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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Cancel Russia aus dem Kreml

    Cancel Russia aus dem Kreml

    Die russische Sängerin Monetochka und der Rapper Noize MC sind für den Friedensnobelpreis 2025 nominiert. Eine Gruppe norwegischer Professoren hat die Kandidaturen im Dezember 2024 eingebracht: Mit ihren Stimmen, so die Begründung, würden die beiden Musiker eine Generation vertreten, die für humanistische Werte einstehe.  

    Monetochka und Noize sind zwei von hunderten (wenn nicht tausenden) russischsprachigen Musikern, die Russland wegen dessen Krieges gegen die Ukraine den Rücken gekehrt haben. Heute leben sie überall in der Welt verstreut, nehmen neue Songs auf, gehen auf Tour und sammeln Spenden für die Ukraine. Ihr künstlerischer Protest gegen Putins Russland bildet eine neue Gegenkultur, die hunderttausende Exilierte vereint. Ihre Kreativität verschafft ihnen darüber hinaus auch Resonanz bei den Nicht-Russischsprachigen. 

    Was hat der Kreml mit Konzertverboten, Stigmatisierung als „Agenten“ und Massenexodus der Kreativen verloren? Was und wer bildet heute die russische Musikkultur? Und wie kann ihre Zukunft aussehen? In einem Parforceritt durch die neuere Musikgeschichte Russlands geht der Journalist Pawel Kanygin diesen Fragen für Prodolshenije Sledujet nach.   

    Erinnern Sie sich an Namen wie Ivan Urgant und Ivan Dorn? Bis vor Kurzem wurden diese noch ständig im Fernsehen gezeigt. Jetzt werden Sie in Russland keinen dieser Ivans mehr zu sehen bekommen. Einer entpuppte sich als Ukrainer, der andere sympathisiert mit der Ukraine. So einfach ist das. 

    Der Gedanke mutet heute seltsam an, aber bis vor Kurzem war die russische Musikindustrie wirklich offen, sowohl gegenüber ihren „Nachbarn“ als auch gegenüber „Einflüssen aus dem Ausland“, wie die heutigen Abgeordneten sagen würden. Und erstaunlicherweise hat ihr diese Offenheit absolut nicht geschadet. Im Gegenteil: Bevor der Krieg begann, war in Russland eine moderne, wettbewerbsfähige Musikkultur herangereift. Man interessierte sich im Ausland für unsere Musik, nahm sie zum Vorbild, lernte von uns! 

    Mit dem Verlust der Musik hat Russland auch an Soft Power verloren. Musiker haben über alle Grenzen hinweg einen gemeinsamen kulturellen Raum geschaffen, der Russland mit seinen Nachbarn verband – bis der Staat kam und alles zerstörte. 

     
    IC3PEAK: Alles soll brennen  

    Vom Stillstand zur Moderne 

    In den vergangenen gut dreißig Jahren hat sich die russische Musikszene mehrfach komplett neuformiert. Auch wenn die sowjetische Musik westliche Trends aufnahm, geschah dies nur äußerst langsam. Während in den 1960er und 1970er Jahren auf der ganzen Welt die Rockmusik ihren Höhepunkt erreichte, erlangte der Rock in der Sowjetunion erst Ende der 1970er Jahre allgemeine Anerkennung, und zu Stars wurden seine Vertreter überhaupt erst nach Beginn der Perestroika. Bis dahin war der Rock unter sowjetischen Behörden nicht wohlgelitten, die Musiker verdienten ihr täglich Brot in Fabriken, und der legendäre Viktor Zoi verdingte sich als Heizer. 

    Das hatte zur Folge, dass die Musikindustrie nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem Fall des Eisernen Vorhangs den Westen aktiv einzuholen versuchte – was ihr bis etwa Mitte der 2010er Jahre tatsächlich gelang: Vergleicht man die einzelnen Genres, so hatte sich die russische Musik dem Westen bis zu diesem Zeitpunkt maximal angenähert

    Zum wichtigsten Genre entwickelte sich der Rap. Vergleicht man den russischen und den amerikanischen Rap der Nullerjahre, so könnte man meinen, es handele sich nicht nur um unterschiedliche Genres, sondern um zwei völlig unterschiedliche Phänomene. Zwischen Mnogotochie und Jay-Z bestehen nicht sehr viele Gemeinsamkeiten. Vergleicht man jedoch den russischen und den amerikanischen Rap Ende der 2010er Jahre, lassen sich kaum noch Unterschiede feststellen. In Russland wurde alles übernommen: nicht nur der Stil, sondern auch etwa die Form der Battles. Dabei erwiesen sich die Nachahmer als äußerst talentiert und brachten ihren ganz eigenen Sound ein. Zu den größten Stars des russischen Rap gehörten Noize, Oxxxymiron, Kasta und natürlich das elektronische Hip-Hop Duo AIGEL. 

     

    Über 130 Millionen Aufrufe für Tatarin von  AIGEL

    Die gleiche Entwicklung lässt sich bei dem russischen Rock beobachten. In den Nullerjahren war es üblich, die russische mit der westlichen Rockszene zu vergleichen und die kleinen Unterschiede hervorzuheben: Viele behaupteten zum Beispiel – und behaupten bis heute -, der russische Rock sei lyrischer und textbasierter.  

    Doch schon Mitte der 2010er Jahre änderte sich die Situation grundlegend. Seit Radiosender und Fernsehen an Bedeutung verloren und es immer mehr Möglichkeiten gab, Musik über das Internet zu verbreiten, veränderte sich die russischsprachige Rockmusik. In Russland entwickelte sich eine einflussreiche und vielfältige Post-Punk-Szene. Im englischen Sprachraum lassen sich leicht Diskussionen finden, in denen Bands wie Molchat Doma oder Buerak besprochen werden. Plötzlich stellte sich heraus, dass russischsprachiger Rock nicht zwangsweise Kino, Grebenschtschikow oder DDT war. Der moderne Rock klang anders und sprach nicht nur russischsprachige Hörer an.  

     

    Die belarussische Band Molchat Doma ist nach der Protestwelle 2020 in die USA emigriert 

    Ebenso veränderte sich auch die Popmusik. Aus heutiger Sicht muten die Hits der Nullerjahre seltsam an. Man mag es kaum glauben, dass die Menschen sich damals mit Genuss Lieder wie „Schokoladny sajaz“ [dt. Der Schokoladenhase] anhörten. Aber mit der Zeit klang die Popmusik immer besser. Das lag vor allem an der Entstehung neuer Kanäle für den Musikvertrieb sowie an der schwindenden Rolle der Produzenten. Mit dem Aufkommen von Online-Plattformen in den 2010er Jahren und dem zunehmenden Einfluss sozialer Netzwerke wurden diese immer unwichtiger. Nun mussten Musiker nicht mehr um ihre Gunst werben, um im Radio oder einem der Musiksender im Fernsehen gespielt zu werdenю Sie konnten ihre Hörer selbst im Internet finden.  

    Streben hin zum russischen Markt

    Die moderne russische Musikszene – also die vor dem Krieg – setzte sich aus vielen einzelnen Teilen zusammen. Es gab immer noch Künstler, die sich in der Sowjetunion einen Namen gemacht hatten. Es gab diejenigen, die man erst in den 1990er Jahren wahrgenommen hatte. Die Projekte der Musikproduzenten aus den Nullerjahren wirkten fort. Und natürlich erschienen neue Interpreten im Internet, die anfänglich niemand ernst nahm. 

    Die russische Musikindustrie nahm nicht nur Einflüsse aus dem Westen auf, eine große Rolle spielten auch die direkten Nachbarn. Russland als größtes Land der zerfallenen Sowjetunion bot einen riesigen Markt für Musiker. Es ist daher nicht erstaunlich, dass Künstler aus den ehemaligen Sowjetrepubliken auf Russisch sangen. So wurde die russische Musikindustrie zu einem großen Schmelztiegel.  

    Einige Künstler waren so feste Bestandteile des russischen Marktes, dass den Hörern womöglich gar nicht klar war, dass sie aus einem anderen Land stammten – beispielsweise der Rapper T-Fest aus der Ukraine, die Bands NEMIGA, LSP sowie die Sängerin Palina aus Belarus, Kaspiski grus aus Aserbaidschan. In den Hitparaden waren immer wieder Titel ukrainischer Interpreten zu hören – von Verka Serdyuchka und Vera Breshneva bis hin zu Ivan Dorn, Max Barskich, der Band Griby und der Band Poshlaya Molly, die in Russland wahrscheinlich von allen die meisten Nachahmer hat. 

     

    Poshlaya Molly – Mishka  

    Auch die Labels achteten nicht darauf, woher die Künstler kamen. So wurde der Belarusse Max Korzh über das russische Lable Kasty berühmt und der kasachische Rapper Skryptonite über Gazgolder. Für die Musiker war die russische Sprache der Schlüssel zu einem großen Markt, und das nutzten sie. Für Russland bedeutete das eine gewaltige Soft Power. Doch hat unser Land es nie gelernt, diese zu seinem Vorteil zu nutzen. Gewalt scheint unserer Staatsmacht immer noch der schnellere und einfachere Weg zu sein. 

    Staat vs. Business

    In den Nullerjahren kümmerte sich die Politik kaum um die Musik, doch in den 2010er Jahren gerieten die Musikschaffenden in den Fokus der Staatsgewalt. Sowohl Abgeordnete als auch dafür bezahlte Personen des öffentlichen Lebens setzten sich wiederholt für ein Verbot von Liedern und Künstlern ein, zahlreiche Konzerte wurden gesprengt.  

    Erinnern wir uns an die Skandale im Zuge des Eurovision Song Contests, als die Abgeordneten der Staatsduma ernsthaft darüber diskutierten, wer uns vertreten dürfe: 2020 wurde bekannt gegeben, dass die Gruppe Little Big für Russland antreten würde. Die Band veröffentlichte damals den Videoclip Uno und wenige Monate später S*ck My D*ck 2020. Natürlich konnte der Freak-Abgeordnete Witali Milonow das nicht unkommentiert lassen: „Das ist absolut abscheuliche Musik für Perverse“, erklärte er und fügte hinzu, dass der Clip nichts mit Kunst und Ironie zu tun habe und nur „absolute Scheusale“ ansprechen könne. 

    Als 2021 die in Tadschikistan geborene Manizha für Russland zum Wettbewerb fuhr, rief die Abgeordnete Jelena Drapeko dazu auf, den Auftritt der Sängerin unter russischer Flagge zu verhindern. Komischerweise forderte sie auch, nicht Manizha zum Wettbewerb zu schicken, sondern Little Big. Milonow war also dagegen, Drapeko dafür, und niemand wird jemals die Logik hinter ihren Positionen verstehen. 

     

    Gemessen in YouTube-Aufrufen, ist Skibidi wohl der größte musikalische Kulturexport der jüngsten russischen Geschichte.  

    Der Krieg setzte all diesen Streitigkeiten ein Ende. Der Frontmann der Band Little Big, Ilja Prusikin, verurteilte die russische Aggression. Wenige Monate nach Beginn des Krieges reiste die Band in die USA aus, und weitere sechs Monate später wurde ihr Frontmann zum „ausländischen Agenten“ erklärt. Auch Manizha tritt nicht mehr in Russland auf. Ebenso wie viele ukrainische Künstler natürlich. 

     

    Manizha tritt in Russland nicht mehr auf, 2024 hat sie jedoch in Moskau einen Antikriegs-Clip aufgenommen. 

    Was ist nun aus der russischen Musikindustrie geworden? Monetochka singt über die Emigration. Pornofilmy touren mit Liedern über das Putin-Regime um die Welt. Auf der anderen Seite schreien Musiker, die ehemals über Mephedron sangen, nun „Russland, Russland“ bei ihren Konzerten und versuchen zugleich, nicht die Aufmerksamkeit von Jekaterina Misulina auf sich zu ziehen.  

     

    Monetochka: Das war in Russland, also ist es lange her.  

    Staatlich verordnete Kultur 

    Und hier stellt sich die Frage: Wie kann es sein, dass der Staat nicht selbst begreift, dass sich die Interessen des Landes gerade über die Kultur auf internationaler Ebene viel effektiver vorantreiben lassen als mit Hilfe von Waffengewalt? Ich denke, die Machthaber begreifen das sehr wohl, nur tun sie dies auf ihre ganz eigene Weise: 

    Auf der ganzen Welt wurden unter der Ägide von Rossotrudnitschestwo sogenannte „russische Häuser“ eröffnet. Ihre Aufgabe besteht eben darin, die russische Kultur zu verbeiten. Aber was verstehen ihre Führungskräfte unter russischer Kultur? Ein paar dutzend Schriftsteller, ein Dutzend Komponisten und exakt zwei Regisseure, das war’s. Die russischen Häuser verfügen über einen Telegram-Kanal, der dies sehr deutlich veranschaulicht: Die Ukraine wurde [Stand: 01.10.2024] in 252 Beiträgen erwähnt, Puschkin in 234, Putin in 220. Michail Bulgakow und Joseph Brodsky dagegen jeweils nur sechsmal, und Nabokow wird überhaupt nicht erwähnt.  

    Aber die russische Kultur wird vom Westen gecancelt, nicht dass Sie durcheinanderkommen! 

    Der russische Staat behandelt die Kultur wie eine heilige Kuh und glaubt aus irgendeinem Grund, sie permanent retten zu müssen. Lew Tolstoi ist in der Vorstellung der Staatsbeamten und Propagandisten anscheinend so unbedeutend, dass er einfach verschwände, würde Margarita Simonjan ihn nicht verteidigen. Und wenn wir nicht unablässig über Pjotr Tschaikowski reden, werden seine Werke nirgends mehr aufgeführt werden. Dabei sind es die USA, in denen am Unabhängigkeitstag die Ouvertüre „1812“ erklingt. Kann sich irgendjemand erinnern, wann dieses Werk in Russland zum letzten Mal bei einer großen öffentlichen Veranstaltung zu hören war? Unsere Hymne ist die sowjetische und das Einzige, was bei offiziellen wie inoffiziellen Veranstaltungen gespielt wird, vielleicht noch gefolgt von einem Lied von Schaman. Und das sollen wir dann also als russische Musikkultur betrachten? 

    Banale Geschmacklosigkeit  

    Während unsere, und nicht nur unsere, Musiker, ohne es zu wollen, gezeigt haben, dass Russland über eine lebendige, moderne Musikkultur verfügt, die in der Welt wahrgenommen wird, gaben sich unsere Beamten alle Mühe, sich selbst und alle um sie herum zu konservieren. Dabei geht es nicht nur um den fanatischen Hang zur antiwestlichen Rhetorik, eine große Rolle spielt wahrscheinlich ganz banale Geschmacklosigkeit. Hören Sie sich einmal das Ende des Stücks Spolna an, das von Katya Lel gesungen wird. Wissen Sie, wer es geschrieben hat? Die Pressesprecherin des Außenministeriums, Maria Sacharowa. Damit ist klar, dass solche Menschen Schaman aufrichtig für einen außergewöhnlichen Komponisten halten können. 

     

    „Mit einer Tüte überm Kopf / und Elektroden am Arm / sitzt mein Russland im Knast / aber glaub mir: Das geht vorbei!“ Eto proidjot (dt. Es geht vorbei) ist eine der vielen russischen Protesthymnen. 

    Doch was ist mit der echten russischen Musik? Wird sie wirklich in diesem Sumpf untergehen? Wenn ich darüber nachdenke, kommt mir ein banaler Gedanke in den Sinn: Die Wendepunkte in der russischen Geschichte gingen immer mit einem gewaltigen Aufschwung der Kultur, insbesondere der Protestkultur einher. So fiel das silberne Zeitalter der russischen Poesie mit dem Untergang des Russischen Reichs und der Gründung der Sowjetunion zusammen. Der Russische Rock lieferte den Soundtrack zur Perestroika und zum Zerfall der Sowjetunion. Das heißt nicht, dass ich unserem Land eine neue schwere Prüfung prophezeien möchte, aber diese ganze herangereifte coole Musikkultur der Kriegsära lässt sich da ohne Umstände einreihen. 

     
    Schwanensee ist heute ein Code für Aufruhr und Umsturz / Video: Noize MC Kooperatiw „Lebedinoje osero“ 

    Die Stimme unserer Musiker ist lauter als die der Politiker. Keine Propaganda wird sie übertönen – und das ist vielleicht der Grund, warum die Herrschenden solche Angst vor ihnen haben. Vielleicht haben sich die russischen Staatsbeamten deshalb die ganze Zeit über so vehement gegen die Soft Power der russischen Musikkultur gewehrt, weil diese weder lenk- noch kontrollierbar ist. Sie lässt sich nicht dazu benutzen, eine „Russische Welt“ zu konstruieren, sie baut und gestaltet ihre eigene unvorhersehbare, aber kluge und menschliche Welt. Eine, in der sich Menschen wie Putin, Sacharowa und Misulina sehr unwohl fühlen werden. 

    Es wird sich zeigen, wer letztlich stärker ist. Das aktuelle Konstrukt „Putins Russland“ oder die niemals vollständig erklärbare Urgewalt der Musik. 

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  • „Heimat, kehr zurück nach Hause“

    „Heimat, kehr zurück nach Hause“

    Im Frühjahr 2010 trifft sich Wladimir Putin mit Kulturschaffenden in Sankt Petersburg. Einer der Anwesenden erhebt sein Glas: „Ich möchte auf unsere Kinder anstoßen. Darauf, in was für einem Land sie leben werden: in einem finsteren, bösen, korrupten, totalitären, autoritären, mit nur einer Partei, einer Hymne, einer Denkweise … Oder in einem hellen, demokratischen Land, in dem wirklich alle gleich sind vor dem Gesetz. Mehr muss es nicht sein. Leider haben wir all das noch nicht. Aber ich wünsche sehr, dass unsere Kinder in diesem Land leben und gesund werden.“ Der Redner ist Juri Schewtschuk – eine Ikone der russischen Rockmusik, der mit seiner Band DDT Geschichte geschrieben hat.

    Für den Blog Inymi slowami hat Denis Bojarinow ein Porträt verfasst über den Rockstar und prominenten Kriegsgegner Schewtschuk, der seine Heimat über alles liebt und an ihr leidet.

    „Heimat, kehr zurück nach Hause … Werde nicht verrückt, das ist nicht dein Krieg“, beschwört Juri Schewtschuk auf seinem aktuellen Album / Foto © Imago, Scanpix

    In den engsten Kreisen des Leningrader Rock-Klubs erzählte man sich über Juri Julianowitsch Schewtschuk folgende Geschichte: Eines Nachts spazierte er mit ein paar Leuten über den Platz vor dem Winterpalast. Inspiriert startete er mehrere beharrliche Versuche, auf die Alexandersäule zu klettern, also auf ein mit den Armen nicht zu umfassendes Monument aus poliertem Granit. Er schaffte es nicht einmal auf den Sockel, brüllte aber laut über den ganzen Schlossplatz: „Ich fühle die Kraft in mir!“  

    Es gibt auch eine andere Geschichte. Ungefähr aus derselben Zeit, aber bereits dokumentiert. Bei einem Rock-Festival in Tschernogolowka bei Moskau im Juni 1987 trat Juri Schewtschuk mit seiner Band DDT in neuer Besetzung als Shootingstar des Undergrounds auf: Das ganze Land überspielte sich in dieser Zeit die Alben Periferija (dt. Peripherie) und Ottepel (dt. Tauwetter) auf Kassetten, und DDT galt als größte Entdeckung auf dem fünften Festival des Leningrader Rock-Klubs, das ein paar Wochen zuvor stattgefunden hatte. Frontman Schewtschuk – Bürstenschnitt, Militärhemd mit drei Oktjabrjata-Sternchen – eroberte mit seinem elektrisierten Auftritt die in Tschernogolowka versammelten Rockfans. Am Morgen mussten ihn die Festivalveranstalter aus einer Gefängniszelle befreien. Da war er hineingeraten, weil er in den frühen Morgenstunden in seinem Hotelzimmer eine klassische Rock’n’Roll-Aktion hingelegt hatte: Er warf Möbel aus dem Fenster und schrie: „Wer hat was zu trinken für den großen Sänger Juri Schewtschuk?“ Als die Polizei kam, schlief der Bandleader bereits; sie rüttelten ihn wach, und mit den Worten „Ich glaube, ich träume“ gab er dem nächststehenden Polizisten eins auf die Schnauze. So landete er im Tschernogolowker Kittchen, wo später eine Gedenktafel angebracht wurde: „Hier war vom 27. bis 28. Juni 1987 Juri Schewtschuk.“ Die ist aber heute bestimmt nicht mehr da.  

    Ungestüme Wildheit und eine unerklärliche Herzlichkeit

    Diese beiden Geschichten illustrieren die enorme Energie, die Juri Schewtschuk und seine Songs bis heute ausstrahlen: Zu so hochgradigem Übermut und ungestümer Wildheit waren nur wenige seiner zeitgenössischen Rock-Kollegen fähig. Ganz zu schweigen von den Nachfolgern; der Maßstab von Geste und Tat war später – tja, einfach nicht mehr derselbe. Das humanistische Pathos in Schewtschuks Songs, sein treuherziges Charisma und die unerklärliche Herzlichkeit, die ihm anhaftet, milderten die rockige Hochspannung immer schon ein wenig ab. Gänzlich verschwand sie aus den DDT-Songs aber nie. Mit den Jahren wurde Juri Schewtschuk vielleicht so etwas wie ein Lew Tolstoi des russischen Rock, doch Aufstand, Chaos und göttlicher Wahnsinn leben immer noch in seinem Herzen; jeden Moment kann in seinen Augen ein kecker Funken aufglühen und seiner Brust ein wilder Schrei entfahren. 

     
    Juri Schewtschuk singt den DDT-Song Swoboda (dt. Freiheit) von 1997

    Mit seinem dichten Bart, der unmodischen Frisur, der Intellektuellenbrille und dem bürgerbewussten Pathos in seinen Liedern sah Schewtschuk erwachsener aus als all die anderen Stars des Rock-Klubs. Sogar älter als Boris Grebenschtschikow, von [Rocksänger] Konstantin Kintschew oder Viktor Zoi ganz zu schweigen. Vor dem Hintergrund der Leningrader Rockszene, die stets die westlichen Trends im Blick hatte, wirkte Schewtschuk wie aus einer anderen Welt und einer anderen Zeit. Angeblich witzelten die hippen Petersburger Rocker hinter seinem Rücken und nannten ihn etwas abfällig den „Barden aus Ufa“. Irgendwie blieb er immer mit einem Bein in den 1970er Jahren – einem Jahrzehnt, in dem in der UdSSR die Subkulturen der Barden und der Hippies verbreitet waren. Schewtschuk schaffte es, diese beiden Richtungen in einer Person zu vereinen. 

    Ein Hippie aus der Provinz

    Seiner Abstammung nach ist Juri Schewtschuk ja wirklich ein Hippie aus der Provinz. Er singt auch oft von Hippies, Hippari, Hippany – mit besonderer Zärtlichkeit. Die sowjetischen Hippies waren Kinder aus der Mittelklasse, da war Schewtschuk keine Ausnahme; er ist ein Vertreter der „goldenen Jugend“, Sohn eines hochrangigen Parteifunktionärs im Regionalkomitee und einer Universitätsdozentin, die ihr Kind zum Künstler erzogen. „Ich bin selbst einer von denen“, gab Schewtschuk in seiner Satire Maltschiki-mashory (dt. Bonzenkinder) zu. Als Jugendlicher hing er auf dem Broadway von Ufa ab (der Lenin-Straße), hörte westliche Schallplatten, schrieb Lieder, die von Wyssozki und Okudshawa inspiriert waren, und versuchte sich als Rockmusiker. Einen ersten Konflikt mit der Polizei hatte er bereits als Schüler: Weil er ein T-Shirt mit dem selbst aufgemalten Schriftzug „Jesus war ein Hippie“ trug, wurde er auf die Wache mitgenommen.

    Schewtschuk ist und bleibt ein treuer Bekenner zum Weltbild der Blumenkinder. Seine Philosophie beruht auf den Maximen All you need is love und Make love, not war. Der erste Song von DDT, aufgenommen im Studio des baschkirischen Fernsehens, war die pazifistische Hymne Ne streljai (dt. Schieß nicht). Wie Schewtschuk sich erinnert, schrieb er dieses Lied, als er von einem aus Kabul zurückkehrenden Schulkollegen erfuhr, dass die UdSSR ihre Soldaten nach Afghanistan in den Krieg schickte und nicht, damit sie dort Kindergärten bauen, wie die Propaganda behauptete. Predigten vom Widerstand gegen das Böse mit Liebe und Güte sind in jedem DDT-Album zu hören, angefangen von Periferija aus dem Jahr 1984, mit dem Schewtschuk sich in Ufa Probleme mit dem KGB einhandelte. 

     
    Am 10. April 2022 spielt DDT Ne streljai (dt. Schieß nicht) im russischen Woronesh

    Die ersten, die den DDT-Sänger nach seinem erzwungenen Umzug von Ufa nach Leningrad schätzten und willkommen hießen, waren alteingesessene Hippies rund um Gena Saizew – dem ersten Vorsitzenden des Leningrader Rock-Klubs. Er vermutete in dem bärtigen Landei einen Nachfolger für Shora Ordanowski mit seiner Band Rossijane, der Anfang der 1980er Jahre der Star der Leningrader Hippieszene war. Gena führte Schewtschuk in die Bohème ein, machte ihn in der Puschkinskaja 10 bekannt und half ihm, in Leningrad neue Mitglieder für seine Band DDT zu finden, deren Manager er dann wurde. In Alexej Utschitels Dokumentarfilm Rok (dt. Rock), der die zukünftigen Idole kurz vor dem richtigen Durchbruch verewigte, sehen Schewtschuk und seine Clique wie eine happy Hippie-Kommune aus: Sie spazieren mit Frauen und Kindern durch die Natur, lachen von Bäumen herunter, machen Lagerfeuer und grölen Zigeunerlieder zu Gitarre und Geige. Häuptling dieses Camps ist Jurka Schewtschuk, noch mit langer Mähne wie der König der Löwen. 

    Er erzählt, wie wichtig ihm die Anerkennung seines Vaters war, der mit siebzehn Jahren als Soldat an die Front musste. Er hatte das, was sein Sohn tat, lange nicht verstanden und nicht akzeptiert, doch dann war er auf einem der ersten Konzerte von DDT in Leningrad, befragte das Publikum streng nach seiner Meinung und war mit den Reaktionen zufrieden. „Na, Papa, wie hat’s dir gefallen?“, fragte Schewtschuk ihn. „Wie auf dem Panzer nach Berlin!“, war die stolze Antwort des Vaters. 

     
    Ljubow (dt. Liebe) war der erste Song nach Schewtschuks Rückkehr aus dem kriegszerstörten Tschetschenien 1996. Später sagte der Musiker, dieser Song sei seine Rettung gewesen

    Im Herzen ein Hippie und bekennender Anarchist und Pazifist, kennt Juri Schewtschuk den Krieg nicht nur aus Erzählungen. Im Winter 1995 zog er mit seiner Gitarre los nach Grosny, das die russische Armee gestürmt hatte. Er sang für die Soldaten, machte sich als Pfleger nützlich und beteiligte sich am Austausch von Kriegsgefangenen. Als 1996 das Waffenstillstandsabkommen von Chassawjurt geschlossen wurde, gab DDT in Tschetschenien drei Konzerte: Im Stadion von Grosny für die Stadtbewohner und auf russischen Militärstützpunkten. Diese Touren machten auf Schewtschuk großen Eindruck. In Tschetschenien schrieb er seine eindringlichsten Songs – Mertwy gorod. Roshdestwo (dt. Tote Stadt. Weihnachten) und Pazany, und er trug ein posttraumatisches Belastungssyndrom davon. Doch seinem Glauben an die heilende Kraft der Liebe blieb er treu – das erste Lied nach seiner Rückkehr aus dem Krieg hieß Ljubow (dt. Liebe). Das gleichnamige Album erschien im selben Jahr, 1996. Später sagte der Musiker, dieser Song sei seine Rettung gewesen.      

    „Alle meine Lieder handeln von der Liebe und der Heimat“ 

    Liebe ist in Schewtschuks poetischer Welt mehr als eine philosophische Kategorie. Oft tritt sie als personifiziertes Wesen auf, meist als göttliche Natur. Oder als Mensch, dann trägt sie einen Frauennamen (Galja, Antonina, Jekaterina, Marina, Nacht-Ljudmila). Es kann auch ein reales Vorbild geben, wie im Fall von Aktrissa Wesna (dt. Schauspielerin Frühling), das Schewtschuk seiner ersten Frau Elmira widmete, die auf tragische Weise ganz jung an Krebs gestorben ist. Schewtschuks Glaube an die Kraft der Liebe, die auch das Ende aller Zeiten überleben wird, kommt in seinen Texten nicht nur in platonischer Form, sondern auch in sinnlichen Bildern zum Ausdruck, was für die sowjetische Rock-Tradition völlig untypisch ist, die von der westlichen Formel „Sex, Drugs & Rock’n’Roll“ abweicht. So ausgiebig wie er sang da wohl keiner über die irdische Liebe.

    Sein lyrisches Ich hatte niemals Potenzprobleme – in seiner Jugend faszinierte ihn der Körper („Ich falle von den Gipfeln deiner Brust. Ich irre durch die Taiga deines Haars“) genauso wie die Augen („Arterhaltung fordern diese Teufelsaugen!“). Sein Bett blieb nicht kalt: Schewtschuk sprach poetisch von einem „Hochofen zwischen den Beinen“, und dessen Hitze loderte in seinen Liedern. Bei den unschuldigsten Themen schwang der Eros mit, auch wenn es scheinbar um naturphilosophische Betrachtungen ging – wie etwa in dem Dauerhit Weter (dt. Wind): „O, schöne Weite, die den Himmel verschluckt / Wolken, die sich wie an die Geliebte an die Erde schmiegen / Wo du und ich unter einem einfachen Dach / aneinander Wärme suchen.“ Mit den Jahren denkt dieses Ich zwar mehr und mehr an das Ende des Lebens, doch seine Vitalität lässt trotzdem von sich hören: Im Album Twortschestwo w pustote – 2 (dt. Kreativität in der Leere – 2) aus dem Jahr 2023 heißt es: „… und die Alte mit der Sense will Sex mit mir“. 

     
    Weter (dt. Wind) aus dem Jahr 1995 zählt zu den Dauerhits von DDT

    „Alle meine Lieder handeln von der Liebe und der Heimat“, sagt der DDT-Leader gern mit einem Augenzwinkern, wobei das nicht nur ein Witz ist. Seine Heimat hat Schewtschuk sogar noch lieber als die Frauen. Sie ist die Heldin seiner feurigsten Romanzen und Grund für bittere Beobachtungen voller Enttäuschungen. Wie wir aus seinem berühmten Song wissen, der jetzt am Ende von Konzerten im Ausland immer auf besondere Weise erklingt, ist die Heimat grad „ein Dornröschen, das Arschlöchern vertraut“, und davon kommt alles Übel. 

    „Heimat – das ist nicht der Arsch des Präsidenten“ 

    Schewtschuks Gedanken über sein Land sind der Grund dafür, warum die russische Kultband mit hunderttausenden Fans heute nur mehr außerhalb der Russischen Föderation auftreten darf. Während eines Konzerts in Ufa im Mai 2022 teilte Juri Schewtschuk, der sich wenig überraschend gegen den Krieg positioniert, dem Publikum mit, was er vom aktuellen Geschehen hält. Im Internet verbreitete sich daraufhin ein Video, in dem Schewtschuk zum applaudierenden Publikum sagt: „Heimat, liebe Freunde, das ist nicht der Arsch des Präsidenten, den man ständig bespeicheln und küssen muss. Heimat, das ist das arme Großmütterchen am Bahnhof, das Kartoffeln verkauft. Das ist Heimat.“ Das sagte er auch früher schon – etwa ein paar Tage zuvor beim Konzert in Jekaterinburg, doch die Polizei holte ihn erst in seiner Heimatstadt Ufa. Sofort nach dem Auftritt, als er vor dem Beifall klatschenden und skandierenden Publikum die Bühne Richtung Backstage verließ, sperrten ihm die Ordnungshüter den Weg ab. Am 16. August 2022 verhängte ein Bezirksgericht in Ufa gegen Schewtschuk eine Geldstrafe in Höhe von 50.000 Rubel [530 Euro]. Der Einspruch, den er dagegen erhob, wurde abgewiesen. Das Konzert in Ufa wurde somit das Letzte, das die Band in Russland gab.

     
    Schewtschuk beschreibt im Interview mit Katerina Gordejewa, wie 2022 bei einem Konzert in Ufa Ordnungshüter in den Backstage-Bereich kamen, nachdem er sich auf der Bühne kritisch geäußert hatte

    In ihrem 40-jährigen Bestehen war es nicht das erste Mal, dass DDT auf einer schwarzen Liste stand. Schewtschuk hatte seit 2010 immer wieder bei Protestaktionen gesungen, weswegen des Öfteren DDT-Konzerte gecancelt wurden. Doch dieses Verbot tat ihm weh. Im Interview mit Katerina Gordejewa kommentierte er die aktuelle Situation so: „Russland würde DDT momentan mehr denn je auf seinen Bühnen brauchen. Wir sind eine extrem soziale Band. Wir haben viele Songs und Betrachtungen – über Heimat, Vergangenheit, Zukunft … Wir müssen in Russland spielen. Im Westen gibt es genug Friedensstifter, hier fehlen sie. Dass sie uns die Konzerte abgedreht haben, das ist ein schwerer Schlag. Weil sie uns unsere wichtige und notwendige Arbeit genommen haben. Da geht es gar nicht um Geld. Wir können unsere Pflicht gegenüber Russland nicht mehr erfüllen: unsere Gedanken formulieren, unsere Wärme mit den Menschen teilen.“    

    2023 hatte Juri Schewtschuk einen Herzinfarkt, im Januar 2024 ging er aber schon wieder auf Tournee – im Ausland: Bulgarien, Serbien, Türkei und Emirate. Generell verlassen hat er Russland aber nicht; er lebt nach wie vor als Einsiedler in einem Dorf bei Sankt Petersburg.

    Unmissverständliche Anti-Kriegs-Botschaften

    Man kann Juri Schewtschuk zwar verbieten, in seiner Heimat aufzutreten, aber nicht, über sie zu singen. Im Juli 2023 kam sein neues Album Wolki w tire (dt. Wölfe im Schießstand) heraus. Er nahm es nicht mit DDT auf, sondern mit dem jungen Gitarristen und Producer Dimitri Jemeljanow, der in den letzten Jahren immer mit Zemfira zusammenarbeitete. Schewtschuks Begründung war, dass er ein wenig experimentieren und einen „analogen Tube Sound im Stil der 1970er Jahre“ erzielen wollte. „Uns verbindet die Liebe zur Blütezeit der echten Rockmusik“, sagte er. Die Anti-Kriegs-Botschaft von Wolki w tire ist auffällig und unmissverständlich wie ein Plakat: Schon als Kunststudent hatte Schewtschuk ein Händchen für einprägsame Agitation, er kann Dinge auf den Punkt bringen. Das Album, das lauter Lieder enthält, die nach der Invasion in der Ukraine entstanden, wird von dem Appell eröffnet: „Heimat, kehr zurück nach Hause.“ „Werde nicht verrückt, das ist nicht dein Krieg“, beschwört Juri Schewtschuk im Refrain. 

     
    „Heimat, kehr zurück nach Hause“ heißt es in dem aktuellen Song von Juri Schewtschuk und Dimitri Jemeljanow

    Darauf folgen bissige Botschaften an den Präsidenten: Tanzy (dt. Tänze) mit dem Refrain „Solang er nicht verreckt ist, der Onkel im Betonsack“ und die tintenschwarzen Lieder Nadeshda (dt. Hoffnung) und Dron (dt. Drohne). Am Schluss kommt ein ritueller Reigentanz anlässlich einer imaginierten Bestattung des Krieges, in dem Schewtschuk sich selbst oder jene anspricht, die auf seine Worte hören: „Sing ein schönes Lied, Alter, sing von der Liebe – dann kommt es auch so.“ Und er demonstriert selbst, wie man das tun kann und soll: Das Album Wolki w tire enthält mit Tschaikowski und Potop (dt. Flut) wahrscheinlich die erhabensten Liebeslieder, die er in den letzten Jahren verfasst hat. Der Hippie vom Land, Barde aus Ufa, Jura mit der Gitarre, der irre Klassiker des russischen Rock glaubt immer noch an die messianische Idee des Rock’n’Roll und versucht wieder und wieder, seine unerschöpfliche Heimat mit Salven von Liebe und Güte zu wärmen. Und auch wenn das ein aussichtsloses Unterfangen zu sein scheint – Hauptsache, er fühlt die Kraft in sich. 

     
    Aus einer Zeit, in der die Band noch in Russland auftreten konnte: DDT spielt 2017 in Moskau den zeitlosen Klassiker Eto wsjo (dt. Das ist alles)

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    Viktor Zoi

    Russische Rockmusik

    Hetzjagd auf eine Rocklegende

    Musik der Perestroika

    Der Wortwichser am Abend

  • Anna Netrebko

    Anna Netrebko

    „Schande! Schande!“, klingt es die Berliner Prachtstraße Unter den Linden hinauf. Die Staatsoper spielt an jenem Abend im September 2023 Giuseppe Verdis Macbeth. In der Hauptrolle der Lady Macbeth: Anna Netrebko – und an dieser Besetzung entzündet sich Widerstand. Die Sängerin hatte sich in der Vergangenheit bereitwillig in die Dienste des Kreml gestellt und sich nur halbherzig vom Angriffskrieg auf die Ukraine distanziert. Einige Protestierende haben sich in ukrainische Flaggen gehüllt. Sie halten Schilder mit der Aufschrift „Nonetrebko“ in die Höhe. Auf einem Plakat ist eine Ballerina in Russlands Nationalfarben mit umgehängtem Maschinengewehr zu sehen. Auf einem anderen steht: „Wer Putin und die Terroristen unterstützt, ist auf Berliner Bühnen nicht willkommen.“ 

    Anna Netrebko während ihres Auftritts auf dem New Wave Song Contest 2019 anlässlich des 65. Geburtstags des Komponisten Igor Krutoi in Sotschi / Foto © Vyacheslav Prokofyev/Imago/Itar-Tass

    In der Welt der klassischen Musik sind Superstars selten geworden. Anna Jurjewna Netrebko ist eine Ausnahme und seit Anfang des Jahrtausends eine der erfolgreichsten Sopranistinnen. Ihr Gesicht ziert zahlreiche Alben in Nahaufnahme, ihr Name ist oft größer geschrieben als der des Komponisten oder des begleitenden Orchesters. Seit der Krim-Annexion im Jahr 2014 ist dieser Name jedoch – mit Hashtag als #Nonetrebko versehen – zur Chiffre geworden: für die Verantwortlichkeit von Kunstschaffenden in Diktaturen und für den Umgang mit der russischen Hochkultur im Westen. Aber auch für das Spannungsverhältnis zwischen Musik und Politik, das in den Jahren nach dem Ende des Kalten Kriegs aus dem Blick geraten war. Diese Entwicklung ist eng mit Anna Netrebko, ihrer Biografie und ihren Entscheidungen verbunden.  

    Netrebko wurde 1971 in Krasnodar als Tochter eines Geologen und einer Ingenieurin geboren. Ihre Ausbildung erhielt sie während der Perestroika-Zeit am Leningrader Konservatorium. Gerade rechtzeitig, um noch von der staatlichen Kultursubvention und der überragenden Qualität der Künstlerausbildung in der Sowjetunion zu profitieren, die nach 1991 in sich zusammenfiel.  

    Im 20. Jahrhundert war der Konzertsaal über Jahrzehnte ein Schlachtfeld des Kalten Kriegs gewesen.1 In der sowjetischen Zeit investierte der Staat Unsummen in die Förderung von Pianistinnen, Dirigenten, Sängerinnen und Musikern. Er schuf ein System der Musikausbildung, das heute noch seinesgleichen sucht. Wer es durchlaufen hatte, dem winkten Ruhm und Ehre – in der Heimat wie auch international. Dafür hatten die Absolventinnen und Absolventen eine wichtige Aufgabe: Sie sollten fortan von der Überlegenheit des sozialistischen Systems, der Kultiviertheit des Sowjetmenschen und seinem friedliebenden Charakter zeugen.  

    Als Anna Netrebko im Jahr 1993 in Moskau mit 22 Jahren den Internationalen Glinka-Gesangswettbewerb gewann, schien diese politische Indienststellung von Künstlerinnen bereits ein Relikt der Vergangenheit zu sein. Ihre Karriere führte sie schnell um die ganze Welt; als Ljudmila in Glinkas „Ruslan und Ljudmila“ an der San Francisco Opera gelang ihr 1995 der internationale Durchbruch. Anfang der 2000er Jahre war Netrebko ein Klassikstar, mit Wohnsitzen in Wien und New York. Dem russischen Publikum, insbesondere am Petersburger Mariinskii-Theater, blieb sie dennoch eng verbunden.  

    Neben ihrer dunklen, voluminösen Stimme sorgte auch ihr sorgsam inszeniertes Aussehen dafür, dass ihre Alben zu Kassenschlagern werden. Verträumt blickt sie mit großen Augen vom Cover herab ihre potenziellen Käufer an, ihre langen Haare kunstvoll verzwirbelt oder offen und wild um ihr Gesicht herum drapiert. Zusammen mit dem Dirigenten Waleri Gergiew steht sie für eine neue Generation russischer Kulturbotschafterinnen und Kulturbotschafter, die erstmals nach den Maßstäben westlicher Popkultur vermarktet werden. Wladimir Putin nutzt sie, um seit dem Ende des Zweiten Tschetschenienkriegs mit denkwürdigen Konzertauftritten seine Charmeoffensive im Westen zu befeuern. 

    Netrebko nahm die Rolle einer populären Unterstützerin des Präsidenten bereitwillig an, auch als sein politischer Kurs immer stärker ins Autoritäre drehte. 2011 unterzeichnete sie eine Petition, in der Prominente im Stil einer Eingabe des Volkes an den Zaren die Kandidatur Wladimir Putins für eine weitere Amtszeit unterstützten. Es sei Putins „Engagement für die Kunst“ gewesen, das sie zu diesem Schritt bewogen habe, erklärte die russische Vorzeige-Künstlerin. Zu diesem Zeitpunkt lebte sie bereits in Österreich. Von ihrer Nähe zum Regime profitierte sie zuvor bereits mehrfach: 2005 wurde sie mit dem auf mehrere Millionen Rubel dotierten Staatspreis der Russischen Föderation ausgezeichnet. 2008 verlieh ihr Putin persönlich den Ehrentitel einer „Volkskünstlerin Russlands”.2 Bei der Auftaktveranstaltung der Olympischen Winterspiele in Sotschi durfte sie die Olympische Hymne singen – offensichtlicher konnte ihre Indienststellung durch den Staat kaum inszeniert werden.3  

    Im Dezember 2014 spendete Netrebko eine Million Rubel (knapp 19.000 Euro) an die Oper im russisch besetzten Donezk. Bei einem Pressetermin tritt sie mit dem Sprecher des „Parlaments“ von „Neurussland“, Oleg Zarjow, auf. Gemeinsam halten sie eine Flagge des Separatisten-Staates / Foto © Imago/Russian Look

    Im Dezember 2014 ging ein Foto von Netrebko um die Welt, das sie im festlichen Abendkleid und mit roten Rosen neben dem vom Kreml unterstützten Separatistenführer Oleg Zarjow zeigte. Gemeinsam entrollten sie eine Flagge des Pseudostaates Neurussland, einer kurzlebigen Verbindung der beiden selbst ernannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk. Bereits vier Jahre zuvor hatte ein Auftritt von ihr in Wien Empörung ausgelöst: Zu einem anschließenden Pressetermin erschien sie in einem weißen Kleid mit der Aufschrift „Na Berlin“ (dt. Nach Berlin!) und einem angehefteten St. Georgs-Band. Die Losung und die Schleife sind beide unmissverständliche Chiffren russischer Militärpropaganda. In Interviews beteuerte Netrebko jedoch stets, von Politik wenig zu verstehen und sich eigentlich nur ihrer Kunst widmen zu wollen – eine oftmals von Kunstschaffenden ins Feld geführte rhetorische Strategie, um die eigene Indifferenz apologetisch zu verklären. 

    Russlands Überfall auf die gesamte Ukraine am 24. Februar 2022 beendete endgültig eine kulturpolitische Epoche der russländischen Geschichte, in der Kunst auch ohne politische Positionierung möglich gewesen war. Russische (und mit ihr auch das Erbe der sowjetischen) Kultur ist seitdem wieder untrennbar mit nationaler Ideologie verknüpft. Kulturschaffende sehen sich mit der unausweichlichen Frage konfrontiert, wie sie dem Regime gegenüberstehen. Negativ? Dann bleibt ihnen nur das Exil. Positiv? Dann müssen sie sich von einer internationalen Karriere im Westen verabschieden. Dazwischen ist kein Platz mehr. 

    Anna Netrebko aber wollte beides: Eine glitzernde Karriere auf den Bühnen der Welt und ein ungetrübtes Verhältnis zu ihrem Förderer Putin. Dieser Spagat war nicht zu halten: Am 1. März 2022 schrieb sie auf ihrem Instagram-Profil: „Ich rufe Russland auf, diesen Krieg jetzt zu beenden, um uns alle zu retten! Wir brauchen Frieden“. Noch am selben Tag wurde der Beitrag wieder gelöscht.4 Für die polarisierte Gesellschaft in ihrem Heimatland war das genug, vielen gilt sie seitdem als Verräterin. Von einem geplanten Auftritt in Nowosibirsk wurde sie prompt ausgeladen, die Kreml-treue Wochenzeitung Argumenty i Fakty bezeichnete sie als „schwache Frau“. 

    Bis heute hat Netrebko gleichwohl nicht klar Stellung gegen den russländischen Angriffskrieg gegen die Ukraine bezogen. Der faustische Pakt, den sie mit dem Regime einging, ließ sie nicht mehr los. Die New Yorker Metropolitan Opera und die Berliner Staatsoper verlangten von ihr, sich öffentlich vom Angriffskrieg zu distanzieren. Doch der Forderung wollte sie nicht nachkommen, verklagte die Met sogar auf Schadensersatz. In der Folge luden europäische und amerikanische Opernhäuser sie aus und besetzten ihre Rolle neu.  

    Proteste gegen Netrebkos Engagement an der Berliner Staatsoper im September 2023 / Foto © Imago/Frank Gaeth

    Diese Entscheidungen wurden von einer heftigen öffentlichen Debatte begleitet, die bis heute andauert und die nicht nur Netrebko betrifft: Wie soll der Konzertbetrieb mit Künstlerinnen und Künstlern aus Russland umgehen, die er vor 2014 gefeiert hat? Die Diskussion bewegt sich zwischen zwei Polen: Auf dem einen Ende des Spektrums stehen diejenigen, die einen Boykott aller russischen Kulturschaffenden fordern; die Gegenseite setzt die Kunstfreiheit absolut. 

    Im Zentrum dieser Debatte steht – auch in Deutschland – Anna Netrebko. Matthias Schulz, der Intendant der Staatsoper Unter den Linden begründete seinen Entschluss damit, dass Netrebko Russlands Krieg deutlich kritisiert habe. Man könne es als Zeichen sehen, dass Netrebko auf einer pro-ukrainischen Bühne wie der Staatsoper auftrete, weil sie dafür in Russland mit Konsequenzen rechnen müsse, sagte Schulz dem SWR2.5 Anlässlich eines Auftritts von Netrebko bei den Internationalen Maifestspielen in Wiesbaden verteidigte der damalige Intendant Uwe-Eric Laufenberg seine Entscheidung, die Sängerin nicht auszuladen: „Das gehört für mich aber auch zur Kunstfreiheit, dass man auch Kunst machen kann, indem man sich eben nicht politisch äußert. Das muss ja auch eine Art von Freiheit und von Möglichkeit sein“, sagte er zu Festivalbeginn.  

    Im Berliner Fall stellten sich 38 Organisationen und etwa 100 Wissenschaftlerinnen (darunter der Autor dieser Gnose) und Prominente dieser fragwürdigen Entpolitisierung des Kunstschaffens entgegen. Sie verwiesen auf die herausragende kulturpolitische Bedeutung Netrebkos für die russische Propaganda und forderten die Leitung der Staatsoper auf, Netrebko auszuladen.6 Auch Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner und sein Kultursenator Joe Chialo kritisierten den Auftritt. Das Publikum der Berliner Aufführung allerdings ließ sich weder von politischen Bedenken noch durch den lautstarken Protest vor dem Operngebäude beeindrucken und bejubelte die Sopranistin. Für die Saison 2024/2025 kehrt Netrebko nach Berlin zurück – als Abigaille in Verdis Nabucco.  


    1. Caute, David, The Dancer Defects. The Struggle for Cultural Supremacy During the Cold War, Oxford 2003. ↩︎
    2. https://www.classicalmusicnews.ru/news/anna-netrebko-stala-narodnoi-artistkoi-rossii/ ↩︎
    3. https://www.youtube.com/watch?v=pFqEKpjw-ns ↩︎
    4. https://www.br-klassik.de/aktuell/news-kritik/anna-netrebko-2022-wie-sie-sich-zu-putin-und-ukraine-verhaelt-100.html ↩︎
    5. https://www.swr.de/swrkultur/musik-klassik/kontroverse-um-anna-netrebko-intendant-staatsoper-berlin-matthias-schulz-netrebko-hat-sich-glaubwuerdig-distanziert-100.html ↩︎
    6. https://vitsche.org/news/offener-brief-keine-buhne-fur-putin-unterstutzerin-anna-netrebko/ ↩︎

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    Januar: Backstage im Bolschoi

    Cancel Culture im Namen des „Z“

    Zuflucht Theater

    Alla Pugatschowa

  • Zuflucht Theater

    Zuflucht Theater

    Diejenigen, die sich noch an Michail Borsykin erinnern, nennen ihn eine Legende. Aber es erinnern sich nicht mehr viele an den Musiker, der in der Zeit des großen Umbruchs Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre bekannt wurde. Kein Wunder: Während andere Bands Stadionhits komponierten, wollte er sich keinem Trend anpassen. Das galt auch politisch. Wladimir Putin war ihm von Anfang an suspekt. 2014, als Russland nach der Krim-Annexion im patriotischen Taumel lag, schrieb er das Lied „Vergib uns, Ukraine“. Als Putin acht Jahre später den großen Angriff startete, verließ er das Land. In einer kleinen Stadt an der Küste von Montenegro betreibt er gemeinsam mit einem Schauspielerpaar aus der Ukraine ein Theater. Die Vorstellungen sind ausverkauft. 

    Michail Borsykin auf einem Konzert in Budva am 19. Januar 2024 / Foto © Waleri Wassilewski
    Michail Borsykin auf einem Konzert in Budva am 19. Januar 2024 / Foto © Waleri Wassilewski

    Neulich rief während der Theater-Aufführung jemand die Polizei. Das Stück Almar von Alexander Gelman wurde in Montenegro gespielt, in einem kleinen Saal zwischen Budva und Bečići. Die Nachbarn hatten die Polizei gerufen. Eine Mitarbeiterin des Theaters bat die Polizisten, die Schauspieler noch zu Ende spielen zu lassen, es würde nur noch eine halbe Stunde dauern. Die Polizisten sagten: Gut, aber der da soll nicht so laut singen. Wer da so laut gesungen hatte, war Michail Borsykin.   

    Die Sankt Petersburger Band Telewisor ist eine besondere Band. Auch wer kein dezidierter Fan ist, kennt die Songs S wami goworit telewisor (dt. Hier spricht Ihr Fernseher) und Twoi papa – faschist (dt. Dein Papa ist ein Faschist). In den 1990er Jahren, als in Russland Rock vorübergehend zum Showbusiness wurde, blieb Telewisor sich treu. Sie mussten nicht unbedingt Stadien füllen und schrieben keine Songs, zu denen man sich auf den Tribünen in den Armen lag und brennende Feuerzeuge schwenkte. 

    Seit zwei Jahren lebt Michail Borsykin im montenegrinischen Urlaubsort Budva und vermisst Sankt Petersburg kein bisschen – die Ästhetik einer Megapolis bedrückt ihn, wie er sagt, während ihn die kleinen Städtchen hier irgendwie an seine Kindheit in Pjatigorsk erinnern. 

    Zusammen mit den ukrainischen Schauspielern Katarina Sintschillo und Wiktor Koschel gründete er in Budva das European Art Community Theater (EuroACT). 

    Anfang der 1990er Jahre – es war eine Euphorie mit Tränen in den Augen

    „Anfang der Neunziger war ich euphorisch, so wie alle damals“, erzählt Boryskin. „Das war eine Zeit der Innenschau: Wir dachten, wir könnten unser soziales Umfeld vergessen und uns endlich mit uns selbst beschäftigen. Doch auch da trat allerhand Schreckliches zutage. Also, es war eine Euphorie mit Tränen in den Augen. Als in der zweiten Hälfte der Neunziger der Tschetschenienkrieg begann, wurde mir klar, dass keineswegs alles so eindeutig ist, wie es heute so schön heißt. Irgendwo war Jelzin falsch abgebogen und kriminelle Energien wurden frei, die vorher geschlummert hatten – all diese Geheimdienstler und Geschäftsmänner.

    Unübersehbar verschmolzen Banditenmilieu und Geheimdienste, man erinnere sich nur an Kumarins und Putins gemeinsame Partys in Sankt Petersburg. Und dann trugen die plötzlich alle Schulterklappen, und es wurde ungemütlich. 

    Im Jahr 2000 war ich noch in einer Art Schockstarre. Putin konnte ich vom ersten Tag an nicht leiden – auf psychophysiologischer Ebene. Aber ich hielt ihn für eine temporäre Erscheinung, eine technische Übergangsfigur, die man als nichts Besonderes ausgesucht hatte. Dabei hat er anscheinend sein ganzes Leben der Aufgabe gewidmet, niemand Besonderer zu sein. 2002 begann schon die Panik, und nach Chodorkowskis Verhaftung war endgültig alles klar. 2017 ging ich mit einem Guest-Writer-Programm für ein paar Jahre nach Schweden. Ich sah bereits, dass die Zeit der friedlichen Proteste vorbei war und wir zum bewaffneten Widerstand übergehen müssten. Dazu war ich aber innerlich nicht bereit, weswegen ich anfing, über Emigration nachzudenken. Zehn Jahre, von 2007 bis 2017, hatte ich aktiv an Demos teilgenommen, die sukzessive zum Schweigen gebracht wurden, obwohl es natürlich auch Highlights gab. Dann kamen die weißen Luftballons und die Gummi-Enten – ich lief nur noch mit, um mein Gewissen zu beruhigen, denn die Zwecklosigkeit dieses Zivilgesellschaft-Spielens war mir sonnenklar. Russland war nicht Indien, ein Gandhi fand sich bei uns nicht. Es gibt die Ansicht, dass gewaltlose Proteste effektiver sind, das bestätigen sogar statistische Daten. Aber das gilt nicht für alle und nicht immer. Auf Russland trifft diese Statistik nicht zu. Während wir mit Taschenlampen und Gummi-Enten marschierten, wurden sie nur noch stärker und sammelten Kräfte, bis sie uns alle schließlich zerschmetterten. Ich schob meine Abreise lange hinaus. Ich hoffte, dieser große Krieg würde doch noch ausbleiben. Obwohl alles darauf hinwies, dass er jeden Moment beginnen würde. Aber so viele politische Analysten ringsum behaupteten netterweise das Gegenteil. Als es losging, besorgte ich mir ein Ticket und flog davon.“          

    Es gibt keine Rechtfertigung, den Bruder als Feind zu sehen.
    Das bedeutet jahrelanges Leiden und Jahrhunderte der Schande.
    Du und ich, wir sind schuld,
    der Freiheit unwürdige Söhne,
    mit Watte im Kopf,
    die Herzen in Gefangenschaft des Kriegs. 

    Das ist von Borsykin. 

    An Protesten hat Michail Borsykin immer teilgenommen. Als 1988 in Leningrad ein Rock-Festival abgesagt wurde, war er es, der die Leute, die sich Eintrittskarten kaufen wollten, zum Smolny führte. Auf dem Weg dahin schlossen sich ihnen Passanten an, die fragten, wohin sie gingen. Als sie vom Verbot des Rock-Festivals erfuhren, liefen sie mit. Beim Taurischen Park wurden sie von der Polizei gestoppt, der Vorsitzende des Rock-Clubs wurde zu einem Gespräch zitiert, man wartete ohne große Hoffnungen draußen, doch zu aller Überraschung wurde das Festival genehmigt und nicht einer der Demonstranten wurde festgenommen.

    Dann ging Telewisor auf Europa-Tournee, richtete sich ein eigenes Tonstudio ein und nahm ein Album auf. Und wechselte fast alle Bandmitglieder aus.  

    Wir wollten zur globalen Musikkultur gehören

    „Wir fingen an, das Album aufzunehmen“, erinnert sich Borsykin, „und merkten, dass die Musik einiger unserer Kollegen einen kommerziellen, massentauglichen Touch bekommen hatte. Da trafen wir die snobistische Entscheidung, das alles nicht mitzumachen. Wir hatten nichts gegen große Auftritte, spielten manchmal auch in Stadien, wollten uns aber von diesem Trend nicht vereinnahmen lassen.

    Sie kennen ja diesen Einheitsbrei – eine simple Melodie und die ewige Verbrüderung mit dem ganzen Volk. Seichte Hits wie Oj-jo sind ein typisches Beispiel. Viele Musiker prägten später den Begriff gownorok (dt. Kackrock) für so etwas – für diese stadionfüllenden Schlager mit gemeinsam gegröltem Refrain zum Mitklatschen. Dieser Weg widerstrebte uns: Wir sahen uns als Absolventen der europäischen Schule und wollten zur globalen Musikkultur gehören. Es ging alles in die falsche Richtung, und das passte uns nicht. Unsere Songs waren zu individualistisch und sogar misanthropisch – damit lässt sich kein Zusammengehörigkeitsgefühl erzeugen und auch kein Geld verdienen. Das wirkte sich natürlich auf die Zahl unserer Konzerte aus und führte zu gewissen Problemen untereinander. Deswegen verabschiedeten wir uns von unserer bisherigen Besetzung. Einer ging zu Nautilus, ein anderer zu Grebenschtschikow, und ich suchte mir neue Leute.“



    Die Band Telewisor bei einem Live-Auftritt mit ihrem Song „Twoi papa – faschist“

    Das Album Metschta samoubizy (dt. Traum eines Selbstmörders), das die Band nach ihrer Rückkehr von der Europa-Tournee 1991 aufnahm, enthält die phänomenale Nummer Twoi papa – faschist (dt. Dein Papa ist ein Faschist), die nie an Aktualität verliert und nicht nach der guten alten Zeit klingt, in der die Mädchen noch jünger waren. Borsykin sagt, dass sie alle zwei, drei Jahre einfach wieder zu schwingen beginnt, zu vibrieren, mit der Umgebung zu interagieren und in neuen Farben zu schillern. Doch in den 1990er Jahren waren solche Lieder wirklich nichts für große Konzerthallen. Und Michail Borsykin wurde so was wie ein weißer Rabe oder ein schwarzes Schaf, er hob sich von der Masse ab, war unkonventionell, zu hart und zu wütend für die damalige Zeit. Und als sich zehn Jahre später die Zeiten änderten, bemerkten das viele erst einmal gar nicht.                

    Den Song Verzeih uns, Ukraine schrieb Michail Borsykin 2014

    Den Song Ty prosti nas, Ukraina (dt. Verzeih uns, Ukraine) schrieb Michail Borsykin 2014. Acht Jahre später nahm er im Sommer 2022 an einem Benefiz-Festival für ukrainische Flüchtlinge teil, das der Fonds Pristanischte (dt. Dock) in Budva in Montenegro veranstaltete. Er übte mit montenegrinischen Musikern zwei Songs ein – die bereits erwähnten Ty prosti nas, Ukraina und S wami goworit telewisor. Sie waren am Schluss an der Reihe, als es schon dunkel war. Die Scheinwerfer gingen aus, nur das Diskolicht flackerte. Der Beleuchter war aber nach Bali geflogen, erzählt Borsykin, und man konnte ihn nicht anrufen und fragen, wie man diese kitschigen Funzeln bedient. Also sang er fast im Dunkeln, griff am Keyboard immer wieder daneben. Im Publikum saßen Katarina Sintschillo und Viktor Koschel, zwei Schauspieler aus der Ukraine. An dieser Stelle würde man gern schreiben: Und damit nahm alles seinen Anfang.   

    Viktor Koschel ist verdienter Künstler der Ukraine, er spielte viele Jahre lang im Kyjiwer Lessja-Ukrajinka-Theater. Zusammen mit Katarina hatte er 13 Jahre zuvor das KChAT gegründet – das Klassische Alternative Künstlertheater, eines der landesweit größten unabhängigen Ensembletheater mit 13 Stücken im Repertoire. Als der großangelegte Einmarsch begann, wurden alle Theater geschlossen. 

    Katarina rief im Kulturministerium an und schlug vor, in der Metro Konzerte zu organisieren, weil es in vielen Häusern keine Bunker gab und die Kyjiwer unten in den Stationen Schutz suchten.

    Im Ministerium hatten sie aber gerade andere Sorgen, also begannen Katarina und Viktor, jeden Abend kleine Sendungen mit Gedichten, Liedern und Ansprachen aufzunehmen und zur moralischen Unterstützung der Menschen, die sich der Territorialverteidigung anschlossen, ins Netz zu stellen. Die Concierges waren geflüchtet, die jungen Männer waren an der Front oder in der Territorialverteidigung, und die restlichen paar Männer mittleren Alters teilten sich die Wachdienste auf, um das Haus vor Saboteuren und Plünderern zu schützen.      

    „Ich war vor allem im Nachtdienst“, erinnert sich Viktor Koschel. „Wenn ich nach Hause kam, war Katja wach. Sie schlief nicht mehr. Dann fing sie an, übertrieben heftig zu reagieren, sogar auf ganz kleine Alltagssorgen. Sie war am Durchdrehen, hielt das alles nervlich nicht aus. Wir wollten nicht weg, aber es war an der Zeit, sich um ihre mentale Gesundheit zu kümmern. Vor dem Krieg waren wir acht Jahre hintereinander in den Urlaub nach Montenegro gefahren, immer in dasselbe Ferienhaus in Dobrota bei Kotor. Der Vermieter der Apartments hatte uns gleich am Tag nach Kriegsbeginn geschrieben, dass wir kommen sollen, er nehme uns auf. Kostenlos. Hier wisse man, was Krieg bedeutet. Innerhalb von einer Stunde hatten wir gepackt.“  

    In Montenegro blieben Katarina und Viktor nicht am Strand sitzen, um ihr Trauma zu bewältigen, sondern begannen sofort, nach Arbeitsmöglichkeiten zu suchen. Sie wandten sich mit der Idee, ein Konzert mit ukrainischen Liedern zu veranstalten, an die Direktorin einer Galerie in der Altstadt von Budva. Die Direktorin sagte dasselbe wie der Vermieter des Ferienhauses: Wir wissen, was Krieg ist. Plakate und Flyer druckte die Galerie auf eigene Kosten, und jeden Monat gab es ein oder sogar mehrere Konzerte. Doch das Theater fehlte trotzdem.     

    Nach 50 Tagen Krieg in Kyjiw war es schwierig, die posttraumatische Belastungsstörung zu überwinden. Viktor und Katarina konnten kein Russisch mehr hören, sprachen nur noch Ukrainisch miteinander, obwohl ihr Kyjiwer Theater zweisprachig gewesen war: Die Hälfte der Vorstellungen war Ukrainisch, die andere Russisch.

    Psychologen meinten, sie müssten sich ausweinen, aber sie konnten nicht. Ihre Augen brannten vor Trockenheit. Und dann besuchten sie jenes Musikfestival in Budva, hörten Michail Borsykins „Verzeih uns, Ukraine“, und endlich flossen die Tränen.

    „Eine so kraftvolle Kombination aus Musik und Text habe ich noch nie gehört“, sagt Katarina. „Viktor und ich weinten uns aus und bekamen Lust, mit diesem Mann zusammenzuarbeiten. Und – stellen Sie sich vor: Am selben Abend, es war schon ganz dunkel, bemerkten wir an einer Kreuzung eine Silhouette, in der wir Borsykin erkannten, und riefen: ‚Maestro!‘ Auf der Bühne war es genauso dunkel gewesen wie jetzt auf der Straße, trotzdem hatte Viktor ihn erkannt. Wir gingen zu ihm hin und sagten, dass wir gern mit ihm arbeiten würden. Obwohl das angesichts unseres Repertoires bedeutete, das Unvereinbare zu vereinbaren. Doch Mischa macht nun Mal tolle Rock-Versionen ukrainischer Lieder.“

    Die Konzerte bestanden immer aus drei Teilen: zuerst sang Viktor Koschel ukrainische Lieder, dann kamen ukrainische Lieder in Borsykins Bearbeitung und gemeinsamer Interpretation und dann eigene Songs von Borsykin. Viktor war ein guter Ukrainisch-Lehrer: Geduldig brachte er Borsykin die Aussprache bei, der jetzt jedes paljanyzja so aussprechen kann, dass er nicht von einem Ukrainer zu unterscheiden ist. Im Gegenzug war Borsykin Viktor ein strenger und anspruchsvoller Gesangslehrer.         

    Sehr schwer war es, erzählt Katarina, einen Gitarristen zu finden. Viele wurden beim Bewerbungsgespräch oder während der ersten Probe ausgesiebt. Eben wegen der hohen Ansprüche, die Borsykin an ihre musikalische Ausbildung stellte. Mit vereinten Kräften fanden sie schließlich Dima aus Dnepro, und endlich kann Borsykin sich auf der Bühne ganz dem „Zappeln und Winken“ widmen, wie er es selbst nennt.

    Viktor Koschel und Katerina Sintschillo im Stück "Jewreisskije Tschassy" am 26. Januar 2024 / Foto © Walerie Wassilewski
    Viktor Koschel und Katerina Sintschillo im Stück „Jewreisskije Tschassy“ am 26. Januar 2024 / Foto © Walerie Wassilewski

    Als das Programm fertig war, begann Katarina, nach Bühnen für mögliche Auftritte zu suchen. Sie ging in große Restaurants und sagte: „Im Winter ist bei euch sowieso nichts los, lasst uns einen Art-Club gründen!“ Fast ein Jahr lang tingelten sie von Bühne zu Bühne, die Katarina fand. Zum Tag des Theaters am 27. März wollten sie dann ein Stück spielen. Indessen hatten in Montenegro Schauspieler Fuß gefasst, die aus verschiedenen Städten und Theatern Russlands gekommen waren: aus Sankt Petersburg, Ischewsk, Krasnodar. Katarina und Wiktor entschieden sich für Tschechows Tschaika (Die Möwe) – zum Tag des Theaters sollte auch das Stück vom Theater handeln. In Kyjiw hatten sie für eine Produktion immer neun Monate eingeplant, hier schafften sie es in einem. Obwohl viele Schauspieler auf Baustellen und in Bäckereien arbeiteten und nur in ihrer Freizeit proben konnten. Aber alle hatten ihren Beruf so sehr vermisst, dass sie innerhalb eines Monats bereit für die Aufführung waren. Den Proberaum hatte Marat Gelman zur Verfügung gestellt, der ihn sich einmal als Lager für seine Bilder gekauft hatte. So befand sich die Bühne in einer Art Lager oder Galerie. Es kamen so viele Leute, dass sie auf Teppichen auf dem Boden sitzen mussten, weil nicht genug Stühle da waren, und in der Loge stehen mussten. Am zweiten Abend schlug Gelman vor: Gründet ein Theater, einen Raum habt ihr ja schon, ihr kriegt alles hin.    

    „Zur Eröffnung wollten wir etwas aus der ukrainischen Klassik spielen: Johanna von Lessja Ukrajinka. Die Möwe hatten wir schon, und dann kam noch Alexander Gelmans Stück Almar dazu – über die Liebe zwischen Albert Einstein und Margarita Konjonkowa. Plus ein abendfüllendes Konzert mit Michail Borsykin. Marat Gelman fragte: Mögt ihr Borsykin? Wollt ihr ihn zum musikalischen Leiter des Theaters machen? Natürlich wollen wir das, natürlich, wir lieben ihn!“

    So entstand innerhalb von nur drei Monaten ein Theater. Der Saal, in dem jetzt gespielt wird und früher Bilder aufbewahrt wurden, funktioniert wie ein Baukasten. Es gibt keine Bühne, die Schauspieler spielen eine Armlänge vom Publikum entfernt, und jedes Mal stehen die Stühle anders. Bei Almar längs, bei der Möwe quer, bei Pridurki (Dummköpfe) im rechten Winkel. Im Saal haben maximal 50 Zuschauer Platz, wenn sie sich quetschen wie die Sardinen. Das Bühnenbild ist minimalistisch – logisch, wenn das Theater lediglich über Tische und Stühle verfügt. Katarinas und Viktors Fantasie kennt allerdings keine Grenzen.    

    Nur bei Almar steht in der Ecke noch ein Keyboard, an dem Michail Borsykin sitzt. Das Zusammenwirken seiner Lieder mit Gelmans Drama und Sintschillos und Koschels glänzendem Spiel als Konjonkowa und Einstein ist nicht nur ein Theaterstück, sondern eine überraschend harmonische Kombination aus Rock-Konzert und Drama. „Mit unserem Krieg retten wir uns vor einem noch schrecklicheren Krieg“ [Swojeju woinoi my budem spassatsja ot boleje straschnoi woiny] klingt, als wäre es extra für dieses Stück verfasst worden. Doch Borsykin hat nichts extra geschrieben – Katarina hat die Songs für die Inszenierung ausgesucht.

    Viktor Koschel sagt, er habe Borsykin schon fast gehasst, weil seine Frau mehrere Wochen lang jeden Morgen Telewisor aufdrehte und bis zum Abend hörte. Die Songs, die sie aussuchte – von Schestwije ryb (dt. Marsch der Fische) aus dem ersten Album bis Krasny sneg (dt. Roter Schnee) aus dem letzten –, klingen tatsächlich ähnlich aktuell und wichtig sowohl für heute als auch für gestern oder jenen Frühherbst 1945, in dem Einstein sich von Margarita verabschiedete.

    Auf dem Plakat zu Almar steht: mit der Rock-Legende Michail Borsykin. Doch zu Ehrentiteln wie Rock-Legende oder Grundpfeiler des sowjetischen Rock sagt Michail immer nur: „Schreibt lieber so was wie ‚stand am Ursprung der Neoromantik‘ oder ‚an der Quelle von Dark Wave‘. Telewisor ist stilistisch nicht wirklich Rock, eher New Wave. Reiner, klassischer Rock war nie das, wofür sich meine Band begeisterte.“ Aber was mal auf einem Plakat steht, ist fix.        

    „Bei Almar wollte ich nur mitspielen. Das war mein Beitrag zur tätigen Reue. Ich bezwang meine Star-Allüren: Ich war immer mein eigener Herr gewesen, hatte selbst Regie geführt, auf meiner eigenen Bühne. Und auf einmal wurden meine Songs zurechtgeschnitten und anders zusammengebaut: Hier zwei Strophen, hier drei, und hier ohne Refrain. Ich fügte mich dem Ton, den Katarina vorgab.“

    Jetzt hat das Theater Tschechows Medwed (Der Bär), das Ein-Mann-Stück Tri goda (Drei Jahre), ebenfalls nach Tschechow, Jewreiskije tschassy (Die jüdische Uhr) der ukrainischen Dramenautoren Sergej Kisseljow und Andrej Ruschkowski und Pridurki (Dummköpfe) von Alexander Karabtschijewski im Repertoire. Insgesamt in diesem knappen Jahr sieben Stücke und drei Konzerte.    

    „Wir wiederholen jetzt, in einem fremden Land, was wir in Kyjiw schon einmal geschafft haben“, sagt Katarina. „Wir hätten in Kyjiw eigentlich noch eine kleine Bühne eröffnen wollen, es war schon fast soweit. Unsere Hauptbühne befand sich im Haus des Schauspielers, das sie immer abreißen wollten, um stattdessen eine Bank hinzubauen oder einfach, um es zu verkaufen. Das gab uns den Anstoß, auf die Barrikaden zu gehen, zu protestieren, uns an den Kyjiwer Bürgermeister Vitali Klitschko zu wenden. Er nannte uns ‚aggressive Intelligenzija‘. Er verstand uns einfach nicht: ‚Wollt ihr sagen, ihr habt keine 30 Millionen für eine anständige Sanierung?‘ 

    Wir saßen wie Studenten mit einer Flasche Wein am Strand und schmiedeten Pläne 

    Und dann saßen wir zu dritt da, Viktor war traurig, Mischa Borsykin war traurig, der eine ein verdienter Künstler, der andere eine Rock-Legende, und alle sahen sich gezwungen, von Null anzufangen und ihr ganzes Leben zurückzulassen. Ich sagte: ‚Was habt ihr denn bloß? Darin steckt unsere große Chance, wieder jung zu sein. Wir sind wieder wie Studenten, bei denen noch nichts fix ist, die mit einer Flasche Wein am Strand sitzen und Zukunftspläne schmieden. Zurück an den Start, ein neues Leben!‘“   

    Ein neues Leben. Auf den Ruinen des alten. Eine Flasche Wein für drei. An allen Enden der Welt sitzen sie jetzt genauso im Sand, auf dem Asphalt, auf dem Sofa – Menschen, die vor Krieg und Gefängnis geflüchtet sind, bei denen genauso nichts fix ist, die nicht wissen, wie es weitergeht. Vorerst in einem kleinen Dorf zwischen Budva und Bečići, in einem halbdunklen Saal, in dem noch vor einem Jahr Bilder gelagert wurden und sich jetzt Sintschillo als Arkadina aus der Tschaika mal im feurig folkloristischen Tanz dreht, mal als Phaidra Trigorin zu Füßen sinkt, während Koschel als Einstein die Eifersucht quält und Borsykin in der Ecke am Keyboard mal vom Tod und mal vom Glück singt. Dann scheint alles möglich, und die Verzweiflung schwindet mit der Ebbe. Der Weltuntergang ist ausgeblieben – Borsykin hat ihn abgewendet. 

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  • Noize MC

    Noize MC

    „Wir haben von einem Wunder geträumt
    Durch die Poesie ins Leben zurückzukehren!
    Nur sind Gedichte wie Menschen,
    Die wenigsten sind unsterblich.“1

    Im Januar 2023 veröffentlicht das Projekt Posle Rossii (After Russia) in Erinnerung an die Vertreibung russischer Intellektueller in den 1920er Jahren ein Album mit ihren neu vertonten Gedichten. In 16 Liedern ehren zeitgenössische Künstler:innen die Poesie der sogenannten unbemerkten Generation, die im Exil größtenteils ein kulturelles Schattendasein führte. Ein ähnlicher Exodus Kulturschaffender passiert auch seit dem Beginn des vollumfänglichen Krieges gegen die Ukraine. Zahlreiche Regisseur:innen, Autor:innen und Musiker:innen haben Russland aus Protest oder wegen politischer Verfolgung verlassen. Dazu gehört auch Noize MC, der für Posle Rossii das Gedicht Parnassus des Dichters Sergej Bongart interpretiert hat. Mit seinen von der Polizei aufgelösten Konzerten und den auch im Exil ausverkauften Hallen bringt Noize MC russischsprachige Menschen zusammen, die sich in der Grausamkeit der Gegenwart verloren haben – und hilft ihnen dabei, wieder von Wundern zu träumen.

    Moskau, November 2019: Noize MC auf dem Red Bull SoundClash in der Arena des ZSKA / Foto © Gavriil Grigorov/TASS, imago-images

    Während die ersten russischen Panzer in die Ukraine einrollen, veröffentlicht Noize MC ein neues Video zum Song Na Marse Klassno (dt. Es ist großartig auf dem Mars).2 Das Antikriegs-Lied erzählt von einer Zivilisation auf dem Mars, nachdem ein Atomkrieg die Erde ausgelöscht hat. Im Instagram-Post dazu schreibt Noize, heute sei es wichtiger denn je, ehrlich zu fixieren, was gerade passiere. Und genau zwischen jenem Fixieren des Gegenwärtigen und der Politisierung von Musik liegt die Tätigkeit des Künstlers, der nicht in Selbstmitleid versinken, sondern „das Unmögliche“ wagen will.3 Er will nicht unsterblich sein, sondern die durch das Putinsche Regime atomisierten Menschen wieder zusammenführen.

    MC Staatsfeind

    In der Heimat machen ihn solche Aussagen zum „MC Staatsfeind“, wie das deutsche Magazin fluter 2017 titelt.4 Zu einem der größten russischen Protestrapper wird Iwan Alexejew – so Noize MCs bürgerlicher Name – spätestens in dem Moment, als er sich 2014 bei einem Konzert im Donbas spontan in eine ukrainische Flagge wickelt. Es folgen: Konzert-Verbote, vermeintliche Drogenrazzien und schließlich das Label „ausländischer Agent“. Doch mit dieser Gängelung durch den Staat ist Noize MC zu dem Zeitpunkt bereits vertraut. Schon 2010 veröffentlichte er mit Mercedes S666 einen Song, der den Unmut der Mächtigen nach sich zog. Atmosphärisch unterlegt mit Nina Simones Feelin’ Good rappt Noize unverblümt als lyrisches Ich des Lukoil-Vizepräsidenten Anatoli Barkow, der damals einen tödlichen Autounfall verschuldete und ungestraft davonkam. 

    Ich bin halt auf einem anderen Level, ein Wesen höherer Ordnung
    Ich kenne keine Probleme, die man nicht mit Bestechung lösen könnte

    Noch brisanter als der Liedtext war allerdings die Aufforderung an alle Zeugen, sich unter der Mailadresse stop_auto_murder@mail.ru zu melden. Im letzten Satz unter dem Video heißt es: „Die Schuldigen sollen unabhängig von ihrer finanziellen und sozialen Situation bestraft werden“. Damit prangert Noize MC ganz öffentlich das korrupte System an, für das Barkow steht und das die Kleptokraten pauschal in Schutz nimmt. Infolgedessen steht der Rapper plötzlich nicht mehr nur als Musiker, sondern auch als Person im Scheinwerferlicht des öffentlichen Lebens.

    Rap gegen das Regime

    Noize MC ist jedoch niemand, der sich leicht einschüchtern lässt. Alexejew, der schon früh zur Musik kommt – sein Vater ist selbst Musiker – gewinnt bereits im Jugendalter Preise für seine Kunst. Der am 9. März 1985 in Jarzowo in der Oblast Smolensk geborene Alexejew experimentiert immer wieder mit neuen Bands, bis er als Student in Moskau sein Rap-Ego Noize MC entwickelt und 2008 sein erstes Album herausbringt. The Greatest Hits: Vol.1 erfüllt die vollmundige Ansage seines Titels, wird zu einem der meistverkauften Alben des Jahres – und katapultiert den Debütanten in die erste Riege des russischen Raps.

    Seither nutzt Noize MC seine Bekanntheit, um Missstände in Russland anzuprangern. Neben Mercedes S666 sticht auch Ljocha als einprägsames Beispiel hervor. Den Song veröffentlicht der Rapper im August 2019, als neuerliche Proteste für freie Wahlen ihren Höhepunkt erreichen. Er macht die brutale Polizeigewalt gegen die Demonstrierenden zum Thema und fängt mit seinem stakkato-ähnlichen, an ein Maschinengewehr erinnernden Rhythmus, pointiert den Moment ein:

    Ljocha träumte im Kindergarten davon, Kosmonaut zu werden
    Im Flecktarn-Raumanzug mit Schild, Maschinengewehr und Schlagstock
    – Humanoiden zu verprügeln


    Humanoiden – schon in der ersten Strophe weist Noize darauf hin, wie die Kreml-Propaganda Regimegegner entmenschlicht. Um dem entgegenzuwirken, gibt er dem Protest ein Gesicht, nimmt oft selbst an Demonstrationen teil und nutzt seine Popularität zur Mobilisierung. Zudem organisiert er Solidaritätskonzerte und verbreitet seine Botschaften auf Social Media. Auch seine zahlreichen Fans nutzen seine Videos und Postings als sozialen Kommunikationsraum. 5

    Einer für alle

    So kommentiert Noize MC auf YouTube unter seinem Song Stoletnjaja Woina (dt. Der hundertjährige Krieg): „Der hundertjährige Krieg dauerte […] nicht 100, sondern 116 Jahre. Diese Kuriosität ist sinnbildlich: Jeder internationale bewaffnete Konflikt ist immer untrennbar mit einer ungeheuerlichen Faktenverzerrung verbunden …“ Seine Ausführungen endet Noize mit einem einzigen, groß geschriebenen Wort: FRIEDEN. Er erhält darauf über 400 Antworten, die meisten davon: Danke.


    Diese Reichweite ist Noize MCs wichtigstes Werkzeug im Kampf gegen das Regime. Der Rapper zählt zu den meistgehörten russischsprachigen Künstler:innen, seinem YouTube-Kanal folgen fast eine Million Abonnent:innen. Er selbst gibt an, er richte sich nicht nur an den starren nationalen Raum Russlands, sondern an alle, die ihn verstehen – ob durch Sprache, Kunst oder Emotion. Dass er nicht in ausverkauften Stadien spielt, sei eine bewusste Entscheidung – gegen die Karriere und für moralische Integrität.6

    Denn sein kritisches öffentliches Auftreten ist nicht ungefährlich. Als im Januar 2021 eine Demonstration gegen die Verhaftung Alexej Nawalnys bei seiner Rückkehr aus Deutschland losbricht, befindet sich auch Alexejew unter den Protestierenden. Der Protest endet mit über 3000 Festnahmen.7 In einem späteren Interview mit dem beliebten YouTube-Moderator Juri Dud sagt er dazu: „[Meine Kinder] haben sich große Sorgen gemacht und mich gebeten, ‚Papa, geh nicht‘ […], und ich hab ihnen erklärt: ‚Jungs, wenn alle so denken, geht niemand.‘“

    „Es ist an der Zeit, die Mützen, Schals und Mäntel auszuziehen“

    Mit dem Beginn des vollumfänglichen Angriffskriegs gegen die Ukraine gibt es deshalb für den Rapper nur noch zwei Optionen: Schweigen und mit irgendetwas anderem Geld verdienen – oder Gefängnis. Alexejew entscheidet sich für eine dritte Variante und zieht mit seiner Frau und seinen zwei Kindern nach Vilnius. Das Exil ermöglicht ihm eine neue Unabhängigkeit. Von nun an entscheiden nur noch er und seine Fans über sein Einkommen – ohne staatliche Einmischungen.8 

    Die veränderte Gegenwart hat für Noize MC eine neue Direktheit zur Folge. Zwar hat er nie vor offener – oft derber – Sprache zurückgeschreckt. Das illustriert zum Beispiel Is Okna (dt. Aus dem Fenster), wo er die russische TV-Landschaft mit einigen Flüchen bedeckt. Doch während er in Na Marse Klassno noch mit kodierten Inhalten starke Gefühle hervorrufen will, wendet er sich jetzt von der Ästhetik ab. „Es ist an der Zeit, die Mützen, Schals und Mäntel auszuziehen […]“, sagt der Rapper im Interview mit Galina Jusefowitsch.9 Man müsse es den Menschen heute einfacher machen, sich nicht mehr hinter komplizierten Worten zu verstecken. 

    Ein Teil dieser neuen Direktheit zeigt sich auf der Solidaritätstour Voices of Peace. Gemeinsam mit der russischen Künstlerin Monetotschka sammelt er über 300.000 Euro für die Ukraine. Ohne Schlenker und Verzierungen sprechen sich die beiden gegen den Krieg aus: „Ich werde [das Friedenszeichen] zeigen, bis sie mir die Hände hinter dem Rücken festbinden“, erzählt Alexejew der Menge während eines Konzerts in Warschau. Die Menschen aus der Lethargie holen, in der Gegenwärtigkeit verankern und sie aktivieren – Noize MC gelingt diese Aufgabe auch im Exil. Seine Konzerte verbinden nicht nur Fans, sondern Russ:innen, Belaruss:innen und Ukrainer:innen, die sich in seinen Texten gemeinsam wiederfinden.

    Die Kunst, über und gegen den Krieg zu sprechen

    In Noize MCs Auftritten spiegelt sich das widerständige, Grenzen überwindende Potential von Hip-Hop in Russland. Als Poesie der Gegenwart füllt er die Rolle der Protestmusik,10 die zu Sowjetzeiten von Rocklegenden wie Viktor Zoi getragen wurde. Rap hat durch seine Performativität jedoch nicht nur das Augenblickliche, das ekstatische Leben im Moment mit dem Russki Rock gemein. Er zieht ebenso ein Millionenpublikum an, entzieht sich oft staatlicher Kontrolle und erhebt den Anspruch, für eine bessere Zukunft einzustehen. Damals wie heute rüttelt die Musik am Thron der Mächtigen und verunsichert sie, bis sie verboten wird. 

    Auch die Anfänge von Rap haben diesen widerständigen Charakter: Als Teil der Hip-Hop-Kultur entsteht er in den 1970er Jahren als Party-Musik und Gegenkultur zum bis dato überwiegend weißen Musikgeschäft in der New Yorker Bronx. In den 1980er Jahren setzen sich schließlich die gesellschaftsrelevanten Themen durch. Ähnlich entwickeln sich Noize MC und andere russische Künstler:innen. Oft verlieren sie dabei die Leichtigkeit ihrer Anfänge: Findet man als Zuhörer:in auf The Greatest Hits: Vol.1 noch viele lustige und ironische Lieder, sind diese auf seiner neuesten Platte Wychod is Goroda (dt. Ausgang aus der Stadt) kaum mehr vorhanden. 

    In dem ewigen Dilemma zwischen Kunst und Politik fordert der Krieg die Kunst förmlich heraus, er verlangt ihre Neudefinition und Stellungnahme. Mit ihrer Lyrik versuchen die Künstler:innen, die Gewalt zu verarbeiten; zu fassen, was unfassbar ist. 

    Verloren im Orbit

    Dass der Kampf gegen das Regime isoliert, zeigt sich in Noize MCs 2020 erschienenen Song Voyager 1. Dort bezeichnet er sich selbst als ungebetenen Gast, dessen Rufe an die Erde verhallen. Und rappt weiter: 

    Und keilförmig bündelt sich das Licht
    Auf einen fernen Punkt, dort, ganz hinten
    Auf den besten aller möglichen Planeten
    Doch er ist schon lange weg, man kann ihn nicht mehr finden


    Die Hoffnung auf Wunder und eine bessere Welt hat Noize MC mit Sergej Bongart gemein. Voyager 1 – und damit stellvertretend der letzte vernünftige Mensch – entfernt sich immer weiter vom „besten aller möglichen Planeten“. Noize stellt damit klar: Eine lebenswerte Gegenwart gibt es in Russland nicht mehr. 

    Zwei Jahre nach Veröffentlichung erhält der Song neue Aktualität. Durch den Krieg werden viele Künstler:innen und Kulturschaffende aus Russland herauskatapultiert und können auf ihre Heimat nur noch als weit entfernten Punkt blicken. Noize MC verleiht diesen Entfremdeten eine Stimme: in seiner Musik, auf der Bühne und im Netz. Er zeigt, dass die gewaltvolle Gegenwart eine neue künstlerische Verarbeitung braucht. Vor 100 Jahren – und heute auch.


     

    1. Bongart, Sergej/Noize MC: Parnassus, zit. nach: after russia 100: Sergei Bongart ↩︎
    2. instagram.com: noizemc ↩︎
    3. zit. nach FAZ.net: Kummer ist der Anfang des Menschhseins ↩︎
    4. fluter.de: MC Staatsfeind ↩︎
    5. Denisova, Anastasia/Herasimenka, Aliaksandr (2019): How Russian Rap on YouTube Advances Alternative Political Deliberation: Hegemony, Counter-Hegemony, and Emerging Resistant Publics, in: Social Media + Society, 5(2) ↩︎
    6. youtube.com/@vdud: Noize MC – The war and new life ↩︎
    7. dw.com: 3000 Festnahmen bei Nawalny-Protesten ↩︎
    8. Meister, Katarina (2023): Civic Activism Strategies of Russian Protest: Musicians after February 24, 2022, in: Russian Analytical Digest, 291, S. 12-16, hier S. 12 ↩︎
    9. youtube.com/@YuzefovichProject: Noize MC* o Pelevine, Majakovskom, sovremennoj poėzii, muzyke i vospitanii detej v ėmigracii ↩︎
    10. Liebig, Anne (2020): No Face, No Case: Russian Hip Hop and Politics under Putinism, in: FORUM: University of Edinburgh Postgraduate Journal of Culture & the Arts. No. 30 ↩︎

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    Z-Pop

    „Wer hat gesagt, dass in der Welt die Liebe gestorben ist? Dass es keine Ehre mehr gibt und die Wahrheit bis auf den Grund verbrannt ist? Selbst wenn um mich herum die Hölle losbricht, ich gebe nicht auf! Immer vorwärts und nie einen Schritt zurück.“ So beginnt ein Hit des russischen Sängers Shaman. Am 21. Juli 2023 veröffentlichte er das Video zu Moi Boi (dt. Meine Schlacht). Schnell fanden Zuschauer:innen in diesem Lied Parallelen zu Hitlers Manifest: Die automatischen deutschen Untertitel auf YouTube übersetzen die titelgebende Zeile als „Mein Kampf“.1 

    Shaman, der bereits in seinem Lied My (dt. Wir) mit Nazisymbolik gespielt hatte, gilt als patriotischer Sänger. Das Musikvideo dazu, veröffentlicht am 20. April – Hitlers Geburtstag – zeigt Shaman in kurz geschorenen blondierten Haaren, Springerstiefeln und einer Armbinde in den Farben der russischen Trikolore. Seine professionell produzierten Lieder greifen immer wieder dieselben Motive auf: darunter Kampf, Stolz, Liebe, Gott, Frieden, Freiheit, Wahrheit, Stärke, Volk und brennende Herzen. Shamans Schaffen spiegelt die Rhetorik der russischen Macht wider und präsentiert sie in konzentrierter Form.



    30. September 2022: Shaman stimmt die russische Nationalhymne bei der Feier zur Annexion ukrainischer Gebiete an.

    Das ursprünglich für die Markierung des russischen Militärs verwendete Z-Zeichen fand sich schon wenige Wochen nach der russischen Großinvasion in den Erzeugnissen russischer Popindustrie und Werbung wieder. Dort gilt es seitdem als Symbol der Unterstützung für den Angriffskrieg. Über die Verbreitung des Kriegs-Merchandisings in der Lebenspraxis der Menschen in Russland gibt es keine verlässlichen Quellen. In den Staatsmedien ist es jedoch allgegenwärtig, auch die Popkultur sorgt für die Popularisierung. Forscher wie der Historiker Alexej Tichomirow sprechen deshalb mittlerweile von einer „Z-Gesellschaft“ in Russland.2

    „Einen wie Putin“

    Die Propaganda-Popkultur in Putins Russland begann bereits in den frühen 2000er Jahren, lange vor Beginn des Krieges in der Ukraine. Damals konzentrierte sie sich vor allem auf die Schaffung eines Personenkults: So erschien zum Beispiel 2001 das Lied A w tschistom pole (dt. Auf offenem Feld) der Band Bely Orel, das vor dem Hintergrund des zuvor entfesselten Tschetschenienkriegs Putins kriegerische Stärke hervorhob. Ein Jahr später gelang der Gruppe Pojuschtschije Wmeste mit Takogo kak Putin (dt. Einen wie Putin) ein Hit, der noch Jahre später den Soundtrack zu Putins Wahlkampfveranstaltungen liefern sollte. Das Musikvideo stilisiert den Präsidenten zum geheimnisvollen 007, vor einer animierten russischen Flagge tanzen entsprechend Bondgirls. Ursprünglich als Scherz gedacht, ging das Lied spätestens nach der Aufnahme in den offiziellen Propaganda-Kanon viral.3 

    In der Folgezeit wurden Loblieder auf Putin schon fast zu einer eigenen Musikgattung, Graswurzelpropaganda ging dabei wohl mit kommerziellen Erwägungen der Interpret:innen einher. Dabei bedienten sie sich allerdings nicht nur musikalischer Propagandaformen: So haben 2010 Studentinnen der Fakultät für Journalistik der MGU anlässlich Putins 58. Geburtstags einen erotischen Kalender entworfen.4 Auf jedem Blatt räkelt sich eine neue, knapp bekleidete Frau. Jede von ihnen hat eine persönliche Botschaft an Putin. Das Dezembermodel etwa schreibt: „Ich möchte Ihnen persönlich gratulieren. Rufen Sie mich an: …“ 

    Nach der Krim-Annexion 2014 wurden auch patriotische Graffitis zu einer beliebten Form der Propaganda-Massenkunst. So tauchte 2014 eines Tages an einer Sewastopoler Hauswand plötzlich vor blauem Hintergrund der Buchstabe A auf. Umrahmt von Eiszapfen stand unter einem weiß-blau-rot gestrichenen Eisbrecher das Wort Arktika. In Moskau fand man ein S, darunter den Schriftzug Suwerenitet und eine Abbildung der Interkontinentalrakete Topol-M. Die Bilder waren Teil einer Aktion des staatlichen Jugendprojekts Swjas (dt. Verbindung) zu Putins 62. Geburtstag. Die über sieben Großstädte verteilten Wandgemälde bilden das Wort Spasibo (dt. Danke): Für Stärke (Sila), Erinnerung (Pamjat), die Arktis (Arktika), Souveränität (Suwerenitet), Geschichte (Istorija), Sicherheit (Bezopasnost) und die Olympischen Spiele (Olimpiada).5

    Andere Graffitis zeichneten Putin als Retter – ein häufiges Propagandabild, laut dem Putin das Land von den Knien erhoben habe. Parallelen zu Juri Gagarin gehören ebenfalls zu beliebten Stilmitteln, auch der klassische Gegensatz Freund/Feind und die Konfrontation mit den Vereinigten Staaten sind wiederkehrende Motive. Als visuelle Konstanten dienen unter anderem die Farben der russischen Flagge und der Umriss des Kreml oder des Landes inklusive Krim. Auch emotionale Marker wie glückliche Kinder, eine reiche Naturvielfalt, Sonnenschein oder niedliche Tiere finden Anwendung in den Straßenkunstwerken. So stehen die Murals in der Tradition der Kunst des sozialistischen Realismus, der volksnahe Helden und eine helle Zukunft propagierte.

    „Ich bin ein Russe“

    Mit Beginn des Kriegs in der Ostukraine 2014 entstand auch in der Musik eine neue patriotische Schaffenswelle. Im Lied Moi Putin (dt. Mein Putin) von 2015 der Sängerin Mashany tritt der Präsident als Retter der Ukraine und Beschützer Russlands auf. Der russische R’n’B-Star Timati nennt Putin in seinem Lied Lutschi drug (dt. Bester Freund, 2015) einen „coolen Superhelden“. Und die Girlband Fabrika bezeichnet Putin in ihrem Lied Wowa, Wowa (2018) als ihren „Lieblingschef“. Durch fleißige Kommentator:innen – ob echt oder Bots lässt sich im Zweifel schwer feststellen – verbreiteten sich diese Clips schnell und breitenwirksam in den sozialen Netzwerken.6

    Doch als Russland 2022 den großangelegten Krieg losgebrochen hat, änderte sich der Tenor der russischen Popszene erneut. Statt lediglich den Personenkult zu pflegen, wollen neue Propagandalieder offensichtlich einen Rally-‚round-the-Flag-Effekt zünden und das Volk hinter der sogenannten militärischen Spezialoperation vereinen. Hier kommt wieder Shaman ins Spiel: Der Sänger begann seine Karriere in der beliebten Sendung Golos, russische Version von The Voice. Das sicherte ihm die anfängliche mediale Präsenz. Zum Repertoire gehörte zunächst kommerziell ausgerichteter Boyband-Pop, zur Zielgruppe – weibliche Teenager. Ein wirklicher Star wurde Shaman aber erst kurz nach dem Beginn der Großinvasion mit seinem Lied Ja Russki (dt. Ich bin ein Russe): Mit über 50 Millionen YouTube-Klicks und nahezu schon inflationären Auftritten in den Propagandaorganen erwischte Shaman eine Welle der politischen Konjunktur, die auf Regimetreue, Unterstützung des Kriegs und Patriotismus setzte. 

    Trittbrettfahrer folgten: An Shamans nächstem Hit Wstanem (dt. Wir stehen auf) beteiligten sich neben Shaman verschiedene Größen aus Rock, Pop, Jazz und Schlager. Dazu gehören etwa Larissa Dolina, Nikolaj Baskow, Nadeshda Babkina und Alexander Skljar. Die Taktik ist klar: Je breiter das Spektrum an Künstler:innen, desto größer ist das Publikum, das abgedeckt werden kann. 

    Auch Grigori Leps gehörte zum Ensemble um Wstanem. Der Chanson- und Softrock-Sänger, dessen Lieder zur Grundausstattung russischer Karaokebars gehören, präsentiert seit Februar 2022 ein neues, patriotisches Repertoire. Co-Autor seines Songs Rodina-Mat (dt. Mutterland) ist der beliebte Chanson-Veteran Alexander Rosenbaum. So heißt es im Refrain des zum Jahrestag des Krieges veröffentlichten Liedes Das Mutterland ruft – lass es nicht im Stich! Für dich erhebe ich mich, Mama Russland! Auch die Propagandaformel Wir lassen unsere Leute nicht im Stich bleibt nicht unerwähnt. Das Video zu Rodina-Mat, in dem Leps in einem mit russischen Flaggen schwingenden Zuhörern gefüllten Stadion singt, hat auf YouTube über anderthalb Millionen Aufrufe. 

    „Ich bleibe“

    Leps will wohl die russischen Männer mobilisieren, die Sängerin Irina Dubtsowa wendet sich mit ihrem Z-Pop eher an ein weibliches Publikum. Ihr Lied Sa nas (dt. Auf uns) enthält alle wichtigen Klischees der russischen Propaganda: Die Erinnerung an Stalingrad und die Heldentaten der Großväter wecken Stolz, der Verweis auf die Kinder in der Gedenkstätte Allee der Engel in Donezk erwecken Mitleid. Das in dem mitreißenden Song verwendete Vokabular – die stete Wiederholung von Worten wie wir, Mutterland, Liebe, Stärke und Himmel – klingt wie aus einem Propagandahandbuch. Über die Premiere des Liedes berichtete Dubtsowa am Tag Russlands auf Instagram – das in Russland inzwischen verboten ist. 

    Leps und Dubtsowa gelten unter Kritikern als Propagandakitsch. Etwas komplizierter verhält es sich mit der Neuaufnahme von Ja ostajus (dt. Ich bleibe), die unter Garik Sukatschews Anleitung entstanden ist. Der Klassiker, den Anatoli Krupnow 1992 kurz nach der Auflösung der Sowjetunion schrieb, und der insbesondere nach seinem Tod 1997 an Popularität gewann, bekommt im aktuellen Kriegskontext einen faden Beigeschmack. In der Version von 2022 singen beliebte Rockmusiker wie Sergej Schnurow, Andrej Knjasew oder Mascha Makarowa: Und ich, ich bleibe – dort, wo ich sein möchte. Und doch, ich habe ein wenig Angst – aber ich, ich bleibe. Ich bleibe, um zu leben! 

     

    Schnurow, der im April 2022 mit seiner Band Leningrad ein Lied herausbrachte, das sich dem Thema Krieg eher satirisch näherte, hielt sich mit konkreten Äußerungen zur Invasion bisher zurück. Ein Foto, das ihn im August 2022 an der Seite Jewgeni Prigoshins in der sogenannten Volksrepublik Luhansk zeigte, betitelte er als Fälschung.7 Auch Ja ostajus ist kein eindeutiges Bekenntnis zu Putin. Dennoch fällt es schwer, das Lied innerhalb des aktuellen politischen Kontexts anders zu interpretieren, wirkt es doch eher wie Kritik an denjenigen Musiker:innen, die das Land nach dem Beginn des Krieges verlassen haben, wie etwa die Pop-Ikone Alla Pugatschowa, die Stars Andrej Makarewitsch, Boris Grebenschtschikow und Zemfira, die Rapper Oxxxymiron, Noize MC oder Face.

     

    Alle Register

    Z-Propaganda hat nicht nur Musik und Straßenkunst, sondern auch andere Bereiche der Massenkultur erreicht. Eine ganze Reihe neuer Spielfilme und Serien bedient sich patriotischer Z-Rhetorik.8 Eines der markantesten Beispiele ist der Film Swidetel (dt. Zeuge (der Kyjiwer Verbrechen)), der nach der ersten Woche in russischen Kinos zu einem Flop erklärt wurde: Im Schnitt saßen in jeder Vorstellung lediglich fünf Zuschauer.9 Auch auf YouTube buhlt man mit bewegten Bildern um Aufmerksamkeit. Die Show Podrugi Zet (dt. Z-Freundinnen) beschreibt sich als „Show, in der schöne Frauen über die neuen Realitäten Russlands sprechen und man an manchen Stellen lacht und an manchen überrumpelt wird“. Die Show vermittelt den Eindruck, dass sie von Frauen für Frauen gemacht wird. 

    Zu finden ist auf YouTube auch Stand-Up mit Inhalten der Z-Propaganda. Z-Lyrik ist im Netz verbreitet, und zahlreiche Hip-Hopper wollen mit Z-Rap wohl Jugendliche gewinnen. Auch TikTok wird rege bemüht, um die jüngere Generation mit Z-Propaganda zu versorgen. Beliebte TikToker:innen werden laut einer Recherche von Vice dafür bezahlt, um auf ihren Seiten über die politische Lage, den Kriegsverlauf und das Leben in der Ukraine zu sprechen und mutmaßliche Live-Videos zu verbreiten.10 Die Influencer:innen, die sich bei ihren Zuschauer:innen zuvor mit Lifestyle-Videos, Challenges und Streaming-Partys einen Namen gemacht haben, erfinden sich als kremltreue Meinungsbildner:innen und -führer:innen neu und verbreiten fröhlich Kreml-Agenda.

    Der Sänger Shaman erwischte eine Welle der politischen Konjunktur, die auf Regimetreue, Unterstützung des Kriegs und Patriotismus setzte / Foto © Sergei Karpukhin/ITAR-TASS/imago images

    Im Endeffekt lässt sich Z-Pop auf vier Grundprinzipien herunterbrechen: einfache Botschaften und Wiederholungen, hohe Emotionalität, zielgruppenspezifische Ausrichtung, und die Nutzung sozialer Netzwerke. Während der Fokus patriotischer Popkultur in den 2000er Jahren noch auf dem Personenkult Putins lag, geht es heute um das Volk und dessen Stärke sowie die Notwendigkeit seiner Einheit. Zu den Angelpunkten der Kriegspropaganda gehören Glaube an Gott, Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg und seine Helden, traditionelle Werte, Feindbilder, Nationalstolz und eine vermeintliche helle Zukunft.

    Einerseits steht die Kriegspropaganda inhaltlich und visuell in der Tradition des sowjetischen sozialistischen Realismus. Andererseits nutzt sie aktiv Mechanismen der Popindustrie, schöpft die Möglichkeiten von Social Web aus und setzt so auf schnelle Verbreitung und Interaktivität. Während der Kreml in der Sowjetunion allerdings ein Quasi-Monopol auf Propaganda hatte, betreibt die Z-Propaganda ein eigenartiges Franchise-Modell: Es gibt zwar zahlreiche Hinweise darauf, dass einige Protagonist:innen des Z-Pop letztendlich von der Präsidialadministration beauftragt und bezahlt werden, viele von ihnen dürften aber dennoch Graswurzelpropagandisten sein. Über ihre Motive lässt sich nur spekulieren: Manche sind sicherlich glühende Putinist:innen und Kriegsbefürworter:innen, andere könnte man wohl zu den Konjunkturschiki rechnen – zynische Opportunist:innen, die der politischen Konjunktur folgen und daran mitverdienen wollen. 


    1. meduza.io: Šaman vypustil klip na pesnju „Moj boj“ s kadrami iz Donbasa ↩︎
    2. deutschlandfunknova.de: System der Angst: Die „Z-Gesellschaft“ ↩︎
    3. youtube.com/SoundTracksQH: A Man Like Putin ↩︎
    4. metro.co.uk: Pictures: Vladimir Putin’s bizarre Calendar ↩︎
    5. ndn.info: Graffiti, pozdravljajuščee Vladimira Putina s dnёm roždenija, pojavilos’ v Novosibirske, weitere Beispiele für patriotische Graffitis in Russland siehe: spiegel.de ↩︎
    6. Weitere Beispiele siehe: de.rbth.com: „Onkel Wowa, wir sind mit Dir!“ – Sieben russische Songs an und über Putin ↩︎
    7. meduza.io: V LNR rasskazali, čto samoprovozglašennuju respubliku posetili Sergej Šnurov i Evgenij Prigožin. Šnurov zajavil, čto ego foto ottuda — poddel’noe ↩︎
    8. holod.media: V Rossii snimajut patriotičeskie fil’my i serialy o generalach KGB, chakerach-patriotach i opolčencach v Donbasse ↩︎
    9. rtvi.com: Rossijskij fil’m “Svidetel’” ob SVO zarabotal vsego 6,6 mln za pervye vychodnye ↩︎
    10. vice.com: Russian TikTok Influencers Are Being Paid to Spread Kremlin Propaganda ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert durch: 

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  • Shamans Kampf

    Shamans Kampf

    Entschlossen schreitet Jaroslaw Dronow in Lederstiefeln über den Roten Platz, auf der Brust prangt ein Holzkreuz, den linken Arm ziert eine Armbinde mit der russischen Trikolore. „Wahrheit und Stärke sind auf unserer Seite, stolz wird unsere Nation alles überleben“, singt der als Shaman bekannte Popstar dazu in seinem Lied My (dt. Wir). Neben der offenkundigen Nähe zur NS-Ästhetik sorgte in den Sozialen Netzwerken für Diskussionen, dass die Veröffentlichung des Songs ausgerechnet mit dem Geburtstag Adolf Hitlers zusammenfiel.

    Der 31-jährige Dronow hat die Gnessin-Musikhochschule in Moskau abgeschlossen und gilt als Shootingstar der patriotischen Popmusik in Russland. Seine Karriere erlebte einen steilen Aufschwung mit dem Song Wstanem (dt. Wir erheben uns). Das Lied ist Gefallenen im Großen Vaterländischen Krieg gewidmet, erschien einen Tag vor Beginn des russischen Großangriffs auf die Ukraine und wurde oft darauf bezogen interpretiert – entsprechend der russischen Propaganda, die schon seit 2014 versucht, die russische Aggression gegen die unabhängige Ukraine in Bezug zum sowjetischen Kampf gegen Hitlerdeutschland zu setzen. 

    Shamans neuester Song heißt Moi boi, was sich mit „Mein Kampf“ (russ. Moja borba) übersetzen lässt und auch so in den deutschen Untertiteln auf YouTube angezeigt wird, wie Social-Media-User sogleich bemerkten. Der Politikanalyst Alexander Baunow hat sich den Clip dazu angeschaut und seine Gedanken zu den Propaganda-Mechanismen dahinter auf Facebook notiert. 

    Der Sänger Shaman Dronow hat einen neuen Clip aufgenommen – Mein („Kampf“ durchgestrichen) Gefecht –, bei dem der empfindsame Betrachter eine Träne vergießen soll, angesichts eines Sammelsuriums von Bildern unrasierter, schießender Männer in Tarnuniform und zerstörter Gebäude und Straßen. Und die Zuschauer tun das auch folgsam.

    Betroffenheit angesichts der Zerstörung – und Mitgefühl für die Verursacher

    Dass die zerstörten Gebäude und Straßen zu eben jenen Städten gehören, die von den Männern in Tarnuniform beschossen werden, und dass die tränenvergießenden Zuschauer sowohl mit dem einen wie mit dem anderen mitfühlen sollen, verstört diese nicht im Geringsten. Hauptsache, die Melodie ist anrührend, die Stimme mitreißend und unser Junge auf der Bühne hübsch. Und mit den „Helden“ mitzufühlen und sich den Anblick der Leiden zu Herzen zu nehmen, das ist für den Zuschauer erhebend: Es belegt, dass er ein guter Mensch ist, und dass auch die Sache, die ihm am Herzen liegt, gut und gerecht ist. 

    Die Bilder der Ruinen in dem Clip ließen sich durch Aufnahmen von der Kathedrale und dem Haus der Wissenschaftler in Odessa ergänzen [die Russland am Tag der Veröffentlichung des Posts mit Raketen beschossen hat – dek]. Letzteres war ein Anwesen der Grafen Tolstoi, und seine Räumlichkeiten haben als Kulisse gedient: Sie waren die Räume des Schlosses von Versailles in Die drei Musketiere, dem vom feinfühligen Zuschauer geliebten, guten alten sowjetischen Film. Man könnte den Clip mit einem offenen Ende versehen, das allmonatlich mit neuen Bildern von Ruinen bestückt wird. Das dürfte für den aufmerksamen Betrachter zu keinerlei kognitiven Dissonanzen führen, und es wird ihn auch nicht in eine geistige Sackgasse manövrieren. Schließlich wird hier alles vom Herzen entschieden.

    „Wir sind hier Helden wie auch Opfer“

    Bei der ästhetischen Verarbeitung dieses Krieges durch das Massenpublikum gibt es die Besonderheit, dass positive Bilder (etwa unrasierte Helden) sich mit der eigenen emotionalen Welt verbinden, einer positiven, guten Welt. Negative Bilder hingegen (zerstörte Gebäude etwa) gehören zu einer fremden Welt, einer Welt des Schlechten und Bösen. Was soll da unklar sein? Die Helden sind positiv, die Ruinen negativ. Wir fühlen mit den Guten mit, sind stolz auf sie. Und wir haben Mitgefühl mit den Opfern des Bösen, der Anblick der Trümmer schmerzt uns – alles logisch.

    Shaman gilt als Shootingstar der patriotischen Popmusik in Russland / Foto © Komsomolskaya Pravda/Russian Image/imago images
    Shaman gilt als Shootingstar der patriotischen Popmusik in Russland / Foto © Komsomolskaya Pravda/Russian Image/imago images

    Das funktioniert wie eines der [propagandistischen – dek] Erklärungsmuster, dessen Logik genauso aufgebaut ist wie in dem Clip: Wir Slawen haben unter einem Krieg zu leiden, der in unsere russischen, slawischen Lande ein weiteres Mal durch fremde, feindliche Mächte getragen wurde – durch die Amerikaner und Europäer. Wir sind hier sowohl Helden wie auch Opfer. Wir schießen, und wir beklagen die Zerstörungen, die bei uns allen ferne, fremdländische Feinde angerichtet haben. Die Kathedrale ist also durch diese zerstört worden, wird aber unweigerlich zur nächsten Strophe wiederauferstehen.

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  • „Ich liebe mein Land, auch wenn ich den Staat hasse“

    „Ich liebe mein Land, auch wenn ich den Staat hasse“

    Seit dem Eurovision Song Contest 2020 sind Little Big auch außerhalb Russlands populär: Little Big sollte in dem Jahr Russland vertreten mit dem Song Uno. Der ESC 2020 fand nicht statt, wegen Corona, Uno eroberte dennoch die europäischen Zuschauerherzen und wurde zum meistgeklickten Video auf dem offiziellen ESC-Youtube-Kanal mit mehr als 250 Millionen Aufrufen. Entsprechend groß war die Aufmerksamkeit auch im Ausland, als Little Big am 24. Juni aus dem Exil in den USA heraus ihren neuesten Clip veröffentlichten: Generation Cancellation, ein Antikriegssong: „War is not over. Stop war in Ukraine. Stop wars worldwide. No one deserves war“ haben sie auf Youtube unter das Video geschrieben.

    Am 24. Februar, dem Tag, an dem Russland den Angriffskrieg auf die Ukraine begann, hatte Little Big-Sänger Ilja Prussikin auf seinem Instagram-Account folgendes Bild gepostet: ein schwarzes Quadrat, darauf in weißen Lettern die Aufschrift No War, Нет Войне. Im März hat die Band Russland schließlich verlassen, über Dubai sind sie nach Los Angeles geflogen. 

    Im aktuellen Videoclip finden Little Big nun plakative Antikriegsbilder: Ein Kind, das einen Hotdog überreicht bekommt – mit Rakete statt Würstchen. Der Nachrichtensprecher der Sendung Fake News sitzt auf der Toilette – deren Abwasser direkt in die Köpfe der Zuschauer gespült wird. 
    Auch andere russische Bands und Musiker protestieren gegen Russlands Krieg in der Ukraine: Der Hiphop-Star Oxxxymiron etwa hat Russland ebenfalls verlassen. Gegen Juri Schewtschuk, berühmter Sänger der Band DDT, wurde nach einem Auftritt in Ufa außerdem ein Verfahren eingeleitet wegen „Diskreditierung der russischen Armee“, was auch ein Konzertverbot mit sich bringt.

    Das unabhängige russische Online-Medium Holod hat mit Ilja Prussikin, dem Sänger von Little Big, gesprochen: über Kritik an dem Clip von russischer wie ukrainischer Seite und darüber, ob man Kunst und Politik überhaupt voneinander trennen kann und soll.

    Holod: Hattet ihr die Wahl, ob ihr in Russland bleibt oder nicht?

    Ilja Prussikin: Natürlich nicht.
     
    Habt ihr für euer Anti-Kriegsposting [am 24. Februar auf Instagram dek] von der Regierung eins auf den Deckel gekriegt?

    Es gab Anrufe, Andeutungen. Vielleicht waren es nur Pranks, gab es damals viele, aber sie sagten: „Löschen.“ Ich sagte, ich lösche es nicht.
     
    Hattet ihr Zweifel wegen des Postings?

    Nein. Viele wollen jetzt behaupten, der Krieg in der Ukraine sei nicht so eindeutig, aber WTF, was heißt da nicht eindeutig?! Die Regierung der Russischen Föderation hat beschlossen, ein souveränes Land anzugreifen. In der Propaganda heißt es immer: „Vielleicht wollte die Ukraine uns angreifen?“ Hätten sie uns angegriffen, hätten wir uns verteidigt. Aber das hier ist eine komplett andere Situation. 
     
    Am 24. Juni habt ihr den Clip zu eurem Song Generation Cancellation veröffentlicht. Hattet ihr die Idee dazu sofort nach Kriegsbeginn?

    Ich glaube, wir hatten den Song am 25. Februar aufgenommen und hatten auch gleich die Idee zu dem Clip. Das ging ganz schnell, wir wollten unsere Meinung sagen. Im März landeten wir in den USA und haben im Grunde sofort den Clip gedreht. 

    Wir hatten den Song am 25. Februar aufgenommen. Das ging ganz schnell, wir wollten unsere Meinung sagen

    Er kam erst jetzt raus, weil die Grafik Russen gemacht haben, die sich jetzt über die ganze Welt verteilt haben. Für Sachen, die normalerweise einen Tag dauern, haben wir zwei Wochen gebraucht.       
     

     
    Gab es nach dem Clip Drohungen, Bot-Angriffe, Anrufe bei euren Verwandten? 

    Komischerweise nicht. Nur die Kremlbots haben alle Fotos unserer Vokalistin Sonja Tajurskaja [auf Instagram] gemeldet. Das ist ihre Lieblingsmethode.  
    Und die Medien haben das Thema breitgetreten, ob man uns die Staatsbürgerschaft entziehen soll (gemeint ist der Vorschlag von Produzent Iossif Prigoshin, den Bandmitgliedern von Little Big die russische Staatsbürgerschaft zu entziehen – Anm. Holod). 

    Wenn ich in Amerika bin, bin ich schon ein ‚ausländischer Agent‘

    Dann sagte Prigoshin, er habe das nie gesagt, das sei eine Erfindung der Medien. Von Galkin und „ausländischen Agenten“ haben sie auch geschrieben, so: „Sie hassen ja ihr Heimatland, nehmen wir ihnen doch die Staatsbürgerschaft weg!“ Das können die Behörden, wissen wir doch. Sie haben ja auch diesen Scheißparagrafen [mit den „ausländischen Agenten“] gemacht. Was soll der Dreck? Heute kann man schon wegen „Einflüssen aus dem Ausland“ als „ausländischer Agent“ gelten. Wenn ich also in Amerika bin, bin ich schon ein „ausländischer Agent“!
     
    Haben euch manche der Kollegen, die in Russland geblieben sind, Respekt ausgedrückt für euren Clip und eure Ausreise?

    Ja, sehr viele. Gott sei Dank hab ich keinen einzigen Bekannten oder Freund, der geschrieben hätte: „Hör mal, Alter, das ist doch kein Krieg, das ist eine militärische Spezialoperation.“

    Krieg ist ein Horror, der mit nichts zu rechtfertigen ist. Ich habe schon hundertmal gesagt, ich bin der reinste Humanist. Da ist Gott, der ist ephemer, und da ist das menschliche Leben – das ist real. Und es gibt nichts Wichtigeres und nichts Heiligeres. Meine Freunde sind derselben Meinung.

    Die Ukrainer haben euren Clip sehr kritisiert. Es gab ein langes Video, in dem es hieß, der Clip zu Generation Cancellation sei  zu unkonkret.

    Ein Clip ist ein Kunstwerk. Es gibt etwas, das nennt man Kunst. Da gibt es zum Beispiel ein Bild, und jeder sieht darin, was er sehen will. Das Bild muss sich nicht selbst erklären. Das wäre ja bescheuert, oder? Wir haben uns heute diese Kritik angesehen, der Autor hat sich nicht mal die Mühe gemacht, unsere Pressetexte zu lesen und alles, was wir über den Krieg sagen.         

    Das Bild muss sich nicht selbst erklären. Das wäre ja bescheuert, oder?

    Wir positionieren den Clip als Manifest gegen den Krieg. Wir wollen die ganze Welt erreichen, weil der Krieg in der Ukraine nicht der einzige ist. Und unsere Position zu diesem Krieg, den die Regierung der RF angefangen hat, steht in den Begleittexten, in den Pressemitteilungen und so weiter. Das eine ist die Kunst, das andere das politische Statement. Es wäre ja banal, zu singen, dass Putin den Krieg begonnen hat. Das wären Tschastuschki. 

    Im Clip gibt es eine Szene über Fake News, die als Scheiße in die Köpfe gepumpt werden. Der Autor in dem Video fragt: „Wieso steht das nicht auf Russisch da?“ Ja, weil das doch keiner auf der Welt verstehen würde, außer dir und uns. Er produziert selber Fake News, stellt eine erfundene Bedeutung als real hin, aber wir haben es anders gemeint. 

    Russische Musikkritiker haben außerdem geschrieben, dass ihr mit dem Weißen Haus am Ende des Clips andeuten wollt, dass Amerika an allem schuld sei. 

    Google mal das Weiße Haus und google mal Putins Palast! Im Clip geht es um Putins Palast. Und überhaupt, Kunst darf nicht konkret sein, dafür ist es ja Kunst.

    Das ist übrigens der häufigste Vorwurf von Kritikern und Publikum an Künstler – ihr trennt angeblich die Politik von der Kunst. 

    Wir haben ein Manifest gegen den Krieg gemacht. Ist es bedeutungslos, nur weil wir keine Namen nennen, keine Beteiligten, keine Parolen? Das ist doch beknackt! Das ist dann keine Kunst, sondern eine Ansammlung von Fakten. Wozu soll ich dann noch Musik machen, da schreib ich doch lieber ein Buch darüber, wie das alles passiert ist, und wer ein Arschloch ist und wer die Guten sind? Deswegen haben wir dieses Manifest gegen den Krieg gemacht und unsere Position in allen Medien – in ukrainischen, russischen, amerikanischen, englischen – ganz klar formuliert.   

    Wenn einer sagt: ‚Das ist keine Kunst, das ist Scheiße‘ – kein Problem

    Ich will es gar nicht allen recht machen. Es ging mir [mit dem Clip] nicht darum, dass mich die Ukrainer lieb haben. Mir ist schon klar, dass sie mir böse sein werden, weil ich nicht genug getan habe. Ich werde ihnen das auch niemals vorwerfen, denn sie werden mit Raketen beschossen. Aber ich werde so handeln und so kämpfen, wie ich es für richtig halte. Wenn sich irgendwelche Musiker nicht zum Krieg äußern, dann hab ich deswegen nichts gegen sie. Ich habe mich geäußert! Ich habe mich positioniert und habe Kunst gemacht. Wenn einer sagt: „Das ist keine Kunst, das ist Scheiße“ – kein Problem. Tja, ich bin Künstler, ich sehe das so.  

    Wenn wir schon von Kunst und Krieg sprechen: Manche ignorieren, was derzeit passiert, gar nicht mal aus politischen Überlegungen oder aus Angst, sondern weil sie finden, dass es ohnehin schon genug schweren Content gibt.

    Ich kann keinem was vorwerfen, das fände ich schlechten Stil. Ich mag es selber nicht, wenn mir jemand sagt, dass ich dort oder da zu wenig den Mund aufgemacht habe. Ich weiß, was ich tun will und wie, und ich mache das nicht, um irgendwem damit zu gefallen, sondern weil es mich juckt. Es steht mir doch nicht zu, jemandem vorzuschreiben, ob er sich äußert oder nicht. Ich hab doch nicht das Recht, mich in das Leben eines anderen Menschen einzumischen. Genauso wie Putin und die Regierung der RF nicht das Recht haben, sich in die Angelegenheiten eines souveränen Staates einzumischen.

    Und was soll mit Künstlern passieren, die in Z-Konzerten für den Krieg auftreten?

    Von denen will ich nichts wissen, ich will sie und das, was sie machen, nicht sehen. 

    Vielleicht sind auch manche von Little Big enttäuscht, weil ihr nicht das sagt, was sie sich wünschen würden?

    Die Leute sind eher enttäuscht, weil sie glauben, wir haben die Hosen voll davor, im Clip konkret den Krieg in der Ukraine zu nennen. Alter, wir haben ihn ja konkret genannt [im Pressetext]. Sollen wir das im Clip überall drunter schreiben? Versteht ihr überhaupt irgendwas von Kunst?

    Ich mache das nicht, um irgendwem damit zu gefallen, sondern weil es mich juckt

    Ich glaube, die Enttäuschung hat einen anderen Grund, da geht es nicht um unsere Haltung. Unsere Haltung ist eindeutig und klar. Und sie ist überall, wir verstecken sie nicht, sie ist in allen Medien frei zugänglich, sogar die beschissenen Propagandamedien haben geschrieben, dass wir gegen den Krieg und gegen die Regierung der RF auftreten.  

    Macht ihr noch weitere Antikriegsvideos und Manifeste?

    Wir haben einen Song, der heißt Refugees, den haben wir so Anfang April aufgenommen. Da geht es um Flüchtlinge. Ein sehr trauriger Song, richtig Abfuck. Aber das wird keiner unserer klassischen Tracks, sondern was anderes.   

    Seid ihr im Westen irgendwie auf Ablehnung gestoßen?

    Ich weiß nicht, wie es in Europa ist, in Amerika gar nicht. Dort cancelt niemand russische Kultur. In New York laufen Theaterstücke mit Baryschnikow und einem ukrainischen Regisseur. Allen ist klar, dass die Russen nicht Putin sind. Es gibt natürlich Leute, die den Krieg unterstützen, aber das ist deren Scheißproblem, nicht unseres.  

    Fühlt ihr euch verantwortlich für das, was passiert?

    Ich fühle mich verantwortlich dafür, dass wir alle Kriege ignoriert haben und dachten: „Gehen halt irgendwelche Libyer drauf, na und.“ Aber warum sollte ich die Verantwortung übernehmen für Leute, die keine Ahnung haben, was sie mit dem Land machen sollen, die stehlen und rauben? Ich kenne keinen einzigen Menschen, der Putin und Einiges Russland wählen würde. Auch ich habe meine Pflicht erfüllt – ich habe sie nicht gewählt. 

    In diesem Kontext hat man euch an eure alten Video-Blogs im Rahmen des Projekts Danke, Eva! erinnert, das vom Kreml gesponsert wurde.

    Wir wussten das damals nicht [dass Danke, Eva! von der Regierung finanziert wurde]. Das lief nicht länger als ein Jahr und ich habe da die regierungskritische Gaffi-Gaf-Show gemacht. Juri Degtjarew (der Gründer von Danke, Eva! – Anm. Holod) ist ein genialer Verkäufer, der hat den Behörden diesen Scheiß angedreht, wo sie selbst gedisst werden. Weiß der Geier, wie er das geschafft hat. Wer glaubt, dass ich was im Auftrag der Regierung gemacht habe, braucht sich nur diese Videos anzusehen – dann haut es euch krass weg. Mehr gibt’s da nicht zu sagen. 

    Wollt ihr euch in Zukunft als Band aus Los Angeles positionieren?

    Wir sind Russen, daran gibt’s nichts zu rütteln. Auch wenn wir 300 Jahre hier leben – sollte es irgendwann ein krasses Mittel gegen Altwerden geben – sind wir immer noch Russen. Und ich liebe mein Land, ich liebe mein Zuhause, auch wenn ich den Staat hasse. Was soll man da machen! Damit müssen wir leben, mit dieser verfickten Scheiße!      

    Plant ihr euer Leben auch nur einen Monat voraus?

    Wir sind momentan einfach nur fertig. Wir wissen, dass wir ein neues Leben anfangen, dass wir nicht mehr so leicht zurück können. Ich glaube, in unserem Fall ist es unmöglich, irgendwas zu planen. Wir leben wie die Kinder. Wie nach der Uni, wo du dir denkst: „Was jetzt? Gehen wir halt ins Studio und nehmen was auf.“ So war meine Kindheit. Wir tun, was wir tun, und was kommt, das kommt. Nur so.

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    „Musik ist eine Schulter zum Anlehnen“

    Russian Woman heißt der Song, mit dem Sängerin Manizha Russland beim diesjährigen ESC vertreten wird. Darin singt sie in einer musikalischen Mischung aus Folklore, Rap und Pop auf Russisch und Englisch über starke Frauen, die jede Mauer durchbrechen können. Manizha selbst wurde 1991 in Duschanbe geboren, während des Bürgerkriegs in Tadshikistan floh sie mit ihren Eltern nach Moskau.
    So viel hybride Identität trifft nicht nur auf Liebhaber, sondern polarisiert: Auf den ESC-Vorentscheid folgten begeisterte Reaktionen genauso wie Anfeindungen. Neben fremdenfeindlichen Kommentaren gab es auch Kritik am Feminismus der Sängerin, die sich außerdem öffentlich mit der LGBTQ-Community in Russland solidarisiert. 

    Manizha, die bereits vor ihrer ESC-Teilnahme in Russland erste Erfolge feierte, hat sich vor allem auf Instagram eine Fangemeinde von rund 400.000 Followern aufgebaut, die Abrufe ihrer aufwändigen Musikvideos auf YouTube erreichen mitunter Millionenhöhe. Forbes zählte sie 2020 zu den aussichtsreichsten russischen KünstlerInnen unter 30. 

    Meduza nahm dies 2020 zum Anlass für ein ausführliches Interview. Die Kulturjournalistin Katerina Gordejewa sprach mit Manizha über die Kindheit in Duschanbe und Moskau, die Anfänge ihrer Karriere, die sie auch nach London führten, und die starken Frauen in ihrer Familie.

    „Ich fühle mich bis heute nicht als erfolgreiche Künstlerin“ – Sängerin Manizha tritt für Russland beim ESC an / Foto © EBU/Andres Putting
    „Ich fühle mich bis heute nicht als erfolgreiche Künstlerin“ – Sängerin Manizha tritt für Russland beim ESC an / Foto © EBU/Andres Putting

    I. Manizha und Instagram

    II. Manizha und Social Impact

    III. Kindheit in Tadshikistan


    Katerina Gordejewa: Mit wem verbringst du den Lockdown?

    Manizha: Meine ganze Familie lebt derzeit zusammen in einem Haus. In „friedlichen Zeiten“ waren wir ausgeschwirrt und hatten zu tun, aber jetzt sind wir alle unter einem Dach vereint. Und weißt du, irgendwie sieht man jetzt klarer. Alles, worauf man in der Hektik nicht achtet, die Eigenschaften der Menschen, die einen umgeben. 

    Die Zeit vergeht langsamer und erlaubt es einem, seine Stärken und Schwächen zu analysieren und aufzuspüren: Woran sollte man arbeiten, woran lieber nicht.

    Ich esse ständig und bewege mich nie. Ich mache keine Challenges und keine Trainings per Skype

     Außerdem ist es schön, dass man auf einmal wieder jemanden anrufen kann, der einem wichtig ist, ein bisschen quatschen, fragen, was sich tut, ein bisschen in den Hörer schweigen oder schnaufen. Das hat es lang nicht gegeben: Wir sind die ganze Zeit gerannt.


    I. Manizha und Instagram

    Wann begann dein Erfolg?

    Ich fühle mich bis heute nicht als erfolgreiche Künstlerin, aber die Haltung meiner Verwandten hat sich verändert, ich bin jetzt Lieblingsschwester, Lieblingsnichte, Lieblingsenkelin.

    Fühlst du dich eigentlich immer noch fremd in Moskau?

    Ich habe Moskau lange Zeit abgelehnt. Ich wollte immer weg von hier. 

    Eine Zeitlang hast du in Petersburg gelebt.

    Ja, in Petersburg und in London. Aber vor etwa drei Jahren habe ich begriffen, dass Moskau meine Stadt ist. Ich liebe Moskau. Für jeden Stein, für die ganze Scheiße, die hier passiert, die ganze Liebe, den Hass. Ich musste lange davor flüchten, mich verstecken, um es zu gewinnen.

    Warum hast du dich dazu entschlossen, deine Karriere über Instagram zu machen? Es gibt ja naheliegendere Arten: Wettbewerbe, Konzertagenturen, Fernsehen. 

    Wegen der Freiheit. Aber da muss ich ausholen: Mit 15 Jahren war ich ein Superstar, gewann das Goldene Grammofon, spielte bei Firmenfeiern und ging auf Tournee. Meine Managerin war damals – und ist es bis heute – meine Mutter: Sie investierte Zeit und Geld in mich, fand Sponsoren und Promoter. Alle wollten, dass alles schön, glamourös, erfolgreich ist. Sie haben mir die Haare kürzer geschnitten und blondiert und mir ein rotes Tutu und ein Korsett angezogen und mich auf die Bühne gestellt. Das brachte Erfolg. Das brachte Geld.

    Sie haben mir die Haare blondiert und mir ein rotes Tutu angezogen

    Aber das war nicht ich. Ich bin ein Mädchen, das Radiohead hört, klar? Und das, seitdem es neun Jahre alt ist, Songs auf Englisch schreibt. Aber die Producer sagten: Wer braucht hier Englisch, spinnst du? Also, mein Erfolg dauerte von 15 bis 17, dann bin ich durchgedreht und habe gesagt, dass ich hasse, was ich mache. Und habe offiziell damit aufgehört. 

    Und was haben die Producer gesagt?

    Die zuckten ratlos die Schultern. Mama war natürlich schockiert, aber sagte: „Gut. Dann zeig mir, dass du es selbst kannst.“ Und ich schwamm los.

    Ich packte meine Sachen und fuhr nach Petersburg. Ich studierte an der Uni [Psychologie – dek] und gründete parallel eine Band. Die ganze Zeit dachte ich: „Ich werde Mama beweisen, was ich kann!“ Aber in mir drin wusste ich, dass das Bullshit war. Ich trat in irgendwelchen versifften Underground-Clubs auf, mit scheußlichen Bühnen und miesem Sound, und alles wurde immer schlimmer. Mir wurde klar, dass ich aufhören musste, das ging hier alles den Bach runter. 

    Und dann kommt unser letztes Konzert, und ich weiß, dass ich danach mit all dem aufhören werde, weil es einfach nicht geklappt hat. Ich schlief unterdessen im Auto meiner Freundin, weil ich keinen Schlafplatz hatte, nichts zu essen und kein Geld, und heulte nächtelang. 

    Ich bin ein Mädchen, das Radiohead hört, klar? Und das, seitdem es neun Jahre alt ist, Songs auf Englisch schreibt

    Ich trete also ein letztes Mal auf, und nach dem Konzert kommt so ein seriöser Typ im Anzug auf mich zu, neben ihm irgendein durchgeknallter Musiker. Die sagten: „Wir möchten Sie zum Casting einladen, als Sängerin in einer europäischen Musikshow. Wir machen eine Tour: Spanien, England, New York.“ Ich habe nichts zu verlieren, also fahre ich nicht nach Hause, sondern gehe zum Casting. Stelle mich ans Mikrofon und singe. Und da kommt dieser Typ im Anzug rein und sagte: „Mein Gott, wie cool, wie toll! Ich find die gut, die nehmen wir!“

    So begann mein Leben als Prinzessin! Alle wuselten um mich herum, ich war Teil dieser unglaublichen Show. 

    Irgendwann war das aber vorbei – offiziell, weil sie nicht genug Geld hatten. Unterdessen hatte ich in London [den Producer] Michael Spencer kennengelernt, dessen Label mir einen Vertrag anbot. Ich las den Vertrag – der war richtig lausig. Keine Rechte für mich, dafür hätten sie uneingeschränkte Macht über mich gehabt. Ich weiß nicht, woher ich die Eier hatte, aber ich lehnte ab und ging zurück nach Russland. 

    Du hast dich für die Freiheit entschieden?

    Die große Freiheit, die ich so unbedingt wollte, hatte mir eine handfeste Depression beschert. Nach diesem weiten Weg war ich wieder bei Null. Alle rundherum sagten: Du musst dich weiterentwickeln … Aber ich lag tatsächlich tagelang auf dem Sofa und starrte auf Instagram. Und dann fiel mir um drei Uhr nachts plötzlich auf: „Warum stellt keiner Videos auf Instagram?“ Ich sah noch mal nach, und wirklich – kein einziges Video. So, also war ich die erste auf Instagram, die Videos gepostet hat. Ich hab gepostet und gepostet, und kurze Zeit später hatte ich – ohne Fernsehen, ohne Producer, ohne Label und ohne viel Geld – ein Publikum beisammen, das nur meins war. 

    Dann fiel mir plötzlich auf: ‚Warum stellt keiner Videos auf Instagram?‘

    Mein Song Wanja entstand nach einem Ritual bei Indianern in Amerika. Ich hatte bei einem Gentest erfahren, dass ich unter anderem indianische Vorfahren habe, daher bin ich dahin gereist und habe ein Ritual gemacht, das hatte drei Hauptaspekte: Freiheit, Wahrheit und Vertrauen. „It‘s all about the trust.“ Dann begann das Ritual. Ich hatte das Gefühl, 20 Minuten da dringewesen zu sein, aber es waren dreieinhalb Stunden. Als wir danach vom Reservat ins Hotel fuhren, schrieb ich gleich im Auto den Song Wanja

    Mein Song Wanja entstand bei Indianern in Amerika

    Das Lied zog aber überhaupt nicht. Es war das am wenigsten gehörte Lied meiner ganzen Geschichte. Ein richtiger Flop. Ich hab so geweint, ich kann‘s dir gar nicht sagen. Ich war wahnsinnig enttäuscht, wo ich diese Sache doch mit so viel Herzblut angegangen war und sich alles so schön gefügt hatte … Und dann so ein Flop, verstehst du? 

    Wie bist du da rausgekommen?

    Ich wurde sehr krank. Ich versuchte, die Situation loszulassen, weil ich mich auf ein großes Konzert in der Crocus City Hall [im Februar 2020 – dek] vorbereiten musste, aber mir war elend, und ich war völlig kraftlos. Und plötzlich Anfang Januar – ohne mein Zutun – veröffentlicht Juri Dud einen Post. Ich konnte es kaum glauben, als ich auf meinem Handy sah „Juri Dud hat Sie markiert“. Er schrieb, dass ihm Wanja gefallen habe. Was da abging! Die Views stiegen und stiegen! Einen Tag später wurde ich zur Talkshow Wetscherni Urgant eingeladen. Kurz gesagt, das Schicksal des Songs drehte sich um 180 Grad. 

    Warum war dir das Konzert in der Crocus City Hall so wichtig?

    Weil Moskau eine unbezwingbare Stadt ist. Diese Stadt mit einem großen Konzert zu bezwingen ist ein enormer Kraftakt und ein unfassbares Glück. Stell dir vor, in dieser überforderten Stadt, wo alle ums Überleben kämpfen, gelingt es dir, über 4000 Menschen in einem Raum zu versammeln und in einer Idee zu vereinen – sie singen. Und du weißt ganz genau, dass sie sich dir an diesem Abend hingeben. Und du gibst dich ihnen hin. 

    Crocus ist nicht als Ort wichtig – obwohl er heute der einzige ernstzunehmende Saal in ganz Moskau ist –, sondern als Ereignis. Eine so riesige Menge Leute sind für mich als Sängerin, die nicht-kommerzielle Musik macht, ein Geschenk und ein Fest. Dieses Konzert war ein absolutes Glück. Alles lief super.

    Wie und warum hast du dich dazu entschieden, keine kommerzielle Sängerin zu werden, sondern eine Künstlerin mit einer sozialen Botschaft? 

    Mir haben meine Fans geholfen, ins Licht zu treten – ich befinde mich in einem ständigen Dialog mit ihnen. Ich beantworte alle Kommentare, frage: „Was soll ich am Montag singen? Was gefällt euch?“ Ich unterhalte mich mit ihnen, und ich interessiere mich wirklich dafür, was sie beschäftigt, wie ich ihnen helfen kann. Ich bin überzeugt davon, dass Musik heilen kann. Mich hat irgendwann Thom Yorke mit seinen blöden Manifesten aus der Depression geholt. Ich finde, Musik ist eine Schulter zum Anlehnen, wenn es dir schlechtgeht. Wir können der Kunst unseren heftigsten Schmerz anvertrauen und ihn gemeinsam mit ihr durchleben.


    II. Manizha und Social Impact

    Das erste soziale Thema in deinem Werk war häusliche Gewalt. Warum? 

    Erstens wurde ich darum gebeten. Und zweitens weiß ich genug darüber, dass ich das Recht habe, davon zu singen. Ich habe oft genug häusliche Gewalt miterlebt, war in muslimischen Familien oft damit konfrontiert. Am schlimmsten ist, dass die Frauen das okay finden – die Mutter sagt zur Tochter: „Ich wurde geschlagen, und du wirst auch geschlagen. Das hältst du aus.“ In östlichen Familien werden Mädchen so erzogen, dass das Wichtigste ist zu heiraten. „Papa, ich will ein Tattoo.“ – „Das kannst du machen, wenn du verheiratet bist.“ „Papa, ich will singen.“ – „Kannst du, wenn du verheiratet bist.“ 

    ‚Papa, ich will ein Tattoo.‘ – ‚Das kannst du machen, wenn du verheiratet bist.‘

    Das Wichtigste ist, dass der Mann ein braves, ordentliches Mädchen kriegt und er dann entscheidet, ob sie sich ein Tattoo stechen lassen, singen und tanzen darf – oder eben nicht. Und die Gesellschaft akzeptiert das. 

    War es in Tadshikistan in der Sowjetzeit einfacher?

    In der Sowjetzeit traten Nation und Religion in den Hintergrund, es hing mehr davon ab, in was für einer Familie man lebte. Jetzt ist der Islam strenger geworden: Schon kleine Mädchen tragen Hidjab; die Religion wurde viel mehr zum Kontrollmittel. Noch dazu ist die Lage in Tadshikistan zum Heulen, weil alle Männer zum Geldverdienen ins Ausland fahren. 

    Was passiert mit Tadshiken in Russland?

    Sie trifft absolute Rechtlosigkeit – sowohl die Erwachsenen als auch die Kinder. Es gibt sehr viele verlassene und aus staatlicher Sicht inexistente Frauen, und noch mehr solcher Kinder.

    Auf Instagram postest du viele Fotos von dir ohne Schminke, Photoshop und ohne all das, was ein Star angeblich sonst noch braucht. War es leicht für dich, so selbstsicher zu werden?

    Würde ich nicht sagen. Aber ich bemühe mich. Ich bemühe mich zu lernen, mich selbst so zu lieben, wie ich bin. Das ist nicht einfach. In Russland gibt es eine Riesenmenge selbstsicherer Frauen. Doch nur ein geringer Prozentsatz würde auf die Straße hinausgehen ohne männliches Feedback.

    Unbedingt ein männliches Feedback? 

    Ja, unbedingt von einem Mann. Uns ist wichtig, wie uns die Männer bewerten. Weil wir mit dem Paradigma groß geworden sind, dass wir Hälften eines großen Ganzen sind, dass wir für uns genommen nicht genug sind. Das macht mich rasend. Ich will etwas Ganzes sein und will einen ganzen Menschen an meiner Seite haben. 

    In der Sowjetzeit traten Nation und Religion in den Hintergrund. Jetzt ist der Islam strenger geworden

    Erst gestern bin ich durch den Gemüsegarten gegangen und habe ein paar Zeilen zu diesem Thema gedichtet: „Ich dachte nie, nur ein Stück zu sein, zum Glück. Ich bin für mich ein Teil, ein ganzes.“ 

    Ist das der Ursprung deiner Body-Positivity?

    Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Ich habe auf Instagram mein allerschönstes Foto gepostet, und die Leute haben kommentiert: „Manizha, bist du schwanger?“ 

    Warst du sauer?

    Früher haben mich solche Kommentare sehr getroffen, gekränkt. Aber dann hab ich verstanden, dass ich mich nicht mehr so sehe wie früher. Die schreiben, dass ich dick bin, einen Bauch habe – aber ich finde mich klasse, mir geht‘s genial. Body-Positivity – das ist schon seit der Schule mein Thema. Das ist, wie wir uns als Teenager sehen, wie wir uns in Erinnerung haben. 

    Die schreiben, dass ich dick bin, einen Bauch habe – aber ich finde mich klasse, mir geht‘s genial

    Ich war eine Außenseiterin. Noch dazu war ich bucklig, hatte früh einen Busen und lauter Komplexe. Deswegen trug ich weite Kleidung und tat alles, damit man meinen Busen und überhaupt meine Figur auf keinen Fall sehen konnte. Insofern ist Body-Positivity meine Geschichte, ich habe mir selbst die Challenge gestellt: mich so zu sehen, wie ich bin, und gern zu haben. 

    Hast du keine Angst vor Instagram-Sucht? Vor Abhängigkeit vom Publikum, seinen Fragen, Kommentaren, Reaktionen? Ich erinnere mich an deinen Post zur Unterstützung von LGBT und wie du im nächsten Post beklagt hast, dass nach diesem öffentlichen Statement tausend oder sogar noch mehr deiner Follower ihr Abo gelöscht haben. 

    Ja, eine schlimme Sucht ist das, ein schwarzer Spiegel. Aber Instagram ist auch nichts anderes als Fernsehen. Wozu ist man bereit, um seine Popularität zu fördern? Du erwähnst meine Unterstützung für dieses LGBT-Projekt … Ich habe in die Hölle gestarrt, die sich in den Kommentaren zu diesem LGBT-Post auftat, und habe die ganze Zeit gedacht, in was für einer schiefen Welt wir leben: Viele meiner Mitstreiter im Show-Business verbergen ihre Orientierung. Sie singen Lieder für die Hausfrauen in ganz Russland und verdienen Geld damit. Und lügen ihnen was vor. 

    In den Kommentaren zu diesem LGBT-Post habe ich in die Hölle gestarrt

    Ihr ganzes Leben leben sie mit diesen Lügen. Das heißt, du betrittst die Bühne, versammelst da eine riesige Menge und singst, wie doll du sie geliebt hast. Dabei hast du dein Leben lang nicht sie, sondern ihn geliebt! Du hast einen Partner und ein Kind von einer Leihmutter! Warum verrätst du deine Familie? Die Antwort ist ernüchternd: Die Leute haben einen Riesenbammel, ihre Fans zu verlieren – und damit ihre Einnahmen. 

    Das ist Heuchelei, verstehst du? Ich sitze bei einer Preisverleihung, und rundum sitzen Manager und PR-Leute von Stars, die ihre Orientierung verbergen und mit homophoben Witzen um sich schmeißen. Und dann meinen sie noch, ich verteidige Gay Rights nur, weil ich keine Kinder habe. So ein Schwachsinn! Sie glauben, ihre Kinder vor Schwulen zu schützen, dabei arbeiten sie selber für welche. Kohle machen ist okay, aber sonst sind Schwule eine Gefahr für die Gesellschaft. 

    Findest du, dass Russland ein homophobes Land ist?

    Ich finde, dass Russland ein heuchlerisches Land ist. In Russland denkt man immer das eine und sagt das andere. Und das geht seit Urzeiten so. Man hat immer Angst zu sagen, was man denkt, um nicht zu verlieren, was man hat. 

    Hast du auch diese Angst?

    Nein. Wenn du alles sagst, was wahr ist, dann kriegst du ein Publikum, das deins ist, weil du du bist. Ja, manches akzeptieren sie nicht. Nach dem LGBT-Projekt ist, genauso wie nach dem Clip über häusliche Gewalt und den über Schönheit und Selbstliebe, ein Haufen seltsamer, zum Teil aggressiver Kommentare gekommen. Aber das ist besser als Lügen. Einfacher.


    III. Kindheit in Tadshikistan

    Kannst du uns von Tadshikistan erzählen?

    Ja. Ich würde mich an Tadshikistan gern in so bunten Farben erinnern, wie es in meiner Kindheit war. Aber das geht nicht.

    Warum?

    Meine Kindheit zerfällt in zwei Teile – zuerst Tadshikistan, mein Anfang, dann kommt ein gigantisches Loch, und dann Russland. Und das ist bereits ein anderes Ich. Als ob das Leben von Neuem begonnen hätte.

    Woran erinnerst du dich noch aus der Zeit in Tadshikistan? 

    An den Hof. Ich bin drei. Im Hof ist ein großer Hund, ich weiß nicht mehr, wie er hieß. Ich habe ein bescheuertes Kleid an und ein Gerstenkorn am Auge. Im Hof steht ein riesiger Behälter mit Wasser, kein Pool, aber so etwas Ähnliches. Es ist heiß draußen, und das Wasser ist eiskalt. Ich gehe hin und tauche meine Hand ins Wasser. Die Hitze lässt nach.

    Ich bin drei. Im Hof ist ein großer Hund, ich habe ein bescheuertes Kleid

    In meiner Kindheit war es sehr schön. Viel Grün, viel Sonne und Früchte, eine Insel vollkommenen Glücks. Als meine Großmutter noch lebte, war ich oft dort, aber sie ist vor zehn Jahren gestorben. Seit zehn Jahren kann ich nicht mehr nach Hause fahren. 

    Nur im November 2019 war ich in Duschanbe, um einen Clip für Nedoslawjanka zu drehen. Ich setzte mich am Flughafen in ein Taxi und begriff während der Fahrt, dass das nicht mehr meine Stadt ist. Eine tolle, schöne Stadt voller Leute, die nichts davon wissen, wie es hier gekracht hat, wie geschossen wurde. Sie haben keine Ahnung davon, sie leben hier einfach. Aber ich – ich kann nicht. Die ersten zwei, drei Tage habe ich sehr gelitten, dann habe ich losgelassen. Man muss weitergehen. Den Ort meiner Kindheit gibt es nicht mehr.

    Erinnerst du dich daran, wie ihr aus Duschanbe weggezogen seid?

    Nein, ich kann mich an nichts erinnern. Das war ein Riesenstress. Ich wollte nicht weg, hatte Angst. Offenbar hat mein Unterbewusstsein alles gelöscht. Als würde man die Augen schließen und wieder aufmachen – und plötzlich ist man in Moskau. Eine Einraum-Mietwohnung mit Kakerlaken, in der wir zu viert leben: Mama, Papa, ich und mein kleiner Bruder. Dann hat Mama sich von Papa scheiden lassen und die drei Kinder ihres Bruders zu uns genommen.

    Erzähl mal von deiner Mutter.

    Meine Mutter ist sehr schön und begabt. Als wir noch in Tadshikistan lebten, war Mama ein richtiger Star. Sie wurde zum Schönheitswettbewerb Miss World eingeladen, sie hatte eine tolle Stimme, sie sang. Aber sie musste arbeiten und fuhr nicht zum Wettbewerb. Seit sie 16 war, nähte sie großartige Mode. Zu ihr kamen die Gattinnen von Ministern und Präsidenten: Wir brauchen etwas zum Anziehen, ein Kleid – nur von Ihnen! Sie hat ziemlich gut verdient. Sie erzählte mir, dass sie sich damals teure Parfums und Jeans leisten konnte, alles, was Mangelware war. Und sie konnte selbst entscheiden, wie sie leben wollte. Ich weiß nicht, wie ich neben ihr keine Feministin hätte werden können. 

    Warst du mit deiner Großmutter per Sie?

    Ja, auch mit Mama. 

    Warum?

    Das ist Tradition. Ich bin gar nie auf die Idee gekommen, sie zu duzen. In Russland habe ich lange gebraucht, mich daran zu gewöhnen, zu Älteren du zu sagen.

    Wie war deine Beziehung zur Großmutter?

    Ich war jeden Sommer drei Monate bei ihr. Meine Großmutter hat mich in Computerkurse geschickt. Ich hab gebrüllt: „Wozu brauch ich das?“, aber sie blieb ganz ruhig: „Du musst das lernen, du musst dich mit Photoshop auskennen, mit Adobe, mit Adobe Premiere und Fotomontage.“ Und: „Du musst Persisch lernen, du musst Englisch lernen. Sprachen sind das Allerwichtigste.“ Ich habe damals nicht verstanden, wozu das alles, aber jetzt schneide ich meine Videos und bearbeite den Sound selber. Ich spreche fließend und schreibe Songs auf Englisch. Also, es ist alles aufgegangen, was meine Oma gesät hat. 

    Meine Großmutter hat mir beigebracht, frei zu sein, und davor hat sie das meiner Mutter beigebracht

    Aber das Wichtigste ist die Freiheit. Sie hat mir mit ihrem Denken und Verhalten beigebracht, frei zu sein, und davor hat sie das meiner Mutter beigebracht. Von meiner Großmutter haben wir unser freies Verhältnis zum Thema Entscheidung, zum Thema Körper, zum Thema Glauben.

    Im muslimischen Tadshikistan ein freies Verhältnis zum Glauben?

    Meine Mutter hatte immer eine Faszination für Buddhismus – niemand hat sie aufgehalten oder davon abgehalten. Mein Papa wird jetzt immer mehr zum Muslim, aber das kam erst in Russland. Trotzdem ist er sehr modern und nicht radikal eingestellt. 

    Warum haben deine Eltern beschlossen wegzugehen?

    Weil Krieg war. Unser Krieg war wahrscheinlich ganz ähnlich wie das, was in der Ukraine passiert ist und nach wie vor passiert. Die Leute versuchten, ganz normal weiterzuleben, aber ob sie wollten oder nicht, der Krieg brach in ihr Leben herein. Einmal landete eine Granate in der Wohnung, die meine Eltern zur Hochzeit bekommen hatten. 

    Wie durch ein Wunder war meine Mama eine Minute zuvor mit mir hinausgegangen zum Wäsche aufhängen. Von der Wohnung ist nichts übriggeblieben. Und genauso ist vom bisherigen Leben nichts übriggeblieben. 

    Vom bisherigen Leben ist nichts übriggeblieben

    Menschen wurden getötet. Niemand brauchte mehr Mamas schöne Kleider und Kostüme, Mamas Schönheit, die Welt brach zusammen. Und Papa und Mama beschlossen, nach Russland zu flüchten. 

    Sprachen sie Russisch? 

    Mama konnte Russisch und auch sehr gut Englisch. Sie war hervorragend gebildet. Aber in Russland musste sie putzen gehen, sie putzte Treppenhäuser und verkaufte in der Unterführung T-Shirts.

    Weil sie Tadshikin ist?

    Es lag nicht daran, dass sie Tadshikin ist. Sie haben in einer neuen Stadt, einem neuen Land, von Null begonnen. Sie mussten ohne Staatsbürgerschaft überleben. Wenn ein hungriges Kind vor dir steht, tust du alles, um es zu füttern. Du arbeitest wahnsinnig viel, legst dich ins Zeug und versuchst, dass wenigstens dein Kind eine Chance hat. So hat es meine Mutter gemacht. 

    Du legst dich ins Zeug, damit wenigstens dein Kind eine Chance hat

    Ich weiß noch, wie ich mit acht Jahren zu ihr gesagt habe, dass ich Sängerin werden will …

    Hast du da schon gesungen?

    Ich habe schon mit fünf Jahren gesungen, und meine Großmutter hat immer gesagt: Manizha muss Sängerin werden. Sie vermietete in Tadshikistan eine Wohnung, legte das Geld in einen Briefumschlag und schickte es nach Moskau. Auf dem Brief stand: „Für die Gesangsstunden meiner lieben Enkelin“. Und Mama schleppte mich, zum Umfallen müde, in die Musikschule, wo damals eine Unterrichtsstunde 50 Dollar kostete.

    Wie ging es dir in der Schule?

    Ich war ein Stubenhockerin, war nie viel draußen, dadurch wurde ich automatisch zur Außenseiterin, weil das nicht den Vorstellungen meiner Mitschüler entsprach. Ich tat mich auch mit Jungs nicht leicht, war schüchtern, hatte Angst. In der Schule war es richtig krass, von moralischer Erniedrigung bis zu Raufereien unter Einsatz von Flaschenhälsen gab es alles. Ich war nicht einmal beim Letzten Läuten dabei, auch nicht auf dem Abschlussball, so mies war mein Verhältnis zu meiner Klasse. Ich wollte niemanden sehen und will es bis heute nicht. 

    Waren das nationalistische Anfeindungen?

    Das auch, natürlich. Ich bin schon im Kindergarten Schwarzarsch genannt, beleidigt und gedemütigt worden. Anfangs konnte ich einfach deswegen nicht Paroli bieten, weil ich kein Russisch konnte. 

    Hast du Russisch im Kindergarten gelernt?

    Ja. Ich hab mich in einen Jungen verliebt. Also, ich bin auf ihn zugegangen, ich hab gedacht, das ist ein Mädchen. Er sagte, er sei „eigentlich Mischa“. Da hab ich mich verliebt, warum auch immer. Aber ich bin mir so mickrig vorgekommen, weil ich nicht mit ihm reden konnte. Das heißt, Russisch hab ich gelernt, aber der Spott ist geblieben – im Kindergarten, im Hof, im Bus, in der Schule. Aber mein Glück ist, dass meine Mama Eier aus Stahl hat. 

    Ich bin schon im Kindergarten Schwarzarsch genannt worden

    Wenn ich weinte, sagte sie: „Weißt du, was für gebildete Leute die Tadshiken sind? Was wir für einen Stammbaum haben, davon können die nur träumen. Unsere Verwandten – Tadshiken mit dem blauesten Blut, das es nur geben kann – leben über die ganze Welt verstreut, das sind angesehene, ehrenwerte und einflussreiche Familien, die so viel erreicht haben. Nicht, wegen des nationalen Erbes, sondern weil sie von klein auf gelernt haben. Lerne!“ 

    Wann wurde alles anders?

    An der Universität. Da habe ich auch begonnen, kreativ zu sein – anscheinend hatte ich kapiert, wohin mit meiner Energie. Ich war da schon aktive Künstlerin, sang in einem Pop-Projekt und verdiente gar nicht schlecht.

    Und dann hast du Psychologie studiert.

    Ich hätte die Wahl gehabt zwischen der Gnessin-Musikakademie und dem Institut für Schlager und Jazz.

    Warum hast du das nicht gemacht?

    Ich wollte das ganz grundsätzlich nicht. Ich darf mich nicht auf eine einzelne Sache beschränken. Wenn ich nur Musik machen würde, würde ich, glaube ich, krepieren. Plus – ich wollte meinen eigenen psychischen Problemen auf den Grund gehen. 

    Wenn ich nur Musik machen würde, würde ich, glaube ich, krepieren

    Meine Mama hat nach ein paar Jahren Arbeit als Putzfrau eine Baufirma geleitet und dann noch ein Psychologiestudium an der MGU und eine Psychotherapieausbildung abgeschlossen, woraufhin sie zu Hause als Psychotherapeutin tätig war. Daher sah mein Leben in den letzten Schuljahren so aus: Ich kam nach Hause, ging in die Küche, und da daß schon jemand und wartete, dass Mama im Zimmer die vorangehende Sitzung abschließen würde. Mama hat mir beigebracht, den Wartenden Tee, Kaffee oder Wasser anzubieten. Das tat ich auch, setzte mich dazu, und wir begannen zu reden. 

    Ich habe an der RGGU Psychologie studiert. Ich hatte keine Erwartungen an die Universität. Ich dachte, dass sich die Hölle mit meinen Klassenkollegen auf irgendeine Art hier fortsetzen würde. Aber dann waren es fünf fantastische Jahre voller Liebe. Ich habe meine Universität geliebt, jeden Tag meines Studiums. Über Persönlichkeitspsychologie kam ich zur Kinderpsychologie, da habe ich mich viel mit Kindern mit besonderen Bedürfnissen beschäftigt. Meine Diplomarbeit schrieb ich zu Besonderheiten der Mutterschaft bei Kindern mit besonderen Bedürfnissen in Russland und Tadshikistan. Ich fuhr von Dorf zu Dorf, sprach mit Frauen, die keinen Zugang zu Hilfszentren, Psychologen und Therapeuten haben. 

    Warum hast du das gemacht?

    Ich wollte wissen, woher sie die Kraft nehmen. Mir fiel auf, dass in diesen Dörfern ohne jegliche Therapieangebote die Frauen und ihre Familien mit behinderten Menschen viel sensibler umgehen. Vielleicht ist das etwas Nationales, vielleicht etwas Transnationales, Menschliches, jedenfalls leben sie mit der Überzeugung, dass wenn ein Mensch mit Besonderheiten geboren wird, dann ist er für irgendetwas in diese Welt gekommen, dann hat er eine Bestimmung. Menschen mit Behinderung werden dort verehrt.

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