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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Zitat #13: „Alles, was Gorbatschow geschaffen hat, ist zerstört“

    Zitat #13: „Alles, was Gorbatschow geschaffen hat, ist zerstört“

    Wie stand Gorbatschow, Wegbereiter der Perestroika, zum russischen Angriffskrieg in der Ukraine? Alexej Wenediktow, ehemaliger Chefredakteur von Echo Moskwy, war Gorbatschow nahe und äußerte sich dazu Ende Juli im Video-Interview mit Forbes. Ein Ausschnitt.



    [bilingbox]Alexej Wenediktow:… Der arme Michail Sergejewitsch Gorbatschow … alles, was er geschaffen hat, ist zerstört. All seine Reformen – die politischen, nicht die wirtschaftlichen – weg! Nur noch Staub und Asche! 

    […]

    Anton Shelnow/Forbes: Haben Sie persönlich mit Gorbatschow über die [jüngsten] Ereignisse gesprochen? Öffentlich hat er sich ja nicht geäußert, darum interessiert mich Ihre Einschätzung.

    Nein, öffentlich hat er sich nicht geäußert. Ich kann Ihnen sagen, dass er bestürzt ist. Natürlich versteht er, was da passiert. Das war sein Lebenswerk. Die Freiheit – das war Gorbatschow. Alle haben schon vergessen, wer der Russisch-Orthodoxen Kirche die Freiheit gegeben hat. Wer war’s? Michail Sergejewitsch Gorbatschow. Die Meinungsfreiheit, das erste Pressegesetz, erstmals Privateigentum – alles das Verdienst von Michail Sergejewitsch Gorbatschow. Na, was soll er wohl sagen?~~~Алексей Венедиктов: […] Бедный Михаил Сергеевич Горбачов, … где все разрушено, что он сделал. Вот все реформы горбачевские – неэкономические, политические – Все! В ноль! В прах! В дым!

    Forbes: Вы говорили с Горбачевым о происходящем? Публично он не высказывался, поэтому мне интересна ваша оценка.

    Не, публично он не высказывался. Могу вам сказать, что он расстроен. Естественно, он понимает. Это было дело его жизни. Свобода — это дело Горбачева. Все уже забыли, кто дал свободу Русской православной церкви. Кто? Михаил Сергеевич Горбачев. Свобода слова, первый закон о печати — Михаил Сергеевич Горбачев. Частная собственность впервые — Михаил Сергеевич Горбачев … Ну, что он сейчас будет говорить?[/bilingbox]

    Original vom 20.07.2022
    Übersetzung: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am 31.08.2022

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  • Gorbimanie – Gorbiphobie: Rezeption Gorbatschows in Russland

    Gorbimanie – Gorbiphobie: Rezeption Gorbatschows in Russland

    Eine kleine Zeichnung zeigt Michail Gorbatschow mit Hut, über ihm ein Heiligenschein, hinter ihm steht seine Ehefrau in russischer Pelzmütze. Er fragt sie: „Schwebt dieses verdammte Ding immer noch über mir, Raissa?“. 
    Treffender als auf dieser Zeichnung des Karikaturisten Hans Traxler1 aus dem Jahr 1993 ließ sich nicht ausdrücken, dass Gorbatschow in der öffentlichen Wahrnehmung als Heilsbringer überhöht und unerfüllbare Erwartungen an ihn gestellt wurden. Traxler hatte dabei die deutsche Bevölkerung im Blick. Die unmittelbaren Wendejahre 1989/90 waren zwar vorbei, aber Gorbi blieb in Deutschland eine Kultfigur.

    Anders in Russland. Ein russischer Cartoonist hätte zu Beginn der 1990er Jahre einen gegensätzlichen Bezugspunkt gewählt und das Muttermal auf der Stirn Gorbatschows als Zeichen des Antichrist gedeutet. Verschwörungstheorien geisterten durch die russische Öffentlichkeit, dunkle Kräfte galten als verantwortlich für den Untergang des Landes. Dies aber war die Kehrseite davon, dass auch in der Sowjetunion Gorbatschow in den ersten Jahren seiner Amtszeit als Erlöserfigur gesehen wurde. Das Bad in der Menge, begeisterte Zurufe von Bürgerinnen und Bürgern, die euphorisierenden Gespräche mit Arbeitern – all das fand nicht nur 1989 in Bonn auf dem Rathausplatz oder bei Stahlarbeitern in Dortmund statt. 

    Dieselben Szenen hatte es im Sommer 1985 in der Sowjetunion gegeben, als Gorbatschow nach seiner Wahl zum Generalsekretär gemeinsam mit seiner Frau Raissa eine Antrittsreise durchs Land unternahm. Die ersten Stationen waren Leningrad im Mai, Dnepropetrowsk und Kiew im Juni sowie unterschiedliche Orte in Sibirien im September.

    Gorbatschow als Sündenbock

    Zu Beginn der Regierungszeit projizierte die Bevölkerung der Sowjetunion zunächst alle Träume von einem besseren Leben auf den neuen Generalsekretär. Gorbatschow versprach einen allgemeinen Aufschwung des Landes, bessere Wirtschaftsleistung, Entbürokratisierung, demokratische Mitwirkung und einen höheren Lebensstandard – eine optimierte Version des real existierenden Sozialismus. Die Politik von Perestroika und Glasnost setzte jedoch einen dynamischen, unkontrollierbaren Prozess in Gang, der in wenigen Jahren die Grundpfeiler der sowjetischen Ordnung zum Einsturz brachte. Ende Dezember 1991 trat Gorbatschow zurück, die Sowjetunion hörte auf zu existieren, die russländische Föderation unter Führung von Präsident Boris Jelzin trat die rechtliche Nachfolge an. Für den Kollaps des Landes und alle negativen Ergebnisse, die der Reformprozess gebracht hatte, wurde Gorbatschow verantwortlich gemacht. So überzogen die anfangs in ihn gesetzten Erwartungen, so übertrieben dann die kritischen und ablehnenden Beurteilungen. Gorbatschow dient seither in Russland als Sündenbock und negative Integrationsfigur. Aus den verschiedenen politischen Lagern und allen Schichten der Bevölkerung kommen abwertende, oft hasserfüllte Kommentare; regelmäßig kursiert in den Medien das Gerücht, er sei („endlich“) gestorben. 

    1989 – Besuch bei Stahlarbeitern in Dortmund / Foto © thyssenkrupp
    1989 – Besuch bei Stahlarbeitern in Dortmund / Foto © thyssenkrupp

    Noch ist die russische Gesellschaft, aber ebenso die Historikerzunft, weit davon entfernt, die historische Rolle Gorbatschows angemessen und in all ihren Facetten zu beurteilen. Die Gründe, warum er im eigenen Land derart ungeliebt ist, lassen sich jedoch nennen und drei Bereichen zuordnen: 
    Erstens gibt es Ursachen, die unmittelbar mit Gorbatschows politischem Handeln in seiner Regierungszeit in Zusammenhang stehen, zweitens lässt sich die Kritik an ihm auf ein sehr lückenhaftes historisches Gedächtnis der russischen Bevölkerung zurückführen und drittens haben die auf ihn folgenden Regierungen seine Reformen gezielt dämonisiert, um mit dieser Abgrenzung den eigenen politischen Kurs zu legitimieren. 

    Politisches Handeln

    Für die spätere Beurteilung seiner Politik wirkte sich besonders negativ aus, dass Gorbatschow in den Jahren 1985 bis 1991 eine Vermittlerposition zwischen Reformgegnern und Reformanhängern bezog und damit die Unterstützung beider Seiten verlor. Seine Entscheidungen wirkten oft zögerlich und widersprüchlich, seine Reden zwar wortreich, aber folgenlos, sein Handeln unentschlossen und planlos.

    Nur ein Beispiel dafür war seine Haltung zur führenden Rolle der Kommunistischen Partei an der er festhielt, aber gleichzeitig freie Wahlen, Pluralismus und die Errichtung eines Mehrparteiensystems versprach. Gescheitert wäre Gorbatschow vermutlich in jedem Fall an der viel zu großen Aufgabe, das Land in allen Bereichen zu reformieren. Da er aber die Anhängerschaft überall verloren hatte, stand er schließlich als der alleinige Verantwortliche für die Niederlage da, dem nicht nur die eigenen politischen Fehler, sondern ebenfalls die daraus folgenden Probleme wie die katastrophale Wirtschaftslage, die Verarmung der Bevölkerung, der Verlust des Großmachtstatus und die steigende Kriminalität angelastet wurden.

    Öffentliche Erinnerung

    Die öffentliche Erinnerung an die Perestroika weist viele Lücken auf. Die positiven Resultate, an erster Stelle der enorme Zuwachs an Bürger- und Freiheitsrechten, werden heute nicht mit dem Namen des letzten Generalsekretärs verbunden. Der Hauptvorwurf an Gorbatschow lautet, er habe die Sowjetunion zerstört. Dabei wird (ähnlich wie im Westen) ausgeblendet, dass er mit dem Einsatz von Panzern zu Beginn des Jahres 1991 versuchte, die Abspaltung der baltischen Republiken zu verhindern. Die Bürgerinnen und Bürger Moskaus und Leningrads gingen gegen diese gewaltsamen Maßnahmen auf die Straße. Gorbatschow veranlasste im März 1991 ein Referendum für den Fortbestand der Sowjetunion. Er versuchte, einen neuen Unionsvertrag mit den Republiken auszuhandeln, dessen Unterzeichnung zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr realistisch gewesen sein mag. 
    Den faktischen Endpunkt unter die Existenz der UdSSR setzten jedoch die Präsidenten Russlands, der Ukraine und Belarus’, Jelzin, Krawtschuk und Schuschkewitsch, mit dem Abkommen von Beloweshskaja Puschtscha vom 8. Dezember 1991. Gorbatschow als „Totengräber der Sowjetunion“ zu bezeichnen, vernachlässigt die Rolle Jelzins und auch die der russischen Bevölkerung, die hinter den weiterführenden Demokratisierungsplänen Jelzins stand und die Souveränität Russlands begrüßte. 

    Gorbatschow-Bild in der russischen Politik

    Der von persönlicher Feindschaft geprägte Machtkampf der Jahre 1989 bis 1991 zwischen Gorbatschow und Jelzin setzte sich in der Regierungszeit Jelzins fort. Jelzin und seine Regierungsmannschaft begründeten die radikalen Maßnahmen, die sie nach 1991 ergriffen, auch mit dem Verweis auf die Zaghaftigkeit der Gorbatschowschen Reformen. Die Politik unter Jelzin bestand aus der Abgrenzung zu Gorbatschow: Russland statt Sowjetunion, Mehrparteiensystem statt KPdSU, Privatisierung statt kollektive Eigentumsformen, Handeln statt Reden. 
    Mit der Machtübernahme durch Wladimir Putin bekam das Bild Gorbatschows weitere dunkle Flecken. Für Putin stand von Beginn an die Wiederherstellung eines starken Staates im Mittelpunkt seiner politischen Agenda. Da Putin von Jelzin ins Amt gebracht worden war, konnte die Abgrenzung von dessen Politik zunächst nicht auf eine personalisierte Weise stattfinden. Stattdessen sprach Putin vom Untergang der Sowjetunion als größte Tragödie des 20. Jahrhunderts. Zunehmend wurden die „wilden 1990er Jahre“ als abschreckendes Gegenbild zum „neuen Russland“ konstruiert. Daraus folgte die Ablehnung derjenigen, die für die Ergebnisse der Reformen – reduziert auf Untergang, Regellosigkeit und Chaos – die Verantwortung tragen. In der öffentlichen Wahrnehmung sind dies Gorbatschow und Jelzin. Gorbatschows Ansehen scheint jedoch noch schlechter als das Jelzins zu sein, denn während Letzterer vor allem den Makel des „Säufers“ trägt, so gilt Gorbatschow als „Verräter“ und „Volksfeind“.

    Bis zu seinem Tod Ende August 2022 versuchte Gorbatschow, aktiv Politik zu betreiben, sein Image als großer Staatsmann zu pflegen und die Geschichte der von ihm initiierten Perestroika mitzuschreiben. Die von ihm gegründete Gorbatschow-Stiftung wirkt in diese Richtung mit der Veröffentlichung von Dokumenten und öffentlichen Veranstaltungen. Allerdings ist der Erfolg beschränkt. Gorbatschows Teilnahme an den Präsidentschaftswahlen 1996 endete mit einem katastrophalen Resultat, seine Kommentare zur Rechtmäßigkeit der russischen Besetzung der Krim 2014 verstörten die westliche wie auch die liberale russische Öffentlichkeit.

    Offen ist, wie sich die Wahrnehmung Gorbatschows im Zuge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ändert: Alexej Wenediktow, ehemaliger Chefredakteur von Echo Moskwy, sagte in einem Interview kurz vor Gorbatschows Tod im August 2022, dass dieser über den Krieg bestürzt sei: „Natürlich versteht er, was da passiert. Das war sein Lebenswerk. Die Freiheit – das war Gorbatschow.“  Wenn der Wunsch nach Wandel in Russland also irgendwann wachsen sollte, dann werden die Reformen der 1980er und 1990er und ihre Vertreter eventuell in ein positiveres Licht rücken. 

    aktualisiert am 31.08.2022


    Zum Weiterlesen
    Brown, Archie (2001): Gorbachev, Yeltsin and Putin: Political Leadership in Russia’s Transition, Oxford
    Dalos,György (2011): Gorbatschow: Mensch und Macht: Eine Biographie, München
    Gorbatschow, Michail (2013): Alles zu seiner Zeit: Mein Leben, Hamburg
    Kašin, Oleg (2014): Gorbi-drim, Moskau
    Taubmann,William (2017): Gorbachev: His life and times, New York

    1. Traxler, Hans (1993): Der Große Gorbi, Zürich ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • „Die Perestroika lebt“

    „Die Perestroika lebt“

    Im Westen verehren ihn viele – in Russland selbst ist das anders: Im März 2016 räumten in einer WZIOM-Umfrage zwar 46 Prozent der Befragten ein, Michail Gorbatschow habe zum Wohl des Landes handeln wollen, aber 47 Prozent waren der Ansicht, er habe nichts Gutes für den Staat getan. Ganze 24 Prozent meinten sogar, Gorbatschow sei ein Verbrecher gewesen, der die Großmacht Sowjetunion bewusst zu Fall gebracht habe.

    Sicher ist die Bilanz von Gorbatschows Regierungsjahren eine gemischte, und die Begeisterung, die ihm speziell in Deutschland entgegengebracht wird, lässt sich nicht einfach verallgemeinern. Oft zum Beispiel wird vergessen, dass Gorbatschow zwar beim Zerfall des Warschauer Pakts (und so auch bei den Ereignissen, die zum Fall der Berliner Mauer führten) auf jede Gewaltausübung verzichtete, in der damaligen Sowjetunion aber durchaus für Militäreinsätze gegen die sich verselbständigenden Republiken verantwortlich war, wie etwa beim Vilniusser Blutsonntag.

    In den letzten Jahren gibt der heute 88-jährige Michail Gorbatschow nur noch wenige Interviews. Meduza hat im März 2018 mit ihm gesprochen, natürlich auch über die Perestroika und seine Sicht der Dinge.

    „Wenn ich gefragt werde, was ich bedauere, antworte ich, ‚Ich habe zuviel verziehen‘.“ – Michail Gorbatschow im Interview / Foto © Veni/flickr unter CC BY-SA 2.0
    „Wenn ich gefragt werde, was ich bedauere, antworte ich, ‚Ich habe zuviel verziehen‘.“ – Michail Gorbatschow im Interview / Foto © Veni/flickr unter CC BY-SA 2.0

    Ilja Scheguljow: Sie waren sechs Jahre an der Macht, das entspricht nach heutiger Gesetzeslage einer Amtszeit des Präsidenten. Haben Sie nie daran gedacht, dass Sie, wenn Sie nicht die Reformen angestoßen hätten, vielleicht heute noch Generalsekretär sein könnten? Dann hätten Sie doppelt so lang regiert wie Breshnew.

    Michail Gorbatschow: Dann wäre das schon nicht mehr Gorbatschow. Das wäre dann ein Jelzin oder irgendein anderer Kerl.

    Wie auch immer Ihre Haltung zu Jelzin sein mag, Sie haben etwas mit ihm gemein. So sind weder Sie noch er gegen die Meinungsfreiheit vorgegangen, auch wenn die Ihnen beiden riesige Probleme bereitete.

    Solschenizyn hat irgendwo gesagt: Gorbatschows Glasnost hat alles zugrunde gerichtet. Ich fand eine Gelegenheit, ihm darauf zu antworten: Das ist ein tiefgreifender Irrtum eines Menschen, den ich sehr achte. Und schließlich die Frage: Wie kann das sein, dass Menschen mit verschlossenem Mund [leben], dass sie nicht einmal einen Witz erzählen können, dass sie sofort irgendwohin verschickt werden, zur Umerziehung, oder zum Holzfällen? Aber genau so war das ja bei uns. Wenn es keine Glasnost gegeben hätte, hätten bei uns keine Veränderungen zum Besseren eingesetzt.

    Wenn es keine Glasnost gegeben hätte, hätten bei uns keine Veränderungen zum Besseren eingesetzt

    Und es hätte keinerlei Freiheit gegeben. Freiheit, das bedeutet vor allem Glasnost. Die Freiheit, mit den Menschen über seine Sorgen zu reden, darüber, was man [rundum] wahrnimmt, und wie man sich dazu verhält. Und wenn sich jemand täuscht, wird man ihm qua Freiheit helfen, das zu korrigieren. Sowohl die Presse wie auch die Gesellschaft …

    Die ganzen 1990er Jahre und die erste Hälfte der 2000er Jahre haben Sie von Vorträgen gelebt. Worum ging es in diesen Vorträgen?

    Ich bin zum Beispiel kurz vor der Wahl Obamas in den Mittleren Westen [der USA] gefahren, nach St. Louis. Dort kamen 13.000 Menschen zu dem Vortrag, im Stadion der Universität. Das Thema meines Vortrags lautete „Perestroika“. 

    Da stand ein junger Mensch auf, so in deinem Alter, und fragte: „Herr Präsident, dürfte ich Sie etwas fragen: Sie sehen, dass sich die Lage in Amerika immer mehr verschlechtert, was raten Sie uns?“ Ich antwortete: „Wissen Sie, ich werde Ihnen jetzt keinen Fahrplan, kein Menü vorschlagen. Ich kann Ihnen nur eines sagen: Meiner Meinung nach braucht Amerika eine eigene Perestroika.“ Der ganze Saal erhob sich. Nun, und zwei Jahre später haben sie Obama gewählt.

    Also selbst Mitte der 2000er Jahre waren alle interessiert, von der Perestroika zu erfahren?

    Die Perestroika lebt. Auch wenn man sie jetzt beerdigen will. Aber man kann Gorbatschow und die Perestroika nicht begraben. Das geht nicht. Wem sonst ist es schon gelungen, einfach so die ganze Welt zu verändern? Und gleichzeitig will man mich erschossen sehen. Ich bekomme Briefe, in denen ich gefragt werde, warum ich mich nicht erschossen habe. Weil ich angeblich schuld sei. „Sie hätten sich umbringen sollen, Herr Gorbatschow. Und wenn Ihnen das schwerfällt, rufen Sie mich, ich erledige das.“ Solche Briefe kriege ich. Es gibt da aber auch andere.

    Ich bekomme Briefe, in denen ich gefragt werde, warum ich mich nicht erschossen habe

    Woran soll ich schuld sein? Die einen werfen mir vor, dass ich Ungarn weggegeben habe. Andere sagen, ich hätte Polen weggegeben. Weggegeben? Wem denn? Den Polen und den Ungarn. Das ist natürlich wirres Zeug. Andere geben nichts weg, stimmt.

    Ihre Vorträge haben Ihnen gutes Geld eingebracht …

    Ja, auf unserer ersten Reise 1992 haben wir eine Million [Dollar] verdient. Wir haben sie für unsere Sache eingesetzt. Übrigens, zum Thema, wie ich das Geld, was ich bekommen habe, verwendete. [1990] erhielt ich den Nobelpreis: 1,1 Millionen Dollar. Von der Million wurden sechs Kliniken gebaut, zur Hilfe für die Opfer von Tschernobyl, am Aralsee in Asien und in Russland.

    Erzählen Sie von ihrer Tätigkeit im Umweltbereich. Schließlich sind Sie der Gründer und Präsident des [Internationalen  dek] Grünen Kreuzes, einer großen zivilgesellschaftlichen Umweltschutzorganisation.

    Ja, das Grüne Kreuz, das ist tatsächlich mein Kind. Da waren alle möglichen Leute versammelt: Angehörige der Intelligenzija, Politiker, Vertreter der Religionen, Frauen, junge Menschen, und natürlich die Presse. In 31 Ländern wurden Grüne Kreuze gegründet! Das Ansehen [der Organisation] ist riesig. Zu einem gewissen Grad hatte mich damals Pitirim ins Boot geholt. Er ist auch sonst zu einem guten Freund geworden.

    Nach Ihrem Rücktritt haben Sie versucht, Politik zu machen. Sie haben beispielsweise 2001 die Sozialdemokratische Partei organisiert, gemeinsam mit dem damaligen Gouverneur der Oblast Samara, Konstantin Titow. Warum? Wer ist Titow, aus Ihrer Sicht? 

    Ein Dreckskerl.

    Warum?

    Er hat fürchterlich getrickst. Aber dann hat er mit der Regierungspartei angebandelt, und sie haben einen Deal gemacht. Die Hauptsache war, dass wir bei den Wahlen außen vor bleiben sollten. Sie hatten Angst vor uns, deshalb haben sie alles unternommen, um [uns] kleinzukriegen.

    Aber wozu hatten Sie Titow überhaupt gebraucht?

    Ich habe vieles verziehen. Übrigens, wenn ich gefragt werde, was ich bedauere, antworte ich: Ich habe zu viel verziehen.

    Ich habe zu viel verziehen

    Aber stell dir mal vor, was gewesen wäre, wenn ich aus ähnlichem Holz geschnitzt wäre wie Josef [Stalin]? So kann man einem Land auch den Rest geben.

    Warum war es überhaupt nötig, dass Sie in die Politik zurückkehrten?

    Es musste etwas geschaffen werden, was unverdorben ist. 

    Und warum?​

    Die Menschen verlangen nach einer Organisation, nach einer Bündelung der Kräfte; allein kann man nichts bewegen. Zusammen werden wir siegen!

    Aber warum mussten Sie sich da persönlich hineinziehen lassen?

    Ungefähr diese Frage hat mir auch mal ein junger Mann gestellt, der war in der Regierungspartei mit der Innenpolitik befasst …

    Etwa Surkow?

    Ja. Ein talentierter Kerl. Aber mit starkem Beigeschmack.

    Er hat Sie angerufen?

    Nein. Wir hatten 82 Regionalverbände gegründet, die Partei hatte schon 35.000 Mitglieder. Danach bin ich zu eben diesem Freund Surkow gegangen. Ich musste mich registrieren lassen, und alle haben die [Partei]Unterlagen angeschaut. Und Surkow sagte: „Michail Sergejewitsch, was wollen Sie denn? Sie haben doch erreicht, was noch niemandem in der Geschichte gelungen ist. Was wollen Sie also?! Das haben Sie doch nicht nötig.“ Ich habe ihm gesagt: „Das ist eine dumme Frage. Wenn jemand sein ganzes Leben so mit der Politik verbunden war, dann ist er schon … Das ist mein Wesenskern.“

    Surkow sagte: ,Michail Sergejewitsch, was wollen Sie denn? Sie haben doch erreicht, was noch niemandem in der Geschichte gelungen ist. Das haben Sie doch nicht nötig.‘

    Letztendlich kamen sie dann mit Beanstandungen, sie hätten da irgendwelche Unterschriften gefunden, die nicht korrekt wären [die Sozialdemokratische Partei Russlands wurde 2007 vom Obersten Gericht aufgelöst, wobei Gorbatschow sie bereits 2004 – nach einem Konflikt mit Konstantin Titow – verlassen hatte – Anm. Meduza].

    Ich habe mich vor einigen Jahren mit Boris Beresowski unterhalten, wenn Sie sich an den erinnern.

    Natürlich erinnere ich mich.

    Und er hat mir damals gesagt, dass er es bedauert, immer eine schlechte Menschenkenntnis gehabt zu haben, dass er die menschlichen Qualitäten der Leute nicht erkannte. Von sich können Sie so etwas nicht behaupten?

    Ja, das würde ich auch sagen. Ich war zum Beispiel der Meinung, dass man nicht auf alle möglichen Angriffe und Ausfälle reagieren sollte. Wenn sich mal was zuspitzte, haben wir Mittel gefunden, nicht etwa Druck zu machen, sondern die Dinge intellektuell klarzustellen. 

    Wie jene Geschichte [mit dem Putsch] 1991. Ich dachte: Wieviel Versuche hatte es da gegeben! Mal wollte jemand dem Präsidenten Rechte entziehen, sie jemandem anderen übertragen, mal dies, mal das. Das war eine Sitzung in Ogarjowo unter meiner Leitung, wir wollten den neuen [Unions-] Vertrag vorbereiten, und die veranstalten da sowas hinter meinem Rücken. Ich kam am zweiten Tag und habe sie zusammengestaucht. Da dachte ich, dass ich alle Fragen geklärt hätte, und diese Überzeugtheit wurde dann fast zu einer Überheblichkeit.

    Ich habe auch Putin gewarnt [, dass zu große Selbstsicherheit schädlich ist]. Als ich sagte, dass er sich für den Vertreter Gottes hält. Das machte ihn natürlich wütend: Er hat ja mal gesagt, dass man Gorbatschow das Maul stopfen sollte. Einem Präsidenten! Das Maul stopfen!

    Gefällt Ihnen Putin?​

    Ich denke, er ist da recht am Platz. Durch Zutun aller sind dort die Dinge bis ins Letzte verkommen – aber es musste bewahrt werden, damit es nicht zerfällt. 

    Sie meinen Russland?

    Ja, ja. Wir müssen das in Betracht ziehen, trotz aller Verstöße und Fehler. Ich erinnere mich natürlich, wie er sagte, dass er mich – angeblich – bei den Feiern zum Sieg [am 9. Mai 2016] nicht gesehen habe. Als Putin [vom Regisseur Oliver Stone in dessen Film] gefragt wurde, warum er mich nicht gegrüßt hat, sagte er, dass er mich nicht bemerkt habe.

    Sie haben ihn einige Male unter vier Augen getroffen, soviel ich weiß.​

    Ja.

    Hat er sich mit Ihnen beraten?​

    Nein.

    Aber wozu haben Sie sich getroffen? Welchen Sinn sollte das haben? ​

    Gar keinen: Händeschütteln. Die letzte Begegnung war am 12. Juni 2017, am Tag Russlands.

    Nur Sie zwei?

    Nein, nein. Absolut zufällig. Wir kamen gerade aus diesen Zelten, die da im Kreml stehen, wo der Tag Russlands gefeiert wurde. Wir gingen draußen zum Kremlpalast hinüber. Und plötzlich schau ich, irgendwie hatte es bei denen, die mich begleiteten, einen Ruck gegeben, und sie hatten angehalten. Was war los? „Da läuft Putin.“ „Na und?! Und was heißt das jetzt, Leute? Was habt ihr denn bloß? Lasst uns weitergehen!“ Und ich ging ihm direkt entgegen, gerade so, wie es passiert, wissen Sie, dass man sich auf einem Pfad begegnet, zwischen Feldern, und nicht ausweichen kann. Wir grüßten uns. Ich sagte: „Wir haben uns lange nicht gesehen!“ Und er darauf hin: „Mur, mur, mur“ – er brummelt jetzt ganz viel.

    Brummelt?

    Damit es unklar ist. Ich sagte: Sie haben für mich dreimal einen Termin angesetzt, Wladimir Wladimirowitsch, und dreimal hat der nicht stattgefunden. Danach bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ich mich nicht aufdrängen werde. Und das war’s dann auch.

    Putin brummelt jetzt ganz viel

    Vergnügung hat er genug. Er trinkt, tanzt, fliegt, fährt Schiff und macht, weiß der Teufel, was man alles so machen kann. Nur in den Weltraum traut er sich nicht. Dann würden ja alle schreiben: „Herr Putin, bleiben Sie dort, tun Sie dem Volk einen Gefallen!“

    Wir unterhalten uns hier in den Büroräumen der Gorbatschow-Stiftung. Die Stiftung ist bereits 26 Jahre tätig, und Sie haben sie die ganze Zeit unterstützt. Wie zufrieden sind Sie mit der Arbeit der Stiftung?

    Sie hält, was sie verspricht.

    Was wurde erreicht? Welche Ziele hatten Sie sich gesetzt?

    Das Ziel war erstens, die Geschichte der Perestroika zu erforschen. Und überhaupt war das Ziel ein kulturelles, politisches und gesellschaftliches Zentrum.

    Gaidar oder Kudrin zum Beispiel haben ähnliche Stiftungen. Sie schreiben Entwicklungskonzepte für Russland.

    Das sind Wirtschaftsfachleute. Uns geht es eher um ein neues Modell. Und dieses Modell muss gesucht werden. Wenn Einiges Russland [weiter so] arbeitet [wie jetzt], dann wird diese Partei das gleiche Schicksal erleiden wie die Kommunistische Partei.

    Uns geht es um ein neues Modell

    Wir werfen diese Fragen in Artikeln auf, in allen möglichen Denkschriften, in Reden und so weiter. Und weißt du, man spürt jetzt, dass ein Bedarf an Sozialdemokratie entsteht. Und dass die Suche nach einer neuen Plattform vonnöten ist. Wir haben ein Buch herausgegeben, das heißt Ein sozialdemokratisches Projekt für Russland. Wie es so schön heißt: Alles, was wir geschaffen oder noch nicht ganz geschaffen haben, es steht alles da drin …

    In meiner Familie sagen sie: „Wann gibst du endlich Ruhe?“.

    Die gleiche Frage hätte ich auch.

    Dazu muss man ein Leben in der Politik gelebt haben, so wie ich es getan habe. Ehrlich gesagt, habe ich mir die Frage auch schon gestellt. Ich denke aber, dass es für mich schlimmer wäre, wenn ich mich aus der Politik zurückziehen würde.

    Sie halten sich also für einen Politiker?

    Vor allem werde ich als Politiker wahrgenommen. Es gibt bei uns viele, die sich für Politiker halten, obwohl sie gar keine sind.

    Wie kam es dazu, dass ein großer Teil Ihrer Familie jetzt nicht mehr bei Ihnen lebt?

    Die haben alle hier gelebt, in Moskau. Dann hat Irina [die Tochter Gorbatschows – dek] zum zweiten Mal geheiratet. Andrej Truchatschow. Und der arbeitet [in Deutschland] in der Wirtschaft: Logistik, Transporte. Er gefällt mir, er ist ein guter Kerl. Aber er muss vor Ort sein. Und als sie [Irina und er] umzogen, zog es alle anderen hinterher, ihre Töchter. Wir haben fast das ganze Geld zusammengekratzt; wir haben ja nur ganz bescheidene Reserven. Aber wir konnten ihnen allen dort, in Berlin, Wohnungen kaufen.

    Und Sie wollen nicht dorthin umsiedeln?

    Nein, ich ziehe da nicht hin.

    Warum? Sie meinen, dass Sie als ehemaliger Präsident nicht einfach übersiedeln können? Dass das unpatriotisch wäre?

    Ich will einfach nicht mit Russland brechen!

    Ihre Familie aber hat mit Russland gebrochen?

    Nein. Sie und mich zu vergleichen … das wär‘ wie Äpfel mit Birnen oder Spatzen mit Stuten.

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Perestroika: Wirtschaft im Umbruch

    Perestroika: Wirtschaft im Umbruch

    In den 1980ern verschlechterte sich die Lage der sowjetischen Planwirtschaft Jahr für Jahr. Aufgrund von Fehlanreizen des Wirtschaftssystems und äußerer Faktoren wie dem Ölpreisverfall waren Konsumgüter oft rar. Als Gorbatschow die Krise ab 1985 durch punktuelle marktwirtschaftliche Reformen überwinden wollte, kam die sozialistische Ökonomie erst recht ins Straucheln.

    Die Reformen der Perestroika unter Michail Gorbatschow gingen mit einer ökonomischen Krise einher, allerdings war der Politikwechsel nicht alleine für sie verantwortlich. Der wirtschaftliche Niedergang der Sowjetunion begann bereits unter der Führung Leonid Breshnews in der sogenannten Ära der Stagnation. Das extensive Wachstum der Nachkriegsjahre (mehr Rohstoffe und mehr Arbeitskräfte führen zu gesteigerter Produktion) kam ab Mitte der 1970er Jahre schrittweise zum Erliegen. Dabei wurden die strukturellen Probleme des zentral geplanten Wirtschaftssystems immer deutlicher.

    Problematische Entwicklungen der Planwirtschaft

    Eines davon war die mangelnde Innovationsfähigkeit. So konnten die USA bspw. ab den 1970ern große Produktivitätsfortschritte durch den Einsatz von Computern erzielen – eine Entwicklung, die in der Sowjetunion kaum Fuß fasste. Die unternehmerische Energie, die die Digitalisierung in den USA bei Pionieren wie Steve Jobs und Bill Gates freisetzte, konnte in der Sowjetunion systembedingt nicht zur Geltung kommen. Intensives Wachstum (gleiche Produktionsfaktoren führen zu mehr oder besserem Output) blieb aufgrund der Fehlanreize der Planwirtschaft aus1.

    Außerdem setzte das System der zentralen Planung starke Anreize für die sowjetischen Betriebe und regionalen Parteikader, ihre Statistiken zu schönen und die Bilanzen zu frisieren. So wurden Produktionsmengen in schlechten Jahren aufgebauscht (pripiski) um nicht den zentralen Plan zu verfehlen, und in guten Jahren niedriger ausgewiesen, um eine höhere Zielvorgabe im nächsten Jahr zu vermeiden.

    Die Unzuverlässigkeit der wirtschaftlichen Daten veranlassten Gorbatschows Vorgänger Juri Andropow während seiner Zeit als KGB-Chef sogar dazu, eine Art Wirtschaftsgeheimdienst einzurichten, um ein realistischeres Bild der tatsächlichen Lage der Unternehmen zu bekommen. Die staatlich festgelegten Preise hatten gleichzeitig zur Folge, dass die Signale der Nachfrage – welches Gut wie dringend und wo benötigt wird – nicht bis zu den Planern durchdrangen. Die Produktion wich daher von den Wünschen und Bedürfnissen der Bürger ab. Die Wirtschaft wurde vor allem auf die Herstellung von Maschinen und Rüstung und zu wenig auf die Bereitstellung von Konsumgütern ausgerichtet2.

    Daneben ist indirekt auch die Ölkrise für die wirtschaftlichen Probleme der Sowjetunion in den 1980ern verantwortlich: In der Zeit der hohen Ölpreise in den späten 1970ern hatte sich die sowjetische Wirtschaft von Ölexporten abhängig gemacht. Die Deviseneinnahmen wurden verwendet, um Maschinen und Nahrungsmittel aus dem Ausland zu importieren. Als der Ölpreis in den frühen 1980ern deutlich fiel, fehlten diese Devisen. Die Sowjetunion häufte Auslandsschulden an und musste ihre Importe reduzieren3. Schließlich belastete den sowjetischen Haushalt, dass die lukrative Alkoholproduktion im Rahmen einer drastischen Anti-Alkoholismus-Kampagne stark zurückgefahren wurde. Gleichzeitig zehrte der Afghanistan-Krieg am Budget.

    Gorbatschows Eingreifen

    Es war Michail Gorbatschow, der die wirtschaftlichen Probleme der Sowjetunion in einer Rede im Mai 1985 als erster Generalsekretär in der Geschichte der Sowjetunion offen ansprach. Gorbatschows zentrale Forderung führte den Begriff der Perestroika ein und wurde gleichzeitig das berühmteste Zitat des Politikers: „Offensichtlich, Genossen, müssen wir uns alle umstellen [„perestraiwatsja“]. Alle.“

    In der Folge versuchte die sowjetische Führung, die staatliche Wirtschaft zu flexibilisieren und durch privatwirtschaftliche Elemente zu ergänzen. Unter der Losung der Beschleunigung (Uskorenije) plante man parallel eine grundlegende Modernisierung aller Produktionsanlagen. Im Juli 1987 wurde es den Unternehmen erlaubt, ihre Produktion dem Bedarf der Abnehmer anzupassen und in der Beschaffung freie Preise auszuhandeln. Den Arbeitern wurde eine stärkere Selbstverwaltung der Unternehmen eingeräumt. Außerdem ermöglichte ein neues Gesetz zu Genossenschaften ab Mai 1988 zum ersten Mal seit den 1920ern in kleinem Umfang private Wirtschaftsorganisationen. Diese konnten durch die Abschaffung des staatlichen Außenhandelsmonopols auch im Ausland Geschäfte machen.

    Die Perestroika-Krise

    Obgleich zur Stärkung der Wirtschaft eingeführt, brachten diese späten Neuerungen die angeschlagene Wirtschaft nur zusätzlich aus dem Gleichgewicht. Die staatseigenen Betriebe konnten nun über vieles selbst entscheiden, ohne aber die finanzielle Verantwortung für ihre Entscheidungen zu tragen. Die Arbeiter bestimmten de facto ihre eigenen Gehälter, die 1989 und 1990 viermal schneller stiegen als die Produktivität. Um zu wachsen, vergaben viele Banken Kredite ohne eigene Reserven vorzuhalten, da auch ihre Risiken vom Staat getragen wurden. Das Ergebnis waren rapide steigende Verluste bei den Unternehmen, ein schnell wachsendes Haushaltsdefizit4 und galoppierende Inflation in den Jahren 1990 (19 %) und 1991 (200 %).5 Das sowjetische BIP schrumpfte alleine 1991 um 17 %6.

    In den letzten beiden Jahren der Sowjetunion wurden zusätzlich Konsumgüter knapp. Das System der Warenverteilung war 1990 zum Erliegen gekommen, da Städte und Regionen aus Sorge vor einer Hungersnot ihre Produktion zurückhielten7. Selbst in den vergleichsweise gut versorgten Großstädten wurden Lebensmittelmarken für einige Produkte wie Seife oder Butter eingeführt. Bis Anfang 1992 die Preise freigegeben wurden, blieben die Regale der Läden oft leer und für Rubel war – außer auf dem Schwarzmarkt – wenig zu bekommen. Die eigentliche Währung dieser Zeit waren Beziehungen, das Wissen, wo es etwas zu kaufen gab, sowie die Ausdauer beim stundenlangen Anstehen.

    Gorbatschows Reformen wurden nach dem Zerfall der Sowjetunion häufig mit den Erfahrungen von Goethes Zauberlehrling verglichen. Letztlich war der sowjetische Staat nicht in der Lage, die neu entfesselten Marktkräfte in geordnete Bahnen zu lenken. Trotzdem kann die Perestroika nicht als wirtschaftspolitischer Fehler gesehen werden. Die Planwirtschaft hatte die Sowjetunion über Jahrzehnte in eine ökonomische Sackgasse geführt, die keinen einfachen Ausweg mehr offenließ.


    1. Bundeszentrale für politische Bildung: Stagnation, Entspannung, Perestroika und Zerfall ↩︎
    2. Götz, Roland (1994): Die Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur der UdSSR als Determinante der Perestroika, Köln ↩︎
    3. Inflationsbereinigt fielen die Importe von 45 Mrd. Dollar im Jahr 1980 auf 30 Mrd. Dollar im Jahr 1987: Gaĭdar, E.T. (2007): Collapse of an empire: lessons for modern Russia, Washington, D.C, S. 111 ↩︎
    4. The New York Times: Big soviet budget deficits are disclosed by Kremlin: Wasteful subsidies blamed ↩︎
    5. Auch bei staatlich festgelegten Preisen kann es zur Inflation kommen, bspw. wenn billige Güter nicht verfügbar sind und durch teure Alternativen ersetzt werden müssen, oder neue Versionen von Gütern ohne Mehrwert zu einem höheren Preis verkauft werden: Filatochev, I. and Bradshaw, R. (1992): The Soviet hyperinflation: Its origins and impact throughout the former republics, in: Soviet Studies, 44 (5), S. 739–759 ↩︎
    6. Countrystudies.us: Historical Background ↩︎
    7. The Baltimore Sun: Soviet food shortage not for lack of output Distribution, waste blamed for problem ↩︎

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  • Gorbatschow und die Befreiung von der Lüge

    Gorbatschow und die Befreiung von der Lüge

    Michail Gorbatschow hat in Russland einen denkbar schlechten Ruf. In breiten Kreisen der Bevölkerung gilt er als verantwortlich für den Untergang des sowjetischen Imperiums, eine Einschätzung, die von der derzeitigen Staatsführung durchaus bewusst weiter kultiviert wird.

    Anlässlich von Gorbatschows 85. Geburtstag im März 2016 führte das staatliche Meinungsforschungsinstituts WZIOM eine Umfrage durch. Sie ergab, dass zwar 46 Prozent der Befragten einräumten, Gorbatschow habe zum Wohl des Landes handeln wollen, aber auch 47 Prozent der Ansicht sind, er habe nichts Gutes für den Staat getan. Ganze 24 Prozent meinen sogar, Gorbatschow sei ein Verbrecher gewesen, der die Großmacht Sowjetunion bewusst zu Fall gebracht habe.

    Sicher ist die Bilanz von Gorbatschows Regierungsjahren eine gemischte, und die Begeisterung, die ihm speziell in Deutschland entgegengebracht wird, lässt sich nicht einfach verallgemeinern. Oft zum Beispiel wird vergessen, dass Gorbatschow zwar beim Zerfall des Warschauer Pakts (und so auch bei den Ereignissen, die zum Fall der Berliner Mauer führten) auf jede Gewaltausübung verzichtete, in der damaligen Sowjetunion aber durchaus für Militäreinsätze gegen die sich verselbständigenden Republiken verantwortlich war, wie etwa beim Vilniusser Blutsonntag.

    Vor dem Hintergrund der allgemeinen Stimmung in Russland sind diejenigen Stimmen umso bemerkenswerter, die entgegen dem Mainstream auch die positiven Aspekte seiner liberalisierenden und auf Rechtsstaatlichkeit zielenden Politik würdigen. Zu ihnen gehört der langjährige Kulturredakteur der Zeitschrift Ogonjok (seit 2009: Kommersant-Ogonjok), Andrej Archangelski, dessen letzte Woche auf Slon erschienenen Artikel wir hier wiedergeben. Archangelski, geboren 1974, ist selbst in den Gorbatschow-Jahren in Moskau aufgewachsen und liefert hier ein sehr leidenschaftliches, sehr persönliches Statement zu einem Politiker, der, wie er sagt, seine „Seele gerettet“ hat.

    Wenn es um Gorbatschow geht, sagen Leute, die ihn ablehnen, meist: „Was hat er uns denn schon gegeben, euer Gorbatschow?“ Die Frage ist rhetorisch, gemeint ist – dass nichts.

    Als Äußerung ist das sehr aufschlussreich, das wichtigste Wort hier lautet: „gegeben“. In der durch und durch materialistischen Konstruktion der Frage „Was hast du mir gegeben?“ wird die Liebe zum Staatsoberhaupt als Menge der von ihm gebotenen materiellen Güter gemessen: Er hat den Menschen separate Wohnungen gegeben, zum Beispiel, oder hat uns billigen Wodka gegeben. Und mag diese Frage auch rhetorisch sein, zum Jubiläum Gorbatschows, der 85 geworden ist, kann man versuchen, sie zu beantworten.    

    Das Erste und Wichtigste: Gorbatschow hat die Menschen befreit von der Notwendigkeit, zu lügen. Ich bin ein typisches Produkt der Perestroika; als sie begann, war ich in der vierten Klasse. In Mathematik war ich schlecht, die Regeln des Lebens in der Sowjetunion beherrschte ich aber schon gut. Zum Beispiel, dass man nicht nur für Wissen gute Noten bekam, sondern auch dafür, der Lehrerin brav nach dem Mund zu reden. Die vierte, fünfte sowjetische Generation hatte die Fähigkeit „sich im Leben einzurichten“ bereits im Blut, das war ein Instinkt, alle sagten von klein auf ja, waren einverstanden, nickten. In all dem lag eine unerklärliche Trostlosigkeit, doch grundsätzlich war klar: So ist es eben. Punkt.

    Gorbatschow hat die Menschen befreit von der Notwendigkeit, zu lügen.

    Man musste lernen, seine Gedanken zu verbergen, sich zu verstellen, nicht aufzufallen, Loyalität zu demonstrieren. Auf der Straße das eine sagen, in der Schule was anderes, zu Hause was Drittes – kurz, ein Doppelleben zu führen, wie jedermann. Und da kam Gorbatschow und rettete mich (und viele andere) vor diesem Zwang zur permanenten Heuchelei. Man konnte natürlich weiterhin lügen, doch ab jetzt hatte man die Wahl: Jetzt konnte man auch NICHT lügen. Lügen war nicht mehr lebensnotwendig. Und mehr noch, die Wahrheit zu sagen lohnte sich nun, wenn man das so zynisch ausdrücken will: Nicht die Ähnlichkeit mit anderen, sondern die Andersartigkeit wurde zur Erfolgsgarantie.

    Heutzutage ist es schwierig, das zu erklären, aber die Perestroika hat eine enorme menschliche Energie freigesetzt, Millionen verschiedener Talente entfesselt und die Entwicklung von Stärken möglich gemacht. Die fünf Jahre Perestroika waren wie ein ewiger Frühling der Gedanken und Gefühle, fast ein Karneval, in der Tat eine glückliche Zeit: Wenn der Wunsch, nicht zu lügen, nicht nur nicht bestraft, sondern sogar – im Gegenteil – vom Staat gefördert wird.

    In Russland ist der Staat überall, alles ist von ihm durchdrungen, er ist und bleibt der Haupterzieher.

    Auch der soziale Erfolg hatte zu tun mit der Möglichkeit, die Wahrheit zu sagen, beziehungsweise einfach das, was man dachte. Deswegen bin ich Gorbatschow verbunden was meine Fähigkeiten, meine Berufswahl und meine Karriere angeht. Vor allem aber hat er mich und Millionen anderer vor einer doppelten inneren Buchhaltung bewahrt, vor moralischer Zersplitterung und Zerstörung. Er hat meine Seele gerettet – das scheint mir keine Übertreibung zu sein. Man kann lang und breit darüber reden, dass solche Dinge nicht vom Staat abhängen, aber das stimmt nicht: In Russland ist der Staat überall, alles ist von ihm durchdrungen, er ist und bleibt der Haupterzieher. Auch jetzt spüren die Kinder ganz genau, wie man sich verhalten muss, um Erfolg zu haben. Die Kinder der Perestroika hatten mit dem Staat Glück wie keine andere Generation – im Grunde verlief ihr gesamtes bewusstes Leben „in Freiheit“, damit war in Russland selten eine Generation gesegnet.

    In Freiheit, die in Russland gern präzisiert wird: „Freiheit wozu?“, „Freiheit wovon?“ – die aber einfach nur bedeutet: die Möglichkeit zu haben, nicht zu lügen.

    In einer totalitären Gesellschaft dient die Sprache nicht zum Reden, sondern dazu, Gedanken zu verbergen.

    Noch etwas, was Gorbatschow uns gegeben hat: Er hat den Menschen die Sprache zurückgegeben. Hat den Menschen die Kommunikation wiedergegeben, die Möglichkeit, sich frei zu unterhalten. In einer totalitären Gesellschaft dient die Sprache nicht zum Reden, sondern dazu, Gedanken zu verbergen. Die Sprache des Verschweigens, die Kultur des Verheimlichens war bis zum Jahr 1980 so weit gekommen, dass man mit der offiziellen Sprache, mit der Sprache der Zeitung Prawda nicht einmal die einfachsten Gedanken ausdrücken konnte. Die sowjetische Sprache hatte einen gigantischen Zerfallsprozess erlebt. Das, was bis 1985 gesprochen wurde, war kein Gedankenaustausch, sondern ein Ritual, eine Wiederholung, eine Tautologie, die völlig sinnlos wurde.  

    Es ist eine erstaunliche Leistung des Totalitarismus, wenn das einzige, was den Menschen vom Tier unterscheidet, nämlich die Sprache, den Menschen stört, anstatt ihm zu helfen. „Schweigen ist Gold“, bekam man bei uns auf Schritt und Tritt zu hören, und das Schweigen wurde zur einzigen ehrlichen Form der Kommunikation. Genau dasselbe geschieht mit der Sprache jetzt wieder. Der Ausdruck „ich habe dich gehört“ ist ein deutliches Indiz dafür, dass diese Stummheit zurückkehrt – Schweigen als Form der Kommunikation.    

    Bei Hannah Arendt findet sich folgende Beobachtung über Menschen in Deutschland in den 1930ern, die gegen den Totalitarismus immun geblieben waren. Arendt stellt die Frage: Worin unterschieden sich diese Menschen von der Mehrheit? Sie kommt zu dem Schluss, dass etwa hohe Kultiviertheit oder Bildung dabei überhaupt keine Rolle spielen. Die Fähigkeit zum Widerstand haben sich nur Menschen einer bestimmten psychischen Wesensart bewahrt, stellt Arendt fest, jene, die es gewohnt waren, einen ständigen inneren Dialog mit ihrem zweiten Ich zu führen, oder, vereinfacht gesagt, mit ihrem Gewissen. Menschen, die es gewohnt sind, jede ihrer Handlungen mit ihrem inneren Kammerton abzustimmen, können nicht gegen ihn agieren – einfach weil sie damit nicht weiter leben könnten, ihr Gewissen würde sie quälen. Der Jammer ist, so Arendt, dass für die meisten Menschen dieser innere Dialog nichts Unumgängliches ist, beziehungsweise dass sie diese zur Notwendigkeit gewordene Gewohnheit einfach nicht besitzen.    

    Den Wert der Freiheit erkennen die meisten Menschen ganz offensichtlich nicht.

    Die Perestroika – das waren Gespräche, klar, aber das Wichtigste war, dass Gorbatschow das innere Gespräch des Menschen mit sich selbst in Schwung brachte. Gorbatschow gab also den Leuten ihr inneres zweites Ich zurück, ihr Gewissen – beziehungsweise nicht das Gewissen selbst, sondern die Möglichkeit, nach dem Gewissen zu entscheiden.   

    Den Wert der Freiheit erkennen die meisten Menschen ganz offensichtlich nicht; dabei genießen ausnahmslos alle heutzutage ihre materiellen Vorteile, ihre wirtschaftlichen Folgeerscheinungen: den freien Markt, den Austausch von Waren, die Reisefreiheit. Nein, etwas Materielles hat uns Gorbatschow wirklich nicht gegeben, keine Lebensmittelprämien oder Wohnungen. Aber so ein „Geben“ ist selbst eine zwiespältige Sache: Denn Materielles, das gegeben wird, kann auch weggenommen werden. Der Herr hats gegeben, der Herr hats genommen, das ist ungefähr das Schema, nach dem das Leben heute in Russland wieder läuft. Doch was Gorbatschow uns gegeben hat, kann uns niemand nehmen. Weil es eben keine Sache ist.  

    Man kann nicht mal sagen, dass er uns „die Freiheit gab“ – das wäre geradezu beleidigend, Freiheit kann man jemandem nicht geben wie einen Rubel, wir haben sie selbst errungen. Doch Gorbatschow hat die Bedingungen dafür geschaffen, vom Leben das Beste zu nehmen und nicht das Schlechteste. Er hat uns die Möglichkeit gegeben, in einem volleren Sinne zu Menschen zu werden, und jeder machte daraus, was seinen Fähigkeiten und Wünschen entsprach. Dass wir dieses offene Fenster zur Freiheit nicht umfassend genutzt haben (wann wird es wohl das nächste Mal offenstehen?), ist wahr. Aber dennoch haben die Menschen, die die neuen Regeln angenommen haben, das Verhältnis zwischen Freiheit und Unfreiheit in Russland grundlegend verändert. Freiheit, das sind jetzt nicht mehr zwei Dutzend in Küchen sitzende Dissidenten, Freiheit ist das Gut von Millionen Menschen geworden. Und diese Menschen nehmen an scheinbar zwecklosen Protestmärschen teil, gehen als Wahlbeobachter in Stimmlokale und wechseln auf der Brücke, auf der Nemzow ermordet wurde, täglich das Wasser in den Blumenvasen.

    Gorbatschow hat die Sozialstruktur Russlands verändert, 15 Prozent des Landes (jene, die nicht zu den 85 Prozent1 gehören) – das ist trotz allem schon näher an einem Normalzustand als die sieben Personen, die 1968 auf dem Roten Platz waren. Gorbatschow ist es gelungen, eine Art fragile Balance zu erzeugen, mehr solche Menschen hervorzubringen, denen der innere Dialog mit ihrem zweiten Ich wichtiger ist als der Monolog der Propaganda. Und dank der Energie von vor 30 Jahren sind sie weiterhin da, und möglicherweise hat auch Gorbatschow es dieser Energie zu verdanken, dass er in seinem 86. Lebensjahr steht. Großartige Sache, kann ich nur empfehlen.


    1.Gemeint ist die in Umfragen erhobene Zustimmung zur Tätigkeit des Präsidenten oder der Regierung. Wladimir Putin verzeichnet durchgängig Zustimmungswerte von über 60 %, seit Beginn der Ukraine-Krise liegt diese Zahl um 85 %.

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  • Lektionen aus dem Zerfall eines Landes

    Lektionen aus dem Zerfall eines Landes

    Viele der gewalttätigen Episoden, die sich seit dem Zerfall der Sowjetunion am Rande des ehemaligen Imperiums abgespielt haben, sind heute weitestgehend aus der Erinnerung verschwunden. Oleg Kaschin widmet dem als Blutsonntag in die Geschichte eingegangenen Tag des sowjetischen Einmarsches in Litauen eine nachdenkliche Rückschau. Er fragt, welche Lektionen Russland aus diesen Ereignissen für die Gegenwart lernen könnte.

    25 Jahre sind vergangen seit dem Tag, als die Sowjetunion mit Panzern in Litauen einrückte, um sich dort zu verabschieden. Der 13. Januar ist der traurigste Tag in der postsowjetischen Geschichte Litauens: der Blutsonntag, als Abschluss eines zehnmonatigen Widerstands der Litauischen SSR, die im März 1990 ihre Unabhängigkeit erklärt hatte, gegen das sowjetische Zentrum, das sich nicht mit dem Zerfall des Landes abfinden wollte. Der Nervenkrieg zwischen Moskau und Vilnius, zu dem ab Herbst 1990 die Wirtschaftsblockade gegen Litauen gehörte, endete mit sozial und wirtschaftlich motivierten Massendemonstrationen, dem Rücktritt der litauischen Regierung und schließlich mit einem prosowjetischen Staatsstreich: Ein anonymes Komitee zur nationalen Rettung, auf dessen Bitte sowjetische Truppen in Vilnius einrückten, erklärte, die Macht in der Republik übernommen zu haben. Die Truppen besetzten die zentrale Druckerei und den Fernsehturm (bei dessen Erstürmung Zivilisten, die litauischen „himmlischen Hundertschaften“ sowie ein Soldat der Alfa-Spezialkräfte ums Leben kamen); an das verbarrikadierte Parlament, zu dessen Verteidigung sich mehrere tausend Bewohner der Stadt aufgebaut hatten, wagten sie sich nicht heran. Die merkwürdige Doppelherrschaft dauerte in Litauen noch bis August, und nach dem Scheitern des Staatskomitees für den Ausnahmezustand GKTschP [und damit dem Scheitern des Augustputsches gegen Michail Gorbatschowdek] erkannte das neue Machtorgan, der Staatsrat der UdSSR, die Unabhängigkeit Litauens, Lettlands und Estlands an.

    Die Dialektik des Totalitarismus zeigt sich darin, dass die Volksaufstände in der Sowjetunion nicht von den Diktatoren Stalin und Breshnew gewaltsam niedergeschlagen wurden, sondern von den Demokraten Chruschtschow und Gorbatschow. Für letzteren wurde Vilnius 91 zum Schlussakt eines Dramas, das ihn seine gesamte Amtszeit über begleitete, seit er im Dezember 1986 erstmals Gewalt anwenden musste – das war in Alma-Ata gegen kasachische [Demonstranten – dek], die mit der Ernennung eines Russen zum Ersten Sekretär der kasachischen Kommunistischen Partei nicht einverstanden waren. Wenngleich Gorbatschow den Massen als Schwächling in Erinnerung geblieben ist, der – sei es aus Dummheit oder aus böser Absicht – die Sowjetunion zugrunde gerichtet hat, war er es, der den Rekord für Truppeneinsätze im Innern gebrochen hat, mit dem Ziel, die Einheit des Landes zu erhalten. Litauen fordert von Russland bis heute die Auslieferung des Friedensnobelpreisträgers, um ihn zu den Ereignissen des „Blutsonntags“ zu vernehmen – das wird natürlich kaum jemals geschehen, aber Vilnius bleibt in der Sache äußerst hartnäckig. In einem anderen Fall, dem von Belarus, ist die Auslieferung der Führer der litauischen Kommunistischen Partei Mykolas Burokevitschjus und Juozas Jermalavitschjus an Litauen im Jahr 1994 aufgrund derselben Anschuldigung Teil der Landesgeschichte – sie führte zum Rücktritt der gesamten belarussischen Führung unter Stanislau Schuschkewitsch und zu einer tiefgreifenden politischen Krise, die damit endete, dass Alexander Lukaschenko an die Macht kam.

    Für Litauen ist der Januar 1991 einer der großen Momente seiner Nationalgeschichte, die tatsächliche Erlangung der Unabhängigkeit, ein blutiges Drama mit, so seltsam das klingen mag, vollkommenem Happyend. Für Russland ein nahezu vergessener Perestroika-Vorfall an der Peripherie, eine von vielen Geschichten der Art, an die man sich besser nicht erinnert – stolz kann man nicht darauf sein, und Nutzen haben sie auch keinen.

    Erinnert man sich aber doch, so sollte uns Russen nicht allein der litauische Fall interessieren, der zeigte, dass unbewaffnete, von der Freiheit träumende Menschen stärker sein können als Panzer. Interessanter und wichtiger ist es, dass wir uns an die erste Reaktion des offiziellen Moskaus auf das Blut in Vilnius erinnern.

    Drei Tage nach der Erstürmung des Fernsehturms erklärten Präsident Gorbatschow und Verteidigungsminister Jasow auf einer Sitzung des sowjetischen Parlaments, ihnen sei nicht bekannt, wer den Truppeneinsatzbefehl gegeben habe, und die einzige praktische Konsequenz aus den litauischen Ereignissen war eine Verschärfung des Pressegesetzes, denn natürlich war die Presse daran schuld, dass Menschen ums Leben gekommen waren. Die Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen, war von jeher ein Schwachpunkt des Kreml. In den Jahren unter Putin ist das absolut blamable „Wir waren’s nicht!” praktisch zum zentralen staatlichen Motto geworden.

    Es lohnt auch, sich das Schicksal der Gruppe von prosowjetischen Funktionären zu vergegenwärtigen, die die Basis des Komitees zur nationalen Rettung gebildet hatte – nicht einer dieser prosowjetischen Litauer, die sich im Konflikt zwischen Moskau und Vilnius auf die Seite Moskaus gestellt hatten, konnte später auf dessen Unterstützung zählen. Moskau rettete niemanden vor dem Gefängnis, half niemandem, sich der Verfolgung entziehen. Der Einzige, dem das halbwegs gelang, war der Zweite Sekretär der litauischen Kommunistischen Partei Wladislaw Schwed, der in den neunziger Jahren in Moskau im Parteiapparat der LDPR Karriere machte, doch auch Schwed musste, um bis zu Shirinowski zu gelangen, einige Zeit im Vilniuser Lukischkes-Gefängnis absitzen. Moskau lässt seine eigenen Leute immer wieder fallen, Moskau schert sich nicht um seine situativen Verbündeten, und die Erfahrung der prosowjetischen Litauer wäre vermutlich nicht uninteressant für die moskautreuen Feldkommandeure und Politiker im heutigen Donbass, denn auch die können natürlich weder heute noch in Zukunft auf irgendetwas zählen. Auf der Krim waren es Sergej Axjonow und Natalja Poklonskaja, die das Komitee zur nationalen Rettung bildeten, und wie heiter ihr Leben in Zukunft noch aussehen wird, kann wohl niemand wissen.

    Die Erfahrung des prosowjetischen Umsturzes in Litauen zeigt auch, dass sich Moskau vor 25 Jahren wie auch später nicht derart verhalten konnte bzw. zu verhalten lernte, dass es vom Zerfall des [Sowjet-] Imperiums profitierte oder zumindest keinen Schaden nahm. Tschetschenien 1994 (unter Berücksichtigung der dortigen Gemütsart und Kriegsfertigkeit) war fast eine wörtliche Wiederholung des litauischen Szenarios von 1991. Als Oberst Maschadow bereits Militärführer der Tschetschenischen Republik Itschkerien war, erinnerte er sich immer noch gerne an seine letzte Parade am 9. Mai 1991 in Vilnius, als seine Soldaten durch die Stadt liefen und von der dortigen Bevölkerung verflucht und bespuckt wurden – offensichtlich ähnelten sich Tschetschenien und Litauen stärker, als man gedacht hätte. Wer garantiert denn, dass die Konflikte im Kaukasus in den nächsten Jahren nicht wieder aufflammen. Hat Moskau diesbezüglich irgendwelche produktiven Ideen, außer dem Allheilmittel „Kadyrow noch mehr Geld geben“?

    Über die ganzen 25 Jahre hat niemand die Frage beantwortet, wie sich Moskau verhalten soll, damit die Krisen an der Peripherie nicht in einer Bluthölle enden, und was Gorbatschow hätte tun sollen, damit er für Litauen genau so ein Held und Retter vor dem Totalitarismus geblieben wäre wie für den übrigen Westen. Wobei Litauen noch ein einfaches Beispiel ist, es gab auch noch, nun ja, Baku 1990, wo Gorbatschow ebenfalls Panzer hinschickte (für das heutige Aserbaidschan ist er genau so ein Übeltäter wie für Litauen), aber in Baku gab es auch noch das Progrom an den Armeniern – was also hätte man tun sollen: ohne Panzer auskommen und sich mit dem Gemetzel abfinden? Eine Antwort gibt es bis heute nicht.

    Eine Antwort gibt es bis heute nicht, aber sie wäre nötig: Es gibt keine Garantie, dass die Erfahrungen aus dem Zerfall des Imperiums für Russland nicht doch noch einmal wichtig werden, zumal Russland vor regionalen politischen Krisen unterschiedlicher Heftigkeit nicht gefeit ist. Vor einigen Jahren haben Moskauer OMON-Truppen die Automobilisten-Demos in Wladiwostok auseinandergetrieben (und die Lokalpresse schrieb, wie 1991 die litauische, von einem Blutsonntag) – das ist wohl auch eine Lektion des Jahres 1991, wenn auch aus weit fleischärmerem Material als bei den Litauern.

    Der 13. Januar 1991 ist für Russland ein Tag der nicht gelernten Lektionen und der unangenehmen Fragen. Wahrscheinlich bleibt unserem Land noch einige Zeit, um diesen Fragen und Lektionen auszuweichen, doch höchstwahrscheinlich nicht viel Zeit, und über einiges sollte man sich besser jetzt schon genau klarwerden.

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  • Perestroika

    Perestroika

    Im engeren Sinne bezeichnet Perestroika die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Umgestaltung, die auf Initiative von Michail Gorbatschow ab 1987 in der Sowjetunion durchgeführt wurde. Politische Öffnung und größere Medienfreiheit führten bald dazu, dass sich die Forderungen nach Veränderung verselbständigten – obwohl die Reformen neben viel Hoffnung auch viel Enttäuschung brachten. Die Perestroika läutete einen unaufhaltsamen Prozess des Wandels ein und mündete im Ende der Sowjetunion.

    Brot oder Freiheit? Um was ging es den Menschen in der Sowjetunion, als sie die Reformpolitik Gorbatschows begrüßten? Und warum wurde aus dem „Wind of Change“ letztlich ein Hurrikan, der eine Großmacht hinwegfegte?

    Es hat sich eingebürgert, von der Zeit der Perestroika (deutsch: Umbau, Umgestaltung) zu sprechen und damit die gesamte Umbruchphase vom sowjetischen System zum neuen russischen Staat zu meinen. Enger gefasst handelte es sich um die Reformpolitik des letzten Generalsekretärs der KPdSU Michail Gorbatschow, die 1986/87 begann und mit der offiziellen Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991 endete.

    Michail Gorbatschow wurde am 11. März 1985 im Alter von 54 Jahren zum Generalsekretär gewählt und erlöste das Land von der Herrschaft der alten Männer. Er gehörte zu jenem Teil der sowjetischen Parteiführung, der deutlich erkannte, dass das Land sich in einer schwierigen innen- und außenpolitischen Situation befand. Besonders im Bereich der Wirtschaft waren Reformen nötig. Durch die Beschleunigung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts (uskorenie) und eine verschärfte Disziplin sollte die Produktivität gesteigert werden. Dies griff zu kurz. Im Januar 1987 kündigte Gorbatschow mit den Schlagworten Perestroika und Glasnost (Offenheit, Transparenz, Öffentlichkeit) eine deutlich entschlossenere Umgestaltung an. Die Mitsprache der Bürger sollte erhöht, die Rechtsordnung gestärkt und die Gesetzgebung verbessert werden. Neue Gesetze erlaubten privatwirtschaftliche Unternehmungen, um Impulse für einen wirtschaftlichen Aufschwung zu geben und die Bevölkerung besser mit Lebensmitteln und Verbrauchsgütern versorgen zu können. Im Frühjahr 1989 fanden die Wahlen zu einem Kongress der Volksdeputierten statt, die den Durchbruch für eine demokratische Entwicklung bedeuteten.

    Briefmarke zu Glasnost und Perestroika aus dem Jahr 1988
    Briefmarke zu Glasnost und Perestroika aus dem Jahr 1988

    Zunächst noch „von oben“ gesteuerte Medienkampagnen gegen Missstände schufen Raum, immer offener über Probleme des politischen Systems zu sprechen. Dieser Prozess entfaltete eine ungeheure Dynamik und konnte bald nicht mehr kontrolliert oder gebremst werden. Umweltprobleme und ihr verantwortungsloser Umgang damit – die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 war nur ein Beispiel dafür – konnten nun ebenso diskutiert werden wie die Verbrechen der Stalinzeit, Misswirtschaft, Amtsmissbrauch, Korruption und Schwarzmarkt. In den Mittelpunkt der Kritik gerieten zunehmend die Parteiherrschaft und das Machtmonopol der Kommunistischen Partei.

    Besonders in den kaukasischen und baltischen Republiken setzten sich Gruppen durch, die stärkere Autonomie oder sogar die Unabhängigkeit von der UdSSR anstrebten. Es kam zu Unruhen und gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Nationalitäten, wie zwischen Armeniern und Aserbaidschanern im Konflikt um die Enklave Nagorny Karabach. Die Balten forderten die Veröffentlichung des geheimen Zusatzprotokolls des Hitler-Stalin-Pakts von 1939 und eine Erklärung über dessen Unrechtmäßigkeit. Schnell stellten die nationalen Unabhängigkeitsbewegungen die Staatlichkeit der UdSSR insgesamt in Frage.

    Zu Beginn der Reformen herrschte Euphorie und die Illusion, die Zukunft brächte bürgerliche Freiheiten und westlichen Wohlstand und bewahre gleichzeitig die gewohnten Sicherheiten des Lebens im Sozialismus. Schon 1990 machte sich Enttäuschung breit. Die Versorgungslage verschlechterte sich dramatisch und die Kriminalität stieg spürbar an. Die Popularität Gorbatschows in der Bevölkerung sank. Konservative Kräfte in der Kommunistischen Partei versuchten, den Reformprozess zu bremsen und entschieden sich im August 1991 zu einem Putsch. Dieser scheiterte am Unvermögen der Putschisten, vor allem aber am Widerstand der demokratischen Kräfte und der russischen Regierung unter der Führung von Boris Jelzin.

    In den letzten Monaten seiner Präsidentschaft bemühte sich Gorbatschow um die Erneuerung des Unionsvertrages. Die Unabhängigkeitserklärungen eines Teils der sowjetischen Republiken und die Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) kamen dem allerdings zuvor. Am 25. Dezember wurde die rote Fahne der Sowjetunion im Kreml eingeholt und stattdessen die Trikolore des Nachfolgestaates Russland gehisst. Die Sowjetunion existierte nicht mehr. Das Gesellschaftsprojekt Kommunismus fand damit in Osteuropa ein Ende.


    1. Weiterführende Literatur: ↩︎
    2. Altrichter, Helmut (2009): Russland 1989: Der Untergang des sowjetischen Imperiums, München ↩︎
    3. Brown, Archie (2009): Aufstieg und Fall des Kommunismus, Berlin ↩︎
    4. Gorbatschow, Michail (1995): Erinnerungen, Berlin ↩︎
    5. Kappeler, Andreas (Hrsg.) (1989): Umbau des Sowjetsystems: Sieben Aspekte eines Experiments, Stuttgart/Bonn ↩︎
    6. Kuhr-Korolev, Corinna (2015): Gerechtigkeit und Herrschaft: Von der Sowjetunion zum neuen Russland, Paderborn ↩︎
    7. Mommsen, Margareta / Schröder, Hans-Henning (Hrsg.) (1987): Gorbatschows Revolution von oben: Dynamik und Widerstände im Reformprozeß der UdSSR, Frankfurt a.M./Berlin ↩︎

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