Der Tod der Journalistin Irina Slawina hat viele Kolleginnen und Kollegen der unabhängigen und liberalen Medienszene in Russland tief erschüttert: Am Freitagnachmittag setzte sie sich in Nishni Nowgorod selbst in Brand. Sie tat dies auf einer Bank vor dem Innenministerium der Oblast, zuvor hatte sie auf Facebook den Satz gepostet: „Ich bitte darum, der Russischen Föderation die Schuld an meinem Tod zu geben.“ Slawina hatte das Onlinemedium KozaPress gegründet, sie betrieb es weitgehend alleine und selbstständig. Kollegen bezeichneten sie als unerschrocken. Die Behörden hatten schon lange Druck auf Slawina ausgeübt. Mehrfach musste sie Strafe zahlen, einmal wegen eines Facebookposts, in dem sie eine neu angebrachte Stalin-Erinnerungstafel kritisiert hatte. Der Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor stehen mehrere Paragraphen zur Verfügung, die, willkürlich und selektiv angewandt, Druck auf Medien ausüben können – und als drohendes Damoklesschwert für Selbstzensur sorgen. Derzeit war Slawina in einem Verfahren um die in Russland als „unerwünscht“ eingestufte Organisation Otkrytaja Rossija als Zeugin geführt. Dies hatte den Behörden ausgereicht, um eine frühmorgendliche Hausdurchsuchung bei ihr durchzuführen, bei der etwa ihr Laptop und auch der ihrer Tochter beschlagnahmt wurden.
Irina Slawina konnte diesen Druck nicht mehr aushalten. Die Betroffenheit war groß: Warum brachte sie sich um, dazu noch auf diese Weise, fragten bestürzt auch viele liberale, kritische Journalistinnen und Journalisten. Kirill Martynow fragt in der Novaya Gazeta zurück: Was stimmt eigentlich mit uns nicht, dass wir diesen Terror für normal halten?
Wenn wir die Ereignisse in unserem Land analysieren, bemühen wir im Herbst 2020 routiniert den Begriff „politischer Terror“. Unter diesem Terminus versteht man die Einschüchterung politischer Opponenten mittels physischer Gewalt, und davon gibt’s mehr als genug. Wenn Menschen für die Teilnahme an friedlichen Demonstrationen in Haft sitzen, dann ist das politischer Terror. Die Polizei packt einen Menschen und sperrt ihn in einen Käfig, weil er andere Ideen und Gedanken hat. Jeder, der in einer russischen Großstadt lebt und nicht gelernt hat, den Blick abzuwenden, hat gesehen, wie Aktivisten bei Pikets festgenommen werden. Während der Staat so handelt, widmet er sich offiziell der Bekämpfung von Terroristen. Wahrscheinlich sieht er in ihnen Konkurrenten.
Hausdurchsuchungen bei der Opposition sind zum Normalfall geworden, Nachrichten darüber uninteressant. Wenn um sechs Uhr morgens die Wohnungstüren von Staatsbürgern mit Vorschlaghämmern zertrümmert werden – dann ist das ganz normal. Der Terror hat sich nicht nur etabliert, er wurde auch im gesellschaftlichen Bewusstsein zur Normalität. Niemanden wunderte es, dass Nawalny möglicherweise vergiftet wurde dafür, dass „der Typ sich nah an der Grenze bewegte“ – aber ganz Russland bewegt sich dort. Für Journalismus winken einem in unserem Land bestenfalls zermürbende Klagen und Strafen, mit etwas weniger Glück strafrechtliche Verfolgung oder andere „Aktionen der direkten Einschüchterung“.
Über Slawina wird jetzt viel diskutiert: Was stimmte mit ihr nicht? Warum hat sie diesen kopflosen Schritt getan? Ich glaube, ich habe dazu eine Hypothese. Mit der Journalistin aus Nishni Nowgorod war alles in Ordnung. Abnormal sind in diesem Fall alle anderen – jene, die stillschweigend oder ohne besonderen Widerstand hingenommen haben, dass alle zivilgesellschaftlichen Institutionen in Russland zerstört werden und das Land in Richtung Polizeistaat, Willkür und Gewalt abdriftet.
Slawina brannte schon bevor sie sich selbst anzündete
Slawinas Tochter ging am Tag nach der Tragödie mit einem Plakat auf die Straße: „Während meine Mama lebend brannte, habt ihr geschwiegen.“ Denn Slawina brannte schon, bevor sie sich selbst anzündete – und die anderen haben geschwiegen.
In Russland sind Filme sehr beliebt, die vom Kampf für Gerechtigkeit erzählen. Vor drei Jahren war das Publikum ganz begeistert von dem US-amerikanischen Spielfilm Three Billboards Outside Ebbing, Missouri. Irina Slawina hat sich viele Jahre lang dem Journalismus zum Schutz von Menschen- und Bürgerrechten verschrieben und hat mit ihren Publikationen quasi hunderte Billboards in Nishni Nowgorod aufgestellt. Ihre letzte Publikation war der demonstrative, entsetzliche, politische Selbstmord.
Wir hören so oft den Satz, wem die Ordnung im gegenwärtigen Russland nicht passe, der solle doch auswandern, seinem Land den Rücken zukehren und es jenen überlassen, die es ausrauben und zerstören. Meistens wird dieser Satz brutaler formuliert: Passt dir was nicht? Dann verpiss dich! Slawina passte vieles nicht, doch wo hätte sie hinsollen und wozu.
Unabhängige journalistische Arbeit war in Russland schon immer gefährlich: In den 1990er Jahren wurden Dutzende Journalisten während der Ausübung ihres Berufs getötet, seit etwa 2003 pendelt das Land in der Rangliste der Pressefreiheit beständig um die Marke 145 von rund 180. In den vergangenen Jahren haben die Einschränkungen für die Arbeit von Journalisten sukzessive zugenommen, in dieser Woche hat der Druck auf Pressevertreter einen neuen Höhepunkt erreicht.
Gleich drei Fälle versetzen derzeit die Redaktionen unabhängiger Medien in Alarmstimmung: Am Montag wurde die Journalistin Swetlana Prokopjewa wegen angeblicher Rechtfertigung von Terrorismus zu umgerechnet rund 6000 Euro Strafe verurteilt. Am selben Tag wurde auch eine Untersuchung gegen Pjotr Wersilow eingeleitet, den Herausgeber von Mediazona und Aktivisten von Pussy Riot: weil er die Behörden nicht über seine kanadische Staatsbürgerschaft informiert hatte. Nun sorgt der Fall Safronow für Aufsehen: Der ehemalige Journalist soll Landesverrat begangen haben, ihm drohen bis zu 20 Jahre Haft.
In einer Atmosphäre der Zensur, Einschüchterung und Verfolgung wendet sich die Redaktion von Projektmit einem Editorial an ihre Leser: Was sind die eigentlichen Gründe für die Verhaftung von Iwan Safronow, und was kann man überhaupt noch tun gegen die fortschreitende Einschränkung der Pressefreiheit?
Journalismus ist kein Verbrechen, sondern Arbeit für das Wohl der Gesellschaft. Doch die russischen Behörden sehen das anders: Eine erneute Bestätigung dafür ist die Verhaftung des ehemaligen Kommersant– und Vedomosti-Journalisten Iwan Safronow. Er wird des Landesverrats verdächtigt. In einem Land, in dem die Behörden vom Syndrom der Belagerten Festung infiziert sind und in jedem denkenden Menschen einen Feind und Spion sehen, ist die erschreckende Häufung von Strafverfahren gegen Journalisten nur folgerichtig. Aber eine Gesellschaft, die sich der Bedeutung echter journalistischer Arbeit bewusst ist, kann die Behörden – manchmal – dazu zwingen, nachzugeben.
Symptomatische Unstimmigkeit
Über den Gegenstand des Verfahrens gegen Safronow ist bisher vor allem aus den Berichten von Silowiki oder anonymen Quellen aus den Strafverfolgungsbehörden etwas bekannt. Es geht um Artikel 275 des Strafgesetzbuches: Landesverrat, bis zu 20 Jahre Haft. „Safronow hat Aufträge eines der Nachrichtendienste der NATO erfüllt, er hat einem ihrer Vertreter Informationen übergeben, die Teil des Staatsgeheimnisses über die militärtechnische Zusammenarbeit, Verteidigung und Sicherheit der Russischen Föderation sind“, erklärte der FSB (zitiert nach: TASS). [Die russische Raumfahrtbehörde – dek] Roskosmos, wo Safronow in den vergangenen zwei Monaten als Berater des Generaldirektors Dimitri Rogosin tätig war, hat bereits erklärt, dass die Vorwürfe gegen Safronow nicht in Zusammenhang mit seiner Arbeit in dem Staatsunternehmen stehen. Präsidentensprecher Dimitri Peskow sagte, die Verhaftung habe – „soweit der Kreml weiß“ (zitiert nach: RIA) – auch nichts mit Safronows journalistischer Arbeit zu tun. Diese Unstimmigkeit ist symptomatisch.
Safronow ist in seinem beruflichen Umfeld ein anerkannter Experte auf den Gebieten Rüstungsindustrie, Raumfahrt und Waffenexporte. Auch sein Vater Iwan Safronow senior war Militärexperte und arbeitete für Kommersant; er verstarb 2007 unter merkwürdigen Umständen, laut offizieller Version beging er Selbstmord.
Heikles Themenfeld
Dies ist ein heikles Themenfeld: 2019 hat Safronow mit seinem Kommersant-Artikel über die Exportpläne russischer Su-35-Kampfflugzeuge nach Ägypten einen Skandal provoziert. Der Artikel wurde von der Website genommen, Kommersant drohte eine Klage wegen des Verrats von Staatsgeheimnissen, Rosoboronexport [ein staatliches Unternehmen für den Export von Rüstungsgütern – dek] dementierte den Vertrag, das US-Außenministerium drohte Ägypten mit Sanktionen. Journalisten, die mit Safronow zusammengearbeitet haben, halten die Vorwürfe des Landesverrats für absurd und bezeichnen ihn als ehrlichen und prinzipientreuen Mann, als Patrioten seines Landes und seiner Sache.
Die russischen Behörden haben jedoch ihre eigenen Vorstellungen von Patriotismus und auch von Journalismus: Sie trauen den Bürgern nicht – und insbesondere nicht den Journalisten. In Reportagen über heikle Themen, in Recherchen zu Korruption und in kritischen Kolumnen sehen sie Bedrohung, Provokation und Rechtfertigung von Terrorismus. Der Spionagewahn hat die gesamte Vertikale von der Spitze an befallen: So sagte Nikolaj Patruschew, Sekretär des Sicherheitsrats, im Juni erneut, dass „der Westen (und allen voran die USA und die NATO) Russland als Feind betrachtet, […] regelmäßig die kontrollierten Medien und das Internet nutzt, um die Führung unseres Landes, die Institutionen der Staatsmacht und die patriotischen politischen Leader zu diskreditieren […] Ständig werden die Aktivitäten zur Destabilisierung der soziopolitischen Lage in unserem Land intensiviert“. In einer solchen Atmosphäre laufen Journalisten Gefahr, als Erste getroffen zu werden – zumal der Staat viele Möglichkeiten hat, Druck auszuüben und einzuschüchtern.
Landesverrat bietet sich vor diesem Hintergrund an als passender Artikel aus dem Strafgesetzbuch. Die Definition von Landesverrat ist sehr weit gefasst, die Ermittlungen finden in der Regel genauso unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt wie der Gerichtsprozess selbst. Die Argumente der Verteidigung und die Aussagen der Angeklagten können der Öffentlichkeit vorenthalten bleiben, wenn Anwälte zu Stillschweigen verpflichtet werden.
Niemand mag Spione und Verräter
Landesverrat ist auch ethisch ein toxischer Artikel: Niemand mag Spione und Verräter, und ob es Beweise für ihr Verbrechen gibt – wer weiß das schon. Für normale Menschen wird es schwierig sein, sich mit dem mutmaßlichen Landesverräter zu solidarisieren: Landesverrat erscheint ihnen als etwas, das unendlich weit von ihrem Leben entfernt ist, als etwas aus der Welt der Diplomaten, großer Wissenschaftler oder hoher Militärs. In Wirklichkeit kann aber jeder einfache Mensch des Landesverrats beschuldigt werden.
Denken Sie an den Fall Swetlana Dawydowa – eine Hausfrau aus Wjasma. 2015 wurde sie des Landesverrats angeklagt, weil sie die ukrainische Botschaft angerufen hatte und darüber berichtete, dass ein Standort des Militärgeheimdienstes GRU neben ihrer Wohnung teilweise verlassen sei. Dawydowa vermutete, dass das Militär in die Ukraine geschickt worden ist. Denken Sie an den Fall Oxana Sewastidi, eine Verkäuferin aus Sotschi: 2008 hatte sie eine Textnachricht über Züge voll mit russischer Militärausrüstung an einen Bekannten in Georgien geschickt – und ist dafür zu einer siebenjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Sewastidi wurde vom Präsidenten begnadigt, und der Fall Dawydowa wurde mangels eines Straftatbestands eingestellt. In beiden Fällen reagierten die Behörden erst nach umfassenden öffentlichen Protesten, provoziert durch die Absurdität der Anschuldigungen.
Wie die Geschichte des Journalisten Iwan Golunow aus dem vergangenen Jahr zeigt, ist eine massive öffentliche Resonanz auf absurde Ermittlungsverfahren eine der wenigen wirksamen Möglichkeiten für den Widerstand gegen die Walze der Herrschaftsmaschine, die sowohl unbequeme Journalisten als auch normale Menschen überrollen kann. Im Sommer 2019 wurde Golunow nach einer Reihe von Artikeln zum Thema Korruption des versuchten Drogenhandels beschuldigt. Viele Menschen sind damals für den Journalisten eingetreten. Wenige Tage später wurde die Anklage fallen gelassen, mehrere an der Konstruktion des Strafverfahrens beteiligte Vollzugsbeamte wurden entlassen. Jetzt verhandelt ein Moskauer Gericht den Fall derjenigen, die Golunow Drogen untergejubelt haben.
Kurz nach der Nachricht von der Verhaftung Safronows gab es in Moskau Einzelpikets zu seiner Unterstützung, die Protestierenden wurden fast sofort verhaftet. Doch bisher scheinen nur Journalisten unter ihnen zu sein.
Zensur kritischer Inhalte, sinnverfälschende Einmischungen und eine unverkennbare Nähe zum Kreml und zu Rosneft – die Vorwürfe gegen den neu eingesetzten Vedomosti-Chefredakteur Andrej Schmarow sind schwerwiegend. Zahlreiche Redakteure der Zeitung haben aus Protest inzwischen ihre Kündigung eingereicht. Viele Beobachter fühlen sich an das Schicksal von NTW, Lenta.ru oder RBC erinnert: Geht mit Vedomosti nun ein weiteres Flaggschiff der unabhängigen Presse in Russland unter? Pjotr Mironenko und Irina Malkowa berichten auf The Bell.
Die Zeitung Vedomosti, so wie wir sie seit zwanzig Jahren kennen, wird es bald nicht mehr geben. Der vom neuen Eigentümer Iwan Jeremin einberufene Verwaltungsrat hat Andrej Schmarow, den Mitgründer der Zeitschrift Expert, zum neuen Chefredakteur von Vedomosti ernannt. Schmarow hatte im März 2020 den Posten kommissarisch übernommen und war bald in Konflikt mit der Redaktion geraten: Diese beschuldigte ihn der Zensur. Aus Protest reichten [am 15. Juni 2020] alle leitenden Redakteure die Kündigung ein.
An der Ernennung Schmarows war laut Recherchen von Meduza, The Bell, Forbes und Vedomosti vermutlich auch Michail Leontjew, der Pressesekretär von Rosneft beteiligt. Seit 2017 hatte das Unternehmen, dem Vedomosti gehörte, einen riesigen Kredit bei einer Tochterbank von Rosneft laufen.
Das ist passiert
Der Verwaltungsrat von Vedomosti (Aktiengesellschaft Business News Media (BNM)) hat Mitte Juni in neuer Zusammensetzung getagt und Andrej Schmarow als Chefredakteur der Zeitung bestätigt. Es war der neue Vedomosti-Eigentümer Iwan Jeremin, der die Ernennung Schmarows initiiert hatte. Am 10. Juni hatte Jeremin dann bekanntgegeben, dass der Verwaltungsrat in Kürze tagen werde und die Journalisten ihrerseits einen Kandidaten vorschlagen sollten. Denn laut Gesellschaftervertrag muss der Verwaltungsrat des BNM neben dem Kandidaten des Eigentümers auch einen Kandidaten der Redaktion in Betracht ziehen. Die Redaktion schlug daraufhin eine Herausgeberin zahlreicher Co-Projekte von Vedomosti vor, die ehemalige Vedomosti-Redakteurin Anfissa Woronina.
Der neue Verwaltungsrat besteht aus Jeremin, dem Geschäftsführer eines seiner Unternehmen Michail Neljubin, dem ehemaligen Chefredakteur von TASS und ehemaligen Leiter des Finanzressorts von Vedomosti Anton Trifonow, dem anfänglichen Kaufinteressenten Konstantin Sjatkow und dem Dozenten für Unternehmensrecht der Juristischen Fakultät der MGU Alexander Molotnikow. Mit drei zu zwei stimmten die Ratsmitglieder für Schmarow. Die vierte und entscheidende Stimme für Schmarow kam vom Vorsitzenden des Verwaltungsrats – Jeremin.
Nach Bekanntgabe der Entscheidung reichten die fünf stellvertretenden Chefredakteure von Vedomosti [am 15. Juni 2020] die Kündigung ein: Dimitri Simakow, Alexander Gubski, Boris Safranow, Filipp Stepkin und Kirill Charatjan. Damit verlässt das sogenannte Aquarium die Zeitung – der Kreis der leitenden Redakteure, die für die operativen Entscheidungen bei Vedomosti verantwortlich waren. Alle fünf hatten bereits leitende Positionen inne, bevor die ausländischen Aktionäre 2015 zum Verkauf der Zeitung genötigt wurden. Mit ihnen gehen auch die komissarische Chefredakteurin der Online-Redaktion Alexandra Tschunowa und die Redakteurin des Wirtschaftsressorts Jelisaweta Basanowa. Etwa zehn Journalisten, einschließlich mehrerer Ressortleiter, haben Vedomosti schon vorher verlassen.
Ihre Kündigung begründeten die Redakteure in einer öffentlichen Erklärung damit, dass Andrej Schmarow in den drei Monaten als Chefredakteur demonstriert habe, wie wenig er mit den Standards von Vedomosti übereinstimme; seine Ernennung zeuge davon, dass diese Prinzipien bei der Zeitung nicht länger gebraucht würden. „Alle Vermittlungsversuche sind gescheitert und die endgültige Entscheidung für Schmarow ist getroffen, damit bleibt uns nichts als zu gehen“, heißt es in der Erklärung.
Nach dem Verkauf der Zeitung – Ernennung des neuen Chefredakteurs im März
Schmarow war am 24. März kommissarisch zum Chefredakteur von Vedomosti ernannt worden – eine Woche, nachdem Demjan Kudrjawzew den kurzfristigen Verkauf der Zeitung bekanntgegeben hatte.
Vom ersten Tag an gab es Konflikte mit der Redaktion: Schmarow erklärte, er lese Vedomosti nicht und sei mit deren Redaktionskodex Dogma nicht vertraut. Er änderte eigenmächtig Überschriften ins komplette Gegenteil und verkündete den Journalisten, er verbiete auf Bitte der Kreml-Administration hin, Artikel zu Umfragen des Lewada-Zentrums zu veröffentlichen. Doch das offensichtlichste Beispiel für Zensur war, dass ein schon publizierter, kritischer Online-Artikel über den Vorstandsvorsitzenden von Rosneft Igor Setschin wieder gelöscht wurde.
Eine Quelle von Meduza, die Einblicke in den Verkauf von Vedomosti hatte, berichtet, dass an der Entscheidung, Schmarow zum Chefredakteur zu machen, auch der Pressesekretär von Rosneft Michail Leontjew beteiligt gewesen sei. Darauf angesprochen, stritt Schmarow dies nicht ab. Leontjew antwortete auf die Nachfrage von The Bell mit: „Was habe ich denn damit zu tun?“
Als Kudrjawzew im März 2020 den Verkauf von Vedomosti bekanntgab, sollten zunächst Konstantin Sjatkow, der Herausgeber der Zeitung Nascha Werssija, und der Investmentbanker Alexej Golubowitsch, Vedomosti kaufen. Doch Golubowitsch und später auch Sjatkow zogen ihr Angebot wieder zurück. Ende Mai wurde Iwan Jeremin zum alleinigen Eigentümer. Die Vertragsdetails blieben unter Verschluss, über Abmachungen zwischen Jeremin und der WBRR oder Rosneft ist nichts bekannt. Allerdings hatte Jeremins Online-Portal FederalPress PR-Verträge mit Tochterunternehmen von Rosneft und veröffentlichte geringfügig redigierte Pressemeldungen, ohne sie als Werbung zu kennzeichnen.
Die Folgen
Der Satz, Vedomosti werde es bald nicht mehr geben, mit dem dieser Artikel beginnt, ist keine Übertreibung. In den letzten zehn Jahren wurden mindestens zehn große unabhängige Redaktionen zerschlagen. Mal geschieht das langsam und qualvoll, mal gelingt es einer Redaktion, einen Teil der Unabhängigkeit zu bewahren, indem sie auf besonders sensible Themen verzichtet. Nichtsdestoweniger beweist eine Vielzahl von Beispielen: Hat eine Zeitung ihre Unabhängigkeit verloren, ist es unmöglich, die Qualität der Redaktionsarbeit zu erhalten.
Angenommen, das Ziel der ganzen Aktion war es, Vedomosti als Marke zu erhalten und bloß jenen Teil loszuwerden, der sich nicht per Telefonanruf steuern lässt, so ist dieser Plan doch zum Scheitern verurteilt. Das kann nicht funktionieren. Denn mit der redaktionellen Unabhängigkeit verschwinden nicht nur die kritischen Artikel über Politik oder die Aufdeckung von Korruption, sondern nach und nach auch die qualitativ hochwertigen Inhalte zu Wirtschaft und Finanzen. Vor allem aber verschwindet der Geist der Zeitung, der sie antreibt und den Leser an sie bindet.
Seit Februar 2017 ist die russische Medienszene um einen YouTube-Kanal und Medienstar reicher. vDud (rus. „вДудь“) heißt das Interview-Projekt des Sportjournalisten und Bloggers Juri Dud, das drei Jahre nach seinem Start über sieben Millionen Abonnenten und über 925 Millionen Aufrufe vorweisen kann. Der durchschlagende Erfolg des Projekts lässt die Novaya Gazeta bereits ein halbes Jahr nach Erscheinen des ersten Videos vom „Dud-Effekt“ sprechen. Dieser zeige sich vor allem darin, dass die Abwesenheit im russischen Staatsfernsehen immer stärker von Erfolg gekrönt sei. Und in der Tat: der Dud-Effekt wirkt, vor allem auf junge Menschen. Im April 2022 wurde Juri Dud auf die Liste der sogenannten „ausländischen Agenten“ gesetzt.
Der 1986 in Potsdam geborene Juri Dud hat seine Berufswahl bereits als Jugendlicher getroffen. Als sich sein Kindheitstraum, Fußballspieler zu werden, aufgrund chronischen Asthmas zerschlug, entdeckte er den Journalismus – nach der Prostitution der in Russland am leichtesten zugängliche Beruf, wie Dud witzelt.1
Als am 2. Februar 2017 der YouTube-Kanal vDud online ging, war der damals 30-jährige Dud bereits ein bekanntes Gesicht in der medialen Öffentlichkeit. Seine ersten Schritte im Journalismus hatte er schon als Kind gemacht: Mit elf schrieb er für eine Zeitung für Gleichaltrige, mit 13 absolvierte er ein Praktikum bei der Zeitung Segodnja. Bereits mit 14 wurde er freier Mitarbeiter bei der Izvestia, bekam dort mit 16 eine feste Anstellung als Sportreporter und absolvierte parallel dazu ein Journalistikstudium an der Moskauer Staatlichen Universität. Er war als Sportreporter für mehrere Fernsehsender wie NTW-Pljus, Rossija 2 oder Match TV tätig und von 2011 bis 2018 Chefredakteur des renommierten Internetportals Sports.ru. Für diese Medienauftritte wurde er 2016 und 2017 vom Männer- und Lifestyle-Magazin GQ – Gentlemen’s Quarterly zum „Mann des Jahres“ gekürt.2
Gegenpol zum Fernsehen
Die Erfolgsstrategien von Duds YouTube-Projektes sind einfach, transparent und unverhohlen kommerziell. Dies schmälert jedoch keineswegs seine gesellschaftliche und politische Relevanz und Brisanz. vDud ist als Gegenpol und Konkurrenz zum überästhetisierten und überregulierten staatlichen beziehungsweise staatsnahen Fernsehen konzipiert. Im Intro zu einer vDud-Spezialausgabe, die die „goldenen“ 1990er Jahre des Musiksenders MTV in Russland beleuchtet, formuliert Dud seine Kritik am heutigen Fernsehen explizit und schonungslos: „Wir sind es gewohnt, dass das Fernsehen eine Schande ist. Das wichtigste Massenmedium des Landes lügt, fügt Schaden zu, bereitet die Bevölkerung auf den Krieg vor und kommuniziert mit den Menschen in einer toten Komsomol-Sprache.“3
Mit dem Interview bedient Dud ein klassisches Fernsehformat, doch sein legeres Auftreten, sein Nicht-Still-Sitzen-Können und seine direkten Fragen – insbesondere in Bezug auf Geld, Vermögensverhältnisse und Sex – sind gerade ein Beispiel dafür, wie man es nach Lehrmeinung nicht machen sollte. Dennoch wirkt er, wie ihm wohlgesonnene Kritiker immer wieder bescheinigen, gut vorbereitet auf seine Gesprächspartner, stimmt die Fragen gezielt auf sein Gegenüber ab und nimmt sich die Zeit, die er für angemessen hält (die Dauer eines Interviews beträgt zwischen 40 Minuten und 2 Stunden).
Das Interview-Setting ist minimalistisch, die Kamera meist statisch auf die beiden frontal einander gegenübersitzenden Gesprächspartner gerichtet. Abgesehen von nur wenigen, kurz eingespielten Standbildern oder Videoclips und einer alternierenden Position, die die Gesprächspartner im Stehen zeigt, liegt die Konzentration auf dem Interview selbst.
Tabubruch und Freiheit
Tabubrüche gehören zu Duds grundlegenden Erfolgsstrategien, doch sie sind gemäßigt, wohldosiert und wohlkalkuliert. Sie ziehen die mediale Aufmerksamkeit auf sich – ähnlich wie in das Videobild eingeblendete Schlagwörter oder zentrale Aussagen und „starke“ Ausdrücke der Interviewpartner die Aufmerksamkeit der Rezipienten wecken. Bereits der Titel des Kanals spielt mit einem Sprachtabu, steckt darin doch nicht nur der Nachname seines Schöpfers, sondern auch das Thema Sex, über das dieser so gerne spricht (vdut’ ist gleichbedeutend mit dt. „durchficken“).
Während die Unterhaltungsprogramme und Talk-Shows in den großen russischen Fernsehkanälen immer pompöser, gleichförmiger und starrer werden, vermitteln bereits die Anordnung und der Ablauf von Duds Interviews den Eindruck des Ungezwungenen und Spontanen. Der YouTube-Kanal vDud und sein Schöpfer strahlen Freiheit aus – die Freiheit, sich nicht an Sprachkonventionen halten zu müssen und die russische Vulgärsprache Mat nach Lust und Laune verwenden zu können (was insbesondere für die Interviewpartner gilt). Die Freiheit, politisch brisante und gesellschaftlich tabuisierte Themen diskutieren zu können und schließlich die Freiheit, die Interviewpartner unabhängig von politischen Vorgaben auszuwählen.
Waren es am Anfang hauptsächlich noch Vertreter der Musikszene (den Auftakt bildeten die Rapper Basta und L’One sowie der Punk-Rock-Star Sergej Schnurow), die er interviewte, so weitete Juri Dud den Personenkreis sehr schnell auf ausgeprägte Persönlichkeiten des kulturellen Lebens, der Medienszene und sogar der Wissenschaft aus. Unter den Gästen der regelmäßigen Interviews finden sich der Chefredakteur von Radio Echo Moskwy Alexej Wenediktow, der Fernseh-Interviewer Nummer eins Wladimir Posner oder der ehemalige Fernsehmoderator Sergej Dorenko.
Duds Auswahl der Gesprächspartner zielt immer wieder auch darauf ab, Persönlichkeiten in die mediale Öffentlichkeit zurückzuholen, die die russischen Staatsmedien mit einem Bann belegt haben. Dies gilt für Alexej Nawalny genauso, wie für Michail Chodorkowski. Gleichzeitig finden sich unter Duds Gästen aber auch Vertreter des politischen Establishments, wie Wladimir Shirinowski oder der Präsidentschaftskandidat der Kommunisten Pawel Grudinin, mediale Gallionsfiguren des patriotischen Lagers, wie der Regisseur Nikita Michalkow und der mächtige Medienmann Dimitri Kisseljow oder der ukrainische Fernsehmoderator Dimitri Gordon.
Im Präsidentschaftswahlkampf 2018 hat sich Juri Dud mit dem Kandidaten der Kommunisten getroffen und ihn über sein Verhältnis zu Stalin befragt
Ist die Rede von Interviewpartnern, so scheint die Verwendung der geschlechtsspezifischen männlichen Form hier durchaus adäquat, stellen weibliche Gäste doch die Ausnahme dar. So waren im Laufe der ersten drei Jahre nur wenige Frauen bei Dud zu Gast, unter anderem die Journalistin und Fernsehmoderatorin Xenia Sobtschak und die ehemalige Pussy Riot-Aktivistin und Performance-Künstlerin Nadeshda Tolokonnikowa.
Generationen verbinden
Die Auswahl der Gäste wie auch die Diskussionsthemen zeigen, dass Dud einerseits seine eigene Generation und vor allem junge Menschen ansprechen will, während er andererseits über seine Diskussionspartner die jüngere Vergangenheit des Landes ergründet. Das Interesse an der Zeit und den Personen, die ihn persönlich geprägt haben, verpackt er häufig in bewusst naive, mitunter provokative, jedenfalls aber ungewohnt direkte Fragen. Gerade dies verleiht den Interviews eine Lebendigkeit, Natürlichkeit und Aufrichtigkeit, die man im Fernsehen mittlerweile kläglich vermisst. Im Interview mit Chodorkowski lautete beispielsweise eine Frage, warum dieser damals, im Jahr 1996, – bei aller Wertschätzung für Boris Jelzin – auf einen „lebenden Leichnam“ gesetzt hätte.
Hipster und Volksaufklärer
Juri Dud vereint in seinem Internet-Auftritt verschiedene soziale Rollenbilder, die vor allem greifbar werden im Kontrast zu dem, was er nicht ist und nicht sein will. Den ideologisch deklarierten traditionellen Werten und dem politischen Patriotismus setzt Dud Weltoffenheit und liberale Werte entgegen, dem Zynismus der offiziellen Medienmacher Aufrichtigkeit, dem journalistischen Dilettantismus und Opportunismus Professionalität und Leistungsbereitschaft, dem radikalen Protest gemäßigte Kritik am System, dem antimaterialistischen Habitus der spätsowjetischen Intelligenzija Konsum und Markenbewusstsein. Rein äußerlich ist er ein Hipster mit perfekt gestyltem Haar, lässig gekleidet in Jeans, T-Shirt und Turnschuhen, das iPhone stets griffbereit.
Die größte Resonanz sowohl an Aufrufen wie auch in der öffentlichen Debatte erzielt Dud allerdings weniger mit den Interview-Ausgaben, als vielmehr mit Dokumentarfilmen über gesellschaftlich brisante Themen. Bereits im ersten Jahr erweiterte Dud das reine Interview-Format in Richtung eines Interview-basierten dokumentarischen Porträts, als er dem Schauspieler und Idol des ersten postsowjetischen Jahrzehnts Sergej Bodrow eine vDud-Ausgabe widmete. Dem folgten weitere Porträts über Kultur- und Medienschaffende der vergangenen Jahrzehnte, die für ganze Generationen prägend waren, etwa über den Kultregisseur Alexej Balabanow oder über Oleg Tabakow, einen der bekanntesten sowjetischen Schauspieler seit der Tauwetterzeit.
Duds Interesse an diesen Persönlichkeiten ist stets von Fragen der Gegenwart und der subjektiven Wahrnehmung seiner Generation motiviert. Zu seinen besonderen Stärken zählt dabei, das Charakteristische der jeweiligen Person im Intro der einzelnen Folge konzis zu formulieren. Im Fall von Oleg Tabakow etwa die Verbindung von Konservatismus und Interesse für das Neue, im Fall von Balabanow die Liebe zu Russland bei gleichzeitiger Kritik. Auf diese Weise – und unabhängig vom Format – enthüllt Dud mit jeder Ausgabe ein weiteres kleines Stück seiner Lebenshaltung und seines Verständnisses von Gesellschaft, Politik und Geschichte. Man könnte auch sagen, er arbeitet kontinuierlich an seiner Rolle als moralisches Vorbild, Volksaufklärer und Volksbildner im YouTube-Format.
Am deutlichsten kommt diese Rolle in drei thematisch fokussierten Dokumentarfilmen zum Ausdruck: in Kolyma – rodina naschego stracha (Kolyma – Heimat unserer Angst), Beslan. Pomni (dt. Beslan. Gedenke) und WITSCH w Rossii (dt. HIV in Russland). Die Grundfragen, die er in diesen Filmen stellt, sind so einfach wie erhellend, so selbstverständlich für die Aufgeklärten wie eine wahre Entdeckung für die Nichtwissenden. Kolyma, der Inbegriff des stalinistischen Gulag, soll vor allem jenen als Entdeckung dienen, die noch nie etwas vom Stalinterror gehört haben – laut einer Umfrage betrifft das fast die Hälfte der 18- bis 24-Jährigen in Russland. Im Fall von HIV geht es dagegen darum, die russische Gesellschaft allgemein und insbesondere junge Menschen über die Krankheit und über das Leben mit der Krankheit zu informieren.
Weltoffener russländischer Patriotismus
Solide journalistische Recherchen und ausgesprochen gut gewählte Interviewpartner sind in Duds Dokumentarfilmen gepaart mit starken, eingängigen Thesen. Die Hauptthese in Kolyma lautet, dass das (Über)Leben im Kommunismus zu einer Grundangst der Eltern- und Großelterngeneration geführt habe, die sich etwa in der Devise „Nur ja nicht auffallen!“ – „Ne wysowywaisja!“ – zeige. In Beslan rollt Dud die zeitliche Abfolge der Geiselnahme 2004 minutiös auf, um die Frage der politischen Verantwortung für die Katastrophe noch einmal aus heutiger Sicht und mit heutigem Wissensstand zu stellen und nicht zuletzt auch, um die Opfer ausführlich zu Wort kommen zu lassen.
In seiner Gesamtheit ist vDud ein gelungener Hybrid, in dem das alte Fernsehinterview mit seinem Fokus auf Gesprächsinhalte, die Fernsehdokumentation und das dokumentarische Porträt an die neuen ökonomischen Regeln und Bedingungen der digitalen Medien angepasst werden. Dud bewirbt in integrierten Werbespots Gadgets und Dienstleistungsangebote jeder Art und macht kein Hehl daraus, dass sich damit gutes Geld verdienen lässt. Damit inszeniert er sich als Vertreter einer westlich orientierten, dynamischen Pop- und Konsumkultur. Gleichzeitig macht die große öffentliche Resonanz des Projekts deutlich, dass Dud das Potenzial hat, gesellschaftlichen Konsens zwischen unterschiedlichen Gruppen und Positionen herzustellen – zwischen Alt und Jung, intellektuell und kommerziell, traditionell und liberal. Einem engstirnigen Nationalismus setzt er seine Vorstellung eines weltoffenen russländischen Patriotismus entgegen, indem er vermittelt, dass „die Welt groß und klasse ist“ und man sich daher besser als ein Teil dieser Welt definiert, „als sie misstrauisch durch den Zaun zu beäugen“.4 Im April 2022 wurde Juri Dud auf die Liste der sogenannten „ausländischen Agenten“ gesetzt.
vgl. Jurij Dud’ im Interview mit The Flow, 11.06.2016 oder zu Gast bei Ivan Urgant in der Fernsehshow Večernyj Urgant am 29.09.2017 ↩︎
Ein weiteres Mal bekam er diesen Preis im September 2019 verliehen. ↩︎
Fast die Hälfte der Artikel in der ausländischen Presse berichteten „negativ“ über Russland – zu diesem Schluss kommt Oktopus-1, eine Studie von Rossija Sewodnja. Darin wurden knapp 80.000 Artikel von Medien aus G7-Ländern untersucht, die von Januar bis Ende Juni 2019 erschienen sind. Das Ergebnis der Studie schlägt in die Kerbe, das Ausland würde schlecht über Russland reden, und hat somit auch eine politische Dimension: So ließen offizielle Reaktionen nicht lang auf sich warten. Die russische Gesellschaftskammer jedenfalls nahm die Studie zum Anlass, um eine öffentliche Diskussion über die Rechte ausländischer Medien und Journalisten in Russland anzuregen. Bereits Ende 2017 wurden einzelne Auslandssender wie Golos Ameriki (Voice of America) und Radio Swoboda (Radio Liberty) in Russland zu „ausländischen Agenten“ erklärt.
Die Mitarbeiter des Exilmediums Meduzamachte all das hellhörig. Alexej Kowaljow, Leiter des dortigen Investigativressorts, war einst Chefredakteur von InoSMI – InoSMI gehört zu Rossija Sewodnja und übersetzt westliche Presse ins Russische. Kowaljow sah sich die Studie genauer an und fand heraus: Die Untersuchung von Rossija Sewodnja stützt sich vor allem auf britische Medien (die mehr als ein Drittel der gesamten Studie ausmachen). Auffällig viele der untersuchten Artikel in diesen wiederum haben laut Meduza denselben Autor.
Er heißt Will Stewart. Unter seinem Namen, so Meduza, werden allerdings vor allem Geschichten veröffentlicht, die Themen aus russischen Boulevardzeitungen aufgreifen. Allein im ersten Halbjahr 2019 hat Meduza auf den Seiten der Daily Mail knapp 220 Artikel gezählt, die unter dem Namen Will Stewart veröffentlicht wurden.
Das bedeutet nicht nur, dass die „negative“ Berichterstattung, die die Studie beklagt, in Teilen sogar aus russischen Medien übernommen wurde. Es wirft auch die Frage auf: Wer ist Will Stewart und wenn ja, wie viele? Meduza hat sich auf Spurensuche begeben.
William Stewarts Identität ist selbst für die Veteranen unter den Auslandskorrespondenten in den Moskauer Büros ein Rätsel. Nicht ein einziger der von Meduza befragten, zum Teil seit Jahrzehnten in Russland tätigen Journalisten hat ihn je persönlich getroffen oder weiß, wer er ist.
Nicht einmal im Außenministerium der Russischen Föderation scheint man das genau zu wissen – obwohl Stewart offiziell in Russland akkreditiert ist und auf den Seiten des Außenministeriums als Chef des Moskauer Büros der britischen Zeitung Daily Express genannt wird.
Dabei ist William Stewart eine ganz reale – wenn auch ziemlich verschlossene – Person. Er taucht nicht in den sozialen Netzwerken auf; in keiner einzigen Zeitung, für die er arbeitet, ist ein Foto von ihm zu finden. Dafür gelang es Meduza, im britischen Handelsregister eine Firma zu entdecken, als deren Geschäftsführer Stewart fungiert: East2West Limited, eingetragen im Januar 1996. Zur selben Zeit taucht sein Name erstmals in den Akkreditierungslisten der in Moskau tätigen Auslandskorrespondenten auf.
Stewart selbst, den Meduza nach mehreren Anfragen per E-Mail erreicht hat, gab an, seit 1992 in Moskau zu arbeiten. Viele seiner Beiträge, die von ausländischen Medien übernommen werden, nennen die Agentur als Quelle.
Anfang 2019 tauchte auf der Internetplattform Reddit die Frage auf: „Kennt hier jemand die russische Nachrichtenagentur East2West? Falls ja, wie vertrauenswürdig ist sie? Ich bin auf einen Bericht über einen grausamen Mordfall gestoßen, aber alle Versuche, die Originalquelle zu finden, führen auf Seiten aus Russland, die auf East2West verweisen. Merkwürdig, dass gleich mehrere Internetseiten auf eine völlig unbekannte Agentur verweisen.“
Ein anderer Nutzer antwortete: „Ich war auch sehr enttäuscht, als mehrere vermeintlich vertrauenswürdige Nachrichtenseiten in Brasilien, wo ich lebe, einen Bericht über ein Mädchen übernommen haben, das angeblich bei der Explosion eines Mobiltelefons gestorben war. Alle berufen sich auf russische Quellen, die ebenfalls auf diese merkwürdige Phantom-Agentur verwiesen. Ich finde das beängstigend.“
Killermäuse in den Kremltürmen
Will Stewarts beeindruckende Produktivität lässt sich damit erklären, dass die unter seinem Namen veröffentlichten Artikel das Produkt eines ganzen Kollektivs von russischen Journalisten sind, die für seine Agentur East2West News arbeiten. Unter ehemaligen Mitarbeitern hat Meduza endlich Menschen gefunden, die Stewart persönlich kennen. Stewart selbst hat nicht beantwortet, wie viele russische Mitarbeiter für seine Agentur tätig sind, er sagte nur, er arbeite ausschließlich mit „erstklassigen Freelancern aus Russland, den Ländern der ehemaligen UdSSR und Osteuropa zusammen“.
Eine ehemalige Mitarbeiterin, die bis 2011 für die Agentur tätig war, hat Meduza erzählt, wie die Vorbereitungen zu einer Nachrichten-Ausgabe abliefen: „Wir waren mehrere freie Mitarbeiter, am Morgen ging es los mit dem Monitoring: das Wichtigste aus der Welt der Politik, amüsante Ereignisse, Persönlichkeiten, die in Großbritannien von Interesse sind – wie Arschawin, Abramowitsch, der damalige [Premierminister] Tony Blair, Nasarbajew. Und Trash à la Killermäuse in den Kremltürmen. Will wählte die interessantesten Themen aus, ging ihnen nach. Sehr sorgfältig, mit Liebe zum Detail. Mehrere Tage lang, manchmal sogar Wochen, bis sich die Fakten zu einer Geschichte fügten.“
Die ehemaligen Mitarbeiter von East2West News, mit denen Meduza gesprochen hat, lobten Stewarts Professionalität, journalistische Sorgfalt und seine tiefe Russland-Kenntnis. Dabei unterscheiden sich die ersten Reportagen, die Stewart in den 1990ern in Moskau veröffentlichte, deutlich von seinen heutigen Arbeiten: Im Oktober 1992 brachte der Daily Express eine Analyse zum Konflikt zwischen Boris Jelzin und Ruslan Chasbulatow, 1996 folgte ein großes Porträt über Alexander Lebed, der damals als möglicher Jelzin-Nachfolger gehandelt wurde.
Andere Journalisten, die mit seiner Arbeit vertraut sind, bewerten sein Verhältnis zu den Fakten kritischer. Oliver Carroll, der für die britische Zeitung The Independent in Moskau schreibt, machte auf einen Artikel aufmerksam, der am 26. Juni 2019 in der Daily Mail erschien: „Ich war sein Futtervorrat – Russe gleicht Mumie nach einem MONAT in Bärenhöhle. Das Raubtier hatte ihm die Wirbelsäule gebrochen und als Futter in seine Höhle verschleppt.“ Unter Berufung auf eine Meldung des Nachrichtenportals EADaily berichtete Stewart von dem in der Überschrift genannten Schicksal eines Mannes aus Tuwa namens „Alexander“. Die ursprüngliche Nachricht versah er mit neuen schockierenden Details: Demnach musste der Held den eigenen Urin trinken, um zu überleben.
Der Daily Mail-Artikel war ein Hit in den sozialen Medien: Der Zähler auf dem Internetauftritt der Daily Mail zeigt 72.000 Reposts an. Daraufhin drehte die Geschichte eine zweite Runde durch die russischen Medien, diesmal unter Berufung auf die Daily Mail und Will Stewart. Oliver Carroll veröffentlichte im Independent einen Gegenbericht: Er entlarvte die Story mit der Bärenhöhle als Fake und den ausgemergelten Mann im Video als einen Patienten aus Kasachstan, der an einer schweren Form von Schuppenflechte leidet. Daraufhin änderte die Daily Mail den Inhalt und die Überschrift des Artikels. In der neuen Version beruft sich Stewart auf die Agentur East2West News, die mit dem Gesundheitsministerium in Tuwa gesprochen und herausgefunden habe, der Mann sei in Wirklichkeit Psoriasis-Patient. Dass die Agentur ihm selbst gehört, wird dabei nicht erwähnt.
Westliche Medien berichten
Stewarts Artikel, die auf russischen Quellen basieren, werden oft von genau diesen Quellen wieder aufgegriffen und neu belebt – dann mit dem respekteinflößenden Verweis auf „westliche Medien“. So brachte beispielsweise [die russische Nachrichtenagentur] Regnum2016 eine Meldung unter folgender Überschrift heraus: „Mirror: Putin will Sibirien per Zeppelin erschließen“. Darin heißt es, unter Berufung auf einen Artikel von Will Stewart in der Daily Mail: „‚Putin setzt wieder auf den Zeppelin, so die britische Zeitung The Daily Mirror.“ (In Wirklichkeit ist in Stewarts Artikel keine Rede davon, dass Putin „auf den Zeppelin setzt“.)
Weiter berichtet Regnum: „Der russische Sicherheitsrat unter dem Vorsitz von Wladimir Putin hat ein Projekt zum Bau eines Luftschiffs bewilligt, das der Erschließung Sibiriens dienen soll. Die Kosten für einen dieser futuristisch anmutenden Zeppeline (Arbeitsname: East2West) belaufen sich auf rund 23 Millionen Pfund.“
Natürlich existiert überhaupt kein futuristischer Zeppelin, der East2West heißen und den Hohen Norden mit der Transsibirischen Magistrale verbinden soll. Der Autor des Regnum-Artikels hat die Bildunterschrift im Daily Mirror, wo der Urheber genannt wird, fälschlicherweise für den Namen des Luftschiffs gehalten: East2West – William Stewarts Agentur.
Dabei stammen die Bilder im Daily Mirror gar nicht von ihm. Die umgekehrte Bildersuche bei Google führt auf die Internetseite Siberian Times, die – am selben Tag wie der Daily Mirror – einen fast identischen Bericht über gemeinsame Pläne des Sicherheitsrates und der Russischen Akademie der Wissenschaften herausbrachte, abgelegene Gebiete mithilfe von Heißluftballons zu erkunden. Die Illustrationen auf der Seite der Siberian Times sind mit RosAeroSystems unterschrieben.
Das Phänomen Siberian Times
Das Internetportal Siberian Times sitzt in Nowosibirsk und veröffentlicht Artikel in englischer Sprache, die Will Stewart in seinen Beiträgen häufig zitiert. Obwohl auf der Seite das Impressum fehlt, ist die Chefredakteurin der Siberian Times bekannt: eine gewisse Swetlana Skarbo, Absolventin der Londoner City University und ehemalige Mitarbeiterin des Daily Express.
Im britischen Handelsregister taucht Swetlana Skarbo als ehemalige Geschäftsführerin der Agentur East2West auf (im Juli 2018 übergab sie die Geschäfte offiziell an William Stewart). Verschiedene Quellen behaupten, Siberian Times sei ein Projekt von Stewart persönlich, der es mit den Honoraren für seine Artikel bei den führenden britischen Zeitungen betreibt – in denen er wiederum auf seine eigene Webseite als Quelle verweist. Stewart selbst wollte sich zu seiner Verbindung zu Siberian Times oder Swetlana Skarbo nicht äußern und riet, sich mit allen Fragen direkt an sie zu wenden. Eine Antwort liegt der Redaktion bislang nicht vor.
Von der Politik zum Boulevard
Der britische Journalist und Propagandaforscher Peter Pomeranzew ist einer der wenigen, die Stewart persönlich kennen. 2008, als Pomeranzew ebenfalls in Moskau arbeitete, half Stewart bei den Dreharbeiten zu einem Dokumentarfilm von Channel 4 über den „dicksten Jungen der Welt“ – Dshambulat Chachotow aus Kabardino-Balkarien. Pomeranzew erklärt Stewarts Werdegang – weg von ernsthaften gesellschaftspolitischen Themen hin zur Regenbogenpresse – mit dem Wandel in der Redaktionspolitik des Daily Express selbst: „Er [William Stewart] war damals so etwas wie der politische Redakteur des Daily Express. Aber da war das Blatt auch noch eine halbwegs ernstzunehmende Zeitung für die Mittelschicht, sie gehörte nicht zur Kategorie der Red Tops wie The Sun oder der Daily Mirror.“ Aber irgendwann sei auch der Daily Express zu diesem Format übergegangen, meint Pomeranzew, wobei der reißerische Charakter der Schlagzeilen vergleichbare Blätter bald noch übertrumpfte.
Stewart selbst äußerte gegenüber Meduza, er beziehe das Ergebnis der Studie von Rossija Sewodnja nicht auf sich. Die darin erwähnten Artikel hätten es wegen ihrer „exotischen“ Überschriften hineingeschafft, für die aber nicht er verantwortlich sei, sondern seine Redakteure. Außerdem sagte Stewart: „Überall auf der Welt wird Auslandskorrespondenten negative Berichterstattung und Voreingenommenheit vorgeworfen. Wie Sie wissen, passiert das russischen Journalisten, die in Großbritannien arbeiten, genau so.“
Auf die Frage, warum es in seinen Beiträgen von blutigen Details und entstellten Kindern wimmelt, reagierte Stewart mit Unverständnis: „Wenn Sie den Artikel über das Mädchen meinen, das ohne Gesicht geboren wurde, dann bin ich froh, dass ich mit Hilfe der Leser wenigstens einen kleinen Teil der Summe sammeln konnte, die für die Behandlung in Russland und Großbritannien nötig war.“
Ein älterer Herr mit Bart und Sonnenbrille sitzt auf einer efeuumrankten Treppe und trällert zu einfachen Gitarrenakkorden ein paar muntere Zeilen. So weit, so Youtube. Doch bei dem älteren Herrn handelt es sich um die russische Rocklegende Boris Grebenschtschikow und seine munteren Zeilen handeln unzweideutig von einem Propagandamacher aus dem Fernsehen, der als wetscherni mudoswon (dt. etwa: Wortwichser am Abend) besungen wird.
Wenig später erreicht das Lied im Internet ein Millionenpublikum, gewichtige Gestalten aus dem russischen Staatsfernsehen melden sich zu Wort, allen voran der für seine aggressive Rhetorik bekannte TV-Moderator Wladimir Solowjow. Das Bellen eines getroffenen Hundes? Meduzamit einer Kurz-Chronik des bizarren „Ich bin's nicht!“-Rummels.
Samstag, 28. September
Boris Grebenschtschikow, Bandleader von Aquarium, veröffentlicht auf seinem Youtube-Kanal ein Video zum Lied Wetscherni M [Wetscherni Mudoswon, dt. etwa: Wortwichser am Abend]. Darin geht es um einen „echt emsigen Kopf unserer Zeit“ – einen Propagandisten vom russischen Fernsehen: „Er alles sagt, was bestellt wird, seine Antworten bleiben nie aus.“ Namen nennt Grebenschtschikow keine.
Ich wandle mein Leben lang durch die Weiten / Und bin bereit, das noch weiter zu tun. / Wen du auch fragen willst, alle rauschen im Taxi vorbei. / Und niemand wird dir beibringen, wie man leben soll. / Doch im Zentrum der Weiten gibts einen Ort, wo es hell ist und wo alle hinschauen. / Dort bringt man nach bestem Wissen und Gewissen allen bei, wie es läuft in der Welt, / allen Kindern, den Alten und Jungen.
Wortwichser am Abend! / Du echt emsiger Kopf, / Wortwichser am Abend / er ist ehrlicher, aufrichtiger und besser als alle, / der Wortwichser am Abend. / Er erklärt dir alles, was du willst, / gibt auf jede Frage eine Antwort. / Das Volk hat eine Seele, ist aber arm wie eine Kirchenmaus, / Dafür haben sie allen eins auf die Nase gegeben!
Er strahlt wie ein druckfrischer 50iger / Er trieft vor Pomade und Lack, / Und wenn der Pöbel Jesus vermöbelt, / erklärt er uns, warum genau Jesus der Feind ist.
Sonntag, 29. September
Die russischen Medien greifen das Lied auf. Der Wetscherni M wird in den sozialen Netzwerken fleißig geteilt. Und die User rätseln: „Auf wen ist der Song wohl gemünzt?“ Mutmaßungen kommen auf, der anonyme Propagandist könnte Wladimir Solowjow sein, der Moderator der Sendung Der Abend mit Wladimir Solowjow.
Montag, 30. September
Solowjow reagiert per Twitterund Telegram auf Grebenschtschikows Lied: Der Leader von Aquarium sei „vom Dichter zum Coupletsänger verkommen“. Wobei der Moderator auch anmerkt, dass ihn der Song überhaupt nicht kränke. Zumal es darin, wie ihm scheine, um Iwan Urgant gehe. Der hatte ihn mit seinen Späßen über „Nachtigallscheiße“ schon mal beleidigt. „In Russland gibt es eine Sendung, die das Wort ‚Abendlicher‘ im Titel hat – Sie wissen nicht zufällig, welche?“, fragt der Moderator.
Am selben Tag
Boris Grebenschtschikow beteiligt sich an der Diskussion. Der Musiker hinterlässt unter seinem Youtube-Video folgenden Kommentar: „Um Missverständnissen vorzubeugen, möchte ich feststellen, was ohnehin klar ist: Zwischen Wetscherni U und Wetscherni M liegt eine unüberwindbare Distanz – wie zwischen Würde und Schande.“
Dienstag, 1. Oktober
Solowjow kommt mit einer neuen Version. Im Gespräch mit dem TV-Sender 360 hält er es durchaus für möglich, dass mit dem umstrittenen Song in Wirklichkeit der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky gemeint ist: „Es kann natürlich auch sein, dass Herr Grebenschtschikow sein Lied dem Präsidenten der Ukraine gewidmet hat … Was derzeit ein großes Thema in den amerikanischen Medien ist.“
Am selben Tag
Eine Agentur für Satire-News namens Panorama veröffentlicht eine Fake-Meldung über Solowjow, wonach dieser versuche, Urgant gegen Grebenschtschikow zu verteidigen. Man beachte das ausgedachte Solowjow-Zitat: „Das Lied handelt natürlich nicht von mir, aber ich halte seine weitere Verbreitung oder Wiedergabe für unzumutbar.“
Am selben Tag
Iwan Urgant kommentiert Grebenschtschikows Lied live auf dem Ersten Kanal, wobei er sich über sich selbst lustig macht – mehr noch allerdings über Solowjow (wieder ohne ihn namentlich zu nennen): „Wir hätten liebend gern Boris Borissytsch eingeladen, dieses Lied live bei uns zu singen, doch aus firmenethischen Gründen können wir im Ersten Kanal keine Lieder über Mitarbeiter anderer Sender bringen.“
[…] Ich habe gerade noch in der Garderobe das neue Lied von Grebenschtschikow gehört. Nun, einige haben es schon gehört, andere noch nicht. Wieder andere haben es sich schon sehr sehr oft angehört … Jedenfalls gibt's da gerade einen total bescheuerten Skandal: BG hat ein Lied auf Youtube gestellt. Es heißt Wetscherni M, und es geht darin um den Moderator einer Abendshow. Und im Grunde weiß keiner … , wen er meint …
Können wir mal reinhören? Nein, das geht leider nicht wegen des Wortes mudoswon/Wortwichser“, das darin vorkommt.
Also, wegen des Titels ist klar, dass es um einen Talkmaster geht. Der eine Abendshow moderiert. Also, der Kreis wird immer enger, um wen es gehen kann. Aber wir Abendshowmaster halten zusammen wie eine Familie […]. Und wir zerbrechen uns den Kopf: Über wen hat BG geschrieben? Wen konkret tunkt er da ein, in sein Aquarium? Er nennt ja keine Namen, nichts. Und dann ist mudoswon noch dazu ein russisches Wort, also ist von einem Russen die Rede und da können ja wir wieder alle gemeint sein […]
2. Oktober
Wladimir Solowjow (den Grebenschtschikows Lied überhaupt nicht kränkt) nimmt die Version mit Iwan Urgant wieder auf. Im Gespräch mit dem Telegram-Kanal Podjom wiederholt er die Idee aus der Meldung von Panorama und verspricht, den Kollegen gegen die Angriffe des Aquarium-Leaders zu verteidigen: „Es gibt in unserem Fernsehen eine ganz konkrete Sendung, die mit ‚Abendlicher‘ beginnt, und ich finde, Boris Borissowitsch hat völlig zu Unrecht einen wunderbaren, feinsinnigen, klugen Moderator des Ersten Kanals beleidigt. Ich habe ihn gegen diese unfairen Anfeindungen verteidigt und werde das auch weiterhin tun.“
Fortsetzung folgt.
Ergebnisse der Meduza-Leserumfrage: Wem ist das Lied Wetscherni M gewidmet?
Die Nachricht kam Dienstagnachmittag für viele völlig überraschend – umso größer war die Freude: Iwan Golunow ist frei! Der Investigativjournalist von Meduza stand seit Samstag unter Hausarrest, ihm war versuchter Drogenverkauf vorgeworfen worden. Sein Fall schlug hohe Wellen: So solidarisierten sich russische liberale wie staatsnahe Medien mit Golunow, außerdem Künstler wie der Regisseur Andrej Swjaginzew und die Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja, und auch die Zivilgesellschaft reagierte sofort, für den heutigen 12. Juni war ein Protestmarsch geplant. Die dekoder-Redaktion hatte noch am Dienstag einen offenen Brief veröffentlicht.
Seine plötzliche Freilassung und das Fallenlassen der Anschuldigungen gegen ihn sorgten für großen Jubel. Hatten die Behörden dem Druck der Öffentlichkeit nachgegeben? Auf The Bell erschien nun ein Text, der informiert, was seit dem Tag der Festnahme Golunows, dem 6. Juni, hinter den Kulissen geschah. Darin erzählt Dmitri Muratow, ehemaliger Chefredakteur der unabhängigen Novaya Gazeta, der an den Verhandlungen beteiligt war. Seine Schilderungen zeigen einmal mehr, dass es in Russland nicht unbedingt die Gerichte sind, die über eine Freilassung oder Verurteilung entscheiden.
Im Fall Golunow hat es am Samstag ein Treffen in der Moskauer Stadtverwaltung gegeben – noch vor der eigentlichen Gerichtsverhandlung. Das berichtet Dmitri Muratow, Aufsichtsratschef der Novaya Gazeta.
Muratow zufolge waren [neben Muratow und Alexej Wenediktow, Chefredakteur des kritischen Radiosenders Echo Moskwy – dek] auch Natalja Sergunina (Leiterin des politischen Bereichs) und Alexander Gorbenko (Verantwortlicher für Informationspolitik und Sicherheit) dabei, die beiden Stellvertreter von Bürgermeister Sergej Sobjanin.
„Auf unsere Bitte hin war zu dem Treffen [der Moskauer Polizeichef] Generalleutnant Oleg Baranow eingeladen. Wir haben lange Zeit Fragen gestellt, danach wurde den verschiedenen Seiten klar, dass die Argumente der Anklage völlig unhaltbar sind“, so Dmitri Muratow. „Genau dort in der Stadtverwaltung begann dann auch der Dialog, und es entstand die Idee, das Wanja freigelassen, ja zumindest in Hausarrest überführt werden muss. Die Anwälte stellten entsprechende Anträge und händigten unsere Bürgschaften aus. Das Gericht hörte ihre Argumente an und bezog selbstverständlich in seine Überlegungen mit ein, dass die Öffentlichkeit nicht einfach nur kochte, sondern immer neue Unstimmigkeiten in der offiziellen Version aufgedeckt wurden. So traf das Gericht schließlich die erste richtige Entscheidung: Unter Berücksichtigung seines Gesundheitszustands und der Situation insgesamt wurde Golunow nicht inhaftiert.“ Was mit ihm geschehen wäre, wenn er inhaftiert worden wäre, sei völlig unklar – denn niemand wisse, ob die Auftraggeber dieses Falls Kontrolle über die Untersuchungsgefängnisse hätten, fügt er noch hinzu.
Die politische Führung des Landes hat die richtige Entscheidung getroffen
Den nächsten Schritt, fährt Muratow fort, habe man ab Montag besprochen. An der Entscheidung sei Wladimir Putin beteiligt gewesen. Die Menschenrechtsbeauftragte Tatjana Moskalkowa habe Putin die Situation „ausführlichst“ dargelegt. Beim Rausgehen habe sie die Vermutung geäußert, dass womöglich mehrere zehntausend Urteile in Drogendelikten fingiert seien. „Die politische Führung des Landes hat die richtige Entscheidung getroffen; sie hat richtig eingeschätzt, dass die Geheimdienste, so meine Vermutung, ihren Vertrauensbonus ausgenutzt haben, um bei der Führung Moskaus und der Staatsführung eine für sie [die Geheimdienste – dek] nützliche Sichtweise zu etablieren“, so Muratow.
Im Grunde sei die Entscheidung schon am Vorabend getroffen worden, doch alles sollte auf gesetzlicher Grundlage vonstatten gehen, also habe man auf die Auswertungen der DNA-Proben gewartet. Diese seien am 11. Juni tagsüber gekommen, an dem beschlagnahmten Gut habe es keinerlei Spuren von Golunow gegeben. „Es blieb nur eine Möglichkeit: Golunow in seinen Beruf zurückzulassen und den Journalisten und der Öffentlichkeit zu danken für ihre beispielhafte Solidarität“, sagt Muratow. Er glaubt, der Brief mit der Aufforderung, Golunow freizulassen, sowie die Bereitschaft tausender Menschen, am 12. Juni am Solidaritätsmarsch teilzunehmen, hätten die Situation entscheidend beeinflusst.
Feiern statt Protestieren – ein Deal mit der Stadtverwaltung?
Am Dienstag veröffentlichten Muratow, Meduza-Gründerin Galina Timtschenko, Meduza-Chefredakteur Iwan Kolpakow und The Bell-Gründerin Jelisaweta Ossetinskaja eine gemeinsame Erklärung, in der sie schrieben, dass die Verhandlungen mit der Stadtverwaltung über den Marsch am 12. Juni in eine Sackgasse geraten sei. „Unser Vorschlag: morgen ein bisschen was trinken, und dann in den nächsten Tagen die Genehmigung für eine Aktion im Zentrum von Moskau erreichen“, heißt es in der Erklärung. Jedoch zählen diese Vier nicht zu den Organisatoren des Marsches.
Wir [The Bell] haben Muratow und Timtschenko gefragt, ob ihre Gesprächspartner in der Moskauer Stadtverwaltung den Wunsch geäußert hätten, den Marsch nach der Freilassung Golunows abzusagen. Muratow hat bislang noch nicht darauf geantwortet. Timtschenko sagte, sie habe überhaupt nicht mit der Stadtverwaltung gesprochen, sondern lediglich mit dem Anwalt Golunows, Sergej Badamschin, der sie gebeten habe, sich in den nächsten Tagen Gedanken um die Sicherheit und Gesundheit Golunows zu machen. „Ich bin weder Initiatorin noch Organisatorin. Ich hatte eine andere Aufgabe: Wanja mit Hilfe von Anwälten rauszuholen. Aber ich danke allen zum hundertsten Mal für die Unterstützung und wünsche mir sehr, dass wir nicht vergessen, wie viel heller, besser und wirksamer Solidarität ist als Streitigkeiten und Skandale“, sagte Timtschenko The Bell.
Erlaubnis, solidarisch zu sein
Das Online-Journal Projekt hatte am Montag mit Verweis auf zwei Kremlbeamte berichtet, dass die Präsidialadministration bestrebt sei, das Strafverfahren gegen Golunow bis zum 20. Juni zu schließen – wenn Putins Direkter Draht stattfindet. Den Quellen von Projekt zufolge war es der Vorsitzende der Präsidialadministration Anton Waino, der am 8. Juni die Entscheidung getroffen hatte, Golunow unter Hausarrest zu stellen. Und Wainos Stellvertreter Alexej Gromow habe schließlich den Fernsehsendern erlaubt, den Journalisten öffentlich zu unterstützen.
Viele Menschen in Russland wähnen sich derzeit in einem Traum: Iwan Golunow, der am Donnerstag noch wegen angeblichen Drogenhandels festgenommen wurde, ist frei. Wie ist das möglich? Eine gezielte Volte des Kreml? Oder gab er schlicht dem Druck der Straße nach? Die Ereignisse überschlagen sich, und die Gerüchteküche zu den schon zuvor gemutmaßten Gründen für die mögliche Freilassung brodelt nun noch mehr.
Der Name Golunow ist seit vergangener Woche in aller Munde, eine bislang nie dagewesene Welle der Solidarität hat seitdem das Land erfasst. Tausende Menschen demonstrierten, sogar staatsnahe Stimmen stellten sich auf die Seite der Protestierenden. Sie waren von Anfang an überzeugt, dass die Vorwürfe gegen Golunow vorgeschoben sind und eigentlich darauf abzielen, seine journalistische Tätigkeit zu unterbinden. Auch im Ausland war der Fall Golunow Thema: Reporter ohne Grenzen forderte die Freilassung des Journalisten, in Berlin demonstrierten am Samstag dutzende Menschen vor der Russischen Botschaft und auch die dekoder-Redaktion schrieb einen offenen Brief zur Unterstützung von Iwan Golunow.
Vergleichbare Fälle von Festnahmen und Verhaftungen aus fadenscheinigen Gründen gab es in Russland schon vor der Causa Golunow. Doch warum gab es damals keine derartigen Proteste? Warum schwappte die Solidaritätswelle gerade jetzt so hoch? Diese Fragen stellt Katerina Gordejewa auf Colta.
Seit dem Morgen sind an den Zeitungskiosks im ganzen Land die Zeitungen Vedomosti, Kommersantund RBCausverkauft, die Fluggäste von Aeroflot und Fahrgäste im Sapsan reißen einander die kostenlosen Exemplare aus der Hand – auf der Titelseite das Portrait des Investigativ-Ressort-Journalisten von MeduzaIwan Golunow mit dem Slogan Ich bin/Wir sind Iwan Golunow.
Dutzende großer und kleiner Medien im ganzen Land ändern ebenfalls ihre Titelseite und drücken so ihre Solidarität mit dem wegen Verdacht auf Drogenbesitz und -handel festgenommenen Kollegen aus.
Der Schauspieler Konstantin Chabenski erklärt bei der Jubiläums-Eröffnung des 30. Kinotaur Festivals, dass gerade „versucht wird, einen Journalisten auszuschalten“; im Saal bricht tosender Applaus los, der Fernsehsender Kulturaüberträgt die Szene ungekürzt, im Vordergrund des Bildes: Kulturminister Wladimir Medinski.
Die, die früher bei anderen himmelschreienden Anlässen vorgezogen haben, vieldeutig zu schweigen oder „den weisen Schluss zu ziehen“, es gebe „kein Rauch ohne Feuer“, diese demonstrativ apolitischen Schauspieler und Musiker, vorsichtige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, Designer, Kuratoren, Regisseure, Moderatoren des staatlichen Fernsehens – diesmal war es, als könnten sie nicht mehr: Sie haben den Mund aufgemacht und gesprochen.
Die Causa Golunow ist zum Referenzpunkt für eine nie dagewesene Solidarität geworden. Erstmals in einem relativ langen historischen Zeitraum ist die vor den Augen grassierende Ungerechtigkeit wichtiger als Meinungsverschiedenheiten. Es ist ein Präzedenzfall in der neuesten Geschichte.
Kein Peskow kann mehr sagen: „Der Präsident hat davon noch keine Kenntnis.“ Schon jetzt – und das wird nur noch mehr – pfeifen die Spatzen von allen Dächern die Ungereimtheiten des Falles, die polizeiliche Willkür, den Auftragscharakter der ganzen Sache.
Einige tausend Menschen protestierten und protestieren immer noch landesweit in Einzelpikets: Sie nehmen Videos auf, mit denen sie den Journalisten unterstützen, schicken Anfragen und wollen am Tag Russlands zum Protestmarsch gehen. Als ob all diese Menschen gemeinsam das Ventil umgedreht hätten: Und damit den Lügenstrahl ab- und den der Wahrheit aufgedreht haben.
Zahlreiche Personen des öffentlichen Lebens zeigen in Videobotschaften ihre Solidarität mit Iwan Golunow. Hier: Wladimir Posner, Ljudmila Ulitzkaja, Andrej Swjaginzew, Andrej Loschak, Olga Romanowa und Boris Grebenschtschikow
Warum bringt gerade der Fall Golunow alles zum Kochen? Warum nicht Ojub Titijew, Chef des tschetschenischen Memorial? Warum nicht Kirill Serebrennikow, Juri Dmitrijew, Alexander Kalinin? Und warum nicht dutzende junge Leute aus ausgedachten terroristischen Vereinigungen? Wahrscheinlich werden Politologen und Soziologen eines Tages eine schöne und elegante Erklärung dafür liefern. Bislang weiß es aber ganz bestimmt noch keiner.
Die Initiatoren des Ganzen waren Kollegen von Golunow – Journalisten. Es ist nicht unwichtig zu erwähnen, dass der Großteil der Menschen vor dem Gerichtsgebäude oder in den Einzelpikets aus Journalisten besteht, die gegangen wurden oder ihren Beruf aufgegeben haben, weil sie sich darin nicht verwirklichen konnten. Ein Teil der Redaktionen wurde liquidiert, ein anderer überlebt nur dank übermenschlichen Anstrengungen. Bis zu dem Fall Golunow schien es, dass der Beruf quasi ausgestorben sei. Golunow aber hatte weiterhin Journalismus gemacht. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Aber es geht nicht allein darum. Vielleicht hat es auch mit dem kollektiven Schauen der Serie Chernobyl zu tun, deren Hauptgedanke darin besteht, den fatalen physischen und moralischen Schaden zu verdeutlichen, den Lügen auf allen Ebenen hervorrufen.
Oder vielleicht geht es darum, dass Iwan Golunow ein guter, einfacher, bescheidener junger Mann ist, der in einer 30-Quadratmeter-Einzimmerbude wohnt. Vor seiner Verhaftung war er vor allem für seinen tadellosen Ruf und seine einwandfreie Professionalität bekannt. Menschen, die Iwan etwas näher kannten, wissen, dass er im Leben mit größter Leidenschaft verstehen wollte, wie die Dinge funktionieren. Seine Lieblingslektüre war die SPARK-Datenbank, eine Webseite über Staatsverträge, staatliche Register und Datenbanken. Seine Analysen und Schlussfolgerungen legten die Affären und Betrügereien offen, in denen das Land versank.
Der [im Fall Golunow zur Diskussion stehende – dek] Paragraph 228 ist in Russland als „Volksparagraph“ bekannt – auf ihm beruht der Löwenanteil der Urteile, wobei die Rolle der Polizei hier kaum zu überschätzen ist. In einem Land, in dem eine AIDS-Epidemie wütet und Drogen jedem zugänglich sind, der danach sucht, bietet dieser Paragraph eine sehr bequeme Gelegenheit, bei einer beliebigen Person auf der Straße im Rucksack einfach das zu finden, was gesucht – oder besser: was benötigt wird. Genau deswegen sind jetzt in der Causa Golunow jene Stimmen unangebracht, die behaupten, dass sich die Journalisten nur deswegen so ins Zeug legen, da es sich um einen der ihren handelt, während viele andere unter den gleichen Vorwürfen im Gefängnis vor sich hin gammeln. Niemand, egal ob bekannt oder unbekannt, sollte im Gefängnis sitzen, nur weil Polizisten, um ihre Bilanzen zu schönen, offene Fälle zu schließen und einen Stern zu bekommen, jeden ausschalten, um den man sie bittet.
Nun wurde im Fall Golunows ein Teilerfolg erzielt. Am Samstagabend beschloss das Nikulinski-Gericht in Moskau, Golunow unter Hausarrest zu stellen – eine vergleichsweise weiche Maßnahme, jedoch ist das weder ein vollständiger Freispruch im Gerichtssaal noch ist der Angeklagte auf freien Fuß gesetzt.
Hausarrest statt Untersuchungshaft: Freude bei den Versammelten vor dem Moskauer Nikulinski Bezirksgericht am 8. Juni
Der Slogan Freiheit für Iwan Golunow, der derzeit wohl überall zu sehen ist, kann erst dann als eingelöst gelten, wenn nicht nur der Investigativjournalist von Meduza freigelassen wurde, sondern alle, die die Anklage gegen ihn bestellt, fabriziert und ausgeführt haben namentlich benannt und bestraft worden sind. Dann können wir den Slogan umformulieren: Statt Freiheit für Iwan Golunow hieße es dann Danke Iwan Golunow.
Denn schließlich war er es, war es sein Fall, der uns geholfen hat die in Chernobyl so treffend formulierte Maxime zu begreifen: „Wenn die Wahrheit uns kränkt, dann lügen wir, lügen, bis wir uns nicht mehr daran erinnern, dass es die Wahrheit gibt. Aber es gibt sie.“
Iwan Golunow, Journalist im Investigativ-Ressort des Exilmediums Meduza, wurde am Donnerstag in Moskau festgenommen. Laut Meduza-Angaben wird ihm versuchter Drogenhandel in großer Menge angelastet. Details zum Fall sind derzeit noch unklar.
Dem Vorwurf versuchten Drogenverkaufs begegnen viele Kollegen mit Skepsis – untergeschobene Suchtmittel gelten in Russland als Klassiker, um strafrechtliche Verfahren zu erzwingen. Meduza-Chefin Galina Timtschenko und Chefredakteur Iwan Kolpakow kommentieren den Vorfall.
Unser Kollege, Freund und Meduza-Korrespondent Iwan Golunow wurde in Moskau festgenommen. Bei ihm selbst sowie bei ihm zu Hause sollen angeblich Drogen gefunden worden sein: Der Ermittler spricht von einem „versuchten Verkauf“. Golunow konnte über Freunde mitteilen, dass ihm zwei Tüten mit unbekannter Substanz untergeschoben wurden. Laut Aussage Golunows, durfte er kein Telefon benutzen und keinen Anwalt rufen. Der Ermittler kontaktierte Golunows Freundin, die Korrespondentin der russischen BBC Swetlana Reiter, etwa 14 Stunden nach der Festnahme, mitten in der Nacht.
Später baten Iwan und sein Anwalt, dass man Proben an seinen Händen und Nägeln nehmen möge – ein Verfahren, über das ein Kontakt mit Drogen bestätigt oder widerlegt werden kann. Diesem Antrag wurde nicht stattgegeben. Iwan wurde während der Verhaftung und im Polizeirevier geschlagen; er und sein Anwalt baten, einen Krankenwagen zu rufen, um die Schlagspuren zu dokumentieren. Auch diesem Gesuch wurde nicht stattgeben.
Iwan Golunow ist einer der bekanntesten Investigativjournalisten Russlands. Sein fachlicher Ruf ist tadellos. Er ist ein peinlich genauer, ehrlicher und unparteiischer Journalist. Privat ist Wanja einer der anständigsten Menschen, die wir kennen.
Wir sind überzeugt, dass Iwan Golunow unschuldig ist. Wir haben außerdem Anlass zur Annahme, dass Golunow wegen seiner journalistischen Tätigkeit verfolgt wird. Wir wissen, dass Wanja in den letzten Monaten bedroht wurde; wir wissen auch, dass die Drohung mit einem seiner Texte zusammenhängt, an dem er zuletzt gearbeitet hatte; wir ahnen, woher diese Drohungen kommen. Meduza wird jeden Ermittlungsschritt im Fall Golunow verfolgen. Wir finden raus, in wessen Interesse Wanja verfolgt wird und werden diese Information publik machen. Wir werden unseren Journalisten mit allen verfügbaren Mitteln schützen.
Am 20. Mai wurde bekannt, dass zwei Journalisten der Tageszeitung Kommersant ihren Arbeitgeber verlassen. Daraufhin haben alle Mitglieder der Politikredaktion geschlossen ihre Kündigung eingereicht.
Der Sprecher des Verlagseigentümers Alischer Usmanow legt den zwei Journalisten zur Last, einen „bestellten“ Artikel geschrieben und damit gegen die redaktionellen Standards verstoßen zu haben. Beweise dafür bleiben bislang aus, sowohl die Journalisten als auch der stellvertretende Chefredakteur von Kommersant bestreiten den Vorwurf.
Viele unabhängige Journalisten sind bestürzt über den Vorgang, sie sehen darin einen weiteren Schlag gegen die Pressefreiheit in Russland. Sie erinnern sich an das Schicksal des Onlinemediums Lenta.ru und des Investigativ-Portals RBC. Tenor damals: Diese beiden Medien hätten die „Verkehrsregeln“ des russischen Journalismus verletzt und dabei eine gewisse „durchgezogene Linie“ überschritten. Gemeint ist vor allem Selbstzensur. Russland nimmt auf der Rangliste der Pressefreiheit Platz 149 ein – von insgesamt 180.
Die Redaktion von Meduza äußerte ihr Mitgefühl gegenüber den 13 Kollegen vom Kommersant.
Der Unternehmer und Eigentümer der Zeitung Kommersant Alischer Usmanow hat die Kündigung zweier Journalisten der Zeitung erzwungen: Iwan Safronow und Maxim Iwanow. Dem Aktionär gefiel ein Artikel nicht, in dem es darum ging, dass Valentina Matwijenko womöglich den Posten als Sprecherin des Föderationsrates aufgibt und der Chef des Auslandsgeheimdienstes Sergej Naryschkin ihren Platz einnimmt.
Der Chefredakteur und Generaldirektor von Kommersant Wladimir Shelonkin sagte gegenüber Vedomosti: „Wir haben uns von den Journalisten getrennt, da beim Erstellen des Artikels die redaktionellen Standards des Kommersant verletzt wurden.“ Unter anderen Umständen – sprich zu anderen Zeiten oder außerhalb von Russland – hätte Shelonkin wahrscheinlich erklären müssen, gegen welche redaktionellen Standards genau verstoßen wurde. Denn unmittelbar nach Safronow und Iwanow hat die gesamte Belegschaft der Politikredaktion von Kommersant ihre Kündigung eingereicht – als Zeichen, dass sie mit der „Entscheidung des Aktionärs“ nicht einverstanden sei.
Es ist erstaunlich, dass sich Shelonkin ausgerechnet auf redaktionelle Standards beruft: Denn seitdem Usmanow die Zeitung gekauft hat, mischt er sich regelmäßig und, allem Anschein nach, durchaus effektiv in ihre Arbeit ein – will sagen, ein Verstoß gegen redaktionelle Standards ist eher dem Eigentümer und Chef vorzuwerfen. Aber der Kommersant hat eine phänomenale Anziehungskraft. So arbeiten trotz allem dort immer noch dutzende hochprofessionelle Mitarbeiter, für die, davon sind wir überzeugt, Zensur inakzeptabel ist. Von außen zuzusehen, wie es mit einer Zeitung schrittweise den Bach runtergeht, tut ziemlich weh; mit denen, die Teil davon sind, nicht mitzufühlen, ist unmöglich. In all den Jahren haben sowohl Mitarbeiter des Kommersant als auch ihre Leser und Konkurrenten gehofft, dass die Krise auf magische Weise enden wird – doch das ist, oh weh, nicht passiert.
Von Quellen aus dem Verlagshaus Kommersant wissen wir, dass die Veröffentlichung über Matwijenko einen solch starken Unmut eines Aktionärs ausgelöst hat, dass sogar die Kündigung des Chefs diskutiert wurde. Stattdessen hat man jedoch den Autoren des Artikels nahegelegt zu gehen und ihnen zudem die Verletzung von Standards angelastet. Allein der Gedanke daran, wie so etwas abgelaufen sein mag, ist beschämend.
In der Meduza-Redaktion arbeiten ehemalige Kommersant-Mitarbeiter, doch nicht nur ihnen ist es schwer ums Herz. Der russische Journalismus verliert seine Profis mit erschreckender Geschwindigkeit: Die Leute gehen nicht, um bei anderen angesagten Medien anzuheuern, sondern sie gehen in den meisten Fällen in angrenzende Berufszweige, das heißt ins Nirgendwo. Und doch trauern wir heute nicht um unseren Beruf, sondern um eine konkrete Redaktion in einer konkreten Zeitung. Wir wissen, der Kommersant ist eine Familie. Und in dieser Familie ist ein Unglück geschehen. Haltet durch, Freunde!