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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Sergej Dorenko

    Sergej Dorenko

    Der russische Fernseh- und Radiomoderator Sergej Dorenko ist tot. Am 9. Mai fuhr er auf seinem Motorrad der Marke Triumph den Moskauer Gartenring entlang, verlor plötzlich das Bewusstsein, geriet auf die Gegenspur und krachte in eine Betonabsperrung. Funktionsstörung des Herzens. Dabei hatten ihm viele stets abgesprochen, ein Herz zu haben. Wenn man über ihn sprach, dann meist eher in technischen Metaphern: „Fröhlich schob er den Regler im Radiostudio nach oben. Mir schien, er hob nicht einfach den Mikrofonständer an, sondern bereitete ein Flugzeug zum Start vor. Und ihm schien es auch so: Wie ein Motor fing er an zu dröhnen: „Guuuuten Morrrrrrrgen, hier ist Rrrrrrrrasworot“, erinnert sich die Journalistin Tonja Samsonowa, die mit ihm eine Zeit lang eine Sendung auf Echo Moskwy moderierte. Mit seiner Energie und seinem Talent, vielleicht sogar journalistischem Genie, was selbst seine Todfeinde wie der Moskauer Ex-Bürgermeister Juri Lushkow anerkennen, galt er als eine TV-Ikone der späten 1990er Jahre, als „Telekiller“, der erst „Putin zum Präsidenten gemacht hat“ und später eine öffentliche Konfrontation mit ihm wagte. 

    Sie nannten ihn „Telekiller“ – Journalist Sergej Dorenko galt als TV-Ikone der späten 1990er Jahre / Foto © Gennadi Guljajew
    Sie nannten ihn „Telekiller“ – Journalist Sergej Dorenko galt als TV-Ikone der späten 1990er Jahre / Foto © Gennadi Guljajew

    1959 als Sohn eines Militärpiloten und einer Bibliothekarin auf der Krim geboren, schloss Sergej Dorenko ein Dolmetscher-Studium an der Moskauer Universität der Völkerfreundschaft ab und fing 1982 zunächst an, als Portugiesisch-Übersetzer in Angola zu arbeiten. 1984 wird er kurz zur Armee eingezogen, bevor er 1985 beim staatlichen Rundfunk Gosteleradio anheuert. So beginnt seine kontroverse journalistische Karriere. 

    Facts were irrelevant

    Sein Name ist mit dem Vorgänger des Ersten Kanal, dem Fernsehkanal ORT, verbunden, dessen Abkürzung für „öffentliches russisches Fernsehen“ stand. Anders als in Deutschland, war das „öffentliche Fernsehen“ in den 1990ern ein Privatunternehmen, dessen Besitzer, der Oligarch Boris Beresowski, eine der kontroversesten Figuren der 1990er Jahre und ein Freund Dorenkos, war. 

    Von 1996 bis 1999 moderiert Dorenko die bekannte Nachrichtensendung Wremja (dt. „Zeit“), die er mit seiner emotionalen Präsentation und einer journalistisch unsauberen Arbeitsweise boulevardisiert – womit er bei den Zuschauern offensichtlich Erfolg hat. Laut des ehemaligen Moskauer Büroleiters von The Economist  Arkady Ostrovsky, transformiert Dorenko die Nachrichtensendung in eine „Show vernichtender Enthüllungen“, die „den Tonfall verschärfte, Empörung auslöste und Hass stiftete. Aber am Wichtigsten: Sie faszinierte die Zuschauer und brach Tabus“. Dabei gilt: „Facts were irrelevant“.1 Im September 1999 bekommt Dorenko schließlich seine eigene TV-Sendung, nämlich die Programma Sergeja Dorenko (dt. „Sergej-Dorenko-Show“). Auch mit dieser Show sorgt er für politische Kontroversen und arbeitet weiter an seinem Ruf als Skandaljournalist.

    Telekiller

    1999 stehen in Russland Parlamentswahlen an, bei denen sich zwei große Lager gegenüberstehen: Auf der einen Seite findet sich die Partei Jedinstwo (dt. „Einheit“) des damaligen Präsidenten Boris Jelzin. Jelzin installierte gerade den noch relativ unbekannten Geheimdienstchef Wladimir Putin als Premierminister und Wunschnachfolger und kann auf die Unterstützung von ORT-Eigner Boris Beresowski zählen. Auf  der anderen Seite stehen der Moskauer Bürgermeister Juri Lushkow und der im Mai 1999 abgesetzte Premieminister Jewgeni Primakow mit ihrer Partei Otetschestwo – wsja Rossija (dt. „Vaterland – Ganz Russland“). 

    Dass der Jelzin-Unterstützer Beresowski Mehrheitseigentümer des Fernsehsenders ORT ist, spielt in der Wahlkampfauseinandersetzung eine nicht zu unterschätzende Rolle; schon länger hat Beresowski den dort arbeitenden Dorenko gefördert, der nicht zu Unrecht als „Beresowskis Bulldogge“2 oder als „perfekter Söldner“3 bezeichnet wird. Dorenko schießt sich in seiner Sergej-Dorenko-Show auf Beresowskis Gegner Lushkow und Primakow ein.4 Nicht zuletzt aus persönlichen Motiven: Dorenko wurde auf Betreiben Primakows bei ORT kurzzeitig gefeuert und war zudem einer Steuerprüfung ausgesetzt, wofür er Lushkow verantwortlich machte.5

     

    In seiner Show montiert Dorenko Juri Lushkows Kopf auf ein Bild Monica Lewinskys

    In seiner Fernsehshow setzt Dorenko weiter auf Emotion und unlautere Mittel. Er deckt Lushkows Vermögensverhältnisse auf und zeigt dessen luxuriöse Immobilien, veröffentlicht auch angebliche OP-Fotos von Primakow, um dessen Gesundheit in Zweifel zu ziehen, und montiert Lushkows Kopf auf ein Bild Monica Lewinskys. Aufgrund dieser Kampagne wird Dorenko bald als „Telekiller“ bezeichnet: Primakow und Lushkow verlieren die Parlamentswahl 1999 tatsächlich. Nachdem Jelzin am 31. Dezember 1999 überraschend zurücktritt, gewinnt Putin die folgenden Präsidentschaftswahlen spielend, während der ursprünglich chancenreiche Primakow gar nicht erst antritt.

    „Dem Volk etwas einzuflüstern“ 

    In einem Youtube-Interview von 2018 mit Juri Dud ist Dorenko durchaus stolz auf seine Rolle in den Wahlkämpfen 1999 und 2000. Zwar sei es unrichtig zu behaupten, wie es manche tun, dass er Putin zum Präsidenten gemacht habe, denn „nur das Volk kann einen Menschen zum Präsidenten machen“. Allerdings habe er seine Aufgabe durchaus darin verstanden, „dem Volk etwas einzuflüstern“.6 Er bezeichnet Russland als „geficktes Mädchen“, das „von vielen Menschen gebumst wurde, die seinen Zopf um ihre Faust wickelten und es von hinten stießen. Und dieses Land hat einen Bruder-Soldaten verdient. Und Putin ist dieser Bruder-Soldat … Und dem Land musste man das einflüstern: Es kommt der Bruder und wird sich für dich einsetzen“. 

     

    In einem Youtube-Interview zeigt sich Dorenko 2018 stolz auf seine Rolle in den Wahlkämpfen 1999 und 2000

    Hat Dorenko also seinen eigenen Favoriten dem Volk erfolgreich „eingeflüstert“ und Beresowski ans Ziel seiner Wünsche gebracht? Wie sich schnell herausstellen sollte, ist dem nicht so. Beresowski bezieht Ende Mai 2000 offen gegen Putin Stellung, und die von ihm kontrollierten Medien – darunter ORT – vollziehen diesen Schwenk nach. Dementsprechend positioniert sich Dorenko nun als lautstarker Kritiker Putins. Diese Entwicklung gipfelt in der Sendung vom 2. September 2000: Dorenko widmet sie der Tragödie um das gesunkene Atom-U-Boot Kursk. Er kritisiert nicht nur das Krisenmanagement der Regierung und die chronische Unterfinanzierung der Marine, sondern bezichtigt Putin höchstpersönlich der Lüge und gibt ihm die Schuld am Tod der Matrosen. „Die Mächtigen gehen nur deshalb so mit uns um, weil wir es zulassen“,  ist der letzte Satz der Sendung.7 Und wie sich schließlich herausstellen sollte, war es für viele Jahre auch der letzte Satz Dorenkos im Fernsehen überhaupt. Der Leiter des Senders, Konstantin Ernst, setzt Dorenkos Sendung kurz danach ab, und Dorenko selbst wird arbeitslos.8 Sein Förderer Beresowski hat bereits im Juli sein Mandat als Abgeordneter abgegeben, verkauft zahlreiche seiner Firmenanteile, darunter jene an ORT, und geht im November 2000 ins Londoner Exil wo er sich 13 Jahre später das Leben nimmt.

    Mehrere Leben nach dem Fernsehen 

    Nach seiner Entlassung kehrt Dorenko dem Fernsehen gezwungenermaßen den Rücken; bis auf zwei kurze Intermezzi bei REN TV (2011) und TV-Zentr (2013) ist er nicht mehr als Fernsehmoderator tätig. Anfang der 2000er Jahre engagiert sich Dorenko vielmehr politisch, tritt 2003 der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF) bei und hält 2004 im Zuge der Orangenen Revolution eine Rede auf dem Kiewer Maidan, wo er ankündigt: „An jenem Tag, an dem wir gewinnen, sperren wir Putin in einen eisernen Käfig“.9 2005 verfasst er den dystopischen Roman 2008, in dem er eine Revolution gegen Putin beschreibt. 
    Daneben beginnt Dorenko 2004 wieder, als Moderator zu arbeiten, diesmal allerdings beim Radio. Von 2004 bis 2008 arbeitet er beim Radio Echo Moskwy, 2008 gründet er die Radiostation Russkaja slushba nowostej (dt. „Russischer Nachrichtendienst“), wo er auch als Moderator und Chefredakteur fungiert. Gleichzeitig versuchte Dorenko, auch im Internet Fuß zu fassen; zunächst als Blogger im Livejournal, später ist er als Videoblogger auf Youtube und Instagram vertreten. Seine Spitznamen sind rasstriga (dt. „Abtrünniger“) und pastushok (dt. „Hirtenjunge“). 2014 wechselt Dorenko sowohl als Moderator als auch als Chefredakteur zum neugegründeten Radio Govorit Moskva (dt. „Hier spricht Moskau“), das auch zu seiner letzten Station werden sollte.  

    Auffallend ist, dass Dorenko in den letzten Jahren wieder von seinem Anti-Putin-Kurs abrückte. Nicht nur, dass er an Putins Inauguration am 7. Mai 2018 teilnimmt. Wie er Juri Dud berichtet, kaufte er sich auch eine Wohnung im Haus am Ufer, mit direktem Blick auf den Kreml.10 Dieses Haus wurde in den 1920ern errichtet, um für Günstlinge der Sowjetmacht Luxuswohnungen im Moskauer Zentrum zur Verfügung zu stellen. Mit seiner Übersiedlung in dieses geschichtsträchtige Haus hatte es Dorenko – spät, aber doch – zumindest symbolisch wieder zurück ins Zentrum der russischen Macht geschafft.


    1. Ostrovsky, Arkady (2017): The Invention of Russia: The Rise of Putin and the Age of Fake News, New York, S. 248 ↩︎
    2. Burrett, Tina (2011): Television and Presidential Power in Putin’s Russia, London/New York, S. 49 ↩︎
    3. Ostrovsky, S. 247 ↩︎
    4. Dorenko unterstützt Beresowski im Parlamentswahlkampf aktiv durch Wahlkampfauftritte und hilft ihm, einen Sitz als Abgeordneter der Republik Karatschai-Tscherkessien zu erlangen, vgl.: Colton, Timothy J./McFaul, Michael (2002): Popular Coice and Managed Democracy: The Russian Elections of 1999 and 2000, Washington, S. 269 ↩︎
    5. Ostrovsky, S. 249 ↩︎
    6. Youtube: vDud’ 2018: Dorenko – o russkom narode, Putine i den’gach ↩︎
    7. Youtube: Obschtschestwenno-polititscheskij kanal / RVISION 2014. Poslednaja peredatscha Dorenko na ORT (Schjostkaja kritika Putina po powodu APL „Kursk“) ↩︎
    8. Norris, Stephen M. (2012): Blockbuster History in New Russia: Movies, Memory, and Patriotism. Indianapolis (IN), S. 275 ↩︎
    9. YouTube: a. fomenko. Dorenko: “My posadim Putina w kletku” ↩︎
    10. vDud’ 2018 ↩︎

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  • Absage an die Moderne

    Absage an die Moderne

    „Archaisierung“ – so nennen viele russische Liberale die Epoche Putins, vor allem die Zeit nach der Krim-Angliederung. Der Begriff geht auf den russischen Philosophen Alexander Achijeser zurück – einer der Begründer der Kulturwissenschaft in Russland, der 2007 ruhmlos und weitgehend vergessen verstarb. In den 1970er Jahren verfasste er sein (erst in den 1990er Jahren erschienenes) Hauptwerk: Russland: Kritik der historischen Erfahrung. Darin sagte er sowohl die Perestroika voraus als auch deren Scheitern. Dieses Scheitern, so Achijeser, würde auch eine „Archaisierung“ nach sich ziehen – eine Abkehr von den Werten der Moderne.
    Heute begründet die russische Propaganda diese Abkehr auch mit einem Scheitern der Moderne überhaupt. So sieht Wladislaw Surkow, angeblicher Chefideologe des Kreml, das liberal-demokratische Modell quasi am Ende. Dabei erklärt er das mutmaßliche Interesse am „russischen politischen Algorithmus“ damit, dass es im Westen keine „Propheten“ gebe.
    Warum geben sich Millionen von Menschen im Russland des 21. Jahrhunderts freiwillig mit einem einseitigen und aufgezwungenen Weltbild zufrieden, fragt Andrej Archangelski auf Republic. Und versucht eine Antwort.

    Die russische Propaganda, wie wir sie kennen, hat vor fünf Jahren begonnen und sie verfolgte ein praktisches Ziel: dem Einfluss des ukrainischen Maidan etwas entgegenzusetzen. Die Rhetorik bediente sich zunächst propagandistischer Elemente aus den Zeiten des Zweiten Weltkriegs (karateli und so weiter) und ging dann zur Sprache des Kalten Krieges über (die Trennung in „wir“ und „sie“, der „Westen“ als pauschalisierte Gefahr). 

    Zwei Dinge verblüffen dabei immer noch: 
    Erstens, dass dieses Schema akzeptiert wurde von einem Großteil der russischen Gesellschaft (der die Propaganda in ihrer sowjetischen Variante vor nicht allzu langer Zeit noch abzulehnen schien). 
    Und zweitens: die Ausführenden. Wir können annehmen, dass ein Teil der Propagandisten „einfach seine Arbeit tut“, dass er „Familien ernähren und Kredite abstottern“ muss. Aber wir müssen auch berücksichtigen, dass die Hauptakteure – Experten, Politologen, Fernsehmoderatoren – im vorgegebenen ideologischen Rahmen etwas finden, das ihnen nahe ist und sie inspiriert, etwas, worin sie sogar eine eigentümliche „Freiheit“ sehen.

    Propaganda – das ist in erster Linie eine Vereinfachung des Weltbildes

    Propaganda – das ist in erster Linie eine Vereinfachung des Weltbildes, sie nimmt den Menschen die Last einer existenziellen Verantwortung ab. 
    Das Wort Geopolitik bedeutet, den Menschen von der Pflicht zu befreien, eigene Entscheidungen, eine ethische Wahl zu treffen. Die Geopolitik sagt dem Menschen, dass alle grundlegenden Entscheidungen bereits für ihn gefällt wurden – automatisch und ein für allemal – und zwar von der Geschichte, der Geographie und dem Schicksal.

    Aber auch das liefert noch keine Antwort auf die Frage, warum sich Millionen von Menschen im Russland des 21. Jahrhunderts freiwillig mit einem einseitigen und aufgezwungenen Weltbild zufriedengeben („wir sind die Guten, alle anderen die Bösen“). Vielleicht besteht die Wirkmacht der Propaganda ja darin, dass sie eine viel fundamentalere, nicht ausgesprochene, aber implizite „tiefere“ Idee enthält, die obendrein mit globalen Prozessen zusammenfällt.

    Diese Idee lässt sich kurz als eine Absage an die Moderne, den Fortschritt, an die moderne Gesellschaft an sich beschreiben.

    Magische Praktiken

    Während man den endlosen propagandistischen Gesprächen lauscht, fragt man sich unwillkürlich: Welchem mündlichen Genre kommen sie am nächsten? Sie erinnern an magische Praktiken: Beschwörungen, Zauberformeln, Versuche, das Gewünschte mithilfe von Worten Wirklichkeit werden zu lassen. 
    Dutzende von Menschen wiederholen tagein tagaus, Jahr für Jahr ein und dieselben Verwünschungen, in der Hoffnung, dass sie wahr werden mögen. In erster Linie betreffen sie nach wie vor die Ukraine: „Kiewer Sackgasse“, gescheiterter Staat, die Parodie eines Landes und so weiter.

    Wladimir Paperny beschreibt in seinem bekannten Buch [Kultura Dwa (Kultur-2), dek] ein wichtiges Merkmal dieser „Kultur-2“, indem er sie als mythologisches Denken bezeichnet: als „das Zusammenfallen von Bezeichnung und Bezeichnetem, von Bild und Abgebildetem, von Wort und Bedeutung. Kultur-2 glaubt gleichsam, dass etwas, wenn man es laut ausspricht, wahr wird“.

    Ablehnung des Fortschritts

    Heute sind im Propaganda-Äther alle Verschwörungen und Phobien der Welt vereint; alles unter der Erde, in den Katakomben, in Dostojewski’schen Kellerlöchern der Menschheit scheint sich an einem Ort versammelt zu haben und krakeelt jetzt um die Wette. All das trifft sich nur in einem Punkt – in der Ablehnung der Idee der Moderne, des menschlichen Fortschritts. Sogar die Verherrlichung der sowjetischen Vergangenheit ist in Wirklichkeit ihre verkappte Bekämpfung. 

    Natürlich war die sowjetische Gesellschaft totalitär, doch formal war sie modernistisch. Sie bestand auf dem universellen und globalen Charakter ihrer Ideologie, und sie war in die Zukunft gerichtet („unser Ziel ist der Kommunismus“). Die Grundzüge der sowjetischen Ethik überschnitten sich mit universalistischen Werten. Heute betreibt die Propaganda einen konsequenten Exorzismus gegen jene modernistischen Pfeiler der sowjetischen Ideologie: Wörter wie „Internationalismus“, „Humanismus“, „Kampf für den Frieden“ oder „Völkerfreundschaft“  werden sie heute von keinem Sowjet-Liebhaber mehr hören – derlei Postulate werden als Schwäche der Sowjetmacht verlacht. Selbst der Feminismus bleibt nicht verschont (auch wenn vorher definitiv der Zusatz kommt, dass die UdSSR seine Heimat gewesen sei).

    Ein gewaltiges, allumfassendes Kippen der Gesellschaft zurück in archaische Zeiten – genau das ist die generelle Stoßrichtung der heutigen Propaganda.

    Lustpunkt getroffen

    Anfangs gab es für dieses „Einfrieren“ übrigens rein praktische Beweggründe. Wie wir uns alle erinnern, hießen die Reformen unter Medwedew Modernisierung und endeten 2012 mit Massenprotesten, die die Mächtigen in Angst und Schrecken versetzten. Ihr wichtigstes Symbol war weniger die Masse oder die Aktivität der Menschen, als vielmehr die „Sprache der Bolotnaja“, die Sprache auf jenen funkensprühenden und unzähligen selbstgebastelten Plakaten. In der Sprache dieser Plakate begann die gerade geborene russische Gesellschaft der Moderne zu sprechen. Genau darin erkannten die Machthaber die Hauptgefahr: Die neue Sprache bedeutete die Entstehung eines neuen Bewusstseins – eines säkularen, universellen – die Renaissance von sozialer Verantwortung und Teilnahme. 
    Als Gegengewicht zur Sprache der Bolotnaja war bald die Sprache der Antimoderne à la UralWagonSawod gefunden, bei der es sich natürlich großenteils um ein künstliches Konstrukt handelt. Doch die Erfindung funktionierte. Die Sprache der Propaganda erwuchs im Grunde aus dieser Verdichtung, nur der Stil wurde 2014 perfektioniert.

    Sprache der symbolischen Gewalt

    Das zentrale Moment der Propaganda ist bis heute die Sprache der symbolischen Gewalt – das Phänomen der schmutzigen Hasssprache. Ein weiteres wichtiges Element der Propaganda ist das höhnische Lachen, das Lachen von Dostojewskis Menschen aus dem Kellerloch.

    Dabei wird der Gegner, meist ein westlicher Politiker, auf jede erdenkliche Art erniedrigt. „Blogger verhöhnen“ Poroschenko, Merkel, Macron: Innerhalb von fünf Jahren ist in Russland ein völlig neues Genre entstanden. Aber sowohl die Sprache der Gewalt als auch die des Hohns haben etwas noch viel Größeres hervorgebracht: ein Weltbild, eine Kommunikationsweise, ja sogar eine Art Philosophie der Abkehr von der Welt.

    Das Geheimnis der Propaganda ist, dass sie einen Lustpunkt getroffen hat: Es verschafft dem Menschen Erleichterung, sich von den hemmenden Mechanismen der Kultur zu befreien, das steht schon bei Freud. Darum wiederholen Propagandisten auch so gern immer wieder ein und dasselbe, stunden-, tage-, jahrelang. Übrigens spricht die Propaganda das Wichtigste nicht direkt aus, sondern nur in Andeutungen. 

    Das Ende der Welt

    Das Konzept vom „Scheitern der westlichen Welt“ – noch so ein Imperativ der Propaganda – ist etwas komplizierter: Es ist eine bemerkenswerte Verschmelzung von Marxismus und Eschatologie. Die sowjetische Ideologie postulierte, unter Berufung auf die „eisernen Gesetze der historischen Entwicklung“, das unweigerliche Scheitern des Kapitalismus. Doch stattdessen scheiterte das sowjetische Projekt. Das von der heutigen Propaganda versprochene „Scheitern des Westens“  erinnert formal an sowjetische Dogmen, die nun eschatologisch untermauert werden (den „Gesetzen der Geschichte“ zufolge werden Zivilisationen, die vorangeprescht sind, „bestraft“ und bei der Gelegenheit wird auch gleich der „Zerfall der UdSSR“ gerächt). 
    Ab einem gewissen Punkt dominierten die archaischen Motive der Propaganda. Sie sind anscheinend außer Kontrolle geraten und haben eine Eigendynamik entwickelt. Die Absage an die Moderne zog auch in allen anderen Bereichen eine Archaisierung nach sich. So klingt die These vom „Scheitern der Aufklärung“ gar nicht mehr so abwegig und ist immer öfter in den Reden der Ideologen zu hören. 
    Die Propaganda ist zu einer globalen Predigt über den verlorenen Glauben an den Menschen und die Enttäuschung über die Menschheit geworden, sie wurde zu einem Geschäker mit den niederen Instinkten des Menschen. 
    „Die Menschen leben kein echtes Leben mehr“, behaupten diejenigen, die Tag für Tag ein falsches Leben auf Bildschirmen kreieren. Als Beispiele für echtes Sein werden dann Kriege oder anderes menschliches Leid angeführt. 

    Der Masochismus der Propaganda offenbart sich auch in ihrem penetranten Streben nach Selbstauslöschung – jedes Mal redet sie davon, wenn sie auf die „radioaktive Asche“ zu sprechen kommt.
    Schnell hat die Absage an die Zivilisation auch im Alltag Einzug gehalten. Es ist keine Seltenheit, dass ein propagandistischer Radiosender verkündet, technischer Fortschritt sei nicht notwendig und gar schädlich (die größte Sorge wecken dabei Gadgets aller Art: sie „stehlen“ unsere Lebenszeit). 
    Die panische Angst vor dem Internet, das den „Menschen verdorben hat“, und das Verlachen wissenschaftlicher Erkenntnisse (die berühmten „britischen Forscher“) münden in eine Verhöhnung der Wissenschaft an sich. 

    Natürlich hat die Propaganda auch den wirtschaftlichen Geschmack der Massen geprägt: Unter „Realwirtschaft“ versteht man bei uns „Werke und Fabriken“ und nicht die „virtuelle Ökonomie“ des Westens.  

    Die letztgültige Wahrheit

    Es fällt auf, dass all diese Postulate gleichzeitig mit einem weltweiten Trend zum Konservativismus aufkommen. Allerdings gilt dieser im Westen als eine von vielen Möglichkeiten, keineswegs als „unausweichlich“. Selbst wenn wir annehmen, Russland hätte das Zeug zum Anführer der konservativen Wende, macht der Stil der Propaganda das unmöglich: jenes schroffe und alternativlose Aufdrängen der eigenen „letztgültigen“ Wahrheit. Deswegen betrachtet man Propaganda im Westen heute nicht nur als einen Angriff auf liberale Ideen, sondern auf die universale Ethik. Ihr Hauptziel ist es, „die Grenzen zwischen Gut und Böse zu verwischen“. Damit wären wir beim erstaunlichsten Widerspruch der Propaganda: Sie erklärt sich selbst für das absolut Gute und beharrt gleichzeitig auf der Relativität der Begriffe von Gut und Böse (post-truth). Wie sich das dialektisch vereinbaren lässt, ist ein Rätsel. Mit Paperny gesprochen vielleicht so: In der Welt des absolut Guten, wo die Kultur-2 herrscht, existiert kein Böses. Es wurde ausgelagert in eine eigene, andere Welt, die sich „der Westen“ nennt – dort, im Revier des Bösen, ist „alles erlaubt“, denn dort ist sowieso von vornherein alles falsch (und sündig). 


    Die Propaganda gab der Welt einen Anstoß zur Diskussion ethischer Fragen

    Der Versuch, die Grenzen zwischen Gut und Böse zu verwischen, hatte allerdings paradoxe Konsequenzen: Er brachte Europa und Amerika dazu, sich an die Ethik zu erinnern und sie wieder ins Zentrum der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit zu rücken. Jeder zweite Hollywoodfilm – egal ob Thriller oder Komödie – verhandelt heute eine ethische Frage. #MeToo ist eine eindeutige Debatte über Ethik. Die Wertedebatte wurde zum wesentlichen Bestandteil des westlichen Diskurses. Hier zeigt sich eine verblüffende Parallele: So wie das sowjetische Projekt den Arbeitnehmerschutz im Westen befeuert hatte, gab die Propaganda der Welt einen Anstoß zur Diskussion ethischer Fragen. Heutzutage wird die Propaganda vor allem als eine ethische Herausforderung erforscht, womit sie letztlich die Suche nach einer neuen Ethik initiiert. Diese wird natürlich komplexer sein, aber es lässt sich erahnen, dass Gut und Böse darin ihren Platz haben werden. 

    Die Propaganda, die nach außen gerichtet war, traf vor allem Russland selbst. Indem sie dem Schlechteren nacheiferte, hat sie eine Millionen-Gesellschaft in eine vormoderne, archaische Welt zurückgeworfen und damit abermals ein „tiefes“ Volk konstruiert. Letzten Endes bedeutet das: Wir treten auf der Stelle und erteilen der Moderne, dem Fortschritt, der Welt eine Absage – wohlbemerkt nicht zum ersten Mal. Für Jahre, oder gar Jahrzehnte? So oder so wird es tiefgreifende und traurige Konsequenzen haben, die eine Gesellschaft nicht so schnell überwindet. 

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  • „Das mit den Trollen war Prigoshins Idee“

    „Das mit den Trollen war Prigoshins Idee“

    Jewgeni Prigoshin ist Unternehmer. Weil ihm das einzige private Restaurant im Weißen Haus gehört, wird er auch „Putins Koch” genannt. Prigoshin soll außerdem Besitzer der Medienholding Föderale Nachrichtenagentur (FAN) sein und hinter der berühmt-berüchtigten Trollfabrik in Sankt Petersburg stecken. 2013 hatte es einige DDoS-Attacken auf unabhängige russische Medien gegeben. Auch die Novaya Gazeta war betroffen. 

    Nun hat sie einen ehemaligen „Mitarbeiter“ Prigoshins getroffen: Andrej Michailow hatte bis 2013, als er und andere wegen Geldstreitigkeiten keine Aufträge mehr bekamen, tatkräftigen Einblick in Prigoshins Medienimperium bekommen.

    Der Novaya Gazeta erzählt er ausführlich über von ihm inszenierte Fake-News (um Konkurrenten stolpern zu lassen), über eine Trollfabrik – und über Prigoshins „Bewilligt“-Stempel. 

    Denis Korotkow: Wie haben Sie Jewgeni Viktorowitsch Prigoshin persönlich kennengelernt?

    Andrej Michailow: Ich wurde in eins der Büros auf der Wassiljewski-Insel eingeladen. Guljajew und ein paar seiner Leute waren da. Sie meinten, es gäbe da ein Projekt: Für ehrliche Medien oder so ähnlich. Damals hatten sie auch schon ihr eigenes Medienunternehmen angemeldet: Die Zeitung über Zeitungen. Es musste eine Website der Zeitung und andere Seiten erstellt und gleich mit Informationen gefüllt werden. Man bot mir an, mich um die organisatorischen Fragen zu kümmern. Als ich ein Angebot für das Projekt geschrieben hatte, brachte man mich zum Chef. Wir trafen uns in seinem Büro. Ein solides Büro mit Eichenmöbeln, geschmackvoll und pragmatisch eingerichtet, mit einem großen Bildschirm für Videokonferenzen. Ein Massagezimmer nebenan. 

    Prigoshin war begeistert, holte gleich anderthalb Millionen aus dem Safe 

    Ich wurde Prigoshin als jemand vorgestellt, der sich direkt um das Projekt Zeitung über Zeitungen kümmern würde. Ich habe ihm mein Konzept vorgestellt. 

    Prigoshin war begeistert, holte gleich Geld aus dem Safe und gab mir anderthalb Millionen in bar für die ersten vier Ausgaben. Nach den ersten drei brüllte er aber rum, wir hätten alles verschissen, das Projekt müsste eingestampft und ich müsste … nun, sagen wir, ordentlich bestraft werden. Ich muss dazu sagen, dass er nie handgreiflich gegen mich geworden ist, gegen andere auch nicht, zumindest nicht in meiner Anwesenheit. Obwohl es derartige Gerüchte gab.

    Was war das Konzept der Zeitung über Zeitungen

    Was der Zweck davon war? Medien sollten gegen Bargeld fiktive Informationen veröffentlichen. Das haben sie auch getan.
    Geplant wurde die Sache Ende Dezember 2012, eingetragen wurde die Firma Anfang 2013, glaube ich. 

    Anfang 2013, da war doch die Geschichte mit Dimitri Bykow? Warum ausgerechnet Bykow?

    Wir brauchten einen käuflichen Journalisten. Da kam uns die Idee mit Bykow, der kam bei uns von seiner Bedeutung her an zweiter Stelle, gleich nach Nawalny. 

    Wir brauchten einen käuflichen Journalisten

    Wir haben ihn vorgeschlagen und es hieß: Den nehmen wir! Bei Jewgeni Viktorowitsch [Prigoshin] musste es immer schnell gehen, für große Vorbereitungen war keine Zeit, alles musste rausgehauen werden. 

    Bykow sollte etwas zur Unterstützung eines Lokalpolitikers sagen, der von unserem Mann, Sergej Solowjow, gespielt wurde. Von der Unterstützung eines Politikers wusste Bykow natürlich nichts, wir haben ihn reingelegt

    Er hat sich mit Solowjow getroffen, einem respektablen Mann. Solowjow erzählte, dass er für irgendein Amt kandidieren wolle – der ganze Auftritt Bykows wurde gefilmt, und das, was er sagen sollte, hat er gesagt. Der Plan ging auf. (Das ist Michailows Interpretation. De facto hat sich Bykow nicht für den Politiker ausgesprochen, sondern sich nur für die Einladung bedankt. – Anm. d. Novaya Gazeta)

    War das derselbe Solowjow, der den Geschäftsmann im russischen Forbes gespielt hat?

    Das war schon die nächste Stufe. Es war keine gewöhnliche, sondern die Jubiläumsausgabe des Forbes. Darin gab es einen Artikel von unserem Solowjow mit nicht verifizierter Information und ohne Kennzeichnung als Werbung. Wir hatten zeigen sollen, dass man selbst beim Forbes alles kaufen kann. 

    Wir sollten zeigen, dass man selbst beim Forbes alles kaufen kann 

    Im Frühling 2013 wurden ausgerechnet am Tag des Sieges durch DDoS-Angriffe die Webseiten von Novaya Gazeta, Echo Moskwy, Moskowski Komsomolez, Doshd und Fontanka.ru lahmgelegt. Können Sie sagen, wer hinter dieser Aktion stand?

    Wer den Angriff organisiert hat, weiß ich nicht, ich habe die Leute nie persönlich kennengelernt. Beauftragt wurden sie von einem unserer Männer, Kirill Fulde. Keine Ahnung, wo er heute ist und für wen er jetzt arbeitet. Maxim Bolonkin, der die Videobotschaft im Namen der Netzhamster aufgenommen hat – der Bewegung, die angeblich für den Angriff verantwortlich war – haben wir über mehrere Ecken gefunden und für viel Geld damit beauftragt.

    Die Videobotschaft wurde direkt im Büro der Zeitung über Zeitungen aufgenommen. Wir hatten mehrere Pläne, die Netzhamster auszubauen, aber daraus wurde nichts. Jewgeni Viktorowitsch ist ein launischer Mensch. Heute will er so ein Projekt, morgen nicht mehr.

    Wie viel hat die Aktion gekostet?

    Zwischen fünf und sieben Millionen Rubel [damals etwa 120.000 bis 170.000 Euro – dek].

    Wie werden solche Aktionen finanziert?

    Wenn eine besondere Aktion durchgeführt werden muss, schreibt man ein Skript und macht einen Kostenvoranschlag. Wenn Prigoshin einverstanden ist, gibt er einem das Geld gleich bar oder setzt seinen „Beiwilligt“-Stempel drauf, und man holt es sich von der Buchhaltung.

    Etwa zur selben Zeit sind Sie doch von punktueller zu flächendeckender Arbeit übergegangen. Es entstanden die Olgino-Trolle, die längst zum Meme avanciert sind. Wessen Idee war das?

    Das war allein Prigoshins Idee. Manche behaupten ja, es sei ein Auftrag vom Kreml, eine Hausaufgabe, die Prigoshin im Tausch für milliardenschwere Kreml-Kontakte gemacht hätte. Aber nach allem, was ich gesehen und gehört habe, bin ich mir sicher, dass er keine Anweisungen erhalten, sich mit niemandem beraten und auch niemanden um Erlaubnis gefragt hat. 

    Es gab keine Kommandotürme, alles ging direkt von Prigoshin aus. 

    Das mit den Trollen war allein Prigoshins Idee, keine Hausaufgabe vom Kreml

    Er hat sogar die Räumlichkeiten für die Trollfabrik selbst ausgesucht, das Gebäude in Lachta liegt auf dem Weg zu seiner Datscha (das Anwesen von Jewgeni Prigoshin befindet sich in der Feriensiedlung Venedig des Nordens am Lachta-See – Anm. d. Novaya Gazeta). Übrigens haben wir es nie Trollfabrik genannt, das ist ein Label, das uns die Journalisten übergestülpt haben und das sich beharrlich hält.

    Welche Aufgaben hatten Sie bei den Trollen?

    Zunächst mussten wir ein Gebäude mieten, parallel wurden schon Leute angeworben. 2013 war sehr viel los, da mussten viele Dinge gleichzeitig erledigt werden. Die Angestellten mussten nicht nur Informationen in Blogs unterbringen, sondern auch anhand von Schlüsselbegriffen Informationen der gegnerischen Position im Netz suchen.

    Wie viele Leute haben am Anfang des Projekts für Sie gearbeitet? 

    Anfangs waren es etwa 200. Es gab verschiedene Abteilungen. Die einen waren für die Ukraine, die anderen für die USA zuständig. 
    Aber in Wirklichkeit waren die Trolle nicht besonders effektiv. Ich hatte parallel noch eine Mannschaft aus Profis, etwa zehn Mann, die sie locker übertrumpft hat.

    Die Trolle waren nicht besonders effektiv

    Können wir diese zehn Profis namentlich nennen?

    Wir können diese Menschen nicht nennen, weil … Weil wir sie nicht nennen können. 

    Ihre Tätigkeit beschränkte sich nicht allein auf Netzaktivität und betraf manchmal auch die Offline-Welt? Erzählen Sie doch, wie Sie Waleri Ameltschenko kennengelernt haben, der über die dreckigen Jobs von Prigoshins Leuten erzählt hat. Welche Aufgaben hat er für Sie oder die Organisation, für die Sie gearbeitet haben, erledigt?

    Ich weiß nicht mehr genau, wahrscheinlich war es 2012 oder 2013. Ich habe ihn zufällig über Freunde von Freunden kennengelernt  …

    Welche Aufgaben hat er erledigt?

    Sie wollen sicher auf den Blogger aus Sotschi im Sommer 2013 hinaus. Da gab es so eine Sache. Dieser Blogger, [Anton] Grischtschenko, Huipster, hat falsches Zeug verbreitet, jemand musste mal ein ernstes Wort mit ihm reden. 

    Aber warum gerade er? Wie kommt man auf ihn? Dass Dimitri Bykow ein potentielles Ziel ist, leuchtet ein. Aber wozu dieser Grischtschenko, von dem nie jemand etwas gehört hat?

    Damals lief bereits eine zielgerichtete Suche nach negativen Kommentaren. Man fand bei ihm etwas sehr Beleidigendes gegen unseren Präsidenten Wladimir Wladimirowitsch Putin. Da hat Jewgeni Viktorowitsch ihn gleich als Kunden vorgeschlagen. Ich weiß nicht mehr genau, wer seine Daten besorgt hat. Jedenfalls wurden mir Videoaufnahmen von ihm gebracht, das lief über Guljajew. Es hieß, mit dem müsste man mal ein ernstes Wort sprechen, damit er sowas nie wieder macht.

    Einmal mit einem Werkzeug gegen den Arm und fertig 

    Verstehe ich Sie richtig, dass Ameltschenko für dieses „Gespräch“ mit seinem Partner Wladimir Gladijenko nach Sotschi geflogen ist?

    Gladijenko ist ein Freund von Ameltschenko. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie sie dorthin gekommen sind und was sie dort gemacht haben. 
    Huipster hat aufgehört zu bloggen und seine Accounts gelöscht, also haben sie ihre Aufgabe erledigt. Da war irgendetwas mit seinem Arm, aber das habe ich erst später von Ameltschenko erfahren, als die beiden schon zurück waren. Er meinte: einmal mit dem Werkzeug gegen den Arm und fertig. 

    Mit was für einem Werkzeug?

    Einem Eisenstab.

    Haben Sie noch andere Aktionen außerhalb des Internets organisiert?

    Ich sage doch, es lief alles parallel. 2013 war überhaupt ein verrücktes Jahr, ein Projekt nach dem anderen, im Internet und außerhalb. Im Herbst haben wir alle landesweit gegen RIA Nowosti gearbeitet.

    Was gab es gegen die Nachrichtenagentur einzuwenden?

    Ich vermute, Prigoshin wollte Mironjuk (Swetlana Mironjuk, die Chefredakteurin von RIA Nowosti – Anm. d. Novaya Gazeta) loswerden. Das lief unter dem Deckmantel: Prüft die größte Nachrichtenagentur ihre Informationen? Was die Ursache war und was als solche herhalten musste, kann ich nicht sagen.

    Ich habe von Guljajew die Aufgabe bekommen, zu überprüfen, wie sauber die Infos sind. Mir Meldungen auszudenken, sie unterzubringen und Geld reinzupumpen. Dafür hatten wir uns Wladiwostok, Nowosibirsk und Petersburg ausgesucht. 

    Es wurde ein Skript geschrieben, und es wurden Fake-Nachrichten erfunden. In Petersburg wurde eine neue Hunderasse gezüchtet. In Wladiwostok trat eine Zirkusmannschaft umsonst auf. Und anderes albernes Zeug, alles frei erfunden. Dann kam ein Mann von der Straße und brachte das bei RIA unter. 

    Wie das ging? Man musste herausfinden, wer in der Redaktion für die Platzierung der Nachrichten verantwortlich war, dann redete man mit dieser Person. 

    Diesem Nachrichten-Menschen wurde einfach Unsinn erzählt, später ließ man ihm über Dritte Geld zustellen, angeblich für die Unterbringung der Fake News. Das war dann der Beleg für seine Käuflichkeit. Selbstverständlich wurde alles gefilmt.

    Gab es auch echte Abmachungen mit Journalisten von RIA?

    Nein, die Leute, die die Nachrichten platziert haben, haben kein Geld genommen. Das war alles ein Spiel. Aber, dass sie die Nachrichten nicht verifiziert haben, stimmt. Sie haben ohne Überprüfung Fakes veröffentlicht.

    Die Leute von RIA haben ohne Überprüfung Fakes veröffentlicht

    Wenn die Arbeit erledigt war, wurde ein Bericht geschrieben, die Videos über die Käuflichkeit von RIA Nowosti geschnitten und Guljajew gegeben. Guljajew reichte das Ganze an Prigoshin weiter. Was Prigoshin damit machte, weiß ich nicht. Im Netz sind diese Videos, soweit ich weiß, nie aufgetaucht. Aber im Dezember 2013 musste Mironjuk ihre Stelle aufgeben, also war die Aufgabe erledigt. 

    Wer hat diese Leute, die die Fakes zu RIA gebracht haben, angeheuert, vorbereitet und angewiesen?

    Das war ich. In Petersburg waren es die einen, auf Reisen gingen andere. Aber allesamt Leute, die ich kannte und die auch für Prigoshin arbeiteten. Sie bekamen ein festes Gehalt für die Ausführung verschiedener Veranstaltungen, die Kosten für die gesamte RIA-Operation beliefen sich also nur auf die Flugtickets und Hotels.

    Sie haben zugestimmt, uns nicht nur davon zu erzählen, wie Prigoshins Medienimperium entstanden ist, sondern auch von der Organisation der offenkundigen Provokationen in der realen Welt. Warum tun Sie das, und wie wird Prigoshin darauf reagieren?

    Nun ja, im Wald war ich schon, ich hoffe, das machen sie nicht noch einmal. Aber ich will meinen ersten Waldtrip nicht ungestraft lassen. Eine Reaktion vorherzusagen ist schwierig, aber die Erfahrung zeigt, dass still hinter einem Baumstamm zu hocken, die schlechteste Art der Verteidigung ist.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Video #29: Kisseljow rappt Majakowski

    Video #29: Kisseljow rappt Majakowski

    Konzertverbote für Rapper – und nicht nur: Wochenlang haben russische Behörden Konzerte von Rappern und anderen Musikern abgesagt und verboten. Meduza hat eine Überblicksliste abgesagter Konzerte erstellt. Im Staatssender Rossija-1 griff Dimitri Kisseljow das Thema Anfang Dezember auf – und trat für die Rapper und für den Rap als „alternative Musikkultur“ ein. Er sagte: „Ein Vorreiter des Rap in unserer russischen Lyriktradition ist natürlich Wladimir Majakowski“, und gab selbst auch gleich ein paar Majakowski-Bars zum Besten (siehe Video unten).
    Kurz zuvor war der Rapper Husky wegen einer Rap-Performance auf einem Autodach zunächst zu zwölf Tagen Haft verurteilt, dann aber vorzeitig wieder aus der Haft entlassen worden. Während Beobachter über die staatsnahe Unterstützung für die Rapper rätselten, kommentierte Huskys Manager in der russischen BBC

    „Für mich ist das [Eintreten Kisseljows für Husky] so zu werten, dass zunächst von oben die Gegenrichtung vorgegeben wurde, dass jetzt konkret über Husky nur Gutes gesagt werden darf – und alle staatlichen Fernsehsender haben dann nur noch Gutes gesagt. Die Krönung des Ganzen war der Beitrag von Kisseljow. Schon klar, warum das so läuft, wir wissen alle ganz genau, wie Content in Staatssendern gemacht wird und wer der Auftraggeber ist.“

    Kurz darauf wurde in Woronesh ein Auftritt des Experimental-Duos IC3PEAK nach wenigen Minuten abgebrochen. Am selben Tag hatte die Duma einige Rapper zum Runden Tisch eingeladen. Dort hieß es unter anderem, sie hätten „die Werte eines würdigen, wertvollen und gesunden Lebens zu pflegen, das dem Land und der Gesellschaft diene“. Der bekannte Rapper Shigan verließ schließlich den Saal und sagte: „Das bringt nichts.“ 
    Dabei gab es beim Parteitag der Regierungspartei Einiges Russland von höchster Ebene Unterstützung für die Musiker. Sergej Kirijenko, Vizechef des Präsidialamtes, kritisierte die Behörden: „Wenn es mit Konzertverboten endet, ist das eine Dummheit.“ 

    Das Original-Video finden Sie hier.


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    erschienen am 14.12.2018

    Dieses Video wird gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Pawel Durow

    Pawel Durow

    Philologe und Programmierer, Internet-Unternehmer und Verteidiger des Rechts auf Privatsphäre: Pawel Durow forderte mit seinem abhörsicheren Messenger Telegram die russische Politik heraus und zieht daraus symbolischen wie realen Gewinn. Es erinnerte an den Wettlauf zwischen Hase und Igel: Die russische Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor hatte im April 2018 versucht, den Messengerdienst zu blockieren, mit mäßigem Erfolg und hohen Kollateralschäden. Nun schickt sich Durow, der außer Landes lebende bekennende Weltbürger, mit einer Initiative im Bereich der Kryptowährungen an, die globale digitale Ordnung zu revolutionieren. Und wird damit auch zum role model für die Jugend der Putin-Ära.

    Pawel Durow ist ein weltweit erfolgreicher und angesichts seiner exzentrischen Persönlichkeit umstrittener russischer Internet-Unternehmer, der derzeit außer Landes lebt. Er stammt aus einer Intellektuellen-Familie mit einem geisteswissenschaftlichen Hintergrund. Der Vater, ein renommierter Altphilologe, arbeitete zur Zeit der Perestroika an der Universität im italienischen Turin, wo Durow seine Kinderjahre verbrachte. Nach der Rückkehr der Familie nach St. Petersburg und dem Schulabschluss auf einem Elite-Gymnasium absolvierte auch der angehende Programmierer zunächst ein geisteswissenschaftliches Studium, nämlich der Anglistik. Der hochbegabte Student erhielt zahlreiche offizielle Förderungen, darunter auch ein Stipendium der Präsidialadministration. 
    Im Jahr 2006, zur Zeit des ersten Booms der sozialen Netzwerke, gründet Pawel Durow gemeinsam mit seinem Bruder Nikolaj die Plattform VKontakte (dt. „InKontakt“). Das eingängige Logo in Blau-Weiß will der Jungunternehmer in der ihm typischen Unbescheidenheit in nur wenigen Minuten selbst entworfen haben. 
    VKontakte entwickelt sich exponentiell und überholt in der Gunst der russischsprachigen Nutzer*innen bald den heimischen Konkurrenten Odnoklassniki (dt. „Schulkameraden“) sowie – wichtiger noch – das amerikanische Vorbild Facebook. Grund für den Erfolg ist neben der einfachen Bedienbarkeit eine laxe Copyright-Politik. VKontakte wird neben seiner Funktion als Medium privater und öffentlicher Kommunikation zu einer Tauschbörse für Kinofilme und Videospiele. Entsprechend ist die Erfolgsgeschichte der Plattform von Beginn an durch Kontroversen und gerichtliche Auseinandersetzungen um die Verletzung von Autorenrechten begleitet.1 Kritische Stimmen werfen Durow selbst Diebstahl geistigen Eigentums vor, habe er doch das erfolgreiche Zuckerbergsche Facebook-Modell einfach übernommen und russifiziert. VKontakte ist auch in russischsprachigen, ehemals sowjetischen Republiken wie der Ukraine oder Kasachstan populär.

    Im Zuge der Politisierung des russischsprachigen Internets verschieben sich die Kontroversen vom Copyright zum Datenschutz. Bei den sogenannten Bolotnaja-Protesten 2011/12 spielen die sozialen Netzwerke eine zentrale Rolle, darunter auch VKontakte. Dasselbe gilt ein Jahr später für die ukrainische Euromaidan-Revolution 2014 und den Sturz des kremlnahen ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch. 
    Durow lehnt die Forderungen des FSB ab, persönliche Daten von Teilnehmern der russischen und ukrainischen Proteste preiszugeben.2 Das in der russischen Verfassung verbürgte Recht auf Schutz der Privatsphäre stehe über den Sicherheitsinteressen des Staats. Zudem fielen die ukrainischen Nutzer nicht unter die russische Gesetzgebung. Seine Position vertritt Durow gewohnt kaltschnäuzig: Er publiziert das Schreiben des FSB auf seinem VKontakte-Account zusammen mit dem Bild eines Hundes im Hoodie, dem typischen Hacker-Fashion-Accessoire. 

    Screenshot ausVKontakte
    Screenshot ausVKontakte

    Parallel zu den Konflikten mit der Staatsmacht spitzen sich Auseinandersetzungen unter den Aktionären von VKontakte zu, darunter auch staatlich dominierten Akteuren des russischen Medienmarkts wie mail.ru. Durow gerät zunehmend unter Druck, zumal gegen ihn auch strafrechtlich ermittelt wird. Der vorgeblich bekennende Fußgänger und Metrofahrer soll einen Polizisten angefahren und danach Fahrerflucht begangen haben.3 
    Im Frühjahr 2014 verkauft Durow seinen Aktienanteil, tritt von seinem Chefposten bei VKontakte zurück und verlässt Russland. Die Bedingungen für digitales Unternehmertum seien nicht mehr gegeben.4 Seine Kritiker sehen den Grund für die ‚Emigration‘ in den wirtschaftlichen Auseinandersetzungen zwischen den Aktionären sowie einer Anklage wegen Beamtenbeleidigung.

    Telegram: Vom privaten Messenger zum digitalen Massenmedium

    Die Fortsetzung des digitalen Siegeszugs des Pawel Durow vollzieht sich also außerhalb Russlands. Der Unternehmer-Nomade und seine Mitstreiter bringen 2013 einen Kurznachrichtendienst namens Telegram auf den Markt. Neben einer Reihe von hübschen Gadgets zeichnet sich dieser durch die Möglichkeit der Verschlüsselung privater Chats aus, im Unterschied zum Produkt Whatsapp des ewig-epischen Gegners Facebook. Der Dienst wird ob dieser Qualität weltweit populär bei Nutzern, für die Privatsphäre und Datenschutz zentral sind, bei Protestgruppen und NGOs etwa. Telegram wird aber auch von terroristischen Gruppierungen aller Couleur genutzt, in Russland (beim Anschlag auf die Petersburger Metro 2015) wie in Deutschland (beim Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt 2016). Die tatsächliche Effizienz der Verschlüsselung ist dabei nach wie vor umstritten. Von einem privaten Messenger entwickelte sich der Dienst seit 2015 auch zu einem neuen massenmedialen Kommunikationsformat, über dessen öffentliche Kanäle hunderttausende Nutzer gezielt informiert werden können. Auch der Kreml nutzte diese Option gerne, bevor die Auseinandersetzungen mit dem Durowschen, auf Datenschutz setzenden Geschäftsmodell erneut eskalieren. 

    Im Zuge der erwähnten, verstärkt auf Kontrolle setzenden Medienpolitik geraten Verschlüsselungstechnologien zunehmend unter Druck, in Russland wie weltweit. Argument ist der Kampf gegen den Terrorismus. Aktivisten und Regierungsgegner befürchten hingegen eine gesteigerte Überwachung unliebsamer politischer Aktivitäten. Und so entfaltet sich der zweite Akt im Drama Durow gegen den FSB, der ultimativ die Aushändigung der Verschlüsselungscodes verlangt. Der Telegram-Gründer aber bleibt bei seiner kompromisslosen Haltung. Der Messenger wird daraufhin im April 2018 von der russischen Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor auf den Index gesetzt und blockiert. Die Blockade zieht eine Reihe von Kollateralschäden nach sich. Im Zuge des Hase- und Igel-Rennens zwischen den Kontrahenten waren populäre Мedienangebote und Cloud-Services, auch von ausländischen Firmen wie Amazon oder Google, in Russland unzugänglich. Im Herbst 2018 ist Telegram in Russland mit Einschränkungen weiter nutzbar.5 

    Aktuell ist der Dollar-Milliardär6 Durow dabei, Telegram zu einer umfassenden, auf Blockchain-Technologie beruhenden Dienstleistungsplattform auszubauen. Diese soll auch eine neue Kryptowährung namens Gram und damit ein verlässliches und bequemes Mittel des digitalen Bezahlverkehrs anbieten. Anfang 2018 akquirierte das Unternehmen für diesen Zweck knapp zwei Milliarden Dollar von Investoren7, ohne dass bereits Genaueres über die angekündigte revolutionäre Technologie bekannt wäre. Der russische Markt, so Experten, ist für Durow und Telegram zu klein geworden, weshalb sich der Unternehmer den Konflikt mit seinem Heimatland und dem Nachrichtendienst FSB leisten kann.8 Ein Vertrauensverlust angesichts der Preisgabe von Nutzerdaten an nationale Sicherheitsdienste würde die Marke Telegram/Durow stärker schädigen als der temporäre Verlust eines regionalen Marktes. Telegram selbst macht im Übrigen bis dato keinen Gewinn und wird von seinem Gründer aus den VKontakte-Aktienverkäufen quersubventioniert.
    Unterstützt wird Durow maßgeblich von seinem Bruder Nikolaj, der als das eigentliche Programmier-Genie an seiner Seite gilt, aber hinter der exzentrischen Persönlichkeit seines Bruders zurücksteht. 

    Weltbürger und Provokateur: Durow, das Mem

    Die Internet-Unternehmer der digitalen Ära sind zu popkulturellen Figuren geworden, deren Biographien teils noch zu Lebzeiten verfilmt werden, wie etwa im Fall des amerikanischen Social-Media-Wunderkinds Mark Zuckerberg (Verfilmung The Social Network, 2011). Dies gilt erst recht für den exzentrischen Dollar-Milliardär Durow. In seinem charakteristischen Outfit in schwarzer Kleidung mit Kapuze scheint er selbst dem antiutopischen Film Matrix um den Hacker Neo entsprungen zu sein, dessen Physiognomie er sogar nachahmt.     
    Durow charakterisiert sich seit seiner Ausreise aus Russland als Weltbürger. Versehen mit einem Pass des Inselstaats St. Kitts und Nevis reist er mit seinem Bruder und seinem Team von Programmierern durch die Welt und lebt immer nur begrenzte Zeit an einem Ort, aktuell in Dubai. Der bekennende Vegetarier ist ebenso bekennender Libertarier und lehnt Nationen ab, ganz im Sinne der grenzenlosen digitalen Welt, innerhalb derer er sich bewegt. Seine asketischen Lebensregeln mit Verzicht auf Alkohol, Kaffee, Fleisch und Fernsehen und vorgeblich auch materiellen Besitz, rufen auch amüsierte Reaktionen hervor. Kritiker seiner exzentrischen Persönlichkeit verweisen auf eine Episode in seinem Leben, die in absolut jeder Darstellung seiner Biographie zwangsläufige Erwähnung findet: 2012 wirft Durow Geldscheine im Wert von einigen Tausend Rubel als Papierflieger aus den Fenstern der Konzernzentrale an der Petersburger Promeniermeile Newski-Prospekt. Und das gerade am Tag des Sieges, an dem die gesamte russische Nation des Großen Vaterländischen Krieges gedenkt.9 Seinen Kritikern gilt dies als Beleg für seine zynisch-abgehobene Entfremdung von den eigenen Landsleuten. 
    Bezeichnenderweise hat der programmierende Philologe diese Episode zu seinen Gunsten gewendet und sogar in sein Markenzeichen verwandelt: Der Papierflieger wurde zum Telegram-Logo, aber auch zum Symbol der Proteste gegen die Blockade des Messengers sowie der restriktiven russischen Medienpolitik im Allgemeinen10

    Screenshot von Durows „Instagram“-Account
    Screenshot von Durows „Instagram“-Account

    Durow versteht sich also nicht nur auf die technische Seite des Programmierens, sondern auch auf die Kunst der Steuerung der Netzöffentlichkeit durch virale Strategien. Putin persönlich challengt er auf seinem Instagram-Account mit Bildern, die ihn in der präsidialen Freizeitpose mit durchtrainiertem freien Oberkörper zeigen: #PutinShirthlessChallenge.11 Und verwandelt sich dabei sukzessive selbst in ein Mem. 
    Gleichzeitig, so Soziologen, entwickelt sich der bei aller Exzentrik prinzipientreue Durow zu einem alternativen role model12 für die Jugend der Putin-Ära.13 Der PR-Stratege Aleksej Firsow sieht in ihm einen neuen Typus des russischen Unternehmers jenseits der etablierten oligarchischen Strukturen. Der erklärte Unwille Durows, sich im direkten Sinne politisch zu betätigen, fördere angesichts der weit verbreiteten Elitenmüdigkeit seine Glaubwürdigkeit und Popularität nur noch.14 


    1. Forbes: «Vedomosti» ušli iz «VKontakte» iz-za konflikta vokrug avtorskich prav ↩︎
    2. vk.com: Post von Pavel Durov vom 16. April 2014 ↩︎
    3. Novaya Gazeta: VKontakte s DPS ↩︎
    4. Moskowski Komsomolez: Osnovatel‘ VKontakte: «Rossija nesovmestima c internet-biznesom» ↩︎
    5. Ria Nowosti: Jurist ozenil vozmožnost‘ sotrudničestva meždu vlastjami i Telegram ↩︎
    6. Forbes: Tektoničeskaja platforma: Forbes priznal Pavla Durova dollarovym milliarderom ↩︎
    7. zeit online: Der Traum von einem neuen Internet ↩︎
    8. Forbes: Bol’šaja igra: Počemu Pavel Durov ne boitsja FSB ↩︎
    9. Neue Zürcher Zeitung: Der Telegram-Gründer nimmt es auch mit dem russischen Geheimdienst auf ↩︎
    10. Instagram: #digitalresistance ↩︎
    11. Instagram: Post von Pavel Durov vom 14. August 2017 ↩︎
    12. Meduza: Blocking Telegram is a blow to Russia’s future ↩︎
    13. Memepedia: Golyj tors i Digital Resistance: Kak Pavel Durov stal simvolom svobodny i geroem pokolenija ↩︎
    14. Forbes: Čelovek c charizmoj: možet li Pavel Durov stat‘ političeskim liderom ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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    Eingeschränkte Freiheit für alle

    Die Vorwürfe wiegen schwer: Auf der Geburtstagsfeier des unabhängigen Exilmediums Meduza soll der Chefredakteur und Mitgründer des Mediums, Iwan Kolpakow, bereits stark angetrunken, die Frau eines Mitarbeiters sexuell belästigt haben. Er selbst kann sich nach eigenen Angaben an den Vorfall nicht erinnern, könne also nicht ausschließen, dass es so passiert ist. 

    Das Ganze geschah Ende Oktober. Meduza nahm sich des Vorfalls schließlich offensiv an und machte ihn Anfang November öffentlich. Das Medium verstand diesen Schritt auch als Teil der „Bestrafung“ Kolpakows, der weiter Chefredakteur bleiben sollte. Meduza betonte, dass es sonst niemals ähnliches Verhalten oder Vorwürfe gegen Kolpakow gegeben habe. Am 9. November erklärte Kolpakow seinen Rücktritt und schrieb dazu in einem Facebook-Post: „Ich gehe, weil ich keinen anderen Ausweg sehe. Weil es so besser ist für Meduza.“

    Der ganze Vorfall polarisierte die russische Netzgemeinde stark. Manche lobten die Transparenz, andere, wie etwa RT-Chefredakteurin Margarita Simonjan warfen Meduza, das etwa auch über sexuelle Belästigung in der Duma kritisch berichtet hatte, „Heuchelei“ vor.
    Oleg Kaschin nimmt den Fall und die darum entstandene Debatte zum Anlass, um aus der Metaebene auf die russische Medienszene zu blicken. Und stellt fest: „die Guten“ oder „die Bösen“ gibt es nicht mehr.

    Am erstaunlichsten im Streit um die sexuelle Belästigung bei Meduza ist das, was aus dem kremltreuen Lager zu hören ist. Zwar wird ständig betont, dass es nur eine kleine lettische Onlinezeitung ist, doch die Freude über deren Fiasko ist so unbändig, als ginge es um die Aufhebung sämtlicher westlicher Sanktionen gegen Russland oder um die Anerkennung der russischen Krim durch alle Staaten unseres Planeten oder was es sonst noch an unumstrittenen Anlässen zur patriotischen Freude gibt (Atomkrieg? Die Verhaftung Nawalnys? Ein Oscar für den Film Die Krimbrücke?). 

    Über Meduza ereifern sich nun wild durcheinander unterschiedliche Autoren – es ist schon klar aus welchem Kreis: von Wladimir Solowjow, Margarita Simonjan und Andrej Babizki bis hin zu unbekannten Namen aus kleineren patriotischen Medien. 
    Und es wird sogar klar, warum sie sich so freuen – als Leitmotiv zieht sich durch alle Beiträge: „Da haben nun die Liberalen endlich ihr wahres Gesicht gezeigt.“ Gefeiert wird nicht der Sieg über Meduza, sondern über die Liberalen.

    Gefeiert wird der Sieg über die Liberalen

    Das ist sonderbar, denn der Hauptakteur dieses Skandals ist kein Moskauer Veteran und Urgestein der demokratischen Presse mit einem Gussinski und Beresowski im Portfolio, sondern der Permer Philologe Iwan Kolpakow. Das ist kein Viktor Schenderowitsch
    Über die politischen Ansichten des Chefredakteurs von Meduza ist wenig bekannt, und auch Meduza ähnelt weder Echo Moskwy noch der Novaya Gazeta besonders stark. Handelt es sich um eine parteiliche Zeitung? Ja, wahrscheinlich, aber vor allem insofern, als dass die Partei, deren Interessen Meduza vertritt, Meduza selbst ist. Und der Konflikt um die sexuelle Belästigung ist genau aufgrund dieser Parteilichkeit entstanden – die Redaktion wurde zur Geisel ihrer eigenen Prinzipien: Feminismus, #MeToo und das ganze New-York-Times-Programm. 

    Feminismus, #MeToo und das ganze New-York-Times-Programm

    Eine Gruppe junger Leute, die sich ausmalen, vor dem Fenster sei Manhattan – das sind keine Dissidenten, sondern stiljagi, die russische Entsprechung der Hipster. Doch für RT und andere loyalistische Sprachrohre stellen gerade diese stiljagi eine überaus ernste Bedrohung dar, die überaus ernste Aufmerksamkeit verdient. 
    Nicht einmal über Nawalny wird so wütend geschrieben wie über Kolpakow, und es fällt ihnen anscheinend gar nicht auf, wie merkwürdig ihre weder dem Vorfall und Ausmaß noch dem Subjekt angemessene Reaktion wirkt.
    Als unfreiwillige Verbündete von RT im Kampf gegen Meduza agierte die russische BBC – mit ihrem Artikel begann der Skandal, zudem sieht es ganz danach aus, als hätte Meduza sich nach dem Anruf der BBC gezwungen gesehen, den Konflikt an die Öffentlichkeit zu tragen. Als Meduza sich in einer nächsten Phase des Konflikts von dem Mitarbeiter trennte, mit dessen Beschwerde alles angefangen hatte, war es ausgerechnet ein Journalist der BBC, Ilja Barabanow, der das ganze Selbstverteidigungssystem von Meduza sanft, aber auf tatsächlich sehr schmerzhafte und überzeugende Weise zerlegte. 

    Aber auch das hat etwas sehr unangenehm Ambivalentes. „Ausländisches Medium, das auf Russisch über und für Russland schreibt“ – unter diese Definition fallen Meduza und die russische BBC gleichermaßen, sie sind direkte Konkurrenten, zudem hat die merklich vergrößerte russische BBC in den vergangenen ein, zwei Jahren mehr Journalisten aus russischen Qualitätsmedien übernommen als alle anderen. Der Angriff der BBC auf Meduza erweckt jetzt den Eindruck eines ziemlich harten Konkurrenzkampfes, der wahrscheinlich darauf ausgerichtet ist, sich die wertvollsten Mitarbeiter der mit Unannehmlichkeiten kämpfenden Zeitung zu schnappen (Ilja Barabanow lässt durchblicken, dass bei Meduza jetzt Leute kündigen).

    Eindruck eines harten Konkurrenzkampfes

    Versuchen Sie einmal, diesen Konflikt aus der gewohnten Perpektive des Gegensatzpaares kremlfreundliche/kremlkritische Presse zu beschreiben – es geht nicht. Die Konfliktlinien in der Medienlandschaft liegen heute ganz anders als noch in den 2000er und den früher 2010er Jahren. Und die erhöhte Aufmerksamkeit für Meduza hat in vielerlei Hinsicht damit zu tun, dass es mittlerweile überhaupt gar keine größeren unabhängigen Medien mehr gibt. Das Modell Echo Moskwy (die Aktienmehrheit hält Gazprom, Schenderowitsch ist auf Sendung) wirkte einst wie eine Anomalie. Inzwischen ist das ein durchaus universelles Modell. 

    Mit der Formel „loyaler Medieneigner und rebellische Journalisten“ kann mittlerweile auch die Standards setzende Novaya Gazeta beschrieben werden wie auch das Medienunternehmen RBC mit Vedomosti als Zeitung, wie auch Gussinskis NTW-Abkömmling RTVi. Und angesichts der Tatsache, dass der Name des Investors von Meduza seit vier Jahren geheimgehalten wird, kann man leicht überspitzt sagen, dass auch Meduza auf diese Liste gehört. 

    An dieser Stelle möchte ich auf ein früher undenkbares Phänomen hinweisen: Gerade die loyalen oder staatlich kontrollierten Medien bieten breitgefächerte Möglichkeiten für die unpolitische Selbstverwirklichung jener Journalisten, die sich sonst mit unerwünschten Dingen beschäftigen würden. Ein Teil des Teams der früheren Afisha kam bei Yandex unter, die Projekte des früheren Chefredakteurs von Doshd, Michail Sygar, werden ebenfalls von Yandex und der Sberbank unterstützt, und sogar der Produzent jener verhängnisvollen Recherchereise nach Zentralafrika, Rodion Tschepel, macht Sachen über Russland mit Unterstützung der Gazprombank. 
    Das russische Regime war noch nie ein großer Freund der freien Presse, aber in der Rolle ihre Beschützerin fühlt es sich ziemlich behaglich – jedenfalls, solange die Presse (sollen wir sie „bedingt frei“ nennen?)  nicht die berühmte doppelt durchgezogene Linie übertritt.

    Nur nicht die Linie überschreiten

    So gesehen ist der sensationelle Auftritt Kirill Kleimjonows (der nicht einfach Moderator ist ist, sondern der Stellvertreter von Perwy Kanal-Chef Konstantin Ernst) in der Sendung Wremja, in der er sich für Kirill Serebrennikow stark machte, genauso ein Faktum der neuen Medienrealität wie der Konflikt bei Meduza. Perwy Kanal tritt plötzlich mit den gleichen Positionen auf wie beispielsweise Doshd – und für Doshd ist das eine Sensation: Genau wie die Loyalisten von RT sind die unabhängigen Journalisten an eine Weltsicht gewöhnt, in der die „kremltreue“ Presse der „unabhängigen, illoyalen“ gegenübersteht. Doch die Grenzen zwischen „Unabhängigkeit“ und „Kremltreue“ sind inzwischen gänzlich verwischt, und wer würde die Hand dafür ins Feuer legen, dass der Kreml bei der Novaya Gazeta seltener mit Weisungen anruft als beim Perwy Kanal

    Früher war es einfacher: Die „Guten“ arbeiteten bei den einen Medien, die „Bösen“ bei den anderen. Jetzt aber gibt es nur eine einzige Richtlinie eines einzigen Auftraggebers – innerhalb eines Spektrums sind alle gleichmäßig verschmiert, es gibt keine „Guten“, beziehungsweise, je nach Sichtweise, keine „Bösen“ mehr.

    Eingeschränkte Freiheit ist für alle genug da. Außerhalb dieses Spektrums gibt es nur noch die inländischen Versionen der Auslandssender wie RT einerseits und kleine Nischenprojekte im Stil von Mediazona, Colta oder den Medien von Chodorkowski andererseits. Wenn auch sie wegfallen, wird in der russischen Medienwelt die endgültige Ordnung herrschen.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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    Verkehrsregeln für russische Medien

    Medien-Boykott der Staatsduma

    Video #19: Best of Kleimjonow

    „Das sollte wohl eine Einschüchterung sein“

    „Einen großen Roman werde ich nicht mehr schreiben“

    The New Times: Crowd vs. Willkür

  • The New Times: Crowd vs. Willkür

    The New Times: Crowd vs. Willkür

    „Ihr habt sie doch nicht mehr alle“ – das war das Signal, so meint der russische Journalist Alexander Pljuschtschew, das die Bürger an die Staatsmacht senden wollten, als sie bei einem Blitz-Crowdfunding mehrere Millionen Rubel für The New Times sammelten.

    Dem kremlkritischen Onlinemagazin war Ende Oktober eine Strafe in Höhe von 22,25 Millionen Rubel (rund 290.000 Euro) auferlegt worden – die höchste Strafe, die je gegen ein russisches Medium verhängt wurde. Begründet wurde die Entscheidung mit nicht vorschriftsgemäßer Deklaration von ausländischen Einkünften. Chefredakteurin Yevgenia Albats bezeichnete den Fall als ohnehin verjährt und sieht eine politische Motivation. Die Zeitung kündigte Berufung an.

    Dank des Crowdfundings muss The New Times nun keine Schließung befürchten. Pawel Aptekar kommentiert die Soli-Aktion auf Vedomosti.
     

    Die erfolgreiche und rasante Spendenaktion, die gestartet wurde, damit das Magazin The New Times die auferlegte Geldstrafe bezahlen kann, zeigt eine enorme Solidarität der Bürger. Für die ist der Kampf gegen staatliche Ungerechtigkeit offensichtlich wichtiger als politische oder persönliche Divergenzen mit den Opfern der Staatsmacht.

    Die Unterstützung von bestimmten Menschen oder Organisationen ist im heutigen Russland für viele Bürger eine Art freiwillige Steuerzahlung, ihr persönlicher Beitrag im Kampf gegen bürokratische Willkür. 

    Eine freiwillige Steuerzahlung

    Das Onlinemagazin The New Times hat innerhalb von nur vier Tagen 26,8 Millionen Rubel [rund 350.000 Euro – dek] an Spenden gesammelt. Das ist eine erheblich höhere Summe als die geforderte Strafe von 22,25 Millionen Rubel [rund 290.000 Euro – dek].
    Die Spendensumme ist ein Rekord, sowohl was die Höhe als auch die Zeit betrifft, innerhalb der sie gesammelt wurde – die Entscheidung des Gerichts ist noch nicht einmal rechtskräftig (die Berufungsprüfung ist für den 20. November angesetzt). 

    Der Unternehmer und Mäzen Boris Simin, Sohn des Gründers des Fonds Dinastija Dimitri Simin, nannte das gesammelte Geld ein „Lösegeld für einen Banditen, der einem das Messer noch gar nicht an die Gurgel hält“.

    20.000 Groß- und Kleinspender, die sich nicht scheuten, ihre Namen zu nennen – das sind mehr als alle Abonnenten des Magazins. Der Wunsch, dass das Oppositionsmedium seine Arbeit weitermachen  kann, trifft sich dabei mit dem Bestreben, die Staatsmacht zu ärgern: Die Erzürnten haben buchstäblich mit dem Rubel abgestimmt. 

    Mit dem Rubel abgestimmt

    Der Erfolg der Kampagne kann natürlich umschlagen in neue hohe Geldstrafen für Aktivisten, oppositionelle Medien und Non-Profit-Organisationen. Aber allein die Tatsache des Erfolgs eines solchen politischen Crowdfundings, nach all den Charity-Aktionen, lässt hoffen. Denn die Geschichte des Magazins, das – bildlich gesprochen – Geld für eine dringende OP benötigt, ist wichtig, aber nicht einzigartig. Die Organisation Transparency International Russia hat kürzlich innerhalb von acht Tagen eine Million Rubel gesammelt – eine Summe, die die Organisation nach einem Gerichtsentscheid aufbringen musste, als Entschädigungszahlung an den Rektor der Bergbauuniversität Wladimir Litwinenko. 
    Doch es gelingt nicht nur bei dringenden Zahlungsforderungen, Geld zu sammeln, sondern auch für die alltägliche Arbeit von Organisationen – unter anderem für den Fonds für Korruptionsbekämpfung von Alexej Nawalny, die Gefangenenorganisation Rus Sidjaschtschaja (dt. „Einsitzende Rus“) und für Mediazona.

    Die Spender stehen nicht immer voll hinter denen, denen sie helfen, aber der Wunsch nach Gerechtigkeit und Solidarität mit denen, die vom Staat verfolgt werden, ist stärker als die unterschiedlichen Ansichten. 
     

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Viel Rauschen um Nichts

    Viel Rauschen um Nichts

    Alle reden von Fake-Nachrichten, es gibt aber auch jede Menge Nicht-Nachrichten: Oleg Kaschin auf Republic über das immer lauter werdende Inforauschen.

    Bald schon wird sich, wie gemeinhin bekannt, die Staatsduma der Onanie hingeben. Dieser Scherz bietet sich nicht nur an, man kommt gar nicht nicht daran vorbei – und er ist aufgekommen als Reaktion auf die Initiative des Abgeordneten Onischtschenko. Der hat gefordert, an Schulen über das Übel der Masturbation zu sprechen.

    Wenn „in der Staatsduma etwas gefordert wurde“, dann hat aller Wahrscheinlichkeit nach irgendein Journalist einen enorm auf skandalöse Bekanntheit erpichten Abgeordneten angerufen und ihn gefragt, ob es nicht irgendwas Neues gibt. Und selbst wenn es nichts richtig Neues gibt, filtern die beiden gemeinsam nach und nach die potentiell auf große Resonanz stoßenden Themen heraus, und am Ende des Gesprächs sagt der Abgeordnete, er werde möglicherweise versuchen, irgend sowas in die nächste Sitzung einzubringen. 

    Die Nachricht ist fertig, sie erscheint in den Feeds. Und obwohl es kein Ereignis gibt und so gut wie garantiert auch keines geben wird: Irgendwer glaubt’s, irgendwer empört sich, irgendwer denkt sich lustige Scherze beim Weiterspinnen der Nachricht aus, und alle klicken drauf. 
    Die Redakteure des Fernsehsenders RTVi hatten die sehr gute Idee, solche Nachrichten einem besonderen Feed mit dem Namen „Inforauschen“ zuzuordnen und dabei jedes Mal dröge zu erklären, warum gerade diese Nachricht bedeutungslos ist, aber solche Erklärungen funktionieren grundsätzlich nicht – Menschen, für die ein skandalöser Abgeordneter und eine beiläufige Phrase von ihm sofort Gesetz sind, die vertiefen sich in der Regel nicht in Erklärungen, und die Nachricht entwickelt ihr Eigenleben. So ist es nun bei Onischtschenko und dem Onanieren.

    Rauschen, wo keine Info ist

    Inforauschen – das ist nicht das Gleiche wie Fake News und postfaktische Wahrheit. Sogar im Vergleich zu gewöhnlichen Nachrichten schlagen Nachrichten dieser Art alle Glaubwürdigkeitsrekorde und können wohl nur konkurrieren mit einem dieser unerträglichen offiziösen Berichte der Sorte „Wladimir Putin hat ein Arbeitstreffen abgehalten“ . 
    Wenn Sie im Feed lesen, dass Pjotr Wersilow vergiftet wurde, bedarf das einer Überprüfung, aber die Behauptung, dass Onischtschenko etwas gefordert hat, bedarf keiner Überprüfung – und wenn sich doch jemand daran macht, es zu überprüfen, reichen einige Sekunden aus, um das wörtliche Zitat herauszusuchen – nun ja, er hat es gefordert, alles klar. 
    Inforauschen besteht wirklich aus dem, was absolut nicht zu bestreiten ist. Wenn sich Senator Puschkow in seinem Twitteraccount über jemanden lustig gemacht hat, besteht kein Zweifel – er hat sich lustig gemacht. Wenn Maria Sacharowa gefordert hat, in England eine Hauptverwaltung für Rebranding (glawnoje rebrendingowoje Uprawlenije, GRU) aufzubauen – besteht ebenfalls keine Notwendigkeit, es zu überprüfen, über so etwas wird nicht gescherzt, sie hat es tatsächlich gefordert. 

    Es ist schwer zu ermitteln, wie viel Prozent des Nachrichtenstroms heute aus diesem Zeug bestehen – manchmal scheint es der größere Teil zu sein, aber selbst wenn es der geringere Teil ist, bestimmen doch ausgerechnet diese Nachrichten heute weitgehend Russlands Informationsantlitz. Was gibt es Neues im Land? Sacharowa hat gescherzt, Puschkow hat gelacht, in der Staatsduma wurde etwas gefordert.

    Durch die recht niedrige Spontanität in den heutigen russischen Medien kommen Zweifel auf, dass das Inforauschen von selbst entsteht – wenn sämtliche populäre Medien, einschließlich der staatlichen, keinen einzigen Tweet von Senator Puschkow auslassen (der einfach nur Senator, nicht einmal Ausschussvorsitzender ist), ist es keine Paranoia, von einer Methodik zu sprechen, in der als eigener Punkt das Monitoring von Puschkows Tweeds mit anschließender medialer Verbreitung aufgeführt ist.

    Unbestreitbarer Champion: Sergej Dorenko

    Wenn eine sehr abstrakte Nachricht à la „im Netz wurde sich lustig gemacht“ durch die Feeds strömt (in der Regel ist die Rede von ein oder zwei namenlosen Bloggern), kann man das ebenfalls schwer den Naturgewalten zuschreiben. 

    Es gibt einen unbestreitbaren Champion, der solche Nachrichten in seinen Sendungen am häufigsten erwähnt (sowohl nach Augenmaß als auch nach Angaben von Medialogia): der von Sergej Dorenko geleitete Radiosender Govorit Moskva.  Auf diesem Sender wurde ausgestrahlt, wie Onischtschenko die Bekämpfung der Onanie fordert, auf diesem Sender wurde ausgestrahlt, wie sich die Abgeordnete Vera Gansja über das niedrige Gehalt der Abgeordneten beklagt. Eine Flut von Nachrichten verweist auf Govorit Moskva.

    Hinter jeder Nachricht, das ist klar zu erkennen, steht strapaziöse und hochwertige Reporterarbeit, die Leute klingeln die Newsmaker an, bauen Beziehungen zu ihnen auf, ringen ihnen Exklusivgeschichten ab, und nur durch ein kleines Detail wird der ganze Prozess zu wahrem Antijournalismus: Diese ganze strapaziöse und hochwertige Arbeit wird mit dem Ziel verrichtet, dass etwas offenkundig Sinnloses dabei herauskommt; Viralität allein um der Viralität willen stellt den Erfolg dar, und das, was früher als von niemandem benötigte Pressemitteilungen verschickt wurde, wird nun als wertvolles Exklusivmaterial ausgegraben und verkauft. 
    Die künstlichen und bedeutungslosen Nachrichten, mühsam vom Radiosender Govorit Moskva hervorgebracht, verbreiten sich über die Feeds der anderen Massenmedien und über soziale Netzwerke, und sie nehmen ihren Platz ein zwischen den tatsächlichen Nachrichten und dem übrigen Inforauschen.

    Es ist anzunehmen, dass sich Sergej Dorenko eben diese Lizenz für Inforauschen auf irgendeine Art und Weise erarbeitet hat und Bevollmächtigter für die Erzeugung von Pseudonachrichten geworden ist. Vor einigen Jahren hatte Aram Gabreljanows Izvestia diesen Posten, und nun, wo der Platz freigeworden ist, hat ihn der Radiosender Govorit Moskva eingenommen, und die besondere Rolle des Senders innerhalb der Struktur der parastaatlichen Medien verdient jetzt auf jeden Fall sehr große Aufmerksamkeit. Es ist klar, dass es sehr viele verschiedene Methoden gibt, mit denen die Gesellschaft durch Medien manipuliert werden kann. Aber wenn sich die Staatsmacht nun genau diese Methode aneignet, wird sie aus ihr noch Nutzen ziehen, darauf müssen wir gefasst sein.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • „Als Kind war ich Fan von Detektivgeschichten“

    „Als Kind war ich Fan von Detektivgeschichten“

    Im Runet hat dieser Auftritt für viel Spott und Häme gesorgt: Kaum hatte der britische Geheimdienst Fotos von den beiden Verdächtigen im Fall Skripal veröffentlicht, gaben die beiden RT-Chefredakteurin Margarita Simonjan ein Interview. Sie seien nur russische Touristen, versicherten sie, die die „englischen Gotik genießen“, die „berühmte Kathedrale von Salisbury“ besichtigen wollten. Ruslan Boschirow und Alexander Petrow seien ihre richtigen Namen.

    Es waren vor allem russische Medien, The Insider und Fontanka, die weiter recherchierten: Demzufolge sind die beiden tatsächlich Mitarbeiter des Militärgeheimdienstes GRU, die mit bürgerlichen Namen Anatoli Tschepiga und Alexander Mischkin heißen sollen. The Insider arbeitete dabei eng zusammen mit dem investigativen Recherchenetzwerk Bellingcat

    Wie genau sind die russischen Journalisten bei ihren Recherchen vorgegangen? 
    Und: Die Ergebnisse dürften dem Kreml kaum gefallen haben – fürchten sie jetzt nicht um ihre Sicherheit? 
    Diese und andere Fragen stellt Meduza dem Chefredakteur von The Insider Roman Dobrochotow.


    Update: Am 23. Juli 2021 wurde The Insider zum sogenannten „ausländischen Agenten“ erklärt.

    Investigativjournalist Roman Dobrochotow bei einer Protestaktion im Jahr 2009 – „Wir tragen alle mehr oder weniger ein Risiko.“ / Foto © Ilya Varlamov/varlamov.ru
    Investigativjournalist Roman Dobrochotow bei einer Protestaktion im Jahr 2009 – „Wir tragen alle mehr oder weniger ein Risiko.“ / Foto © Ilya Varlamov/varlamov.ru

    Meduza: Dies ist nicht Ihre erste gemeinsame Recherche mit Bellingcat. Da gab es im letzten Jahr die Nachforschungen zur Verbindung Russlands mit dem Umsturzversuch in Montenegro und die Geschichte mit dem GRU-General, den Sie als Verantwortlichen für den Abschuss der Boeing MH-17 über dem Donbass nennen. Wie hat Ihre Zusammenarbeit angefangen?

    Roman Dobrochotow: Ich erinnere mich nicht mehr genau, ob die ukrainische oder montenegrinische Untersuchung zuerst war. Irgendwann im Jahr 2016 machte ich Bekanntschaft mit einem der führenden Investigativjournalisten von Bellingcat, Christo Grozev, der unter dem Pseudonym Moris Rakuschizki publiziert.

    Und dann war ich im selben Jahr zu einem Training von Bellingcat in Tbilissi und lernte dort einen weiteren Investigativjournalisten, Aric Toler, kennen. Mit denen arbeiten wir hauptsächlich zusammen, den Gründer von Bellingcat Eliot Higgins kenne ich kaum. 

    Wir sind immer bereit, mit Rechercheorganisationen zusammenzuarbeiten. Aber im vorliegenden Fall war die Zusammenarbeit besonders produktiv, weil sie in Russland dringend einen Partner brauchten. Es gibt vieles, was für russische Journalisten einfacher ist. 

    In Loiga [wo Alexander Mischkin, also Petrow, geboren wurde] gaben Einheimische unserem Korrespondenten gerne und bereitwillig Auskunft. Es ist richtig, dass die Bewohner auch mit Ausländern sprechen, nur insgesamt ist es für Leute von Bellingcat in Russland schwierig, denn niemand weiß, was hier womöglich mit ihnen passiert.

    In all Ihren Untersuchungen kommen Mitarbeiter des russischen Militärnachrichtendienstes GRU vor. Ist das Zufall?

    Anfangs war  ich auch überrascht. Noch vor der Zusammenarbeit mit Bellingcat machten wir Recherchen über russische Hacker, die in den Briefwechsel von Emmanuel Macron eingedrungen sind. Das waren die gleichen Leute [vom GRU]. Es gelang uns zu beweisen, dass Fancy Bear, der auf amerikanische Server eindrang, mit dem GRU in Zusammenhang stand. Wir haben sogar die genaue Militäreinheit ausgemacht. Die Recherchen ergaben, dass bei allem, was wir anlangten, der GRU die Hände im Spiel hatte.

    Die Recherchen ergaben, dass bei allem, was wir anlangten, der GRU die Hände im Spiel hatte

    Eigentlich ist das durchaus verständlich. Denn uns wie auch Bellingcat interessieren die lauten Themen: Ukraine, Hacker, Skripal. Diese sind, sagen wir, mit der russischen Aggression nach außen verbunden, die seit 2014 zugenommen hat. Und es gibt nur diese eine Organisation, die sich mit der Annexion von Gebieten in Nachbarstaaten, Hackerangriffen und Giftanschlägen beschäftigt. Der FSB ist für Innenpolitik verantwortlich und der SWR für Spionage und Informationsbeschaffung.

    Was war der Anhaltspunkt bei den Recherchen über Petrow und Boschirow? Das Interview der beiden mit Margarita Simonjan?

    Nein, wir haben uns bereits früher für das Thema interessiert. Und zwar, als das britische Fernsehen die zwei Fotos zeigte, und der britische Geheimdienst MI-6 mitteilte, sie würden die richtigen Namen kennen, die Beweise jedoch würden fehlen.

    Jetzt wussten wir, wonach wir suchen mussten. Wir begriffen, dass es sich um GRU-Spione handeln musste, wenn das sogar der britische Geheimdienst verlauten ließ. Die Namen waren gefälscht, irgendwo mussten die richtigen sein. Wir kannten die Täter der Story also bereits und mussten jetzt Informationen zu ihnen finden.

    Als die beiden bei Simonjan auftraten, war sofort klar, dass man der russischen Bevölkerung nicht würde beweisen müssen, was von diesen beiden Liebhabern gotischer Architektur zu halten war. Wir mussten trotzdem Beweisdokumente finden. Wir fanden Passauszüge, und das war sehr wichtig.

    Erzählen Sie, wie war die Aufgabenteilung. Soviel ich weiß, arbeiteten Sie mit offenen Quellen. Was den Zugang zu nicht öffentlichen Datenbanken betrifft, wie zum Beispiel die der russischen Pässe, war das Bellingcats Aufgabe. Wie kommt das?

    Den Zugang zu nicht öffentlichen Datenbanken hatte Bellingcat erhalten. Wir arbeiteten mit offenen Datenbanken, wie zum Beispiel Rosrejestr. Bei offenen Quellen und Sozialen Netzwerken arbeiteten wir zusammen, und alles, was mit Anrufen und Reisen zu tun hatte, erledigten wir.

    Warum aber hat ausgerechnet Bellingcat mit den nicht öffentlichen Datenbanken gearbeitet?

    Da kamen zwei Dinge zusammen. Erstens wollten wir die Journalisten nicht zum illegalen Handeln ermuntern. Zweitens haben wir in der Tat keinen Zugang [zu Leuten mit Zugriff auf nicht öffentliche Datenbanken]. Und Bellingcat hat ihn. Also mussten wir nicht mal diskutieren: Sie kamen an die Informationen heran, mit denen wir dann wiederum weiterarbeiteten.

    Gab es irgendwelche Quellen außer den öffentlichen Daten oder offiziellen Datenbanken? Zum Beispiel Informanten?

    Es gab Leute, die uns Expertentipps gaben, zum Beispiel darüber, wo die Mitglieder des Militärgeheimdienstes ausgebildet werden. Aber das spielte keine so große Rolle. 

    Als Kind war ich Fan von Detektivgeschichten. Und hier herrscht auch dieser Hauch von Kindheit, es macht richtig Spaß

    Der schwierigste Teil einer solchen Arbeit ist das Festlegen des Untersuchungs-Designs, wie Wissenschaftler es nennen. In diesem Fall war es das Recherche-Design. Sich ausdenken, wie man nach Informationen suchen wird: Da haben Sie also den Namen von jemandem, einen gefälschten Namen. Und jetzt? Wie suchen Sie den echten? Sie haben alle Datenbanken der Welt. Wo ist der kürzeste Weg von Punkt A nach Punkt B? Hier ist kreatives Denken gefragt.

    Als Kind war ich Fan von Detektivgeschichten. Sherlock Holmes war mein erstes Buch, das ich von vorne bis hinten gelesen habe. Und hier herrscht auch dieser Hauch von Kindheit, es macht richtig Spaß.

    In Ihren Artikeln werden die Recherchen Schritt für Schritt aufgezeigt. Dabei ist nicht immer klar, was hinter den Kulissen bleibt. 

    Zum Beispiel die Geschichte mit Petrow, der Mischkin ist. Die Hypothese war folgende: Angenommen, er hat nur den Familiennamen gewechselt und alle anderen Daten sind unverändert geblieben. Das war doch die erste Hypothese, die dann auch gleich stimmte, oder doch nicht? 

    Das war nicht die erste Hypothese, davor gab es andere, die nicht stimmten. Wäre uns dieser Geistesblitz gleich gekommen, dass ein Mitglied des Militärgeheimdienstes wie bei früheren Recherchen, zum Beispiel über Montenegro, nur den Familiennamen ändert, hätte uns das die Sache sehr vereinfacht, und die Recherche wäre viel früher publiziert worden.

    Wir haben ziemlich lange dies und das probiert, angefangen mit der Suche nach dem Foto auf den Sozialen Netzwerken. Mir brannten die Augen, weil ich pro Tag tausende von Fotos von Absolventen der Militärgeheimdienstschulen in den Sozialen Netzwerken anschauen musste. 

    Mir brannten die Augen, weil ich einen ganzen Tag tausende von Fotos in den sozialen Netzwerken anschauen musste

    Ziemlich lange haben wir in den Gängen dieses Labyrinths herumgestochert. Doch nach ungefähr einer Woche kam uns der Gedanke, wir könnten ganz einfach stumpf die Datenbanken durchkämmen nach Familiennamen, Vatersnamen und Geburtsdatum. Wir wurden sofort fündig. Schon der erste Auszug aus St. Peters­burger Daten gab uns den Namen Mischkin.

    Boschirow wurde meines Wissens anhand eines Fotos ausfindig gemacht. Sie haben es gefunden, als Sie den Zeitraum seines möglichen Abgangs von einer Militärgeheimdienstschule, die mit dem GRU zusammenhängt, eingegrenzt haben. Trotzdem mussten Sie wohl tausende oder zehntausende von Namen filtern?

    Wären wir der Reihe nach vorgegangen, ja. Aber hier hatten wir sofort Glück. 
    Erstens war die DWOKU auf der Liste der erstrangigen Schulen, die wir anschauten. 
    Zweitens war auf einem Absolventen-Foto jemand zu sehen, der uns entfernt an Tschepiga erinnerte – ich weiß bis heute nicht, ob er es war oder nicht. 
    Da schauten wir uns die DWOKU genauer an. Ich hatte dann noch mal Glück. Wir schauten uns all diese tausend Absolventen an und stießen dabei auf das Foto mit dem Ehrendenkmal und dort aufgelistet die Helden Russlands im Hof dieser Schule. In der DWOKU werden alle vor diesem Ehrendenkmal fotografiert. Und der Name Tschepiga prangte da die ganze Zeit in goldenen Lettern.

    Der Recherchebericht von „The Insider“ – „Ziemlich lange haben wir in den Gängen dieses Labyrinths herumgestochert.“
    Der Recherchebericht von „The Insider“ – „Ziemlich lange haben wir in den Gängen dieses Labyrinths herumgestochert.“

    Worin unterschied sich gerade dieser Name? Weil es keine Biografie dazu gab?

    Um genau zu sein, hatten wir zwei Namen ohne Biografie. Bei dem einen stimmte das Alter nicht. Und Tschepiga passte. Es war also klar, dass es um ein Mitglied des Militärgeheimdienstes mit verdeckter Biografie ging, der irgendeine unglaubliche Heldentat begangen hatte. In der Passdatenbank stießen wir sofort auf ein Foto, was uns eine Menge Mühe ersparte.
     
    Haben Sie irgendwie versucht, die Informationen, die Sie aus den geheimen Datenbanken hatten, zu verifizieren?

    Nehmen wir zum Beispiel Mischkin. Es wurde uns klar, dass es nur eine Person mit einer solchen Kombination von Familien- und Vaternamen und Geburtsdatum geben konnte. Wir fanden heraus, dass er an einer Universität studiert hat und nach Moskau gegangen ist. Dass er in der Choroschewskoje Chaussee 76 registriert ist, wo sich das Hauptquartier des GRU befindet. Das allein ist schon ein seltsames Zusammenfallen von Umständen. 

    Weiter sichteten wir Dutzende andere Datenbanken: Mobiltelefone, Fahrzeugversicherungen, Fahrzeugregistrierung, Pässe und so weiter, und so weiter. 

    Wir fanden eine große Menge an Informationen, die bestätigten, dass die Person wirklich ein Mitglied des Militärgeheimdienstes war, und seine Biografie passt wie ein Puzzle-Teil zu der von Petrow.

    Und später fanden wir in dieser Datenbank einen Scan des Passes und auf dieser Kopie stimmen alle uns bekannten Daten überein. Und wir wussten, dass die Person, die uns den Scan gegeben hat, nicht von sich aus auf uns zugekommen ist und den Scan vorher nachjustieren konnte. Es gibt keine Möglichkeit und keine plausible Hypothese, wie diese Daten hätten manipuliert werden können.

    Wie schätzen Sie das Sicherheitsrisiko für die Journalisten ein? Verstehe ich richtig, dass sich Bellingcat freier bewegen kann, weil die russische Regierung nicht an sie herankommen?

    Bedingt. Skripal war auch außer Reichweite. Wenn es um einen Mordanschlag geht, tragen alle mehr oder weniger ein Risiko. Ehrlich gesagt scheint mir, dass sich unsere Partner von Bellingcat in größerer Gefahr befinden als ich. Denn sollte mich hier jemand kaltstellen, muss gar keiner erst fragen „Wer hat das getan und warum?“. 

    Bei einem Mord an einem Investigativjournalisten von Bellingcat im Ausland würden die russischen Behörden immer sagen können, sie hätten nichts damit zu tun, das sei nicht auf ihrem Territorium geschehen.

    Gab es für Sie oder andere Journalisten Gefahren?

    Naja. Bei unseren Recherchen geht es ja nicht um Tschetschenen oder Banditen, die uns bedrohen oder anzeigen könnten. 

    Viele machen sich natürlich Sorgen, und in England bekam ich den Rat, unter keinen Umständen nach Russland zurückzukehren. Ich denke aber, solange wir im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, sind die politischen Risiken solcher Handlungen, sei es eine Festnahme oder ein Mord, ziemlich hoch. Auch wäre der Gewinn nicht besonders groß, denn die Recherche ist publik.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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    Den Link zum Originalvideo finden Sie hier.


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    erschienen am 16.10.2018

    Dieses Video wird gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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