik für Musiker macht. In der Tat hört das geschulte Ohr in den makellos gespielten Stücken zahlreiche musikalische Referenzen – vom brasilianischen Samba bis zum äthiopischen Jazz; dazu geschickt, subtil, und auf einzigartige Art und Weise miteinander verwoben. Es ist sicher kein Zufall, dass Sojus auf seinem zweiten Album bei zwei Songs von den Moskauer Bands Pasosch und Inturist unterstützt wird, die einen völlig anderen kreativen Ansatz verfolgen. Man kann nur hoffen, dass es in Zukunft noch mehr solcher Kooperationen geben wird.

     


    Original: Colta
    Übersetzung: Henriette Reisner
    Veröffentlicht am 07.01.2020

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  • Der Wortwichser am Abend

    Der Wortwichser am Abend

    Ein älterer Herr mit Bart und Sonnenbrille sitzt auf einer efeuumrankten Treppe und trällert zu einfachen Gitarrenakkorden ein paar muntere Zeilen. So weit, so Youtube. Doch bei dem älteren Herrn handelt es sich um die russische Rocklegende Boris Grebenschtschikow und seine munteren Zeilen handeln unzweideutig von einem Propagandamacher aus dem Fernsehen, der als wetscherni mudoswon (dt. etwa: Wortwichser am Abend) besungen wird. 

    Wenig später erreicht das Lied im Internet ein Millionenpublikum, gewichtige Gestalten aus dem russischen Staatsfernsehen melden sich zu Wort, allen voran der für seine aggressive Rhetorik bekannte TV-Moderator Wladimir Solowjow. Das Bellen eines getroffenen Hundes? Meduza mit einer Kurz-Chronik des bizarren „Ich bin's nicht!“-Rummels.

    Samstag, 28. September

    Boris Grebenschtschikow, Bandleader von Aquarium, veröffentlicht auf seinem Youtube-Kanal ein Video zum Lied Wetscherni M [Wetscherni Mudoswon, dt. etwa: Wortwichser am Abend]. Darin geht es um einen „echt emsigen Kopf unserer Zeit“ – einen Propagandisten vom russischen Fernsehen: „Er alles sagt, was bestellt wird, seine Antworten bleiben nie aus.“ Namen nennt Grebenschtschikow keine. 



    Ich wandle mein Leben lang durch die Weiten / Und bin bereit, das noch weiter zu tun. / Wen du auch fragen willst, alle rauschen im Taxi vorbei. / Und niemand wird dir beibringen, wie man leben soll. / Doch im Zentrum der Weiten gibts einen Ort, wo es hell ist und wo alle hinschauen. / Dort bringt man nach bestem Wissen und Gewissen allen bei, wie es läuft in der Welt, / allen Kindern, den Alten und Jungen.
     
    Wortwichser am Abend! / Du echt emsiger Kopf, / Wortwichser am Abend / er ist ehrlicher, aufrichtiger und besser als alle, / der Wortwichser am Abend. / Er erklärt dir alles, was du willst, / gibt auf jede Frage eine Antwort. / Das Volk hat eine Seele, ist aber arm wie eine Kirchenmaus, / Dafür haben sie allen eins auf die Nase gegeben!
     
    Er strahlt wie ein druckfrischer 50iger / Er trieft vor Pomade und Lack, / Und wenn der Pöbel Jesus vermöbelt, / erklärt er uns, warum genau Jesus der Feind ist.

    Sonntag, 29. September

    Die russischen Medien greifen das Lied auf. Der Wetscherni M wird in den sozialen Netzwerken fleißig geteilt. Und die User rätseln: „Auf wen ist der Song wohl gemünzt?“ Mutmaßungen kommen auf, der anonyme Propagandist könnte Wladimir Solowjow sein, der Moderator der Sendung Der Abend mit Wladimir Solowjow.

    Montag, 30. September

    Solowjow reagiert per Twitter und Telegram auf Grebenschtschikows Lied: Der Leader von Aquarium sei „vom Dichter zum Coupletsänger verkommen“. Wobei der Moderator auch anmerkt, dass ihn der Song überhaupt nicht kränke. Zumal es darin, wie ihm scheine, um Iwan Urgant  gehe. Der hatte ihn mit seinen Späßen über „Nachtigallscheiße“ schon mal beleidigt. „In Russland gibt es eine Sendung, die das Wort ‚Abendlicher‘ im Titel hat – Sie wissen nicht zufällig, welche?“, fragt der Moderator.

    Am selben Tag

    Boris Grebenschtschikow beteiligt sich an der Diskussion. Der Musiker hinterlässt unter seinem Youtube-Video folgenden Kommentar: „Um Missverständnissen vorzubeugen, möchte ich feststellen, was ohnehin klar ist: Zwischen Wetscherni U und Wetscherni M liegt eine unüberwindbare Distanz – wie zwischen Würde und Schande.“     

    Dienstag, 1. Oktober

    Solowjow kommt mit einer neuen Version. Im Gespräch mit dem TV-Sender 360 hält er es durchaus für möglich, dass mit dem umstrittenen Song in Wirklichkeit der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky gemeint ist: „Es kann natürlich auch sein, dass Herr Grebenschtschikow sein Lied dem Präsidenten der Ukraine gewidmet hat … Was derzeit ein großes Thema in den amerikanischen Medien ist.“

    Am selben Tag

    Eine Agentur für Satire-News namens Panorama veröffentlicht eine Fake-Meldung über Solowjow, wonach dieser versuche, Urgant gegen Grebenschtschikow zu verteidigen. Man beachte das ausgedachte Solowjow-Zitat: „Das Lied handelt natürlich nicht von mir, aber ich halte seine weitere Verbreitung oder Wiedergabe für unzumutbar.“ 

    Am selben Tag

    Iwan Urgant kommentiert Grebenschtschikows Lied live auf dem Ersten Kanal, wobei er sich über sich selbst lustig macht – mehr noch allerdings über Solowjow (wieder ohne ihn namentlich zu nennen): „Wir hätten liebend gern Boris Borissytsch eingeladen, dieses Lied live bei uns zu singen, doch aus firmenethischen Gründen können wir im Ersten Kanal keine Lieder über Mitarbeiter anderer Sender bringen.“ 



    […] Ich habe gerade noch in der Garderobe das neue Lied von Grebenschtschikow gehört. Nun, einige haben es schon gehört, andere noch nicht. Wieder andere haben es sich schon sehr sehr oft angehört …
    Jedenfalls gibt's da gerade einen total bescheuerten Skandal: BG hat ein Lied auf Youtube gestellt. Es heißt Wetscherni M, und es geht darin um den Moderator einer Abendshow. Und im Grunde weiß keiner … , wen er meint …
     
    Können wir mal reinhören?
    Nein, das geht leider nicht wegen des Wortes mudoswon/Wortwichser“, das darin vorkommt.
     
    Also, wegen des Titels ist klar, dass es um einen Talkmaster geht. Der eine Abendshow moderiert. Also, der Kreis wird immer enger, um wen es gehen kann.
    Aber wir Abendshowmaster halten zusammen wie eine Familie […].
    Und wir zerbrechen uns den Kopf: Über wen hat BG geschrieben? Wen konkret tunkt er da ein, in sein Aquarium? Er nennt ja keine Namen, nichts. Und dann ist mudoswon noch dazu ein russisches Wort, also ist von einem Russen die Rede und da können ja wir wieder alle gemeint sein […]

    2. Oktober

    Wladimir Solowjow (den Grebenschtschikows Lied überhaupt nicht kränkt) nimmt die Version mit Iwan Urgant wieder auf. Im Gespräch mit dem Telegram-Kanal Podjom wiederholt er die Idee aus der Meldung von Panorama und verspricht, den Kollegen gegen die Angriffe des Aquarium-Leaders zu verteidigen: „Es gibt in unserem Fernsehen eine ganz konkrete Sendung, die mit ‚Abendlicher‘ beginnt, und ich finde, Boris Borissowitsch hat völlig zu Unrecht einen wunderbaren, feinsinnigen, klugen Moderator des Ersten Kanals beleidigt. Ich habe ihn gegen diese unfairen Anfeindungen verteidigt und werde das auch weiterhin tun.“


    Fortsetzung folgt.

    Ergebnisse der Meduza-Leserumfrage: Wem ist das Lied Wetscherni M gewidmet?

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    Zwei Vampire vor der Kulisse verschiedener Objekte der Staatsmacht in Moskau: Vor dem Weißen Haus übergießt sich die Protagonistin mit Kerosin, sie singt „Alles soll brennen!“. Auf eine Szene, in der die Vampire vor dem Lenin-Mausoleum rohes Fleisch verzehren, folgt ein Klatschspiel – auf Schultern von OMON-Mitarbeitern in voller Montur, vor der FSB-Zentrale Lubjanka mitten in Moskau. Szenen in der WDNCh wechseln mit Szenen, in denen die Protagonistin in einem Sarg vor der Basilius-Kathedrale liegt, schließlich trinken beide Vampire Blut aus Gläsern am Ufer der Moskwa. In der letzten Einstellung ertrinken beide im Fluss.  


    Der Clip der Band IC3PEAK verstört und provoziert auf mehreren Ebenen und entwickelt eine enorm subversive Wirkung. Die Vampire lassen sich als das Staats- und Regierungsduo deuten. IC3PEAK-Sängerin Nastja Kreslina singt unter anderem über Verfolgungen aus politischen Gründen, über unkontrollierte Polizeigewalt, Korruption und Einmischung der Kirche in Staatsangelegenheiten. Das Lied Smerti bolsche net (dt. Es gibt keinen Tod mehr) wurde von zahlreichen Fans als „Hymne der Opposition“ und „wahre Äußerung über Russland“ bezeichnet – und ist dabei nur eines von vielen Beispielen für zunehmend kritische Töne in der zeitgenössischen russischen Musikszene. Eine Entwicklung, auf die die Machthaber oft widersprüchlich reagieren, und die auch Konzertverbote Ende 2018 nicht aufhalten konnten. 

     

     

    Im November 2018 haben russische Behörden zahlreiche Konzerte von Kreml-kritischen Rapmusikern und anderen Bands verboten oder abgebrochen. Unabhängige Medien verglichen die Situation zunächst mit dem Kampf der sowjetischen Machthaber gegen „ideologisch untragbare“ Musik und fragten, ob der Kreml die Verbote angeordnet habe. Später verdichteten sich allerdings die Hinweise darauf, dass die Konzertabbrüche eher dem vorauseilenden Gehorsam lokaler Behörden geschuldet waren. 


    Dennoch suchen die Machthaber nach der richtigen Strategie im Umgang mit der sichtbar zunehmenden Gegenkultur. So schlug der Chef des Auslandsnachrichtendienstes SWR Sergej Naryschkin vor, Rapper staatlich zu fördern. Und Wladimir Putin sagte im Dezember 2018: „Wie kann man sich an ihre Spitze stellen und sie mit passenden Mitteln in die richtige Richtung lenken – das ist das Wichtigste, weil die Methode – sie packen und nicht loslassen –, die ineffektivste und schlechteste ist, die man sich ausdenken kann. Es würde genau den gegenteiligen Effekt haben als erwartet, so viel steht fest.“1 


    Auch der prominente Moderator Dimitri Kisseljow griff das Thema im Dezember 2018 in seiner Sendung im staatlichen Ersten Kanal auf und bot mit seinem Majakowski-Rap einen Gegenentwurf zur Gegenkultur. 


    Dabei ist nicht klar, was die aktuelle musikalische Gegenkultur konkret ausmacht: Wie die meisten sozialen Bewegungen ist auch die musikalische Protestbewegung in Russland äußerst diffus und heterogen. Kaum einer der Künstler schreibt sich die Revolution auf die Fahne; als Gegenkultur oder ein kollektiver Akteur lassen sie sich lediglich anhand ihrer Gesellschaftskritik begreifen und wegen ihrer Kritik an der politischen Ordnung des Landes: Sie prangern etwa Verstöße gegen Grundrechte, politische Verfolgungen, fehlende Rechtsstaatlichkeit, Korruption und Konservatismus an.
    Die Kritik daran bedient sich völlig unterschiedlicher Musikstile und Methoden. So erreichen die Musiker auch unterschiedliche Zielgruppen. Gemeinsam ist ihnen aber etwas anderes: Gemessen in YouTube-Klickzahlen hören Hunderttausende, zum Teil Millionen von Menschen ihre Musik. Und die Tendenz ist seit den Konzertverboten eindeutig steigend.
    Gemeinsam ist den Musikern der Gegenkultur außerdem, dass sie die politische Ordnung deutlich subtiler kritisieren als beispielsweise offen oppositionelle Gruppen wie etwa die Feministinnen-Band Pussy Riot. Und doch gibt es Abstufungen: von der deutlichen Metaphorik IC3PEAKs hin zu den eher sanften, ironischen Tönen Monetotschkas.

    Neue Sensibilität: Monetotschka

    Monetotschka, mit bürgerlichem Namen Elisaweta Gyrdymowa, komponiert ihre Songs in einem meditativen Elektro und Indie-Pop Stil. Die 21-jährige steht gewissermaßen für eine Generation, die in russischen Großstädten unter Putin aufgewachsen ist. 

    In ihren Liedern formuliert Monetotschka ein politisches und ästhetisches Programm, das man als neue Sensibilität bezeichnen kann. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich bei ernsthaften politischen Äußerungen einer strategisch naiven Form bedient. Die Texte oszillieren permanent zwischen Ernsthaftigkeit und Ironie, verbinden Sentimentalität und kritische Reflexion, die an Zynismus grenzt. Die schwedische Forscherin Maria Engström merkte dazu an, dass die neue Ästhetik, die Monetotschka präsentiert, sich nicht nur durch die politische Neutralität oder Apathie kennzeichne, sondern auch durch bewusste Vermeidung einer engagierten politischen Aussage. Die Sängerin distanziere sich von der revolutionären Grenzüberschreitung des Erlaubten, die für die frühere Protestkultur typisch war.2 

    Vor dem Hintergrund der Protestwelle im Sommer 2019 brachte Monetotschka Gori gori gori (dt. Brenne brenne brenne) heraus. Mit der Feuersymbolik knüpft die Sängerin an IC3PEAKs Smerti bolsche net an; zusammengenommen lassen sich die beiden Texte als eine Art Metatext lesen, der eine Anatomie der jüngsten Protestwelle darstellt.
    Monetotschka kritisiert in dem Lied sowohl die totale Staatskontrolle als auch die aktuelle wirtschaftliche Situation im Land. Sie würdigt die oppositionelle Hip-Hop Szene, die sich aktiv bei den Protesten beteiligt und ironisiert die eilig organisierten Gegenveranstaltungen, mit denen der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin Menschen von den Protesten abhalten wollte.

    Familienehre und autoritäre Liebe: Aigel

    Wenn Monetotschka in diesem Lied darüber singt, dass „der Rap der Hauptstadt-Szene schwärzer“ werde, dann meint sie wahrscheinlich den Übergang der Musikrichtung von der Massen- in die Gegenkultur: „Schwärzer“ wird der russische Rap, weil er sich back to the roots bewegt, zu seinen Wurzeln im Underground der afroamerikanischen Ghettos der USA. 

    Auch Aigel (Aigel Gajsina) ist eine Protagonistin dieser Entwicklung. In ihrem 2017 erschienenen Clip Tatarin (dt. Tatare) wendet sich die 33-jährige tatarische Dichterin und Übersetzerin an ihren Freund, der aus dem Gefängnis entlassen wird. Scheinbar unterwürfig erzählt sie ihm, dass sie sich mit niemand anderem eingelassen habe. Dabei besingt sie ihn als einen bösen Kriminellen, als einen „Tataren, der in Sachen Liebe autoritär ist“. Aigel wendet sich damit ironisch gegen Patriarchat, Familienehre, Schande und Rache – Werte, die sie der tatarischen Gesellschaft zuschreibt. 


    Das cineastisch ambitionierte Video brachte Aigel über 46 Millionen Aufrufe und gewann bei den Berlin Music Video Awards 2018 den Hauptpreis in der Kategorie Best Editor. Den Protagonisten im Video spielt Goscha Bergal, der öffentlichkeitswirksam den Gopnik-Stil pflegt und unter anderem als Model für Balenciaga arbeitet.

    Das Putin-Epigramm: Noize MC

    Gesellschafts- und Kreml-kritisch war der Rapper Noize MC schon immer. Auf dem Höhepunkt der Protestwelle im Sommer 2019 brachte er aber das Lied Ljocha heraus: Kein anderer Song spiegelt die Stimmung der Straße treffender als der vom 1985 geborenen Iwan Alexejew. 

    Darin rappt er über die brutale Vorgehensweise der Polizei und Justiz gegen die Demonstranten, bedient sich bei Ossip Mandelstam und zieht damit zumindest stilistisch Parallelen zum Großen Terror. So beschreibt Noize seinen Protagonisten Ljocha (Kumpelform von Alexej) mit ungewöhnlich vielen adjektivischen Kurzformen, genauso wie Mandelstam 1933 in seinem Stalin-Epigramm Wir Lebenden spüren den Boden nicht mehr. 


    Wie viele sowjetischen Kinder träumte auch der kleine Ljocha davon, Kosmonaut zu werden. Wie in Science-Fiction Filmen wollte er Aliens verprügeln. Als Polizist drischt der erwachsene Ljocha auf Demonstranten ein. In diesen sieht der Gehirngewaschene Aliens – wohl in Anlehnung an die Propaganda, die Protestierende als ausländische Agenten darstellt. 
    So stellt Noize MC in Ljocha die Spaltung der russischen Gesellschaft dar und greift dabei sowohl auf kollektive Identitäts- als auch auf Feindbilder aus der sowjetischen Vergangenheit zurück.

    Sein Lied Wsjo kak u ljudej (dt. Alles wie bei normalen Menschen) ist ein raues und polemisches Porträt der Epoche Putin und gleichzeitig eine Hommage an Jegor Letow, Ikone der sowjetischen Perestroika-Musik. Veröffentlicht im September 2019, knüpft Noize thematisch an Ljocha an und bringt zunächst einen Originalton von Putin von 1996: „Allen scheint so […], dass es uns allen besser gehen würde, wenn man mit der starken Hand eine strenge Ordnung einführen würde. […] In Wirklichkeit […] wird uns diese starke Hand aber bald erwürgen.“ 

    Während des Originaltons ist das Bild Apotheose des Kriegs vom russischen Maler Wassili Wereschtschagin zu sehen. Vor abwechselnden Nachdrucken berühmter russischer Kunstklassiker rappt Noize unter anderem über einen Lego-Baukasten: Еnthalten sind ein Awtosak und drei Figuren – Noize MC kommentiert: „Einer gegen zwei Bullen, alles wie bei normalen Menschen.“ 

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    Eine der Schlüsselsequenzen rappt Noize vor dem berühmten Bild Bogatyri (Die drei Recken) von Wiktor Wasnezow. Das Gemälde zeigt russische Identifikationsfiguren, die als furchtlose Krieger, Helden und Beschützer glorifiziert werden. Dazu bringt Noize eine Neuinterpretation von Letows Lied My – ljod (dt. Wir sind Eis). Letow singt darin über einen KGB-Major, der 1985 seinen Fall leitete und den oppositionellen Musiker schließlich in die Zwangspsychiatrie brachte: „Wir sind Eis unter Majors Füßen / Major wird ausrutschen und fallen“. Die Version von Noize kann man auf Putin beziehen, denn auch dieser war einst KGB-Major: „Das Eis unter Majors Füßen bricht leichter als eine Falafel-Kruste / Major hat keine Angst, Major wird nicht untergehen – Major sitzt für den Fall der Fälle im Tauchboot.“ 

    „Islamisten und Nazis“: Shortparis

    Ähnlich wie Letow bemüht auch die Band Shortparis die Eis-Metapher: In ihrem Lied Straschno (dt. Angst) geht der Major bangend über Eis, das ihn womöglich nicht halten kann.
     
    Das 2012 gegründete Quintett um den Kunsthistoriker Nikolaj Komjagin macht Art-Punk und experimentiert mit Pop und Avantgarde. Die Band aus Sankt Petersburg brachte den Clip zu Straschno am 12. Dezember 2018 heraus – am Tag der Verfassung der Russischen Föderation. Das Video erscheint geradezu wie Konzeptkunst: Zunächst mimen die Bandmitglieder Skinheads, die in eine Schule eindringen und zum Sportsaal laufen, in dem zentralasiatische Gastarbajtery untergebracht sind. Entgegen der Erwartung eines Pogroms veranstalten sie dort aber eine queere Party, gemischt mit Folklore-Elementen aus Zentralasien. Das Video endet mit einer Sequenz, die man als Beerdigung der russischen Verfassung deuten kann.

    Shortparis hinterfragen in dem Clip landläufige xenophobe Stereotype: So wird mit arabischen Karaoke-Untertiteln wohl Islamismus assoziiert, auch wenn dort nur die arabischen Worte für „Frieden“ und „Freundschaft“ geschrieben sind. Gleichzeitig spielen Shortparis auf die terroristischen Anschläge in Beslan an – ein schmerzhaftes Kapitel in der neuesten Geschichte des Landes. Auch Kritik an der Integrationspolitik lässt sich aus dem Video deuten, genauso wie Kritik an Homophobie. 
    Sowohl die ethische als auch die ästhetische Aussage der Band rief unterschiedliche, zum Teil ambivalente Reaktionen hervor: So beschimpfte man die Band laut Komjagin sowohl als Islamisten als auch als Nazis.3

    „Ich werde meine Musik singen“

    Trotz heftiger Kritik, lokalen Konzertverboten und einer Atmosphäre der Einschüchterung singen seit 2018 immer mehr Musiker gegen die politische Ordnung an: So wie bei dem mittlerweile legendären Solidaritätskonzert Ich werde meine Musik singen, das die Rapper Oxxymiron, Noize MC und Basta als Antwort auf die zahlreichen Konzertverbote Ende 2018 veranstaltet hatten.

    Solche Reaktionen hatte Putin wohl im Sinn, als er die oben erwähnte Frage stellte, mit welchen Maßnahmen „man sich an ihre Spitze stellen kann“. Durchschlagende Maßnahmen hat der Kreml bislang aber nicht ergriffen. 
    Vielleicht war Putin auch bewusst, dass der Inlandsgeheimdienst schon einmal daran gescheitert ist, oppositionelle Musik in kontrollierbare Bahnen zu lenken: Mitte der 1980er Jahre, als Putin KGB-Major wurde und die Protestmusik der sowjetischen Ordnung sogar noch mehr zusetzte als etwa Solschenizyns Archipel Gulag.4 


    1. bbc.com: Putin pro rėperov: „vozglavit‘ i napravit’“ – chorošo, „chvatat‘ i ne puščat’“ – plocho. ↩︎
    2. ridl.io: Monetočka: manifest metamodernizma. ↩︎
    3. meduza.io: „Nas nazyvali islamistami i nacistami odnovremenno“. Gruppa Shortparis zachvatyvaet školu: prem’era klipa „Strašno“. ↩︎
    4. sobaka.ru: 30 let perestrojke: glavnye simvoly vremeni. ↩︎

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    Shortparis – die Band, die immer dagegen sein wird

    Musikvideos aus Russland entwickeln sich derzeit zu Exportschlagern. So haben etwa bei den Berlin Music Video Awards 2018 gleich drei Clips aus Russland abgeräumt: Leningrad (Best Music Video & Best Narrative), Aigel (Best Editor) und Little Big (Most Trashy).
    2019 stehen Shortparis auf der Nominierungsliste für Best Director – eine 2012 in Sankt Petersburg gegründete Band. Ihr Clip Straschno (Angst) vom letzten Dezember sammelte auf YouTube bislang zwar nur zweieinhalb Millionen Aufrufe, vor allem in sozialen Netzwerken sorgte er aber für großes Aufsehen.

    Straschno kam am 12. Dezember 2018 heraus – am Tag der Verfassung der Russischen Föderation. Kurze Zeit später veröffentlichte die Band das Video dazu, wohl zufällig parallel zu einer Reihe von Konzertverboten in Russland. Erst danach gingen Shortparis auf Tournee. 

    Derzeit spielen sie in Westeuropa, ihr Berliner Konzert am 26. April ist schon seit einigen Wochen ausverkauft. Am 16. September geben Shortparis dort aber ein Zusatzkonzert. dekoder nimmt die Tournee zum Anlass für eine Einordnung ihres viel diskutierten Videos und bringt Zitate aus Meduza sowie dem Musikmagazin Muzstorona.

    Kulturen prallen bunt aufeinander, dass es nur so kracht. Die ästhetisierte Performance der Jungs von Shortparis zeigt Wege und Lösungen des Politischen – jenseits von Worten. Shortparis selbst erklären ihr Video auf Meduza so:

    [bilingbox]Der Clip will den Zustand eines Teils der heutigen Generation festhalten. Er ist natürlich provokativ und spielt auf einige soziale Tragödien an, die aus irgendeinem Grund bis heute nicht in unserer visuellen Kultur reflektiert worden sind.
    Im Verlauf werden Trigger aufgezeigt, schmerzliche Assoziationen, gesellschaftliche Tabus, Ängste: Arabische Schriftzüge, auch wenn damit Wörter wie „Freundschaft” oder „Liebe” geschrieben sind, verbinden sich unweigerlich mit Terrorismus, rasierte Köpfe mit Neonazismus und so weiter.
    Aber erhalten bleibt nach diesem Gedankenspiel in der Trockenmasse eines: Der Zustand einer nicht artikulierten, aber wachsenden Alarmiertheit, die allen gemein ist.~~~Клип, безусловно, пытается манифестировать состояние части нынешнего поколения. Он, конечно, провокационен и намекает на ряд социальных трагедий, почему-то не отрефлексированных до сих пор в нашей визуальной культуре. По ходу вскрываются триггеры, болезненные ассоциации, общественные табу, страхи: арабская вязь, пусть ею написано слово «Дружба» или «Любовь» неминуемо связывается с терроризмом, бритые головы — с неонацизмом, и так далее. Но после этой игры смыслов в сухом остатке остается одно — состояние не артикулированной, но нарастающей тревоги, общей для всех.[/bilingbox]


    Original, 19.12.2018

    Mit ihren Clips entlarven Shortparis eine Leerstelle, meint zumindest der Musikkritiker Pjotr Poleschtschuk auf Muzstorona:

    [bilingbox]Von Shortparis stammt folgende Äußerung: „Das Politische sitzt heutzutage tief in uns, es ist nicht mehr nur etwas Soziales, sondern auch etwas tief Psychologisches.”
    Die Gesellschaft, vielmehr das, was sie ausmacht, ist einer irrationalen Angst gleichzusetzen. Die Reaktionen auf die Umwelt sind mittlerweile Gefühlsausbrüche von Zeichen, die Reflektionen und Analysen irgendwo tief unter dem Eis eingemauert haben. Ironischerweise haben Shortparis als eine Art visueller Transformation das Fehlen positiver Transformationen demonstriert.~~~Высказывание Shortparis – о том, что сегодня политическое сидит глубоко в нас, это уже не только социальное явление, но и глубоко психологическое. Содержимое социума приравнивается к иррациональному страху. А реакции на окружающий мир стали сводится к всплескам эмоций от знаков, замуровав рефлексию и аналитику где-то глубоко подо льдом. Иронично, как путем визуальных трансформаций Shortparis продемонстрировали отсутствие каких-либо позитивных трансформаций вокруг.[/bilingbox]


    Original, 27.12.2018

    Die Band aus Sankt Petersburg sei „full of revolutionary potential“, befand die britische Musikzeitschrift The Quietus, noch bevor die Fünf Straschno herausbrachten. 
    Gerade über das revolutionäre Potential von Shortparis sprach man nach der Veröffentlichung des Clips. Genauer gesagt – man rätselte, denn Shortparis arbeiten mit vielschichtigen Symbolen, mit Andeutungen und Anklängen. Was dabei herauskommt, ist mehr Konzeptkunst als Musikvideo: 
     

    [bilingbox]Die Bacchanalien von Symbolen gipfeln in der arabischen Zierschrift vor dem Hintergrund der russischen Nationalflagge. Wie stur auch immer der Major marschiert – hinter seiner gekünstelten Ernsthaftigkeit entblößt Shortparis, wie relativ und schmerzhaft anekdotisch soziale und kulturelle Vorurteile sind. 

    Bislang spiegeln Post-Punk-Gruppen die Welt als Chaos, das zu nichts Konkretem führt. Shortparis gehen weiter, zeichnen und geben dem Chaos Konturen.~~~Вакханалия символов завершается надписью арабской вязью на фоне флага России (что в итоге придало смысл выпуску сингла именно 12 числа, если вы понимаете). Как бы упрямо ни шагал майор, но за его напускной серьезностью Shortparis обнажают условность и болезненную анекдотичность социальных и культурных предрассудков. Пока большинство пост-панк групп отражает мир, как несводящийся ни к чему конкретному хаос, Shortparis идут дальше и вырисовывают хаосу контур.[/bilingbox]


    Pjotr Poleschtschuk, Original, 27.12.2018

    Eine klare politische Botschaft fehlt in Straschno, dafür ist das Video gespickt mit offensichtlich unvereinbaren Symbolen: Wenn die Protagonisten eine terroristische Gruppierung mimen, die in eine Schule eindringt, kann das als Anspielung auf die Geiselnahme von Beslan verstanden werden, oder auf den Amoklauf von Kertsch im Oktober 2018, bei dem ein College-Student 20 Menschen und schließlich sich selbst erschoss. 

    Auch die massiven Jugendproteste werden damit assoziiert sowie Pogrome gegen Gastarbajtery. Sehen die Terroristen für viele etwa deshalb wie Neonazis aus? Doch warum ist das Video dann auf Arabisch untertitelt? Und dann auch als Karaoke? Warum diese abrupten Szenenwechsel und die Anklänge an eine brausende Gay-Party?

    Solche Widersprüche scheinen Shortparis auch zu leben: Mit dem russischen Jugendschutzgesetz hätten ihre Konzerte im Dezember leichterdings verboten werden können, wie die zahlreicher anderer Musiker auch. Im Februar traten die fünf Männer aus Sankt Petersburg mit Straschno aber in der Late-Night-Show Wetscherni Urgant auf, im Staatssender Erster Kanal. Irgendwie sind sie Underground, gleichzeitig zieren sie aber die Cover von populären Magazinen. 

    [bilingbox]Gibt es Grund für die Annahme, dass die Botschaft von Shortparis etwas grundlegend Neues ist? Kaum. Jedoch ist es in dem stickigen Raum schwierig – sogar der Hip-Hop kommt nicht mit deutlich politischer Kritik klar (und das als zweitbeliebtestes Genre beim Publikum) – , etwas stilistisch Besseres zu entdecken als Straschno. Möglicherweise ist in der Welt politischer und kultureller Analphabeten ein solcher Ästhetizismus im Verbund mit Dreistigkeit gar nicht die schwächste Reaktion. Und das ist keineswegs ein Zugeständnis.

    Im Endeffekt liegt bei Shortparis das interessante Paradox nicht im Aufeinanderprallen gegensätzlicher Ästhetik und nicht in der merkwürdigen Verbindung von Avantgarde und Pop. Das Paradox besteht darin, dass Shortparis es schafft, gleichzeitig allem und nichts Konkretem ähnlich zu sein. Denn es ist bekannt, „dass am Genie wundervoll ist, dass es allen ähnelt, ihm aber niemand.” Inwiefern das auf Shortparis zutrifft, wird die Zeit zeigen.~~~Есть ли основания считать, что высказывание Shortparis — это нечто беспрецедентно новое? Едва ли. Аналогии с небезызвестной «This is America» напрашиваются неспроста (но надо отметить, что цели у работ абсолютно разные). Однако в душном пространстве, где даже хип-хоп не справляется с внятной политической критикой (будучи вторым по популярности национальным жанром), трудно вспомнить более стильную работу, чем «Страшно». Возможно, в мире политической и культурной безграмотности эстетизм вкупе с дерзостью оказывается не самым слабым контрударом. И это ни в коем случае не скидка.
    В итоге самый главный парадокс Shortparis открывается не в столкновении противоположной эстетики и не в странном сочетании авангардной и поп музыки. Парадокс в том, что Shortparis умудряются напоминать одновременно всех и никого конкретного. И акцент здесь стоит делать все-таки на второй части предложения. Ведь, как известно, «в гении то прекрасно, что он похож на всех, а на него — никто». Насколько справедливо это в отношении Shortparis – время покажет.[/bilingbox]


    Pjotr Poleschtschuk, Original, 27.12.2018


     

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  • Musik der Perestroika

    Musik der Perestroika

    Ende März 2019 hat die britische Trip-Hop-Band Massive Attack beim sowjetischen Musik-Underground „abgekupfert“: Die Briten gaben bekannt, einzelne Lieder auf Röntgenbildern herauszubringen und so an einer Aktion gegen Zensur teilzunehmen. Tatsächlich war benutzter Röntgenfilm für die Musikliebhaber der Sowjetunion ein beliebtes Material gewesen, auf dem sie dem verbotenen Sound des kapitalistischen Westens lauschen konnten. Vinyl war nicht zu bekommen, Röntgenbilder aber schon – also kopierten die Melomany die wenigen ins Land geschmuggelten Platten darauf: Rock auf Knochen hieß der Tonträger, oder schlicht Knochen.
    Der Sound war schlecht, dafür konnte man die Röntgenfolien aber zusammenrollen. Dies war beispielsweise bei Miliz-Kontrollen ganz nützlich, denn Hören und Pressen „ideologisch untragbarer“ Musik hatte Strafen zufolge: vom Schulrauswurf bis zum Gefängnis. Noch 1982 startete der Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU Juri Andropow eine Anti-Rock-Kampagne. Rock schien für den ehemaligen KGB-Chef offensichtlich etwas, das sein wichtigstes Ziel gefährdete – den Erhalt der Stabilität.

    Der 2018 herausgekommene Film Leto (dt. Sommer) veranschaulicht den staatlichen Umgang mit der Rockszene der frühen 1980er Jahre. Der seit August 2017 unter Hausarrest stehende Regisseur Kirill Serebrennikow drehte eine Art Biopic über die Kultfiguren der damaligen Rockszene: Viktor Zoi und Mike Naumenko. Einige Filmkritiker und Zeitgenossen von Zoi warfen dem Regisseur vor, die musikalische Protestkultur der 1980er Jahre nicht authentisch darzustellen. Wie aber war die Musik der Perestroika?

    Links – 1986 war auch für den sowjetischen Pop eine Zäsur, rechts – „Rock auf Knochen“ – benutzter Röntgenfilm war ein beliebtes Material für verbotenen Sound aus dem Westen / © Dmitry Rozhkov unter CC BY-SA 3.0
    Links – 1986 war auch für den sowjetischen Pop eine Zäsur, rechts – „Rock auf Knochen“ – benutzter Röntgenfilm war ein beliebtes Material für verbotenen Sound aus dem Westen / © Dmitry Rozhkov unter CC BY-SA 3.0

    Repertoire, Aussehen, Bühnenverhalten – alles an der offiziellen sowjetischen Musik Estrada musste von Behörden gebilligt werden. Der Underground lehnte sich schon in den 1960er Jahren gegen diese Orchestrierung auf. Ab den späten 1970er Jahren ging es der musikalischen Protestkultur aber auch darum, mit Rock und Pop das Fundament des Regimes zu erschüttern und Voraussetzungen für politische Veränderungen zu schaffen.

    Wenn man Wladimir Rekschanan glaubt, dann hat sie das geschafft: Der Rockmusiker behauptet nämlich, dass Rock der sowjetischen Ordnung ab 1985 am meisten zusetzte – viel mehr noch als etwa Solschenizyns Archipel GULAG.1 Auch der Musikkritiker und Rockpionier Artemi Troizki strich in seinem frühen Standardwerk Rock und Subkultur in der UdSSR die Bedeutung von Rock für die Perestroika heraus.2 Die Musik und der Lebensstil, den sie transportierte, wurden im Lauf der Perestroika von der Gegen- zur Massenkultur. 

    Kanalisierung des Rock

    Bevor es jedoch dazu kam, wurde die „ideologisch untragbare“ Musik verboten und gejagt. Underground aufzuspüren und zu zerstören war offenbar nicht leicht, also versuchten die Behörden auch, ihn in staatliche Bahnen zu lenken. 1980 durften sowjetische Rockmusiker zum ersten Mal bei einer offiziellen Veranstaltung auftreten. Auf einem Festival in Tbilissi trafen sowohl bereits bekannte Bands wie Maschina Wremeni und Aquarium aufeinander als auch solche Exoten wie Sipoli aus der lettischen Stadt Jurmala und Gunesch aus dem turkmenischen Aschhabat.3

    Im Jahr darauf gründete man den Leningrader Rockclub. Auch diese Institution war vom KGB kontrolliert und reglementiert. Zu den bedeutendsten Künstlern des Clubs zählten Boris Grebenschtschikow und Mike Naumenko. Kultstatus genossen Viktor Zoi und seine legendäre Band Kino. Auch in Moskau, Swerdlowsk, Ufa und anderen Städten entstanden in den folgenden Jahren Rockclubs. 

    Doch trotz systematischer Kanalisierungs-  und Umerziehungsversuche wurde die dynamische Szene für den KGB gewissermaßen zum Geist, den er rief: Die teilweise Legalisierung führte zur Popularisierung des Rock; schon über das Festival in Tbilissi berichteten sowjetische Medien, was viele wohl als eine Wende empfanden. Außerdem konsolidierten die Behörden gewissermaßen die Szene: Die aus dem Underground geholten Musiker konnten sich zum ersten Mal miteinander vernetzen, was die Entwicklung des Rock vorantrieb. Der einstmals verbotene Sound schien gezähmt, doch fanden viele Musiker auch Schlupflöcher, durch die sie Andeutungen verbreiten konnten.

    Aus der Grauzone

    Schlupflöcher taten sich auch durch Blat auf: 1987 gründete der Musiker und Produzent Stas Namin im Moskauer Gorki-Park ein Zentrum, in dem er junge Musiktalente betreute. Namin ist ein Enkel des prominenten Parteifunktionärs und stalinschen Ministers für Außenhandel Anastas Mikojan. Mit diesem Status und seinen Beziehungen zur Parteiführung konnte er eine alternative Art der Organisation von Rockmusikern anrollen: Namins halb offizielles Studio im Grünen Theater des Gorki-Parks brachte solche Rockbands hervor wie Brigada S und Kalinow Most. Die bekannteste von allen war Gorky Park – die erste sowjetische Rockband, die im Ausland auftrat.

    1989 organisierte Namin das legendäre Peace Music Festival, das oft mit Woodstock verglichen wurde und zu dem solche westlichen Stars wie Ozzy Osbourne, Bon Jovi, Scorpions oder Cinderella kamen. Es fand im Moskauer Olympiastadion vor zehntausenden Zuschauern statt und gilt heute als eine Veranstaltung, die den Eisernen Vorhang erst richtig öffnete. In dieser Atmosphäre und infolge Klaus Meines Besuchen in Namins Zentrum entstand der legendäre Hit der Scorpions Wind of Change, der 1990 veröffentlicht wurde und im Westen als die Hymne der Perestroika gilt.

    Hymnen der Perestroika

    Die Frage nach der Hymne der Perestroika ist auch im heutigen Russland umstritten. Viele halten Viktor Zois Chotschu Peremen! (dt. „Ich will Veränderungen!“) dafür. 1986 erklang es zum ersten Mal: im Leningrader Rockclub schlug es mit seiner Wut wie eine Bombe ein. Im April 1989 kam es mit dem Album Posledni geroi (dt. „Der letzte Held“) auf den Markt.

    Demgegenüber ging das 1986 entstandene Aerobika der 1983 gegründeten Band Alisa einen Schritt weiter: Es forderte keine Veränderungen, es stellte sie fest, „aber nur fast“. 
    Das erste Rock-Video, das im sowjetischen Fernsehen gezeigt wurde, drehte der heutige Generaldirektor des russischen Zentralfernsehens Konstantin Ernst. Er zeichnete eine Atmosphäre der Underground-Ästhetik: Das Video beginnt in einer ranzigen Kommunalwohnung, an der Wand hängt ein Poster von Pink Floyd und aus dem Fernseher ist der Slogan „Es lebe unsere ruhmreiche sozialistische Heimat“ zu hören. Der punkige Protagonist und Bandleader Konstantin Kintschew kommt in Jeans und zerrissenem T-Shirt aus dem Bett, schaut sich im Spiegel an, spuckt auf sein Spiegelbild und verlässt die Wohnung. Lange geht er durch dunkle Kellerräume, bis er auf einer großen Konzertbühne vor zahlreichem Publikum erscheint. Der Text dazu lautet: „Wir können schon fast aufrecht stehen, wir haben schon fast alle Türen geöffnet, wir schreien schon fast nicht mehr SOS, wir hören schon fast auf keine Befehle mehr, es ist fast unmöglich uns [wie Vieh – dek] zu hüten … aber nur fast“. Sein Auftritt wird durch Bilder von Sportparaden der totalitären 1930er Jahre auf dem Roten Platz begleitet, die dann in Aerobic-Übungen umschlagen: Diese liefen zum ersten Mal 1984 im sowjetischen Fernsehen und avancierten alsbald zum begehrenswerten Symbol des US-amerikanischen Lifestyles.

    Kurz nachdem Jegor Letow aus der Zwangspsychiatrie entlassen wurde, schrieb er ebenfalls 1986 seinen bekanntesten Hit: Wsjo idjot po planu (dt. Alles läuft nach Plan). Das Lied besteht aus einem psychedelischen Mix aus einander abwechselnden Bildern, entlehnt dem Fernsehprogramm und sowjetischen Losungen. Der Autor bringt darin sarkastisch und voller Stjob seine Unzufriedenheit darüber zum Ausdruck, dass die Veränderungen nur sehr langsam passierten. Ähnlich wie Zoi war Letow eine Legende seiner Zeit. Er dichtete eine Mischung aus Alltagssprache und feingeistiger Philosophie, angereichert mit Mat. Dies, so einige Musikkritiker, sei die eigentliche Sprache des Undergrounds gewesen.

    Popsound der Perestroika

    Rock mit seinem Freiheitswillen galt als cool, davon wollten auch Popmusiker profitieren. Einige versuchten, die existenzielle Subversions-Ästhetik und die anarchischen Gesten zu übernehmen. Die Grande Dame der Estrada Alla Pugatschowa etwa griff für ihre Liedtexte auf die offiziell verbotenen Autoren wie Marina Zwetajewa und Boris Pasternak zurück. Mit dem Beginn von Glasnost verstieß sie regelmäßig gegen sprachliche Normen, stellte die gewohnten Geschlechterrollen in Frage und machte aus ihrem exzentrischen Privatleben eine öffentliche Performance. Mit dem Lied Ei, Wy tam nawerchu! (dt. Hey, ihr da oben!) appellierte sie schon 1984 an die Machtinstanzen und legte damit einen Grundstein für ihre eigene Subversions-Ästhetik, mit der sie gegen Konventionen des Regimes rebellierte. 1986 trat Pugatschowa mit dem Rockmusiker Wladimir Kusmin bei dem ältesten Popmusik-Wettbewerb Europas in San Remo auf. Die Zusammenarbeit wurde vor allem deshalb als Skandal aufgenommen, weil Pugatschowa eine Affäre mit dem deutlich jüngeren Kusmin hatte.

    Alltag und Sexualität

    1986 war auch für den sowjetischen Pop eine Zäsur. Die alten Stars der Estrada wurden von der jungen Generation verdrängt. Richtige Furore machten dabei Igor Korneljuk und Igor Skljar. Sie befreiten sich von ideologischen Fesseln und besangen alltägliche Lebenssituationen. So machte sich Korneljuk einen Namen, indem er vom Schwarzfahren in der Tram sang (Bilet na balet, dt. Ticket für Ballett).

    Skljar ging noch weiter und kündigte an, dass er einfach so mitten in der Arbeitswoche für ein paar Tage wegfährt (Na nedelku do wtorogo, dt. Für eine Woche bis zum Zweiten). Tunejadstwo (dt. etwa: Müßiggang, Arbeitsscheu und Sozialschmarotzertum) wurde in der Sowjetunion von 1961 bis offiziell noch 1991 strafrechtlich verfolgt, und Freizeit war vor allem dazu da, um sich für die Arbeit zu regenerieren. Mit seinem demonstrativen Hedonismus versuchte Skljar, dieses Konzept zu sprengen – und spielte dabei für die Sowjetunion eine ähnliche Rolle wie es die Gammler der frühen 1960er Jahre für Westdeutschland taten.4

    Der Rocksänger Kris Kelmi brach ein anderes Tabu: Sex. Sein Video Notschnoje randewu (dt. Nächtliches Rendezvous) von 1989 schilderte eine Beziehung zu einer Prostituierten und enthielt sehr freizügige Bettszenen. Im Gegensatz zum Video war der Text allerdings eher zurückhaltend und abstrakt.

    Die lettische Sängerin Laima Vaikule schlug in dieselbe Kerbe. Sie fiel durch ihren betont maskulinen Kleidungsstil auf und brachte damit eine besondere Note in die Popszene mit ein. Das Duett mit dem homosexuellen Sänger Waleri Leontjew brachte sie für lange Zeit in die Charts.

    Nachdem Kelmi, Vaikule und Leontjew das Sex-Thema salonfähig gemacht hatten, griffen es auch zahlreiche Girl- und Boybands auf. Damit explodierte das enge Korsett der sowjetischen Zensur endgültig, und die musikalische Revolution entlud sich in knalligen Musikvideos. So trällerte etwa die sexy gekleidete Solistin der Band Kombinazija darüber, dass russische Frauen vom Sex mit US-amerikanischen Männern träumten und bereit seien, ihr Glück außerhalb der Sowjetunion zu versuchen.

    Boybands wie Laskowy mai und die gayfriendly Na-Na brachen bei ihren Konzerten alle Besucherrekorde. Nicht orchestrierte Banner, Interaktionen mit den Zuschauern und emotionale Reaktionen waren bei sowjetischen Konzerten streng verboten. Das Aufheben der Verbote war eine markante Wende und gilt heute als Anfang des Showbusiness.

    Freiheit der Liebe und Liebe zur Freiheit

    Während ab Mitte der 1980er Jahre Zensur und Konzertverbote allmählich nachließen, etablierten sich neue politische und marktwirtschaftliche Selektionsmechanismen. Es fing die Epoche der „wilden 1990er“ an. Als symbolisches Ende der Perestroika kann vor diesem Hintergrund die Ermordung des Sängers Igor Talkow im Jahr 1991 betrachtet werden. Talkow wurde auf der Bühne wegen krimineller Auseinandersetzungen im Showbusiness erschossen.5 Im gleichen Jahr starb auch der Leader der Band Zoopark Mike Naumenko.

    Sowohl Naumenko als auch Zoi besangen in ihren Liedern vor allem die Freiheit der Liebe und die Liebe zur Freiheit. Genau darüber drehte Serebrennikow seinen Film Leto. Diese künstlerische Freiheit sollte man dem Regisseur gewähren. Genauso wie die Freiheit des Standpunkts über die Zeit, in der die sowjetische Musik lernte, „aufrecht zu stehen“. 
    Serebrennikow kündigte kürzlich an, sein nächstes Projekt Alla Pugatschowa zu widmen. 


    1. Sobaka: 30 let perestrojke: glavnye simvoly vremeni ↩︎
    2. Troickij, Artemij (1989): Rock in Russland: Rock und Subkultur in der UdSSR, Wien ↩︎
    3. Troickij, Artemij (2008): Gremučie skelety v škafu, tom 2: Vostok aleet, Sankt Petersburg ↩︎
    4. vgl. Siegfried, Detlef (2006): Time is on my Side: Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen ↩︎
    5. YouTube: Istorija rossijskogo schou-biznesa ↩︎

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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    Verbotene Lieder

    2018 sind in Russland erneut verbotene Musik und schwarze Listen von Musikern aufgetaucht, ganz nach Vorbild der UdSSR 1984. Diverse Machtinstanzen, angefangen bei städtischen Verwaltungen und regionalen Staatsanwaltschaften bis hin zu den Ermittlungsbehörden der Russischen Föderation, haben sich der Analyse populärer Songs auf VKontakte verschrieben, haben nach Propaganda für Suizid, Extremismus, Drogen und sogar Kannibalismus gesucht und als präventive Maßnahme schlicht „per Telefon“ Konzerte abgeblasen.

    Unter den Opfern fanden sich Poschlaja Molli (dt. „Gemeine Molli“), Friendzona, Monetotschka (dt. „Kleine Münze”), Allj, Gunwest, Jah Khalib, Matrang, Husky und IC3PEAK – diese völlig unterschiedlichen Künstler waren gezwungen, ihre Auftritte abzusagen oder zu unterbrechen und wurden von der Polizei festgehalten und gefilzt.

    Das einzige, was diese Musiker verbindet, ist wohl ihre Beliebtheit bei der Generation VKontakte und die Beunruhigung, die bei der älteren Generation ausgelöst wird durch ihren Einfluss auf die jungen Gemüter; diese ältere Generation fordert nun im Namen aller Eltern in ganz Russland, [die Jugend] „abzuschirmen und zu beschützen“. Dafür bedient sie sich so traditioneller wie ineffektiver Methoden: Denunziation und Druck, die in polizeiliche Willkür münden.

    Der Grad an Besorgnis ist dermaßen ausgeartet, dass man sich angesichts der zersetzenden Kraft der neuen russischen Popmusik, die laut den Beschwerdeführern auf den Säulen „Sex, Drogen und Protest“ ruht, mit dem Präsidenten der Russischen Föderation beriet. Der bemerkte weise, es sei zwecklos, Konzerte zu verbieten – wenn man die Bewegung nicht aufhalten könne, müsse man sie organisieren und lenken. Damit ist der Staatsauftrag für korrekte, ideologisch reine, sterilisierte und fettfreie Popmusik bereits formuliert; warten wir also ab, wie die wachsamen Veteranen des Showbiz und die Funktionäre des Kulturministeriums ihn im neuen Jahr umsetzen werden.


    KONZERT DES JAHRES

    Soli-Konzert für Husky: Ich werde meine Musik singen im GlawClub Green Concert

    Die breiteste Medienresonanz in der Reihe der Konzertabsagen und -verbote hat der Fall Husky ausgelöst. Husky alias Dimitri Kusnezow hatte auf die Provokation durch die Polizei reagiert und sich in Krasnodar zwölf Tage Haft wegen „geringfügigen Rowdytums“ eingehandelt – dadurch konnte er die russische Rap-Szene hinter sich vereinigen. 

    Das Solidaritätskonzert Ich werde meine Musik singen, das [seine Rapper-Kollegen] Oxxxymiron, Noize MC und Basta daraufhin auf die Beine stellten, war schon wenige Stunden nach den ersten Ankündigungen ein historisches Ereignis: Die Tickets waren im Nu ausverkauft, die Kasseneinnahmen in Höhe von sechs Millionen Rubel flossen in die Hilfe für Husky, die Strafe wurde infolge des ganzen Rummels überprüft und der Rapper sogar wieder freigelassen. 

    Das Soli-Konzert hat gezeigt, dass russische Musiker durchaus in der Lage sind, für sich und das Recht auf Meinungsäußerung einzustehen, wenn sie es schaffen, an einem Strang zu ziehen.


    NACHWUCHS DES JAHRES: SONGWRITING

    Monetotschka: Raskraski dlja Wsroslych (dt. „Ausmalbilder für Erwachsene“)

    Die Jugend (und das Äußere) der aktuellen Interpreten und vor allem Interpretinnen – vor allem das hielt die Beobachter der inländischen Popkultur in diesem Jahr beschäftigt. Das zweite Album von Monetotschka alias Lisa Gyrdymowa ist wohl das bestartikulierte Argument dafür, der Jugend so oft wie möglich das Recht auf ihre Stimme zu geben: Das Album ist zeitkritisch, brandaktuell, witzig, weise, sanft, treffsicher und zu hundert Prozent von heute.

     


    NACHWUCHS DES JAHRES: TEXTE


    Lizer: Teenage Love
    GONE.Fludd: Supertschuits

    Auch die hippe russische Rapszene verjüngte sich in diesem Jahr rasant: Die erdrückende Mehrheit der lautesten und herausragendsten Rap-Platten des Jahres kam von Künstlern um die zwanzig. Am liebsten mögen wir diese zwei Jungs, die beide von ihrer eigenen individuellen Seite ins Rap-Spiel eingestiegen sind. Lizer hat der leicht miefigen machohaften Welt des russischen Rap eine jugendlich-anrüchige, geradlinige Aufrichtigkeit eingehaucht, GONE.Fludd hat ihr die verrückten Farben psychedelischer Fantasien verpasst und dabei eine ganz eigene Sprache erfunden.


    COMEBACK DES JAHRES

    Yury Chernavsky: Woswraschtschenije na Bananowyje Ostrowa (dt. „Rückkehr auf die Bananeninseln“)

    Ohne Yury Chernavsky – den ersten Produzenten der UdSSR – wäre die auch so nicht gerade farben- und stilfrohe russische Popszene noch weitaus ärmer. Wie großartig und symbolisch, dass sich der Maestro, der längst in den USA lebt, zum 35. Geburtstag seines Kultalbums Bananowyje Ostrowa erstmals wieder der russischen Öffentlichkeit präsentierte.


    ROOTS DES JAHRES

    Abstraktor: Abstraktor

    Konservatorium umarmt Kornfeld (oder umgekehrt). Im Bandnamen des Woronesher Trios Abstraktor trifft „Abstraktion“ auf „Traktor“, während in ihrer Musik kompositorischer Post-Jazz auf Folk trifft – und was dabei herauskommt, ist unfassbar ansteckend und lebendig. Nein, echt, das ist, als würdest du selbst übers Feld laufen, deine Hände fahren durch die Ähren, und der vom Wald herüberwehende Wind lässt Haar und Hemd aufwirbeln.


    KAMPF DES JAHRES

    Posory: Dewitschje gore (dt. „Schande“: „Das Leid der Mädchen“)

    Die Girls schlagen zurück – zornig, laut, kompromisslos, hinreißend. Das Debüt-Minialbum des Trios aus Tomsk betritt das (leider brandaktuelle) Schlachtfeld der Geschlechter erhobenen Hauptes, mit geballten Fäusten und der Bereitschaft, sofort und mehrfach jedem eine reinzuhauen, der ihnen Steine in den Weg legt – und das klingt so gerecht und hammermäßig, dass man unmöglich nicht aufstehen und mitlaufen kann.


    BEGEGNUNG VON VERSTAND UND TANZ DES JAHRES


    Kate NV: Dlja/For
    GSch: Polsa (dt. „Nutzen“)

    Diese zwei Alben klingen vielleicht nicht unbedingt ähnlich – auf dem einen spielt impressionistischer Ambient mit Klängen, auf dem anderen donnert architektonisch ausgefeilter Indie-Rock mit Gitarren. Und doch haben diese beiden Projekte, vereint in der Person von Katja Schilonossowaja, etwas gemeinsam – allem voran das Vermögen, sich bei aller formellen intellektuellen Strenge der Musik dem Leben und der Freude, der Sonne und dem Tanz zu öffnen. Blendend.

    [video:]

    DIE HOFFNUNGEN DES JAHRES

    Die „Neue russische Welle“ im Ausland

    2018 verlässt uns mit dem Gefühl, dass die russischen Musiker keine Angst vor dem neuen Eisernen Vorhang haben, der zwischen Russland und dem Rest der Welt durch die Außenpolitik des Landes und die Wirtschaftssanktionen errichtet wird.

    Trotz der unvorteilhaften Medienumgebung und den unvermeidbaren Übersetzungsproblemen nimmt der Westen unser Produkt mit großem Interesse auf. Die ausländische Musikpresse schreibt plötzlich begeistert von einer „Neuen russischen Welle“ – zum ersten Mal seit dem Roten Rock der Perestroika-Zeit. Und sie haben allen Anlass dazu: Die internationalen Erfolge von Kate NV, GSch, Shortparis, Kedr Livanskiy und selbst der Meme-Hit Skibidi von Little Big lassen hoffen, dass der Prozess der kulturellen Integration gerade erst an Fahrt aufnimmt.


    RITT DES JAHRES

    Pognali: Ty w porjadke (dt. „Auf gehts!“: „Du bist in Ordnung“)

    Pognali machen Rockmusik, die so erschütternd klar ist, als käme sie geradewegs aus den 1968ern zu uns – noch bevor die Gigantomanie des Progressive Rock mit ihren lauten E-Gitarren die Musik überwuchert hat und wir uns wie mit einer Elektroschockbehandlung mit dem Primitivismus des Punk davon reinwaschen mussten.

    Das ist wahrscheinlich der größte Triumph des Albums – hier erklingt Musik, die man vom Aufbau her instinktiv dem Classic Rock zuschreiben will, doch dabei hat sie nichts von all dem unangenehmen Gepäck, das sich über fünfzig Jahre darin angesammelt hat: dem Konservatismus, dem Macho- und Posergehabe. Nur ausgelassene Virtuosität und reine, glückselige Energie.


    MUSICAL DES JAHRES

    Leto

    Kirill Serebrennikow hat mal wieder ins Schwarze getroffen: Der auf wahren Begebenheiten basierende Musikstreifen Leto hat unglaubliche Resonanz bekommen und das Publikum maximal polarisiert. Dabei ist das Skandalpotential der Geschichte strenggenommen minimal – ein platonisches Techtelmechtel aus einem Sommer im fernen Jahr 1981. Aber weil in das Liebesdreieck zwei Helden des russischen Rock verstrickt sind – der Heilige (Viktor Zoi) und der Kultstar (Mike Naumenko) – hat der Film niemanden kaltgelassen.


    INFERNO DES JAHRES

    Jars: Dshrs II

    „Sabotiert alles!“, schreit sich die Moskauer Band Jars die Lunge aus dem Hals, während dazu der Bass ohrenbetäubend dröhnt, die Gitarre heult und kreischt und das Schlagzeug scheppert wie ein Metro-Waggon, der über deinen Kopf rast. Der blindwütige Noise-Rock von Jars wirkt so ähnlich wie ein Molotowcocktail, der in deinem Gesicht landet – schlag zu, renn, brüll, schüttel dich in Krämpfen, tu, was du willst, aber vergiss keine Sekunde, dass du immer noch kategorisch und voller Wut am Leben bist.


    Übersetzung (gekürzt): Jennie Seitz
    Veröffentlicht am 08.01.2019

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