Der staatliche Fernsehsender Rossija-1hat eine neue Sendung an den Start gebracht: Moskau. Kreml. Putin. – jeden Sonntag eine Stunde über den Präsidenten, moderiert von keinem Geringeren als Wladimir Solowjow. Ein Relaunch der Sowjetpropaganda, wie manche Kommentatoren schreiben, oder ein adäquates Mittel um schlechte Ratings aufzubessern? Dimitri Kolesew kommentiert auf Znak.
Eine ganze Stunde lang erzählt Moderator Wladimir Solowjow, bekannt für seine Loyalität gegenüber der amtierenden Regierung, ausschließlich positiv, ja mit Begeisterung davon, was der Präsident in den letzten Tagen so alles gemacht hat. In den Kommentaren zur Sendung fühlen sich viele inhaltlich und vom Tonfall her an die preisende Leniniana, das Fernsehen der Breshnew-Zeit oder stalinsche Propaganda erinnert. Von einem neuen Personenkult ist die Rede. Doch im Jahr 2018 fällt es schwer, ein derartiges TV-Format ernstzunehmen.
Von einem neuen Personenkult ist die Rede
Die Sendezeit beträgt sechzig Minuten. In seiner gewohnten Manier berichtet Wladimir Solowjow aus dem Studio, was Wladimir Putin in letzter Zeit so alles erlebt hat: Er hat verschiedene Regionen in Sibirien besucht, begabte Schüler im Zentrum Sirius getroffen und mit Verteidigungsminister Sergej Schoigu und FSB-Chef Alexander Bortnikow zusammen Urlaub in der Taiga gemacht.
Am Ende der Sendung verraten wir Ihnen, warum Putin so gut in Form ist
Um über die Handlungen und Erlebnisse des Präsidenten zu diskutieren, werden sogenannte „Experten“ ins Studio eingeladen, wie zum Beispiel der Journalist Pawel Sarubin, der auch für Rossija-1 arbeitet und im Pressepool des Präsidenten mit ihm quer durchs Land fährt, oder der Pressesprecher des Präsidenten Dimitri Peskow. Natürlich können die nur in begeisterten Tönen von Putin sprechen. Pawel Sarubin beispielsweise wundert sich, wie der Präsident ein solch straffes Arbeitspensum meistert. „Ich verstehe nicht, wie man so ein Tempo durchhält, ein Marathon ist das … Anfang der Woche – Kemerowo, Nowosibirsk, Omsk, dann wieder Moskau. Und überall – vergessen Sie das bitte nicht – unterschiedliche Zeitzonen! Und jetzt noch Sotschi. Alles innerhalb einer Woche. Das verlangt höchste Konzentration. Physisch eine echte Herausforderung.“
„Am Ende der Sendung verraten wir Ihnen die Fitness-Geheimnisse des Präsidenten und zeigen Ihnen, warum er so gut in Form ist“, verspricht Solowjow.
„Ja! Genau!“, freut sich Sarubin.
Mit Bergleuten des Kusnezker Beckens spricht Putin über Produktionsrekorde und Pläne für ein glückliches Leben
Gleich der erste Sendebeitrag lässt Erinnerungen an den Lieben Leonid Iljitsch oder die Lobgesänge auf Stalin wach werden. Die Erzählung beginnt mit einem heiteren Bericht über die Bergleute des Kusnezker Beckens: Was für eine gewaltige technische Ausrüstung (die, wie im Bild zu sehen, größtenteils von ausländischen Marken stammt – Caterpillar und P & H)! Weiter über Produktionsrekorde und Pläne für ein glückliches Leben. „Wie gefährlich und anstrengend die Arbeit der Bergleute ist, weiß Putin aus eigener Erfahrung“, sagt Sarubin. Offenbar ist damit eine einmalige Grubenfahrt gemeint, die der Präsident Anfang der 2000er Jahre in Norilsk unternommen hat. Und die Archivaufnahmen werden mit einem Stolz präsentiert, als hätte Putin da eine wahre Heldentat vollbracht. Am Ende des Beitrags zeigt sich Sarubin freudig überrascht, dass der Präsident bei diesem Anlass sogar ein paar Sekunden aufgebracht hat, damit der Gouverneur die Telefonnummer eines Kumpels notieren konnte. „Ich bin sicher, da folgen noch Telefonate, ob [der Gouverneur] seine Versprechen auch alle gehalten hat. Da versteht der Präsident keinen Spaß“, resümiert Wladimir Solowjow.
In einem ganz ähnlichen Duktus ist auch der Rest der Sendung gehalten. Zusammen mit dem Vorsitzenden des Haushaltsausschusses, dem Jedinoross Andrej Makarow, „analysiert“ Solowjow Putins Auftritt zur Rentenreform (in Wirklichkeit vergehen beide die meiste Zeit im Chor vor Rührung, wie präzise Putin das Problem und die Lösungsansätze benannt hat). Wieder derselbe Pawel Sarubin erzählt von Putins Besuch im Sirius-Zentrum – auch dieser Beitrag sprüht vor Wohlwollen und entfaltet seine ganze Komik erst angesichts der Nachricht, dass einer der Jugendlichen auf dem Foto mit dem Präsidenten ein Nawalny-T-Shirt trägt.
Er ist ein sehr menschlicher Mensch
Dimitri Peskow plappert im TV-Studio fast wortwörtlich die Klischees der Sowjetpropaganda nach: „Putin liebt nicht nur Kinder, er liebt alle Menschen … Er ist überhaupt ein sehr menschlicher Mensch“, sagt Peskow. Die Majakowski-Worte über Lenin als „Der menschlichste Mensch“, sind in Wörterbüchern und Zitat-Sammlungen meist mit der Bemerkung „in der Regel ironisch verwendet“ versehen, doch hier ist von Ironie nicht viel zu spüren.
In den Schilderungen Peskows kommt Putin einem mythischen Helden gleich
Peskow geizt auch nicht mit Lob für seinen Vorgesetzten: Der würde „in Sekundenschnelle auf neue Umstände reagieren“, eigenhändig an seinen Reden arbeiten; er sei „ein Mensch wie jeder andere“, könne jedoch „mit seinen Emotionen ganz feinsinnig umgehen“. Putin schwimme täglich eine Stunde, trainiere im Fitnessstudio, spiele Eishockey usw. In den Schilderungen Peskows kommt Putin einem legendären, mythischen Helden gleich – so habe er zum Beispiel eine ganz besondere Verbindung zu Tieren: „Der Bär ist ja nicht dumm. Wenn er Putin sieht, benimmt er sich natürlich anständig“, sagt Peskow, und aus seinem Munde klingt das nur teilweise wie ein Scherz.
Der Bär ist nicht dumm. Wenn er Putin sieht, benimmt er sich anständig
Das Finale von Solowjows Sendung bilden aktuelle Videoaufnahmen von Putins letztem Urlaub in Tuwa, die man sich offenbar eigens für die Premiere von Solowjows Sendung aufgespart hat. Putin wandert durchs Sajan-Gebirge („Acht Kilometer ist er gelaufen!“, begeistert sich wiederum Pawel Sarubin, diesmal aus dem Off), sammelt Beeren und Pilze, geht „bis an den Abgrund“, kocht sich eigenhändig Tee und rettet junge Bäume. Und wieder diese animalischen Motive: Ein Bergadler schwebt über Wladimir Putin, er selbst beobachtet Steinböcke, und auch die haben überhaupt keine Scheu vor dem Staatsoberhaupt, ganz, als hielten sie ihn für einen Artgenossen.
Auch die Steinböcke haben überhaupt keine Scheu vor dem Staatsoberhaupt
Nachdem man die Sendung gesehen hat, bleibt ein großes Fragezeichen: Was war das? Der Versuch einen Personenkult zu etablieren, wie manche Kommentatoren sofort danach behaupten? Doch die medialen Techniken, die zu Zeiten von Lenin und Stalin noch durchaus Erfolg hatten, riefen schon in der Breshnew-Periode eher Ärger und Sarkasmus in der Bevölkerung hervor: Zu groß war die Kluft zwischen dem Propaganda-Bild und dem wirklichen Leben. Schwer vorstellbar, dass im Jahre 2018, in Zeiten von Internet, Trollen und allgegenwärtiger Ironie, selbst der konservativste Teil der Bevölkerung einer solchen Berichterstattung glaubt.
Die staatlichen Sender waren das Zaubermittel, Putins Beliebtheit aufrecht zu erhalten
Vielmehr wirkt es wie ein ungeschickter Versuch, auf die Schnelle die sinkenden Zustimmungswerte des Präsidenten zu retten. Wladimir Putin und seine PR-Leute scheinen weiterhin bedingungslos an die magische Kraft des Fernsehens zu glauben. Die staatlichen Sender haben Putin 1999-2000 auf den Gipfel der Macht befördert und waren seitdem das Zaubermittel, das die Beliebtheit des Staatsoberhaupts allen Schwierigkeiten zum Trotz aufrecht erhielt.
Aber die Entwicklung des Internets hat Jahr um Jahr das Monopol der TV-Kanäle untergraben, und die aktuelle Situation um die Rentenreform zeigt, dass das Fernsehen nicht mehr das effektivste Propaganda-Werkzeug ist. Alle Bemühungen der staatlichen TV-Sender konnten die Menschen bisher nicht von der Richtigkeit der Reform überzeugen, und Putins Zustimmungswerte stagnieren auf einem ungewohnt niedrigen Niveau.
Wenn die Menschen Putin weniger lieben, muss man mehr und besser von ihm sprechen
Angesichts dessen sind die Kreml-Propagandisten aber nicht so sehr darum bemüht, neue Methoden zu entwickeln – sie intensivieren einfach die erprobten. Wenn die Menschen Putin weniger lieben, dann muss man eben mehr und besser im Fernsehen von ihm sprechen. Doch scheint eine so grobschlächtige, schlecht zusammengezimmerte Propaganda selbst für den unbedarften russischen Zuschauer ein zu großer Fake. Oder denken wir zu gut über ihn?
Im August 1968 haben die Truppen des Warschauer Pakts dem sogenannten Prager Frühling, Reformbestrebungen in der Tschechoslowakei, ein jähes Ende bereitet. Wie das russische Staatsfernsehen Rossija 1 zum 50. Jahrestag am 21. August 2018 darüber berichtete, das analysiert Alexander Morosow auf The Insider.
Zu [Prag] 1968 ist viel publiziert worden: Die Dokumente des Politbüro und des KGB, Erinnerungen, Foto- und Videosammlungen, jeder kann die Mitschriften der langen Telefonate zwischen Breshnew und Dubček nachlesen, auch sie wurden veröffentlicht. Womöglich ist die Geschichte dieses Einmarsches das für die breite Leserschaft am besten dokumentierte und offen einsehbare politische Ereignis des 20. Jahrhunderts, jedenfalls auf russischer Seite. Und voilà, es kann sich nun jeder, der sich den neunminütigen Beitrag des wichtigsten russischen Fernsehsenders zum „Jubiläum“ anschaut, selbst davon überzeugen, wie einfach es ist, das Puzzle der einzelnen Episoden derart zu verschieben, dass ein völlig neues Bild entsteht.
Die Tschechoslowaken sind selbst schuld
Dabei kann man sehr grob vorgehen, wie das Autoren kleinerer Veröffentlichungen tun, oder dezenter, wie der Chef des Europa-Büros von Rossija. Aber das Ergebnis geht in dieselbe Richtung: Die Tschechen [Tschechoslowaken – dek] sind „selbst an allem schuld“. Sei es Dubček, der die Kontrolle verloren hatte, seien es die Dissidenten, die ja auf Weisung des CIA gehandelt haben, seien es die Tschechen insgesamt, die zu große Veränderungen gefordert haben – der Reformprozess hätte langsamer eingeleitet werden müssen (dazu wird in dem Beitrag ein kurzes Interview mit der tschechischen Journalistin Procházková gebracht), sei es die Atmosphäre 1968 in Europa – auch die habe sich negativ ausgegewirkt. Schiebt man beim Legen dieses Puzzles bestimmte Teile weit weg, etwa den Entscheidungsprozess in Moskau, die Reformideen, die in der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei erörtert wurden, die gleiche militärische Einmischung in Budapest im Jahr 1956 und lässt – last but not least – die historische Perspektive (sprich, die Samtene Revolution des Jahres 1989) völlig außer Acht, dann ergibt sich ungefähr jenes Bild, das der Kreml und seine Medien heute präsentieren: Schauen Sie: eine tragische Episode in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, die Tschechen haben das selbst zu verantworten, wollen das aber nicht zugeben, ja mehr noch, sie „verhöhnen die Erinnerung“: Seht nur, sie haben einen Panzer der Befreier rosa angemalt! Ihr Verhältnis zur Geschichte ist ein postmodernistisches, unseres ein trauerndes, heldisches, und wir bedauern, dass das Brudervolk so auf dem Holzweg ist.
Jeder weiß, selbst bei einer Unterhaltung in der Elektritschka wird der Gesprächspartner gerne zugeben, dass in dieser Interpretation einige historische Fakten nicht ganz korrekt dargestellt sind. Gleichzeitig wird er jedoch abwinken und sagen: „Wenn wir nicht eingegriffen hätten, dann wären Soldaten der NATO gekommen.“ Dieses Argument hat sich mittlerweile auf die Geschichte insgesamt ausgebreitet, es dient als schlussendliche Rechtfertigung jeglicher Handlungen jeglicher russischer Herrscher.
Um eine Aggression zu rechtfertigen, muss man Grenzen als bedingt denken
Hier sind vier Positionen zu differenzieren: das Bewusstsein der breiten Bevölkerung, revisionistische Historiker, die Medienmacher des Kreml, und der derzeitige Kreml selbst. Für den normalen unpolitischen Menschen sind solche Beiträge eine große Versuchung. Nach der Krim ist das Leben in der Geschichte unbequem geworden. Eine militärische Intervention in das Leben eines anderen Volkes zu heroisieren, fiel der Bevölkerung sogar in der Sowjetzeit schwer – das galt für die Zeit des Finnischen-Sowjetischen Kriegs und für Afghanistan. Es musste eine Erklärung gefunden werden, die einen mit der Realität versöhnt. Heroismus zum Schutz der eigenen Grenzen wird nicht in Frage gestellt. Ein Truppeneinmarsch, um andere zu erobern oder Unerwünschtes zu unterdrücken, stößt hingegen auf inneren Widerstand. Um eine Aggression zu rechtfertigen, muss man Grenzen als bedingt denken, und erklären, dass sie nicht mit denen auf der Landkarte übereinstimmen. Genau das geschieht derzeit: Die imaginierte Grenze verläuft wieder nicht so wie auf der realen Karte, und überall, wo die imaginierte Russki Mir (dt. „Russische Welt“) liegt, stößt sie mit der imaginierten NATO zusammen.
Revisionistische Historiker konstruieren bekanntermaßen häufig jahrelang alternative Beschreibungen der Realität, einfach in dem Bestreben, dem Mainstream etwas entgegenzusetzen. Solange das nicht von Propagandamachern aufgegriffen wird, bleibt diese alternative Geschichte eine Randerscheinung. Jetzt aber fallen die Interessen des Kreml und der Alternativler zusammen. „Reptiloide verüben einen Anschlag auf den Code der russischen Zivilisation.“ So lautet das wichtigste Thema der aktuellen geopolitischen Forschung.
Alternative Geschichtssschreibung
Der Bruch des so genannten „zivilisatorischen Codes“ ist keine Metapher. Diesen Begriff verwenden sowohl Wladimir Putin als auch Patriarch Kirill. Dadurch entsteht ein stabiles Schema, in das sich jedes Ereignis einfügt, eben auch die Operation Donau: Die Tschechen und Slowaken werden schlicht zu Geiseln in der großen Schlacht zwischen den „Russen“ und den „Reptiloiden“: 1968 haben Soldaten der NATO in Tschechien die Russische Welt angegriffen, und mit ihnen haben auch Kräfte angegriffen, deren Ziel es ist, unseren „zivilisatorischen Code“ zu zerstören.
Das Problem ist, dass im Rahmen des zweiten „Aufstands der Massen“, nämlich während des explosionsartigen Wachstums der Internetkommunikation, jeder, der Inhalte produziert – und seien sie auch noch so irrsinnig – ohne Weiteres seine eigene Sekte bilden kann. Gleichzeitig werden die klassischen Institutionen zur Wissenserzeugung geschwächt und verlieren in der Gesellschaft insgesamt an Autorität. Die Schüler werden nicht bei den Positionen der Lehrbücher verharren – sie werden leicht in Sekten hineingezogen, die alternative Interpretationen verbreiten. Und ein junger Putinscher Karrierist wird gern bereit sein, ein neues Geschichtsschema zu vertreten, in dem überall auf der Welt „undankbare Völker“ den imaginierten Umfang eines „unendlichen Russland“ säumen.
Der Chef des Europastudios von Rossija wie auch Russia Today verfügen heute über riesige Möglichkeiten, nach Belieben und vollkommen ungestraft die Figuren auf dem Schachbrett der Geschichte umzustellen und anstelle der Konstellation, die sich aus jahrelanger Forschungsarbeit qualifizierter Historiker ergibt, eine neue herzustellen. Können die Historiker heute – als akademische Institution – dem zweiten „Aufstand der Massen“ und der Revolution der Internetmeinungen etwas entgegensetzen?
Was können Historiker den Internetmeinungen entgegensetzen?
Der Einmarsch in die Tschechoslowakei 1968 ist in der politischen Geschichtsbetrachtung der Russen und Tschechen längst abgehakt und wird von der Samtenen Revolution von 1989 überdeckt. Bis zur Krim, die alle Sinnkonstruktionen des Innenlebens der Russischen Föderation deformiert hat, ist jedwede Revision der sowjetischen Epoche sinnlos gewesen: In postsowjetischer Zeit wurden die Beziehungen der Völker auf der Basis derjenigen Wege wiederhergestellt, die die jeweiligen Länder des ehemaligen Ostblocks und die ehemaligen Republiken der UdSSR selbstständig einschlugen.
Nun aber, nach der Annexion, gedenkt der Kreml in dieser [revisionistischen – dek] Weise nicht nur des Einmarsches in die Tschechoslowakei, er wird 2019 auch die Samtene Revolution in diesem Sinne interpretieren. Sie muss – wie jeder andere Protest – als „Orangismus“ und „äußere Einmischung“ verstanden werden. Die Hauptlinie dieses Gedankenschemas lautet: Soldaten der NATO greifen von allen Seiten an, und mit ihnen Reptiloide, die unsere Identität zerstören. Diese Linie ist unendlich. Auf ihr kann man keinen Punkt setzen. Und nicht – jedenfalls nicht allein Kraft des Verstandes – zu einem gesünderen Geschichtsverständnis zurückkehren.
Die Angliederung der Krim hat einen fürchterlichen Dienst geleistet
Wenn du im Kopf erst einmal ein „Veteran“ dieses Krieges bist, wirst du ihn auch mit 80 Jahren noch führen. Die Krim hat einen fürchterlichen Dienst geleistet: Seine Strahlung wird noch lange Zeit junge Leute zu Veteranen eines imaginierten globalen Krieges machen.
Sämtliche Puzzles der Geschichte werden neu angeordnet, alle realen Kontexte zerstört, alle Fragen von Schuld und Verantwortung durcheinander gebracht – und alle Völker werden dastehen als feige Verräter oder naive Dummköpfe, die den eigenen Vorteil nicht begreifen, den ihnen die brüderliche Hilfe des Kreml bringt. Das ist das Fazit des Jubiläums der Operation Donau, wenn man sich den Beitrag des staatlichen russischen Senders anschaut.
Unbekannte Angreifer haben in der Nacht auf Dienstag in der Zentralafrikanischen Republik drei russische Staatsbürger getötet: den Dokumentarfilmer Alexander Rastorgujew, den Kriegsreporter Orchan Dshemal und den Kameramann Kirill Radtschenko.
Die Journalisten waren seit dem 28. Juli in dem Bürgerkriegsland unterwegs. Für das Online-Medium ZUR des Oligarchen Michail Chodorkowski arbeiteten sie an einem Film über die russische Söldner-Einheit Wagner. Das Militärunternehmen wird dem Putin-Vertrauten Jewgeni Prigoshin zugeschrieben. In der Vergangenheit geriet es immer wieder in die Schlagzeilen wegen mutmaßlicher Beteiligung an den Kriegen in der Ostukraine und in Syrien.
Rastorgujew, Dshemal und Radtschenko wollten nach Angaben des Journalisten Rodion Tschepel Hinweisen auf Russen in Militäruniform nachgehen, die angeblich in der Zentralafrikanischen Republik immer wieder gesichtet wurden. Bereits im Juni hatte die Novaya Gazeta über russische Staatsbürger in der Zentralafrikanischen Republik berichtet, die dort als Militärausbilder sowie möglicherweise auch als Leibwache des Präsidenten tätig sind.
Der Angriff soll sich nahe der Stadt Sibut ereignet haben, wie der dortige Bürgermeister der Nachrichtenagentur Reuters berichtete. Näheres über die Täter ist bislang nicht bekannt. Laut einer Studie des Forschungsinstituts IPIS vom Dezember 2017 sind bewaffnete Wegelagerer auf den Straßen der Zentralafrikanischen Republik keine Seltenheit. Die politische Lage in dem Land, das zu den ärmsten der Welt zählt, ist äußerst instabil. Seit Ausbruch des Bürgerkrieges 2013 sind tausende Menschen ums Leben gekommen.
Die Novaya Gazeta und Meduzaveröffentlichten Nachrufe von Journalisten an ihre verstorbenen Kollegen.
[bilingbox]Maxim Schewtschenko: Er kannte keine Angst. Konnte sich einfach nicht fürchten. Er ging immer auf Gefahren zu – selbst wenn das zuweilen ziemlich unvernünftig war. In Donezk lief er vor meinen Augen mitten im Feuer, er ging aufrecht und schwang seinen Stock – seit einer Verletzung hinkte er. Rundum gingen Minen hoch, alle lagen, aber er stand aufrecht, ohne sich zu verstecken. Ich wusste, dass er in die Zentralafrikanische Republik wollte. Er wollte mit anderen Journalisten, die dort arbeiten, etwas zu TschWK Wagner machen. Ich wollte ihm das ausreden: „Wozu? Hier ist genug zu tun, ein Haufen Arbeit liegt hier.“ Er wollte mit einer knackigen, unglaublichen Reportage in den großen Journalismus zurückkehren, aus dem er nach einer schweren Verletzung in Libyen verschwunden war. Und so ist er dorthin gefahren, denn rationale Erwägungen, Worte wie „das ist gefährlich“ haben ihn nie von etwas abgehalten. Denn wo es gefährlich war, da war Orchan. Orchan war in der letzten Zeit der beste Journalist in unserem Land. Er war während des Krieges in Südossetien. Mit dem Fotoapparat in der Hand lief er in den Reihen der angreifenden Soldaten mitten im Feuer. Hat darüber ein wunderbares Buch geschrieben. Er war im Donbass und an weiteren Orten. Orchan ist den Tod eines echten Kriegsreporters gestorben. Er war der mutigste Mensch, den ich im Leben kannte. Er war ein wunderbarer Mensch.~~~Максим Шевченко: Это был человек, который не знал страха. Он просто не умел бояться. Он шел всегда навстречу любой угрозе — даже порой несколько безрассудно. На моих глазах в Донецке он ходил под огнем в полный рост, так, размахивая палочкой — он хромал после ранения. Вокруг рвались мины, все лежали, а он стоял в полный рост, даже не прятался.
Я знал, что он собирается в Центральноафриканскую республику. Он собирался делать материал о «ЧВК Вагнера» вместе с другими журналистами, которые там работают. Я его отговаривал от этого: «Зачем? Тут полно дел, полно работы здесь». Он вообще хотел вернуться с каким-то ярким, невероятным репортажем в большую журналистику, из которой он выпал после тяжелого ливийского ранения. И он поехал туда, поскольку его никогда не останавливали рациональные рассуждения, слова «это опасно». Потому что там, где было опасно, там был Орхан. Орхан был лучший журналист последнего времени в нашей стране. Он был во время войны в Южной Осетии. С фотоаппаратом в руках шел с цепями атакующих десантников — под огнем. Написал об этом прекрасную книгу. Он был на Донбассе, он был в других разных местах. Орхан умер смертью настоящего военного журналиста. Орхан был храбрейший из людей, кого я знал вообще в жизни. Это был прекрасный человек.[/bilingbox]
[bilingbox]Nadeshda Keworkowa: Er war der große Sohn eines großen Vaters. Er war Muslim, der bei allem, was er tat, Muslim blieb. Seine gesamte journalistische Arbeit war der Gerechtigkeit gewidmet. Er war immer da, wo es brannte. Ein unglaublich, übermenschlich mutiger Mensch. Er war der beste Journalist der muslimischen Gemeinschaft, und bei dem Sturm, den wir alle gerade spüren, ist das ein großer Verlust. Ein unersetzlicher Verlust.~~~Надежда Кеворкова: Великий сын великого отца. Это был мусульманин, который оставался мусульманином, что бы он ни делал. Вся его журналистская работа была посвящена справедливости. Он был, конечно, на острие. Человек невероятной, нечеловеческой храбрости <…> Это был самый лучший журналист мусульманского сообщества, и по тому шквалу, который мы все ощущаем, это большая утрата. Я бы даже сказала невосполнимая.[/bilingbox]
Alexander Rastorgujew
[bilingbox]Andrej Loschak: Letztes Jahr haben wir an ähnlichen Geschichten gearbeitet. Ich habe einen Film über die ehrenamtlichen Helfer von Alexej Nawalny gedreht, war in allen Landesteilen, in denen es Regionalbüros gibt. Und Sascha hat fürs deutsche Fernsehen einen Film über die russischen Wahlen gedreht, zu dessen Protagonisten auch Nawalny gehörte. Wir sind uns in dieser Zeit oft begegnet. Ich war immer davon fasziniert, wie professionell er arbeitet. Dabei muss man sagen, dass ich auch ziemlich neidisch war, wir haben ja dasselbe gemacht und waren Konkurrenten. Ich habe viel von ihm gelernt. Mut, und Freiheit … Ich habe mich beim Fernsehen immer an ein bestimmtes Genre gehalten, er aber hatte keine Genres – er war ein freier Mensch und ein mutiger. Auch sein Tod macht das deutlich.
Ich war in einer ähnlichen Situation: Ich sollte auch in die Zentralafrikanische Republik reisen, um einen Beitrag für den Aurora-Preis zur Förderung der Menschlichkeit zu drehen. In der Zentralafrikanischen Republik gab es einen Geistlichen, der Menschen rettete während des Bürgerkriegs, der dort schon jahrelang andauert. Wir sollten dorthin, hatten schon Logistik und Sicherheit durchgeplant und sogar einen Geleitschutz der UN-Blauhelme arrangiert. Aber im letzten Moment haben die Organisatoren unsere Leben gerettet, indem sie uns rieten, nicht in diesen Teufelskessel zu fahren und irgendwas aus den Archiven zu nehmen.
Tja, und Sascha ist gefahren.~~~Андрей Лошак: В последний год мы работали над похожей историей. Я делал фильм про волонтеров Алексея Навального, ездил по всем регионам, где были штабы. А Саша снимал фильм для немецкого телевидения про российские выборы, и одним из главных героев в нем был Навальный. Мы пересекались часто. Я всегда заворожено смотрел на то, как профессионально он работает. Но при этом, надо сказать, сильно ревновал, потому что мы делали одно и то же и, конечно же, друг с другом соревновались, конкурировали. Я у него учился многому. Смелости какой-то, свободе… Я работал на телевидении в рамках определенного жанра, а у него этих жанров не было — он был свободный человек и смелый. И смерть его это подтверждает.
У меня была подобная ситуация: я тоже должен был поехать в ЦАР на съемку ролика для гуманитарной премии «Аврора». В ЦАР был священник, спасавший людей во время гражданской войны, которая там не прекращается уже много лет. И мы должны были туда ехать, прорабатывали логистику и безопасность, даже договорились, что у нас будет конвой ООН. Но в последний момент организаторы спасли нам жизнь, сказав собрать что-нибудь на архивах и посоветовав не лезть в это пекло.
А вот Саша полез.[/bilingbox]
[bilingbox]Vitali Manski (Meduza): Während ich mit Ihnen rede, läuft gerade der Fernsehsender Doshd, mit Newsticker, dass Orchan Dshemal, Alexander Rastorgujew und Kirill Radtschenko ums Leben gekommen sind.
Alle drei Tode sind eine riesige Tragödie. Doch die Gesellschaft erkennt das Niveau und die Größe von Rastorgujews Persönlichkeit nicht an. Denn er hat mit der Sprache des Dokumentarfilms Kunstwerke geschaffen. Zu der Zeit, als es noch keine Filme gab, haben so etwas die großen russischen Schriftsteller wie Tolstoi und Gogol getan: Sie haben das russische Dasein beschrieben – mit all seiner Größe und seinem Dreck, seiner Sauberkeit und einer Art Dürftigkeit, der Breite und der Enge, im riesigen Ausmaß der russischen Widersprüchlichkeit. Rastorgujew war ein begnadeter Künstler. Zumindest soll sein Tod, zum Teufel damit, die Menschen wachrütteln und dazu bringen, seine Epen anzusehen. Er hat sich reingefressen ins Leben und festgebissen, ist in sein Nervenzentrum vorgedrungen – und hat dort geatmet. Nur dort konnte er existieren – das ist eine einzigartige, einmalige Eigenschaft. ~~~Виталий Манский (Meduza): Сейчас я с вами разговариваю, у меня перед глазами «Дождь», и идет такая строка, что Орхан Джемаль, Александр Расторгуев и Кирилл Радченко погибли. Все три смерти — это огромная трагедия. Но общество не осознает уровень и масштаб личности Александра Расторгуева. Потому что он языком документального кино создавал такие художественные произведения, которые когда-то, когда еще не было кинематографа, делались великими русскими писателями — Толстым, Гоголем, — описывавшими русское бытие, со всем его величием и грязью, чистотой и какой-то скудостью, широтой и узостью, во всем огромном диапазоне российского противоречия. Расторгуев был выдающийся художник. Хотя бы смерть, черт возьми, должна людей встряхнуть и заставить посмотреть эти его эпосы.
Он въедался, вгрызался в жизнь, залезал в ее подкорку — и там он дышал. Он мог существовать только в этом пространстве — это совершенно уникальное, неповторимое свойство.
Sie hatten die Gesichter grün bemalt, in Solidarität mit Oppositonspolitikern, die immer wieder mit Seljonka bespritzt werden, hielten Badeentchen in die Höhe: Unter den landesweit tausenden Demonstranten im März 2017 waren auffallend viele Jugendliche. Die Proteste damals waren laut Beobachtern die größten Demonstrationen in Russland seit den Bolotnaja-Protesten 2011/12.
Aufgerufen zur Anti-Korruptions-Demo hatte damals der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny. Zuvor hatte er mit seinem Fonds für Korruptionsbekämpfung Vorwürfe gegen Premier Medwedew publik gemacht. Außerdem hatte der Handymitschnitt von Schülern Furore im Runet gemacht, die ihrer Lehrerin und Direktorin politisch Paroli boten.
Was für eine Generation ging da auf die Straße? Was treibt sie an? Und was sind ihre Ziele? Der bekannte Journalist Andrej Loschak spürt solchen Fragen in der mehrteiligen Filmdoku Wosrast Nessoglassija (dt: „Alter des Nicht-Einverstanden-Seins“) nach, die im unabhängigen TV-Sender Doshd ausgestrahlt wurde. Ein Interview.
Katerina Gordejewa: Wessen Idee war es, eine Serie über junge Nawalny-Anhänger zu drehen?
Andrej Loschak: Ich habe keine Ahnung, was ich gemacht hätte, wenn das ein Auftrag gewesen wäre. Wenn Nawalny vorgeschlagen hätte: „Hör mal, willst du nicht einen Film über uns drehen?“ Ich bin mir nicht sicher, ob ich den angenommen hätte – bei all meiner, sagen wir mal, tiefen Sympathie für diese Gruppe.
Warum hast du beschlossen, das zu drehen?
Wie so viele – ich glaube, auch du – habe ich mich im März 2017 gefragt, was denn da für Leute auf die Straßen gehen. Warum so viele Jugendliche, was das für ein Protest ist, der demografisch und inhaltlich so anders ist als das, was es bisher gab. Ich wartete dann auf die nächste Protestaktion, um zu prüfen: Ist das wirklich eine wichtige Geschichte oder eine Ente, die zur Sensation aufgeblasen wird.
Was ist das für ein Protest, der demografisch und inhaltlich so anders ist als das, was es bisher gab?
Am 12. Juni 2017 ging ich auf den Puschkinskaja-Platz. Und war echt baff, dass ich dort keinen einzigen Bekannten traf. Keinen von denen, mit denen ich immer demonstriert hatte. Alles war anders. Alles wirklich junge Leute. Mit guten Gesichtern. Ich war beeindruckt: Wie sie reagierten, wie sie Widerstand leisteten. Sie waren keine Extremisten, wie etwa die Nationalbolschewiken und andere radikale Gruppierungen, die 2012 protestiert hatten. Nein. Vollkommen normale und sehr gesunde Menschen. Viel gesünder als die erwachsene Gesellschaft, die sie umgibt. Wobei es an diesem Tag auf dem Puschkinskaja-Platz gar keine erwachsene Gesellschaft gab. Wir haben diesen Protest nicht unterstützt, nicht demonstriert, nur zugesehen, wie Putin vor unseren Augen voller Selbstvertrauen und unausweichlich seine nächste Amtszeit antritt.
Du springst von der Beobachtung zur Schlussfolgerung: Erstens bist du der Meinung, Veränderungen könne man nur mit Straßenprotesten herbeiführen. Und zweitens: Wenn wir bei diesen Straßenprotesten nicht dabei waren, heißt das, dass nun nicht mehr wir die Welt verändern werden, sondern die Jungen. Uns bleibt nur mehr, auf sie zu hoffen und in der Warteposition zu verharren. So?
Ja. Wir waren und sind nicht dabei, und das heißt, die Entscheidung liegt nicht mehr bei uns.
Aber es gibt noch eine, zudem tragische, Parallele: Sie sind die erste (wieder!) Generation, die keins auf den Deckel bekommen hat. Sie haben 2012 und die darauf folgende bittere Enttäuschung nicht miterlebt, keine Repressionen und Strafen erfahren, sie kennen den scheußlichen Beigeschmack des Bolotnaja-Prozesses nicht und die maßlose Reaktion darauf, die, wie mir scheint, uns alle ertränkt und begraben hat. Erinnerst du dich an die Meme über Moder und Ausweglosigkeit? Mit dieser Stimmung sind wir einfach nicht fertig geworden.
Was wir vor allem nicht gemacht haben: Wir haben die Proteste nicht fortgesetzt. Waren denn viele von uns bei Verhandlungen im Bolotnaja-Prozess? Ich persönlich war auf keiner einzigen. Ich war nur bei einer Demonstration vor dem Gerichtsgebäude, wo etwa 300 bis 500 Leute zusammenkamen. Die haben alle ordentlich was abgekriegt, die OMON hat gewütet.
Wer wusste davon? 99 Prozent von denen, die 2012 auf dem Bolotnaja-Platz waren, haben das lieber vergessen. So sieht bei uns kollektive Verantwortung aus. Dabei hatten die sich Leute aus unserem engsten Kreis gegriffen. Unsere politisch Gleichgesinnten. Und wir haben sie verraten. In Massen hätten wir vor dem Gericht stehen sollen und nicht aufgeben dürfen. Wenn Zehntausende bei Gericht erschienen wären, hätte das für die Situation einen realen Unterschied gemacht.
Glaubst du das?
Wie wir sehen, bewirkt der gesellschaftliche Druck etwas. Ich weiß nicht, ob Dmitrijew ohne diesen Druck nicht doch neun Jahre bekommen hätte. Die Bolotniki hatten keine breite gesellschaftliche Unterstützung. Das ist unser Versäumnis. Meines. Außerdem habe ich Schuldgefühle den Teenies gegenüber, denen wir kein Vorbild waren und die wir jetzt, jung wie sie sind, für das kämpfen lassen, wofür wir selber nicht gekämpft haben.
Ich habe Schuldgefühle den Teenies gegenüber, die wir jetzt für das kämpfen lassen, wofür wir selber nicht gekämpft haben
Wären wir verantwortungsbewusster gewesen, müssten sie das nicht machen. Sie könnten sich jetzt friedlich ihrer Ausbildung widmen und an ihre Karriere denken. Wegen unserer Untätigkeit leben sie nun in einem Land, in dem die Notwendigkeit zu kämpfen nur immer dringlicher wird.
Die Jugend braucht doch immer Widerstand. Pubertierende begeistern sich mal für Musik, mal für Kino, und mal eben für Politik. Ich glaube, das ist nichts Besonderes, was nur in unserer Zeit oder in unserem Land so wäre. Und das hat nichts mit unserer Schuld zu tun.
Da bin ich anderer Meinung. Ich habe sehr lange keine politisierte Jugend mehr gesehen. Früher war Politik – auch für uns – uncool, uninteressant, man hatte ein derart infantiles Verhältnis dazu, dass ehrlich gesagt Hopfen und Malz verloren waren.
Die Kindheit deiner neuen Helden aus Wosrast Nessoglassija ist auch kein Honiglecken. Aber sie sind offenbar zu ganz anderen Menschen herangewachsen. Warum?
Sie sind weniger infantil. Erstens sind sie, nach russischem Maßstab, in einer Zeit mit relativ hohem Lebensstandard aufgewachsen. Zweitens sind sie die erste Generation, die mit dem Internet und nicht mit dem Fernsehen großgeworden ist.
Aber doch nicht mit Nawalny!
In gewissem Sinne doch! Als Politiker ist auch er gemeinsam mit ihnen im Internet großgeworden.
Aber es geht nicht nur um ihn. Sie sind mit konkreten Entwicklungen unzufrieden. Weil die, ehrlich gesagt, ziemlich scheiße sind. Und die junge, unverdorbene Seele muss nach dem Ideal streben, eine Abweichung vom Ideal muss Protest auslösen und nicht den Wunsch nach Anpassung. Also sind jetzt Leute da, bei denen das alles eine normale Reaktion auslöst. Nicht wie bei uns. Wir haben unsere Chance verpasst.
Rückblickend bin ich über mich selbst entsetzt: Wie verantwortungslos ich generell mit Politik umgegangen bin
Infantile Volltrottel waren wir. Rückblickend bin ich über mich selbst entsetzt: Wie verantwortungslos ich generell mit Politik umgegangen bin, als wir uns darum hätten kümmern müssen. In den 1990ern hatten wir das Gefühl, wir hätten mehr oder weniger die richtige Richtung eingeschlagen. Dieses ganze Spektakel – die „Familie“, Beresowski, der betrunkene Jelzin – war mir zutiefst zuwider, beeinträchtigte mein Leben jedoch nicht, aber als Putin auftauchte, spürte ich intuitiv, dass jetzt eine irreparable Megascheiße beginnt. So war es auch.
Was meinst du, denkt die Generation von Wosrast Nessoglassija auch so geringschätzig über uns, die wir unsere Chance verpasst haben?
Weiß der Geier. Diese Leute sind sehr viel verantwortungsbewusster. Sie diskutieren wirklich viel über Politik, Geschichte, das interessiert sie. Nawalny könnte sie nicht faszinieren, wenn sie nicht innerlich dazu bereit wären. Es sind fast noch Kinder, die ins Büro kommen, um Sticker abzuholen. Für sie ist die heutige Politik so etwas wie Mode – es ist einfach in. Wie es einer in dem Film ausdrückte: „Ich will nicht im Mittelalter leben.“ Sie beginnen, die Verantwortung für ihre Zukunft zu übernehmen.
Interessanterweise sagen ältere Leute, die die Serie sehen: „Oh, die Armen, was wird bloß aus denen werden.“ Sie geben sie von vornherein auf, projizieren ihre eigene Erfahrung auf sie, die traurige historische Erfahrung des Landes. Auf die Jüngeren wirkt Wosrast Nessoglassija eher ermutigend, es lässt hoffen. Obwohl alle Zuschauer erschrocken und schockiert sind, wie die staatlichen Strukturen Andersdenkende bekämpfen.
Und wie ist das für dich – hast du mehr Angst um sie oder mehr Hoffnung?
Ich würde gern glauben, dass meine Protagonisten Teil einer unvermeidlichen Evolution sind. Also du weißt ja, was im so genannten dritten Sektor passiert. Du siehst ja, wie sich die Gesellschaft zum Besseren verändert. Und dass diese Kids auftauchen, das bringt eine Veränderung zum Ausdruck, das sind die ersten sprießenden Keime des nahenden Frühlings.
Kürzlich wurde bekannt, dass einer der Helden in deinem Wosrast Nessoglassija, Jegor Tschernjuk, von Beamten des Extremismuszentrums festgenommen, in die Musterungsbehörde gebracht und für militärdiensttauglich befunden wurde. Woraufhin ein Strafverfahren wegen Verweigerung des Wehrdiensts gegen ihn eingeleitet wurde. Was geschah weiter?
Weiter fuhr Jegor nach Hause, stopfte seine Sachen in den Rucksack, verabschiedete sich von seinem Vater und reiste aus. Er hatte genau einen Abend, um zu verschwinden – am nächsten Tag war er bei der Ermittlungsbehörde vorgeladen. Der Vorteil eines Lebens in Kaliningrad ist, dass dich das feindliche Europa von allen Seiten umgibt, der Bus nach Vilnius kostet 800 Rubel.
Natürlich schaffte es Jegor nur mit großen Abenteuern raus. Er wurde schon vorher an einer prestigeträchtigen Universität aufgenommen, wird in den USA studieren und ein Stipendium beziehen. Das Extremismuszentrum hat seine Abreise nur beschleunigt, jetzt muss er sein Studentenvisum früher beantragen.
Er hat also mit der Heldentradition der unzufriedenen Generationen vor ihm – im Land zu bleiben und sich selbst zu opfern – gebrochen?
Na ja, von den sowjetischen Dissidenten sind bei weitem nicht alle geblieben – das waren vereinzelte Helden wie Martschenko und Bukowski, der später gewaltsam des Landes verwiesen wurde. Der aktuelle Leviathan ist schäbig und kraftlos, das absolute Böse reizt ihn nicht, er ist einfach „graue Schmiere“. Blöd wäre man, die besten Jahre in einer russischen Strafkolonie abzusitzen, wenn man die Möglichkeit hat, Computertechnologien dort zu studieren, wo sie erzeugt und entwickelt werden.
Blöd wäre man, die besten Jahre in einer russischen Strafkolonie abzusitzen, wenn man Computertechnologien dort studieren kann, wo sie entwickelt werden
Jegor hat, finde ich, seinen Beitrag für die Heimat geleistet, indem er ein Jahr lang Nawalnys Mitarbeiter koordinierte und 15 Tage in Verwaltungshaft saß. Soll er doch in Zukunft das normale Leben eines modernen Menschen führen und sich nicht mit einem hinsichtlich seines Erfolgs so zweifelhaften Unterfangen wie der Rettung Russlands abmühen. Sein Verstand und sein Wissen werden, so Gott will, auch hierzulande noch nützlich sein. Nicht unter dieser Regierung natürlich.
Deinem Film nach zu schließen, sind sie bereit, nach ihren Demos ins Ausland zu gehen.
Ganz so ist das nicht. Aber ein gewisser Teil wandert natürlich aus. Weißt du, warum ich gleich zwei Helden reingenommen habe, die nach Amerika wollen? Mir war wichtig zu zeigen, dass Amerika für sie nichts Feindliches ist. Für sie ist es eine logische Möglichkeit, ihre Ausbildung fortzusetzen, sich zu entwickeln, Geld zu verdienen, und sie verstehen, dass Amerika ihnen objektiv gesehen tausendmal mehr Chancen gibt als Russland.Alle diese Schauermärchen von wegen der Westen sei unser Feind beeindrucken sie überhaupt nicht. Sie sind im Internet aufgewachsen, wo es keinerlei Grenzen gibt, sprechen Englisch auf einem Niveau, auf dem sie im englischsprachigen Netz surfen können.
Sie wissen, dass Amerika ihnen tausendmal mehr Chancen gibt als Russland. Alle diese Schauermärchen von wegen der Westen sei unser Feind beeindrucken sie überhaupt nicht
Auch das ist ein wichtiger Unterschied zwischen ihnen und uns, der Generation der 1990er. Wir haben Hollywood-Filme geschaut und uns ein ideales Bild ausgemalt. Aber heute kann sich jeder junge Mensch in sozialen Netzwerken mit Gleichaltrigen unterhalten, sich in Einzelheiten vertiefen und verstehen, was dort tatsächlich Sache ist.
Nach dem Start der Serie Wosrast Nessoglassija gab’s natürlich einen Hype um die Jungs, sie hatten sofort einen Haufen Freunde in der ganzen Welt gefunden; der eine oder andere studiert bereits an einer Hochschule der Ivy League, gibt ihnen Tipps, bietet Hilfe bei der Wohnungssuche.
Aber für sie wie für mich ist das Wesentliche an dieser Geschichte, dass sie konkret im Jahr 2017 versucht haben, etwas zu verändern.
Glaubst du wirklich, dass man, um die Welt zu verändern, unbedingt Nawalny folgen muss?
Im vergangenen Jahr gab es keine anderen Möglichkeiten. Aber auch diese Chance haben wir verpasst und haben uns niemandem angeschlossen. So haben wir uns die kommenden sechs Jahre unseres Lebens von vornherein versaut, einfach weil wir den richtigen Moment verpasst haben. Unsere Skepsis, unser Unglaube, dass man überhaupt etwas verändern kann, dass es Menschen gibt, die etwas verändern können, haben verhindert, dass Nawalnys Kampagne ein neues Niveau erreicht.
Die unerschrockene Jugend ist allein geblieben – und muss jetzt auch allein die Rechnung begleichen: Den einen verweisen sie von der Universität, den anderen stecken sie in Soldatenuniform, der nächste steht überhaupt schon mit einer völlig an den Haaren herbeigezogenen, fabrizierten Anklage vor Gericht.
Ich weiß nicht, ob sie dazu mit allen Konsequenzen bereit waren, jedenfalls haben sie es in Kauf genommen. Und wir sitzen da und sehen zu.
Da tun sich nun auch Leute zu lokalen Protesten zusammen – etwa gegen Mülldeponien in Wolokolamsk, Kolomna und so weiter. Vielleicht ist das für die Mehrheit ein vertretbarer Weg zu Veränderungen?
Ich glaube das nicht. Und lege keine Hoffnungen in spontane Proteste. Das ist, als wolle man ein sinkendes Schiff retten, das ständig irgendwo leckt: Man flickt es hier, dann da, aber sinken wird das Schiff trotzdem!
Ich lege keine Hoffnungen in spontane Proteste. Das ist, als wolle man ein sinkendes Schiff retten, das ständig irgendwo leckt: Man flickt es hier, dann da, aber sinken wird das Schiff trotzdem
Ohne politische, institutionelle Veränderungen wird, scheint mir, nie etwas passieren. Und politische Veränderungen verlangen die Entscheidung eines jeden von uns. Es ist dumm, auf spontane Proteste zu hoffen, darauf, dass der Westen mit immer neuen Sanktionen etwas bewegt, oder dass Putin krank wird: Ich höre oft, wie das jemand mit träumerischer Miene sagt. Sogar auf die besagte Jugend zu hoffen ist dumm. Das ist alles nur die Abwälzung der Verantwortung auf die Schultern anderer. Wenn wir Veränderungen wollen, brauchen wir eine massive, bewusste politische Vereinigung.
In Wosrast Nessoglassija stört mich, dass es die „Leute mit guten Gesichtern“ bei dir nur auf einer Seite gibt – bei Nawalny. Die andere Seite vertreten vom Fernsehen gehirngewaschene Omas. Aber die tun mir eher leid. Hast du keine anderen Gegenüber für deine Protagonisten gesucht?
Diesem Vorwurf stimme ich zu, ich nehme ihn anstandslos an. Obwohl ich der Meinung bin, dass die Omas der Otrjady Putina im Film eine sehr wichtige Linie sind. Vor allem das, was in der letzten Folge mit ihnen passiert, als sie beginnen, über ihre Renten zu diskutieren, wo sie sich endlich an die Kamera gewöhnt haben und sich nicht mehr so wichtigmachen müssen. Andere Putinisten, die sich organisch in die Geschichte eingefügt hätten, hatten wir nicht – die Eltern und Lehrer der Protagonisten trauten sich nicht, Interviews zu geben. Auch das ist sehr bezeichnend.
Die Eltern und Lehrer der Protagonisten trauten sich nicht, Interviews zu geben. Auch das ist sehr bezeichnend
Offen bleibt die Frage: Unterstützen sie Putin wirklich oder haben sie Angst vor ihm? Ich glaube, sie haben eher Angst, als dass sie ihn unterstützen. Leute, die sich im Recht fühlen, würden wohl kaum ein Gespräch zurückweisen. Ich habe viele Audioaufnahmen, die die jüngsten Nawalny-Anhänger gemacht haben, als ihnen die Lehrer auf Befehl von oben die Gehirne wuschen. Wie infantil und erbärmlich klingen doch diese Erwachsenen und wie erwachsen argumentieren die Kinder dagegen!
Wie wichtig ist für deine Protagonisten der Glaube an Nawalny? Gibt es in diesem Umfeld einen Nawalny-Kult?
Ich habe da überhaupt keinen Nawalny-Kult wahrgenommen, von dem oft gesprochen wird, nichts dergleichen.
In deinem Film wird er ständig Alexej Anatoljewitsch genannt. Das fand ich nervig.
Er ist 20 Jahre älter, er könnte ihr Vater sein. Das ist normal. Seltsam wäre, wenn sie ihren Kandidaten Ljoscha nennen würden.
Du und ich, wir sind offenbar die einzigen aus unserem letzten Team bei NTW, die keine Chefs und keine Downshifter geworden sind, nicht in PR oder Business gelandet sind, sondern unseren Beruf beibehalten haben. Ein gewisses Gefühl, keinen Platz im System ergattert zu haben, lässt mich nicht los. Macht dir das Sorgen?
Ich bin kein eingefleischter Fan der Selbständigkeit, ich könnte nicht sagen, dass ich mich damit wohlfühle. Ich habe eine absolut unvergessliche und großartige Arbeitserfahrung mit Namedni hinter mir, danach mit Profrep. Jemandem, der so etwas nie hatte, kann man gar nicht erklären, wie paradiesisch das ist – die Arbeit in einem Team, wo alle Profis sind, wo man auf Tuchfühlung geht, Synergien entstehen. Das vermisse ich. Die Sehnsucht ist da. Aber ich stille sie von Zeit zu Zeit mit so spontanen und interessanten Team-Projekten wie Wosrast Nessoglassija – mit Drive und schlaflosen Nächten während der Postproduction. Das lindert den Phantomschmerz.
https://www.youtube.com/watch?v=TeDHrVN9NQ8
Die Dokuserie „Wosrast Nessoglassija“ gibt es im YouTube-Kanal von Doshd zu sehen.
Neue Sprache im staatlichen Ersten Kanal: Die Anmoderationen von Kirill Kleimjonow sollten nicht mehr sachlich und nüchtern sein. Das ist ihm gelungen. Ein Best of mit Kommentaren von Oleg Kaschin.
„Der Beruf des Verräters“, sagt Kleimjonow, „ist einer der gefährlichsten auf der ganzen Welt.“ Dann beginnt ein Beitrag über den vergifteten russischen Ex-Spion Sergej Skripal. Kirill Kleimjonow war zwischen Februar und Mai wieder Moderator der Abend-Nachrichtensendung Wremjaim staatlichen Ersten Kanal. Er hatte sie bereits zwischen 1998 und 2004 moderiert. Wremja ist nicht irgendeine Nachrichtensendung, sie hat die höchsten Einschaltquoten, erreicht täglich mehrere Millionen Zuschauer. Der Journalist Oleg Kaschin schreibt auf Republic:
[bilingbox]Die Sendung Wremja [dt. „Zeit“] ist zweifellos ein Symbol für Russlands TV-Staatlichkeit. Gleichzeitig ist sie wahrscheinlich mit das wichtigste Element des sowjetischen Medienerbes, das bis in unsere Tage überlebt hat. Vergleichen kann man die Sendung Wremja nur mit der Prawda. Während letztere in unserer Zeit zu einem auflagenstarken Firmenblatt der KPRF geworden ist, die nichts mehr mit der wichtigsten und größten Zeitung der Sowjetunion gemein hat, ist Wremja eine derart konstante Größe im Sendungsspektrum – als hätte sich im Land nie etwas geändert, als wäre es ewig 9 Uhr abends Moskauer Zeit.~~~Программа «Время» – бесспорный символ российской телевизионной государственности и одновременно, вероятно, важнейший элемент советского медийного наследия, доживший до наших дней; сравнить программу «Время» можно только с газетой «Правда», и если последняя в наше время превратилась в корпоративную многотиражку КПРФ, не имеющую ничего общего с главной газетой Советского Союза, то программа «Время» – это такая эфирная константа, как будто в стране никогда ничего не менялось, вечные девять часов вечера по Москве.[/bilingbox]
Das Gesicht von Wremja ist eigentlich Jekaterina Andrejewa, die die Nachrichtensendung seit 1997 moderierte, außerdem auch Witali Jelisejew. Ab Februar übernahm Kirill Kleimjonow wieder diese Rolle und machte alles anders als bisher: Aus einem neuen modernen Studio heraus ersetzte er die bislang eher nüchterne Nachrichten-Sprache in seinen Anmoderationen durch subjektive Kommentare. Nach der Amtseinführung Putins Anfang Mai diesen Jahres zog sich Kleimjonow, der seit 2016 auch im Direktorenrat des Senders ist, dann wieder hinter die Kamera zurück. Ist sein Experiment, einen neuen Ton zu finden, geglückt? Oleg Kaschin kommentiert:
[bilingbox]Wremja als Abend-Show lässt flache Witze über Grudinins Goldbarren los, bringt das unglaubliche „Fröhlicher-aber-kürzer“ über die Lebenserwartung der Russen und quittiert Skripals Vergiftung mit Schadenfreude, die der westlichen Presse als ein Beweis diente, dass die russische Regierung an dem Mordversuch des ehemaligen Spions beteiligt war.
Sieht man in Kleimjonows Experiment einen Versuch, für die Sendung Wremja eine menschliche Sprache zu finden, dann ist das Ergebnis des Experiments grausig. Es zeigt: Lieber die unmenschliche Sprache, wie bisher in der Sendung üblich, leidenschaftslos, ohne Mimik und treu dem aus fremder Feder oder auch einer Maschine vorgeschriebenen trockenen Text. Denn wenn Wremja anfängt menschlich zu sprechen, kommt dabei eben ein solches „Fröhlicher-aber-kürzer“ heraus.~~~Программа «Время» как вечернее шоу – это казарменные шуточки про золотые слитки Грудинина, невероятное «веселее, но короче» о продолжительности жизни россиян и злорадство после отравления Скрипалей, ставшее для западной прессы одним из доказательств причастности российских властей к попытке убийства бывшего шпиона. Если считать клейменовский эксперимент попыткой поиска человеческого языка для программы «Время», то итог этого эксперимента жутковат – оказывается, лучше говорить на нечеловеческом, вот как было принято в этой программе до сих пор, бесстрастно, не меняя выражения лица и не отклоняясь от написанного другими людьми, а то и машиной, сухого текста, потому что если программа «Время» начинает говорить по-человечески, то получается вот это «веселее, но короче».[/bilingbox]
Am 26. April 2017 schreibt der bekannte Blogger Ilya Varlamov auf seinem Twitteraccount: „Hallo, Stawropol) Danke @aeroflot für einen tollen Flug. Das Wetter ist großartig.“ Einige Minuten später spritzen ihm Unbekannte Seljonka ins Gesicht, einen organischen Farbstoff aus der Gruppe der Triphenylmethane, der in der russischen Hausmedizin als antiseptisches Wunderheilmittel gilt. Darauf folgten Torten und Schläge, denen der mit Säure angegriffene Blogger nichts mehr entgegensetzen konnte.
Jod, Torten und Seljonka sind die üblichen Kampfmittel der Aktivisten, von denen oppositionelle Politiker wie Alexej Nawalny oder Michail Kassjanow mehrmals angegriffen wurden. Nawalny verlor bei einem dieser Angriffe fast das Sehvermögen und musste operiert werden. Varlamov hatte allerdings Glück: Er trägt eine Brille. Schon eine Stunde später postete er den Tweet: „Mit mir ist alles ok 🙂 Schade um mein Lieblings-T-Shirt und die Technik. Ich gehe mich jetzt waschen und dann fotografiere ich die Stadt.“ Dies war der eigentliche Anlass seiner Reise nach Stawropol.
Auch wenn sich dieser Vorfall schon wenige Stunden später in einem anderen Stadtteil wiederholte, war Varlamov nicht abzuschrecken. Im Gegenteil: Er dokumentierte den Angriff und veröffentlichte die Fotos der Täter (die schließlich eine Geldstrafe in Höhe von 8 Euro bezahlen mussten1) auf seinem Blog und in den Sozialen Netzwerken. Denn die minutiöse Dokumentation von alldem, was mit ihm und um ihn herum geschieht – seien es oppositionelle Demonstrationen auf dem Bolotnaja-Platz, nationalistische Ausschreitungen auf dem Manegenplatz, die Proteste auf Maidan oder Auseinandersetzungen mit der Polizei in Hamburg während des G20-Gipfels – ist sein Hobby und Beruf.
Blogger und Fotograf
Dem breiten Publikum ist er vor allem durch seinen Blog varlamov.ru bekannt, den er unter dem Nickname Zyalt2am 5. August 2006 auf der LiveJournal-Plattform startete. Mit dem Slogan „Make Russia warm again“ schaffte er ein äußerst erfolgreiches Autorenmedium (awtorskoje SMI), das seit 2015 auf einer eigenen Domain läuft, aber immer noch bei LiveJournal integriert ist. Der Erfolg von varlamov.ru kann sich sehen lassen: Laut dem LiveJournal-Nutzer-Rating 2017 rangiert die Seite mit zwei Millionen Abonnenten auf dem ersten Platz dieser Liste und mit einigen Millionen Klicks im Monat konkurriert sie mit großen Online-Medien.
Viele Ereignisse in der jüngsten Geschichte Russlands sind den Internet-Nutzern durch seine Fotos und Videos bekannt. Varlamov gilt als Chronist der oppositionellen Demonstrationen und Kundgebungen: Der Marsch nesoglasnych (Marsch der Nichteinverstandenen), die Strategie 31, Bolotnaja, Sacharowa – zu allen diesen Ereignissen lieferte er hautnahe und anschauliche Foto-Reportagen. Varlamov befindet sich immer inmitten der Ereignisse, schreibt und berichtet über alles, worauf er trifft und was mit ihm geschieht – er kennt keine Scheu. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, warum er als Profilbild seines Blogs den als ausgelassen und rebellisch bekannten Bart Simpson ausgewählt hat, dessen Gesicht von einer Afro-Perücke – als Anspielung auf Varlamovs eigenen Wuschelkopf – mit den Farben der russischen Nationalflagge umrahmt ist.
Varlamovs Autorenmedium ist nicht nur hinsichtlich der Klickzahlen und Bekanntheit erfolgreich, sondern stellt auch ein gelungenes kommerzielles Projekt dar. Zu den Hauptthemen seines Blogs zählen neben der Beschäftigung mit den jüngsten politischen Ereignissen in Russland und anderen Ländern auch die aktuelle Lebenssituation und die Probleme des russischen Großstadtlebens.
Wegen der Betonung solcher Probleme wurde Varlamov bereits mehrmals zur Zielscheibe von Kritik. So bezichtigte ihn 2017 der Duma-Abgeordnete Wladimir Burmatow der „Auftragsschreiberei” (rus. sakasucha): Der Blogger habe für seinen niederschmetternden Bericht über einen Spielplatz in Tscheljabinsk Geld angenommen, so der Politiker. Stichhaltige Beweise blieben aus, wie auch bei den häufigen Unterstellungen seitens russischer Oppositioneller. Diese halten Varlamov manchmal vor, Auftragsschreiberei für den Kreml und ein doppeltes Spiel zu treiben. Der Journalist Oleg Kaschin, der 2012 Varlamov ebenfalls ein Doppelspiel vorgeworfen hatte,3 kürte ihn vier Jahre später zum Journalisten des Jahres 2016. Kaschin betonte jedoch dabei, dass Varlamovs Blog nur deshalb zu einem wichtigen Medium wurde, weil die mediale Landschaft drumherum zerstört oder verdorben sei.4
Kampf für schönere und lebenswerte Städte
Ausgestattet mit einer Handkamera oder einfach nur mit seinem Handy wandert Ilya Varlamov (geb. 1984) durch die Städte, filmt und kommentiert dabei nicht nur aktuelle Ereignisse, sondern auch die Beschaffenheit von Straßen, Gehsteigen und Gebäuden. Offensichtlich findet er dabei Gehör, weil er mit Humor und einfachen, klaren Worten auf Missstände und Nachlässigkeiten hinweist, bei denen andere wegsehen. Und er weiß offensichtlich, wovon er spricht: Der geborene Moskauer ist während der Perestroika und der 1990er Jahre aufgewachsen und absolvierte das Moskauer Architekturinstitut. Bereits während seines Studiums gründete er zusammen mit Artjom Gorbatschow das Studio für 3D-Visualisierung iCube, das sich nach über 10 Jahren Existenz in Moskau als erfolgreiches Unternehmen im Bereich der Stadtplanung und Architekturgrafik etabliert hat und sowohl mit großen Privatfirmen als auch mit staatlichen Behörden und der Moskauer Regierung zusammenarbeitet.
Varlamov arbeitet außerdem für die von ihm und Maxim Katz gegründete Stiftung Gorodskie projekty (dt. Stadtprojekte) – eine gemeinnützige Organisation, die sich für ein besseres und angenehmeres Leben in der Stadt einsetzt und die Miteinbeziehung der BürgerInnen für die Lösung städtischer Probleme fordert. Unterstützt von Freiwilligen, führt die Stiftung jeweils vor Beginn eines Stadtprojekts Feldstudien durch und hat dadurch beispielsweise schon ein Parkverbot auf den Gehsteigen der Twerskaja Uliza durchgesetzt. Die Stiftung arbeitet eng mit iCube R&D Group, die inzwischen von Varlamovs Frau Ljubow Varlamova geleitet wird, und der gleichnamigen Agentur Gorodskie projekty zusammen.
Gläserne Schraube
Varlamov setzt sich in erster Linie für die Verbesserung der Lebensqualität in russischen Städten ein. Als Menschenrechtsaktivist und Mitorganisator des Projekts Strana bez glupostej (dt. Land ohne Dummheiten) kämpft er gegen Verletzungen der bürgerlichen Freiheit und gegen Verwaltungsverstöße. Mithilfe von Youtube-Videos, wie beispielsweise in seinem neuen Videoprojekt Kak nam obustroit Rossiju (dt. Wie wir Russland ausbauen können), thematisiert und diskutiert er Ideen, Neuigkeiten und Projekte russischer Stadtentwicklung und Stadtplanung. Dabei tritt er in Interaktion mit seinen Followern: Ganz im Sinne der Bürgernähe sollen seine AnhängerInnen auf Probleme und Nachlässigkeiten sowie auf positive Entwicklungen in ihren Städten hinweisen, ihm Fotos schicken und neue Themen vorschlagen.
Varlamov kämpft allerdings nicht nur mithilfe von Aufklärung und Bewusstseinsschaffung in Form von Fotos, Videos oder Blogeinträgen für lebenswertere Städte und gegen Verwaltungsverstöße, sondern auch mit Witz: So hat er die Antiprämie Stekljanny bolt (dt. Gläserne Schraube) ins Leben gerufen – ein Preis, bei dem Fotos mit den schlimmsten Fehlern, Ungenauigkeiten und Pannen russischer Stadtgestaltung prämiert werden.5
Russland verändern
Ilya Varlamov will mithilfe seiner Fotos, Kommentare und Videos etwas in Russland verändern, indem er Lösungen aus anderen Ländern für ein angenehmes Stadtklima sammelt, auf Anregungen und Beobachtungen russischer BürgerInnen eingeht und diese mit seinem Fachwissen kommentiert. Mehrmals versuchte er sich auch in der Rolle des Politikers. So ist er 2012 Mitgründer der sogenannten Liga Isbiratelei (dt. Liga der Wähler) geworden, er kandidierte auch für den Posten des Bürgermeisters der Stadt Omsk und scheiterte bei der Unterschriftensammlung; im April 2018 kündigte er an, auch an den Moskauer Gouverneurswahlen teilnehmen zu wollen.
Jedoch treffen sein Engagement und insbesondere das Aufzeigen von Korruption und Schlamperei im russischen Baugewerbe nicht bei allen auf Zustimmung. Er kritisiert die Gouverneure und Bürgermeister, Bauherren und Investoren. Seine Fotoreportagen aus der russischen Provinz werfen ein Schlaglicht auf die Realitäten, die die breite Öffentlichkeit sonst nicht auf dem Schirm hat. Damit löst er oft auch Mediendebatten aus. Den Vorfall in Stawropol bringt er mit kommerziellen Interessen einer Immobilienfirma JugStrojInvest in Verbindung – er wollte ein von ihr gebautes Wohngebiet fotografieren.
Der Fall Leonid Sluzki schlägt immer höhere Wellen. Dem Duma-Abgeordneten der LDPR wird vorgeworfen, im Parlament akkreditierte Journalistinnen mehrfach sexuell belästigt zu haben. In einem Fall hat die russische BBC Sluzkis Übergriffigkeit per Audiomittschnitt dokumentiert (siehe auch unsere Debattenschau zum Thema). Am Mittwoch hatte sich nun der Ethikrat der Duma mit der Angelegenheit beschäftigt, konnte jedoch keinerlei „Verletzung von Verhaltensnormen“ feststellen.
Dies sorgte bei vielen Journalisten für große Empörung. Innerhalb kürzester Zeit verkündeten über 20 russische Medien – darunter Kommersant, Vedomosti, Novaya Gazeta, Meduza und viele weitere auf dekoder vertretene – die Zusammenarbeit mit der Staatsduma einschränken oder gar vollständig boykottieren zu wollen: Sekret Firmy beispielsweise schreibt fortan hinter jeder Erwähnung der Duma den Zusatz: „(Staatsorgan, das sexuelle Belästigung rechtfertigt)“,RBC, Echo Moskwy und eine Reihe weiterer Medien haben ihre parlamentarischen Korrespondenten abgezogen, da die Duma „kein sicherer Ort für Journalisten“ sei, wie Echo-Chefredakteur Alexej Wenediktow erklärt.
Olga Beschlej, Chefredakteurin von Batenka, beschreibt in einer Kolumne auf Colta, warum sie bei der Solidaritätsaktion Stolz empfindet auf die Presse in Russland.
Weit über 20 russische Medien verkündeten, ihre Zusammenarbeit mit der Staatsduma einschränken oder boykottieren zu wollen
Hilflosigkeit ist das Gefühl, das wir hier allzu oft empfinden. Ein Gefühl, das uns schon seit allzu langer Zeit aufgezwungen wird.
Ja, eine Gruppe von Menschen versucht ständig etwas zu unternehmen – eine Gruppe, die sogar selbst gar nicht sagen kann, welchen Anteil der Bevölkerung sie ausmacht, weil die Umfragen sie genauso belügen, wie sie den Präsidenten belügen. Diese Menschen – zu denen manchmal auch ich gehöre – unterschreiben Petitionen, machen Einzelproteste, gehen zu Demonstrationen, schreiben Texte, kratzen an den Türen von Diensträumen [hoher Beamter – dek]. Und jedes Mal dasselbe Gefühl: Von uns hängt gar nichts ab, wir können nur bitten und krakeelen, bitten und krakeelen. Und weiter Spiele spielen, deren Regeln von Betrügern gemacht werden.
Aber Hilflosigkeit wird durch aktives Handeln überwunden. Deshalb ist die Geschichte mit dem Abgeordneten Sluzki und jenem Konflikt mit der Duma, auf den sich Journalistinnen, Journalisten und ganze Redaktionen eingelassen haben, weitaus bedeutender als eine Geschichte über einen Rüpel und seine Maßlosigkeit.
Es ist auch ein Aufstehen gegen Machtmissbrauch. Auch ein Aufstehen gegen die Gewalt der Privilegierten und im Grunde auch gegen jedwede andere Gewalt. Es ist ein Aufstehen gegen gegen das herrische, konsumistische Verhältnis der Machthaber gegenüber allen anderen.
Es ist eine Geschichte darüber, dass die Geduld zu Ende geht.
Denn es gab in den letzten 18 Jahren eigentlich genug Gründe, Journalisten aus dem intransparent und unehrlich arbeitenden Parlament abzuziehen. Aus einem Parlament, das Gesetze verabschiedet hat und verabschiedet, die die Meinungsfreiheit beschneiden. Es gab auch so schon genug Gründe dafür, dass das Land aufhört, die Lügen, Rüpeleien, Gewalt und Dieberei zu tolerieren.
Niemand sollte in einem Organ der Staatsmacht arbeiten, das sexuelle Belästigung rechtfertigt. Und genau so sollte man meiner Meinung nach nicht in einem Organ der Staatsmacht arbeiten, das ein Gesetz über die Entkriminalisierung von häuslicher Gewalt verabschiedet hat.
Ich weiß nicht, ob es den Journalisten gelingen wird, im Fall Sluzki hinreichend Druck auszuüben, wenn man bedenkt, dass die Staatsmacht ihre Leute unter dem Druck der Gesellschaft nie im Stich lässt. Aber dass die Journalisten sich auf diesen Konflikt eingelassen haben, lässt einen stolz sein auf die Presse in Russland. Das ist schon keine Hilflosigkeit mehr.
Und auch kein Spiel nach aufgezwungenen Regeln.
Mich befremden die Befürchtungen einiger Menschen, dass wir ohne Journalisten in der Duma eine Informationsquelle verlieren würden. Ein professioneller Journalist – und alle Redaktionen, die ihre Kollegen abgezogen haben, sind zweifellos sehr professionell – findet Wege, um von Gesetzesinitiativen nicht nur in der unteren Kammer des Parlaments zu erfahren. Um so mehr, da die wichtigsten Gesetze nicht von Abgeordneten der Staatsduma geschrieben, sondern von der Präsidialadministration lanciert werden.
Und schließlich: Die hochkarätigste, wertvollste und gesellschaftlich wichtigste Arbeit von Journalisten in Russland findet nicht in den Räumen der Staatsduma statt. Sie findet statt bei Recherchen jener Geschichten, über die die Abgeordneten sich ausschweigen. Wenn daher in meiner Redaktion ein parlamentarischer Journalist gebraucht würde – dann nur, um ihn von dort abzuziehen.
Alles Propaganda?! Kann man das so sagen, wenn es um Berichterstattung in Russland geht? Und was ist mit dem Russland-Bild in deutschen Medien? Wie sind die finanziellen und strukturellen Bedingungen, unter denen Russland-Berichterstattung in Deutschland stattfindet? Und umgekehrt: Wie berichten russische Medien über Deutschland und den Westen? Und was sagt das jeweils über die einzelne (Medien-)Gesellschaft aus?
Katrin Rönicke im Gespräch mit Michael Thumann (Außenpolitischer Korrespondent in der Hauptstadtredaktion bei Die Zeit. Von 1996 bis 2001 war er Zeit-Korrespondent in Moskau; von 2014 bis 2015 leitete er das Moskauer Büro der Zeit) und dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher.
Am 23. Januar hatte das Investigativ-Portal Russiangate seine Recherchen über unversteuerten Immobilienbesitz von FSB-Chef Alexander Bortnikow veröffentlicht. Innerhalb weniger Stunden war die Website blockiert – ohne Vorwarnung durch die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor. Am 24. Januar war die Seite wieder zugänglich, der Artikel über Bortnikow allerdings nicht mehr darauf zu finden. Chefredakteurin Alexandrina Jelagina erklärte am gleichen Tag im Radiosender Echo Moskwy, dass ihr gekündigt worden und das Medium geschlossen worden sei, da die Investoren ihre Unterstützung zurückgezogen hätten. Der offizielle Vorwurf gegen Russiangate laute, es würde „extremistische Inhalte“ verbreiten.
Oleg Kaschin nimmt den Fall zum Anlass und thematisiert auf Republic offene und weniger offene Zensur, „durchgezogene Linien“ und ein paar Faustregeln für russische Journalisten.
„Ich verhehle nicht, dass das für das Land ein verbotenes Thema ist: Putin … das hab ich immer gesagt. Der Präsident, der Premier und der Patriarch von ganz Russland, das sind drei verbotene Themen.“ Aram Gabreljanow, Boulevardpresse-Zar der 2000er Jahre, der 2011 die Leitung der Zeitung Izvestia übertragen bekam, war wohl der erste, der so offen und laut die grundsätzlichen Beschränkungen umriss, die für ein dem Kreml gegenüber loyales (oder sogar unter dessen Kontrolle stehendes) großes Medium bestehen.
Heute ist nurmehr schwer vorstellbar, wie monströs in jenen Jahren solch ein Bekenntnis klang. Auf seine Unfreiheit stolz zu sein, sie gar leichtfertig zur Schau zu stellen, das konnte wohl nur ein Neuling auf dem Markt der „erwachsenen“ Medien fertig bringen. Zudem ein einschlägig bekannter, der in einer ganz anderen Welt großgeworden ist, wo es statt Freiheit und Grundsätzen Exklusivberichte über ein Gemetzel oder über die Hochzeit von Alla Pugatschowa (mit Maxim Galkin – die Redaktion) gibt.
Verbote sind Teil des Alltags
Mittlerweile ist klar, dass Gabreljanow einfach seiner Zeit voraus war. Die damals von ihm benannten Verbote sind innerhalb nur weniger Jahre für Medien in Russland Teil des Alltags geworden. Als 2016 die Führung von RBCwechselte, versuchten die neuen Redakteure nicht zu sagen, welche konkreten Recherchen der Grund für den Wechsel an der Holdingspitze waren. Sie bemühten vielmehr Begriffe der Straßenverkehrsordnung und beschrieben die neuen Regeln derart, dass es eine gewisse „doppelt durchgezogene Mittellinie“ gebe, die in keinem Fall überschritten werden dürfe, aber eben nur diese, alles andere sei möglich. Seither ist die „doppelt durchgezogene Linie“ zum allgemeinen Mem der Journalisten geworden.
Offene Zensur
Inzwischen wundert es niemanden mehr, wenn ein entlassener Chefredakteur eines geschlossenen Presseorgans unumwunden davon spricht, dass die Investoren bei der Gründung des Mediums jene Bedingung formulierten, die seit langem allseits bekannt ist: Man könne über alles Mögliche schreiben, außer über den Präsidenten, die Regierung und den Patriarchen.
Das Ende Januar geschlossene Medienprojekt namens Russiangate hatte sich auf investigative Recherchen spezialisiert. Der Skandal begann nach der Veröffentlichung eines Artikels über eine nicht deklarierte Immobilie des Direktors des FSB, Alexander Bortnikow. Hier haben wir es eindeutig mit einer äußerst weiten Auslegung der Drei-P-Regel zu tun. Denn Bortnikow ist weder Präsident, noch Premier & Co, noch Patriarch, allerdings – so hat es den Anschein – eine Figur, die allen dreien nahesteht und somit ihnen gleichzustellen ist.
Ruft man sich die journalistischen Standards nicht nur der 1990er, ja selbst noch der 2000er Jahre in Erinnerung, so erscheint eine solche Beschränkung inakzeptabel und unterscheidet sich nicht im Geringsten von offener Zensur.
Millimeter um Millimeter
Jetzt befinden wir uns am Ende der 2010er Jahre – und die russischen Medien haben seit jenen Jahren kein einziges Mal erlebt, dass die journalistische Freiheit von einem Moment auf den anderen drastisch eingeengt worden wäre. Im Gegenteil, dieser Prozess vollzog sich fließend und allmählich, Millimeter um Millimeter.
Es gibt keinen Grund für Vorwürfe, schließlich lässt es sich viel einfacher arbeiten, wenn die durch Zensur gesteckten Grenzen klar und deutlich formuliert sind. Dann ist es nicht wie auf einem Minenfeld, wo jederzeit etwas hochgehen kann, ganz gleich wo man hintritt. Dann ist jede Tretmine gekennzeichnet und durch eine „doppelt durchgezogene Linie“ markiert. Solange du nicht über Putin oder den Patriarchen schreibst, ist alles in Ordnung. So stellt es sich zumindest in der Theorie dar.
Irgendeine Mine gibt es immer
In der Praxis jedoch gibt es immer irgendeine Mine, die nicht markiert war und mit der man nicht gerechnet hatte, ganz wie mit Bortnikow im Fall von Russiangate. Den leidtragenden Journalisten käme in dieser Situation die dissidentische Parole aus der Sowjetzeiten zupass: „Haltet euch an eure Verfassung!“. Deren Finesse bestand darin, dass das totalitäre Regime aus irgendeinem Grund nicht in der Lage war, sich an die Gesetze zu halten, die es selbst geschaffen hatte. Die einzige öffentliche Kraft, die seinerzeit bereit war, für diese Gesetze zu kämpfen und deren Einhaltung zu fordern, war nicht der Staat, sondern es waren seine Feinde.
Heute ist es ganz ähnlich: Wenn sich das Regime und die regimeloyalen Medienbesitzer an die klare Regel „Putin und der Patriarch werden nicht angerührt“ halten würden, gäbe es keine Probleme. Doch aus irgendeinem Grund ist es ausgerechnet die Staatsmacht – die diese Regel ja gesetzt hatte – die ein ums andere Mal neue verbotene Themen findet, die über jene hinausgehen, die öffentlich und klar abgesteckt sind. Die „doppelt durchgezogene Linie" ist nicht statisch, sie liegt nicht ruhig in der Mitte der Fahrbahn, sondern rutscht darauf so herum, dass die Spur für Journalisten immer schmaler wird.
Die Spur für Journalisten wird immer schmaler
Das ist ein ganz natürlicher und unausweichlicher Prozess. Beim Verbot Putin, den Premier oder den Patriarchen zu kritisieren geht es nicht um die Person, die außerhalb jeder Kritik stehen soll. Sondern es geht um die Möglichkeit an sich, verbotene Themen zu setzen. Und wenn diese Möglichkeit besteht, wenn niemand sie anficht, dann wird die Verbotsliste unweigerlich immer länger.
Nach der Geschichte mit Russiangate werden es sich die Chefredakteure etliche Male überlegen, bevor sie in ihren Artikeln Alexander Bortnikow erwähnen. Und schon könnte ein neuer Skandal heraufziehen, dessen Hauptfigur irgendein neuer Bürokrat ist, den zu kritisieren früher erlaubt war und der jetzt davor geschützt ist. Wer das nun sein wird, ob Sobjanin, Schoigu oder jemand aus den weniger prominenten Reihen, werden wir erst erfahren, wenn der nächste Chefredakteur bei Echo Moskwy in der Sendung sitzt und leicht verwirrt erklärt, dass er wohl nicht mehr Chefredakteur ist.
Ein breit zu interpretierendes Verbot
Ein Verbot mit der Möglichkeit, es breit auszulegen, ist in der Tat genauso angelegt wie die Gesetze eines totalitären Regimes, denen jeder durchaus loyale Bürger zum Opfer fallen kann. Dafür ist andererseits klar, wie man zum Helden wird: Man muss nur einen Schritt auf verbotenes Terrain tun.
Ist die russischen Medienwelt heute zu solch einem Schritt in der Lage? Offensichtlich nein, und der Titel der mutigsten russischen Journalisten geht an Irina Resnik, Ilja Archipow und Alexander Sasonow, die einzigen Moskauer Autoren, die heute fähig sind, Recherchen über das Familienleben einer Frau zu schreiben und zu veröffentlichen, die bei uns üblicherweise als „mutmaßliche Tochter Wladimir Putins“ bezeichnet wird. Allerdings muss man erwähnen, dass es sich hier um russische Journalisten handelt, die auf Englisch für die amerikanische Agentur Bloomberg schreiben. Nicht auszuschließen, dass sich die einzige Möglichkeit für unzensierten Journalismus in Russland in absehbarer Zukunft genau so darstellen wird: nicht auf Russisch und nicht in russischen Medien.
Bystro #1: Ein schneller Überblick über die russische Medienlandschaft – in sechs Fragen und Antworten. Einfach durchklicken.
1. Wie steht es um die Pressefreiheit in Russland?
Russland wird von vielen Politikwissenschaftlern als Autoritarismus beschrieben, also als „eingeschränkter Pluralismus“. Zum Meinungspluralismus gehört auch die Pressefreiheit. Und auch die ist in Russland eingeschränkt: In internationalen Rankings, wie dem von Reporter ohne Grenzen, landet Russland deswegen meist auf den hinteren Plätzen, derzeit auf Rang 148 von 180.
2. Welche Medien nutzen die meisten? Und was bedeutet der Ausdruck Zombie-Kiste?
Das dominierende Medium ist das staatsnahe Fernsehen – vor Print, Online und Radio. Und das ist etwas anderes als das öffentlich-rechtliche bei uns: Es steht allein strukturell unter Kontrolle und Einfluss des Staates – und ist damit das wichtigste Propagandainstrument. Als Sombirowanije (dt. Zombie-sierung) wird der Effekt beschrieben, den diese ständige Manipulation auf den Zuschauer hat. Kritiker nennen den Fernseher sarkastisch Zombie-Kiste. Die größten Sender sind Rossija 1, Perwy Kanal (Erster Kanal) und NTW.
3. Gibt es überhaupt unabhängige Medien in Russland?
Ja, die gibt es. Unabhängiger Journalismus spielt sich vor allem online ab, darf allerdings gewisse „durchgezogene Linien“ nicht überschreiten – dazu gehört auch, dass er sich nur in einer Nische bewegen darf und eine bestimmte Reichweite nicht übersteigen sollte. Durch die Dominanz des staatlichen und staatsnahen Fernsehens haben es kritische und unabhängige Medien zusätzlich schwer.
4. Woher weiß ich denn, ob ein Medium unabhängig berichtet?
Zunächst hilft es, auf die Struktur des Medium zu schauen: Wer ist der Eigentümer? Die Trennlinie zwischen direkter und indirekter Kontrolle ist allerdings nicht immer scharf zu ziehen.
Außerdem gibt es Selbstzensur auch in (strukturell) unabhängigen Medien – und es finden sich kritische Beiträge in staatsnahen Medien. So unterscheiden sich etwa die Positionen der Moskauer Nesawissimaja Gaseta (dt. Unabhängige Zeitung), die dem Unternehmer Konstantin Remtschukow gehört, meistens nicht von den offiziellen. Der Radiosender Echo Moskwy hingegen, der zur staatsnahen Holding Gazprom-Media gehört, gilt als regierungskritisch. Einigen unabhängigen Medien (vor allem in den Regionen) kann man vorwerfen, dass sie zwischen Aktivismus und Journalismus nicht wirklich unterscheiden.
5. Wie finanzieren sich unabhängige Medien?
Vor allem durch Abos und Spenden. Die Werbeeinnahmen sinken stetig – auch, weil es sich für Unternehmen geschäftsschädigend auswirken könnte, in kritischen Medien Werbung zu schalten.
Zudem könnte eine Änderung im Mediengesetz, die im November 2017 von der Duma beschlossen wurde, für unabhängige Medien fatal sein. Denn damit ist es nun möglich, Medien mit dem Status des „ausländischen Agenten“ zu stigmatisieren. Dieses Label bekommen zivilgesellschaftliche Organisationen bereits seit 2012, etwa, wenn sie Geld aus dem Ausland erhalten. Ein Medium kann nun im Grunde zum „Agenten“ erklärt werden, wenn seine Abo- oder Spendeneinnahmen aus dem Ausland kommen. Noch dazu können Websites von „ausländischen Agenten“ unter Umständen ohne Gerichtsbeschluss blockiert werden. Ob und gegen wie viele Medien dieses Gesetz dann zum Einsatz kommt, weiß keiner. Aber allein dadurch, dass es existiert und diskutiert wird, kann es abschreckend wirken und die Selbstzensur (s. o.) verstärken.
6. Wie sieht das Deutschlandbild in russischen Medien aus?
Auslandskorrespondenten in Deutschland können sich nur russische Staatsmedien leisten. Den Westen als Feind und Bedrohung zu stilisieren, ist Hauptthema in der offiziellen Rhetorik nach innen – ein Thema, das diese Medien gerne variieren (berühmtestes Beispiel in Deutschland ist der „Fall Lisa“).
Unabhängige russische Medien bringen hauptsächlich Agenturmeldungen. Oder ein Experte schreibt seine Analyse vom Schreibtisch in Russland aus. Alltagsreportagen von vor Ort gibt es kaum, manche Themen werden gar nicht erst aufgegriffen.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.