Auf den russischen Großangriff auf die Ukraine folgte in Russland eine bis heute andauernde Welle der Repressionen – vor allem auch gegen unabhängige Medien, von denen zahlreiche ihren Betrieb einstellen oder ins Exil gehen mussten. Gleichzeitig begünstigten Schock und Empörung auch die Gründung einer Reihe neuer Onlinemedien wie The New Tab, die Novaya Gazeta Europe oder Cherta, die meist aus dem sicheren Ausland und mit anonymen Korrespondentinnen und Korrespondenten vor Ort arbeiten. Eines davon ist Verstka. Auf dem Blog Inymi slowami des US-amerikanischen Kennan Institutes erzählt die Chefredakteurin Lola Tagajewa die Gründungsgeschichte ihres Mediums, das auch für dekoder zu einer wichtigen Quelle geworden ist.
„Viel Geld werden wir nicht verdienen, wenn überhaupt welches; doch eins weiß ich sicher – es wird schwierig. Für Medien ist es immer schwierig. Vor allem jetzt.“ So also klang das Traumangebot, das ich Marianna Luschnikowa, der zukünftigen Marketingchefin von Verstka, im März 2022 schickte.
Marianna und ich hatten gerade unsere ersten Trainings auf den Markt gebracht. Durchaus erfolgreich. Das letzte war für die Niederlassung einer transnationalen Firma gewesen, deren Produkte in jedem Haus zu finden sind, in dem es Babys gibt. Von dem Geld für dieses Training lebten Marianna und ich vier Monate lang, bis Einkünfte von Verstka kamen.
Ein Start ohne große Ressourcen und prominenten Namen
Warum rede ich gleich über Geld? Weil ich fast keines hatte. Und Medien haben ohne Geld keine Chance. Also, richtige Medien, nicht das private Blog von Lola Tagajewa. Ein Blog wollte ich nicht, und Gott sei Dank ließ ich die Finger davon.
Also, das Geld. Verstka hat seit letztem Jahr über 30 Mitarbeiter, und ich habe eine ungefähre Vorstellung von unserem Jahresbudget. Doch damals hatten wir im Grunde nur zwei Monatsgehälter für drei Journalisten. Einen halbwegs prominenten Namen, mit dem ich Sponsoren hätte ködern können, hatte ich auch nicht. Viel hatte ich also nicht, nur die Gewissheit: Etwas anderes als Journalismus kann ich jetzt nicht machen. Ich bin nicht die Einzige, die seit dem 24. Februar [2022 – dek] wie benommen ist.
Zu dem Zeitpunkt war ich seit drei Jahren damit glücklich, nicht mehr journalistisch zu arbeiten, und wollte eigentlich gar nicht zurück. Ich bin politische Journalistin und Redakteurin in den 2010er Jahren gewesen: Damals mündete unsere Hoffnung auf Modernisierung unter Medwedew allmählich in Chroniken von Gerichtsprozessen. Meine Kündigung begründete ich damit, dass das Politikressort zur Apokalypse geworden sei. Damals hatte ich noch keinen Schimmer … Doch ich wollte sehen, dass meine Arbeit etwas bringt. Also wandte ich mich einem Bereich zu, den der Staat noch nicht so brutal unterdrückte – Problemen der Geschlechterungleichheit und der häuslichen Gewalt.
Ich hatte keine Rückkehrpläne und lehnte alle Jobangebote von Medien ab. Doch 2022 begann der Krieg, und es gab [in Russland – dek] fast keine Medien mehr, die darüber hätten berichten können. Alle waren geschlossen, geflüchtet, übten Selbstzensur. Im März wurden direkt vor meinen Augen mit besonderem Zynismus Medien vernichtet, für die ich mal gearbeitet hatte: Doshd, Novaya Gazeta – und auf RBC wurde es immer schwieriger, etwas zwischen den Zeilen zu lesen. Ich wusste nicht, dass der Journalismus am Ende trotz allem überleben würde.
Ich hatte großes Mitleid mit den Ukrainern und allen, die durch den Krieg leiden mussten
Ich sah zu, wie Medien geschlossen wurden, und es fühlte sich an, als würden Mauern fallen und Bollwerke einstürzen, die für viele ein sinnvolles Weltbild beschützt hatten, und als würden Massen propagandistischer Untiere die letzten bei Verstand gebliebenen menschlichen Wesen endgültig auffressen. Außerdem hatte ich großes Mitleid mit den Ukrainern und allen, die durch den Krieg leiden mussten.
Ich habe es nicht so in Erinnerung, dass ich unbedingt ein eigenes Medium wollte. Eher zerrte dieses Gefühl von Ungerechtigkeit an mir, das ein „Ich habe nicht wirklich Lust“ plattwalzt und zu einem „Es muss“ macht. Damals dachte ich auch noch, dass es statt Journalismus nur noch Streams geben würde. Fast alle machten Streams, und viele sahen sie sich auch an, muss man zugeben. Das Ergebnis war eine Art kollektiver Gruppenpsychotherapie, gemischt mit Gesprächsjournalismus. Mir fällt es leichter, psychisch gesund zu bleiben, wenn ich mich als Reaktion auf Stress Hals über Kopf in die Arbeit stürze, statt mit anderen darüber zu sprechen und mir Sorgen zu machen.
Außerdem hatte ich Fragen, auf die ich keine Antworten fand. Zum Beispiel, was aus diesen Müttern und Ehefrauen wurde, die die Straße nach Kabardino-Balkarien im Kauskasus blockiert hatten, um zu herauszukriegen, was mit ihren in der Ukraine verschollenen Söhnen und Ehemännern passiert war. Nichts außer einer kurzen Nachricht in einem Telegram-Kanal war über ihre Aktion zu finden. Ich wollte aber wissen, wie es nach ihrer Festnahme weitergegangen war und ob sich die Geschichte der „Soldatenmütter“ der 1980er und 1990er Jahre wiederholen könnte, die ihren Kindern nicht nur in die Kampfzonen hinterherfuhren, sondern zu einer starken Kraft gegen den Krieg wurden. Insofern war einer der ersten Texte bei Verstka dieser Protestaktion gewidmet.
Da ich sowohl mit Medien als auch mit Start-ups Erfahrung hatte, schätzte ich die Schwierigkeiten, die uns bevorstanden, zwar hoch ein, aber lösbar. Jetzt sage ich mir: „Du hattest keinen blassen Schimmer, Lola. Wenn du das gewusst hättest, hättest du nämlich die Finger davon gelassen.“
Doch damals war es mir enorm wichtig, Journalismus zu betreiben, soweit ich es mir eben leisten konnte. Wenn nur ein wichtiger Text pro Monat zu schaffen ist, dann soll es eben nur einer sein. Wenn mehr geht – umso besser. Man kann nicht einfach stillsitzen und nichts tun. Dafür ist jetzt nicht die Zeit.
Es gibt wenig, das ich bei der Arbeit so sehr mag wie Fakten. Mit Fakten ist es einfach. Im Gegensatz zu Interpretationen lassen sie dich nie dumm aussehen. Wie ich die Entwicklung von Verstka anlegte, sieht man daran, dass ich dafür meinen eigenen Telegram-Kanal mit gut vierzig Followern hergab, weil ich nicht mit einem neuen Account ganz bei Null anfangen wollte. Der Channel hieß Swobodnyje slowa Loly Tagajewoi (dt. Lola Tagajewas freie Worte) – und auf Telegram heißt Verstka noch immer: svobodnieslova. Die Überzeugung, dass diese vierzig Leute, die mich in ihrer Panik hinzugefügt hatten, als Facebook Mitte März 2022 als extremistisch eingestuft wurde, irgendwie wichtig sind für den Start meines Projekts – das illustriert am besten, wie wenig Ressourcen wir hatten.
Der Glaube an eine Idee wiegt viel mehr als ein Startkapital
Die ersten Autoren waren leicht gefunden – ich postete auf Facebook: Wer möchte bei mir als Journalist oder Journalistin arbeiten? Ich weiß nicht, wieso diese Leute – tolle Autoren, die noch immer für Verstka schreiben – das Vertrauen hatten, dass das ohne Geld und mit einem Planungshorizont von zwei Monaten etwas werden könnte (sie hätten mich ja auch für eine Stadtirre halten können). Vielleicht strahlte ich eine unverwüstliche Sicherheit aus, hier und jetzt das Richtige zu tun. Heute weiß ich hundertprozentig, dass der Glaube an eine Idee und die daraus entstehende Energie viel mehr wiegt als ein Startkapital. Mit Glauben und Energie findet sich das nötige Geld, aber wenn der Glaube fehlt, dann bleiben auch die Entwicklungsperspektiven nebulös. Auch wenn das wie ein Insta-Post über erfolgreichen Erfolg klingt.
Wir wollten ungefähr Mitte Mai starten, aber am 25. April schrieb ich spätabends um zehn in den Chat: Morgen früh um sieben geht es los. Wir hatten nichts fertig, weder die Website noch die Social-Media-Auftritte. Dafür hatten wir eine Story, bei der ich mir sicher war: Selbst wenn wir sie handschriftlich auf Zettel schreiben, fotografieren und über meine privaten Accounts posten, ist das der beste Start. Es war die Geschichte einer Mutter in einer Kleinstadt, die die Großbuchstaben Z von den Fenstern des Kindergartens heruntergerissen hatte, in den ihre Söhne gingen. Gefühlt alle meine Kontakte teilten das Video mit ihr, aber keiner wusste, wie diese Heldin hieß. Sie war eine dieser namenlosen Heldinnen des Widerstands, die wir so dringend brauchten und über die wir mehr erfahren wollten. Anja Ryshkowa machte sie ausfindig und interviewte sie. Schon in den ersten 24 Stunden hatten wir zweitausend Abonnenten auf Telegram, und den Text, den wir zunächst nur auf Telegram posteten und erst später auf die Website brachten, lasen hunderttausend Menschen. Mein Redakteurinnen-Gespür hatte mich nicht getäuscht.
Ich hatte mir keine festen Ziele gesteckt, wie viele Follower es werden sollten und was ich erreichen wollte – um mich nicht auch noch mit eigenen Erwartungen unter Druck zu setzen. Ich überlegte so: Wenn das Projekt Erfolg hat, werden wir auch Unterstützung für seine Weiterentwicklung bekommen, und alles wird gut. Wenn es aber nichts wird, dann hab ich selbst keine Lust auf so ein Medium. Und ich hatte Glück.
Das erste Journalistinnen-Team von Verstka erwies sich als stark. Und ich habe nie geglaubt und glaube immer noch nicht, dass man heutzutage beim Launch eines Medienprojekts auf eine spezielle, geheimnisvolle Nische abzielt, für die man Ressourcen und Mühe investiert. In einer Situation, in der zielgruppenspezifische Werbung keine Option ist und die sozialen Medien kahlgeschlagen sind, erreicht man am Anfang nur Follower, die einem Kollegen zur Verfügung stellen. Also muss man auf Zitierbarkeit setzen. Andere Möglichkeiten sehe ich für ein Medienprojekt ohne Namen und ohne Geld nicht. Nur exklusives Material! Wer braucht ein Nachrichten-Rewrite auf einem kleinen Channel, wenn es Meduza gibt? Und immer der Zeit und den Themen voraus sein, bloß nicht den anderen hinterherhecheln. Das war ein gutes Training für das redaktionelle Gespür – welcher Text wird morgen gebraucht? Was wird am ehesten geteilt und zitiert? Welches gesellschaftliche Interesse ist am Entstehen? Wir mussten die Themen vorgeben, nicht ihnen nachlaufen.
Verstka hat alle Kräfte gebraucht, aber auch viel zurückgegeben. Ich weiß gar nicht, was einer Chefredakteurin mehr Freude macht – zuzusehen, wie talentierte, aber noch kaum bekannte Journalisten zu Stars werden, oder mitzubekommen, wie Texte den Nerv des Publikums treffen.
Eine weitere richtige Entscheidung war, dass die Marketingchefin schon da war, bevor wir an die Öffentlichkeit gingen und es irgendein Team gab, so dass einer die Sache lenken konnte. Mit diesem Tipp erspart man sich viel Geld: Ein fähiger Marketingchef aus dem Business ist die Rettung der Redaktion. Einen Text als solchen braucht keiner. Daher halte ich mich an folgende Regel: Wenn der Text keine Nachricht enthält, die automatisch Verbreitung findet, dann schaltet sich die Distributionsabteilung ein und sucht nach Wegen, wie das Material möglichst viele Leser erreicht. Wir können es uns finanziell nicht leisten, den Verstka-Channel für nur tausend Abonnenten zu betreiben, auch nicht für hunderttausend.
Im ersten Jahr ernährte sich Verstka von meiner Lebenskraft. Wahrscheinlich auch von der Kraft anderer, die mit mir zusammen dieses Projekt angefangen hatten. Eineinhalb Jahre später war ich ausgelaugt von dieser pausenlosen „Plasmaspende“ und stellte mir die ehrliche Frage: Hätte ich es schonender angehen können? Die ehrliche Antwort war: Nein. Ein Projekt ohne Geld und Namen hätte ohne diesen fulminanten Start keine andere Chance gehabt, in einer so schwierigen Zeit zu überleben und relativ groß zu werden. Wenn wir klein angefangen hätten, hätten wir jetzt vielleicht an die zehntausend Abonnenten. Und die Redaktion bestünde immer noch aus ein paar wenigen Mitgliedern. Wäre ich dann glücklicher und gesünder? Vielleicht. Aber diese Frage hat sich damals nicht gestellt. Der Krieg hat alles verändert.
„Das Fernsehen ist jener Ort, an dem ich mehrere Leben gleichzeitig leben kann“ – diese Worte wiederholt der Generaldirektor des Perwy Kanal in Interviews gerne. Ob vor oder hinter der Kamera, ob als Regisseur, Drehbuchautor oder Produzent zahlreicher Filme und Serien – der Name Konstantin Ernst taucht in fast allen zeitgenössischen medialen Produktionen auf. Ohne Zweifel ist Ernst eine der mächtigsten und einflussreichsten Persönlichkeiten der russischen Medienwelt. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine steht er für „die Mitwirkung bei der Verbreitung von anti-ukrainischer Propaganda“ unter internationalen Sanktionen. Wie kaum ein anderer ist Ernst in der Lage, Stimmungen zu erfassen und weiterzugeben. Konstantin Ernst ist jedoch kein plumper Propagandist, sondern in erster Linie ein geschickter Medienmanager und kreativer Kopf, der das russische Staatsfernsehen reformiert und modernisiert hat.
Seine Karriere beim Fernsehen begann in einer Zeit des Umbruchs und Neubeginns: 1988 fing Ernst beim damaligen Sender ORT an. Mit Ende 20 wurde er Regisseur, Drehbuchautor und Moderator bei Wsgljad (dt. Blick) – einem der bekanntesten Programme der Perestroika-Zeit. Ab 1991 produzierte und moderierte er fünf Jahre lang seine eigene Sendung Matador im Nachtprogramm des Senders, die beim Publikum sehr beliebt war. In essayartigen Sendungen widmete sich Ernst dort vor allem seiner großen Leidenschaft, der Kino- und Filmindustrie. Er träumte davon, einmal selbst zum Kino zu gehen, doch dann kam alles anders: Im März 1995 erschossen Unbekannte den ORT-Direktor Wladislaw Listjew. Konstantin Ernst wurde sein Nachfolger.
Modernisierer des Perwy Kanal
In seiner neuen Position reformierte Ernst ORT und trug damit wesentlich zum Erfolg des Senders bei, der 2002 in Perwy Kanal umbenannt wurde. Sein Ziel war es, dem staatlichen Fernsehen wieder zu hohen Einschaltquoten zu verhelfen und Stabilität zu schaffen, was ihm unter anderem durch die vermehrte Aufnahme von Spielfilmen ins Programm sowie neue Produktionen gelang. So verantwortete er beispielsweise Russki Projekt (dt. Das Russische Projekt) – die erste sogenannte soziale Werbekampagne der russischen Regierung nach dem Ende der Sowjetunion. Mit einfachen, aber eindringlichen Bildern sollten die anderthalb bis zweiminütigen Clips die Bevölkerung an wichtige gesellschaftliche Werte erinnern. Häufig endeten sie mit einem moralisierenden Appell: „Denk an deine Liebsten“, „Glaube an dich selbst“ oder „Setzen Sie sich realistische Ziele“.1
Ernst verstand, dass er das Publikum auf einer emotionalen Ebene erreichen muss, wenn er moralische Botschaften übermitteln will. Er entwickelte Unterhaltungsprogramme wie Proshektor Paris Hilton (dt. Paris Hilton im Rampenlicht), die Erfolgstalkshow Pust goworjat (dt. Lasst sie reden) oder die mehrteiligen Musikfilme Staryje pesni o glawnom (dt. Alte Lieder über das Wesentliche). Das Fernsehen ist außerdem jener Ort, an dem Ernst seiner großen Leidenschaft für die Filmkunst nachgehen kann. So produzierte er zahlreiche erfolgreiche Filme und Serien der letzten zwei Jahrzehnte. Dazu gehören etwa die Filme Notschnoi dosor (dt. Wächter der Nacht, 2004) und Dnewnoi dosor (dt. Wächter des Tages, 2005), die Fortsetzung des beliebten Klassikers Ironija sudby (2007) (dt. Ironie des Schicksals), ein Biopic über den Sänger Wladimir Wyssozki (2011) und der Historienfilm Wiking (2016) über Fürst Wladimir I.
Mediale Megaevents für das Putin-Regime
Seit 1999 hat Ernst nicht nur den Posten des Generaldirektors des Perwy Kanal inne, sondern er ist auch Hauptproduzent medialer Großereignisse, wie zum Beispiel des Eurovision Song Contests 2009 in Moskau, der Eröffnungs- und Schlusszeremonie der Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi, sowie der Fußballweltmeisterschaft 2018. Ernst war es auch, der die jährliche Call-in-Show Prjamaja linija s Wladimirom Putinym (dt. Direkter Draht mit Wladimir Putin) ins Leben gerufen hat. Jedes Jahr am 9. Mai produziert er die Übertragung der Siegesparade in Moskau. Der begeisterte Cineast weiß seine Leidenschaft für Hollywood-Filme in diese monotonen Ereignisse einfließen zu lassen und sie in mediale Spektakel zu verwandeln: So ließ er unter anderem Kameras in den Cockpits von Kampfflugzeugen installieren, um dem Publikum Aufnahmen wie im amerikanischen Action-Drama Top Gun zu liefern.
Nicht zuletzt aufgrund der Produktion medialer Megaevents gilt Ernst als „Kreativdirektor“ des Kreml und hauptverantwortlicher Gestalter des visuell-medialen Stils des Putin-Regimes. Der Kreml hat ihn dafür mit Auszeichnungen überhäuft: Er erhielt zahlreiche Urkunden, Medaillen und Orden. So verlieh Putin ihm unter anderem 2021 den höchsten Grad des Ordens für Verdienste um das Vaterland. Ernst ist außerdem mehrfacher Gewinner des wichtigsten russischen Fernsehpreises Tefi, Mitglied zahlloser Verbände und Akademien sowie Teil des Kuratoriums des Fond Kino, der wichtigsten Finanzierungseinrichtung der russischen Regierung für die russische Filmproduktionsindustrie.
Vom Wissenschaftler zum Fernsehmogul
Eine Karriere in Film und Fernsehen schien dem 1961 in Moskau geborenen Konstantin Ernst zunächst nicht in die Wiege gelegt. Wie sein Vater Lew Ernst sollte er Wissenschaftler werden. Dieser war ein bekannter Biologe, Vize-Präsident der Sowjetischen Akademie für Landwirtschaftswissenschaften und Begründer der sowjetischen Schule für Genetik. Lew Ernst war somit der erste Wissenschaftler in einer Familie, die vorwiegend bei der Eisenbahn gearbeitet hatte – Konstantin Ernsts deutscher Ur-Ur-Großvater Leo Ernst kam im 19. Jahrhundert zum Bau der Eisenbahn ins Russische Kaiserreich, heiratete und blieb.
Konstantin Ernst studierte Biologie und erhielt nach Abschluss des Doktorats im Bereich der Genetik 1986 ein prestigeträchtiges Angebot für ein zweijähriges Praktikum an der Universität Cambridge. Aber er lehnte ab und machte sich stattdessen an die Arbeit an seinem ersten Film. Zunächst produzierte er einen Videoclip für das Lied Aerobika der Rockgruppe Alisa, danach folgte der avantgardistische Dokumentarfilm Homo duplex sowie die Verfilmung eines Konzerts des populären Rock-Barden Boris Grebenschtschikow in Leningrad. Durch diese Arbeit wurde der damalige Moderator von Wsgljad, Jewgeni Dodolew, auf Ernst aufmerksam. Dodolew engagierte ihn als Regisseur und Produzenten – es war der Startschuss für Ernsts Höhenflug beim Fernsehen.
Ein Mensch der Gegensätze
Bereits an seinen Debüt-Arbeiten und seinem beruflichen Werdegang zeigt sich, dass Ernst ein Mensch der Gegensätze ist: Er wurde im analytisch-strukturierten Denken ausgebildet, aber seine Leidenschaft gilt der Filmkunst. 2021 wurde bekannt, dass ein Unternehmen, das mit Ernst in Verbindung gebracht wird, zahlreiche Kinotheater aus der Sowjetzeit in Moskau abreißen ließ. An ihrer Stelle wurden Einkaufszentren errichtet – der große Freund des Kinos ist somit zugleich sein Zerstörer.2 Der Perwy Kanal ist Ernsts Erfolgsprojekt; gleichzeitig ist er mitverantwortlich für dessen hohe Verschuldung.3 Auch unter seinen Mitarbeitern ist er umstritten. So hat beispielsweise eines der bekanntesten Gesichter des Perwy Kanal, Andrej Malachow, den Sender aufgrund von Konflikten mit Ernst verlassen.
Seine Ausbildung und gesellschaftliche Stellung machen Ernst zu einem Vertreter der Intelligenzija. Er ist jedoch auch Hauptverantwortlicher für aggressiv-propagandistische Talkshowformate wie Wremja pokashet (dt. Die Zeit wird es zeigen). Derartige Programme zeugen von seinem Wunsch, die Menschen emotional zu lenken, sowie von seiner Sicht auf die Rolle des Fernsehens in der Gesellschaft: Wie er bereits 2004 anlässlich des Geiseldramas in Beslan und der spärlichen Berichterstattung darüber im Perwy Kanal gegenüber der Financial Times erklärte, ist es in seinen Augen die wichtigste Aufgabe des Fernsehens, das Land zu mobilisieren; erst an zweiter Stelle komme die Aufgabe, die Menschen zu informieren.4
Meister der Inszenierung
In seiner Rolle als Generaldirektor eines der wichtigsten Fernsehsender Russlands sowie als Produzent zahlreicher Filme agiert Ernst im Spannungsfeld von Einschaltquoten, Vorgaben aus dem Kreml und eigenen künstlerischen Ambitionen. Tatsächlich wurde unter Ernsts Anhängern spekuliert, dass dieser für die Möglichkeit, mediale Großprojekte realisieren zu können, die Propaganda für den Kreml in Kauf nehme.5 Ernst definiert sich allerdings selbst als Vertreter eines starken Staates (gosudarstwennik) und kann daher als loyaler Anhänger des Putin-Regimes bezeichnet werden. So erklärte er einmal in einem Gespräch mit einem Journalisten des New Yorker, dass es seltsam wäre, wenn ein staatlicher Sender eine regierungsfeindliche Haltung einnehmen würde.6 Trotzdem bewahrte Ernst stets den künstlerischen Anspruch an sein Programm. Über lange Zeit hatte der Perwy Kanal bei der Propaganda nie ein gewisses Niveau unterschritten. Angesichts der Geschmacklosigkeiten in Wremja pokashet hat jedoch auch diesen Sender die politische Realität inzwischen eingeholt. Ernsts Aufmerksamkeit gilt heute umso mehr den Unterhaltungsprogrammen, da hier der kreative Spielraum noch am größten ist. Diese Projekte zeigen Ernsts persönlichen Ehrgeiz, sich technisch mit Hollywood zu messen und die amerikanische Filmfabrik zu übertreffen, denn inhaltlich habe diese in den letzten 15 Jahren „nur Mist“ hervorgebracht, wie er bei einem öffentlichen Auftritt abschätzend erklärte.7
Die von Ernst produzierten Fernsehserien und Spielfilme, die oft Rekordsummen verschlingen, transportieren vor allem eines – die russische Staatsideologie. So fällt beispielsweise in der Serie Trotzki (2017) die historische Genauigkeit der Symbolik zum Opfer: Trotzki wird als Marionette ausländischer Kräfte dargestellt, Revolutionen werden als etwas Fatales präsentiert. Auch das Drama Wysow (dt. Die Herausforderung) aus dem Jahr 2023 hat in erster Linie politische Bedeutung: Der angeblich im Weltraum gedrehte Film soll den „erneuten“ Sieg über Amerika beim Wettlauf ins All demonstrieren. Die politische Dimension zeigt sich auch darin, dass Konstantin Ernst sowie die Schauspielerin Julia Peresild dafür prompt eine Auszeichnung erhielten – und zwar von Wladimir Putin persönlich. Zufrieden zurücklehnen wird sich Ernst deshalb bestimmt nicht. Er greift weiter nach den Sternen und kündigt an: Eine Fortsetzung des Blockbusters solle „auf dem Mond“ gedreht werden.8
In einem dieser Videos schenkt eine Frau, deren Mann sie nach einem Streit auf der dunklen Straße ausgesetzt hat, einem jungen Liebespaar ihren Hut. Als sie in die Nacht hineinwandert, erscheint die Überschrift: „Passen Sie auf die Liebe auf“. ↩︎
Die Chefs der NATO-Staaten schauen eine Videoansprache von Wladimir Putin an, auch der ukrainische Präsident Selensky ist dabei, am Arm eine rote Hakenkreuzbinde. Alle scheinen von Putins Rede derart beeindruckt zu sein, dass sie sich in die Hose machen. Die Urinspuren zu ihren Füßen formen die Abkürzung für die Nordatlantische Allianz. So soll angeblich eine Titelseite des spanischen Satire-Magazins El Jueves aussehen. Jedoch: Das Magazin mit diesem Cover hat es nie gegeben, es ging von einem russischsprachigen Telegram-Kanal aus viral.
Diese gefälschte Titelseite eines bekannten Satire-Magazins ist kein Einzelfall. Aus der Tiefe des russischen Internets tauchen regelmäßig solche Fake-Bilder auf, die Titelseiten von Charlie Hebdo, Mad oder Titanic darstellen sollen. Im russischen Exil-Medium iStories geht Ilja Ber, Gründer und Chefredakteur des Faktchecking-Portals Provereno(dt. Geprüft), diesem relativ neuen Trend der Desinformation nach.
Je länger der Krieg andauert, desto erfinderischer wird die russische Propaganda: Sie wird zunehmend nicht mehr von den traditionellen Massenmedien produziert, sondern von Bloggern (vor allem auf dem Messengerdienst Telegram). Darunter finden sich „Kriegsreporter“, bekannte Fernsehmoderatoren, „Experten“ mit zweifelhafter Qualifikation oder anonyme „Analytiker“, die Hunderttausende von Followern haben. Seit ein paar Monaten greifen die kremltreuen Telegram-Kanäle zu einer Methode, die die Propaganda früher eher selten benutzt hatte: Sie posten von vorne bis hinten erfundene Berichte, die angeblich aus ausländischen Medien stammen. Faktenchecker aus verschiedenen Ländern haben mehr als zwanzig Beispiele für solche Beiträge entdeckt, die zuerst bei Telegram viral gingen und dann auch von den traditionellen Medien aufgegriffen wurden.
Propaganda kommt zunehmend von Bloggern – vor allem auf dem Messengerdienst Telegram
Am 7. Juli erklärte Boris Johnson seinen Rücktritt vom Posten des britischen Premierministers. Eine Woche später twitterte der Fraktionsvorsitzende der Partei Gerechtes Russland im Unterhaus des russischen Parlaments und Ex-Vorsitzender des Oberhauses Sergej Mironow ein angebliches Cover der Satirezeitschrift Charlie Hebdo, auf dem ein Kobold abgebildet ist, dessen Kopf und Hut zusammen die Umrisse Großbritanniens ergeben und der den Ex-Premierminister auskotzt. Rechts unten in der Ecke ist ein Hund mit dem Gesicht von Wolodymyr Selensky abgebildet, der den abgerissenen Arm eines Asow-Kämpfers im Maul hält. Das Bild wurde sowohl von großen russischen Telegram-Kanälen mit Hunderttausenden Abonnenten als auch von privaten Nutzern in den sozialen Netzwerken geteilt.
Von Charlie Hebdo würde man provokante Karikaturen zu praktisch jedem Thema erwarten, aber …
Von Charlie Hebdo würde man provokante Karikaturen zu praktisch jedem Thema erwarten, doch das Cover mit Johnson und Selensky als Hund findet sich nicht in ihrem Archiv. Es wurde weder in den sozialen Netzwerken diskutiert, wie das sonst mit den Neuerscheinungen der französischen Zeitschrift passiert, noch haben die großen Medien darüber berichtet; alle fremdsprachlichen Erwähnungen sind Übersetzungen oder Reposts von russischsprachigen Seiten. Zum ersten Mal tauchte das Titelblatt, wie die Mitarbeiter des Faktchecking-Projekts Provereno [dt. Geprüft] recherchierten, am 12. Juli auf dem Telegram-Kanal Neboshena mit einer halben Million Followern auf.
Vor dem Hintergrund der Berichte von angeblich „inszenierten“ Bildern des Raketenschlags auf ein Geburtskrankenhaus in Mariupol und der Massenmorde im okkupierten Butscha erscheint dieses Fake aus dem russischen Telegram-Segment relativ harmlos. Doch die Charlie Hebdo-Ausgabe, deren Titelblatt angeblich eine Karikatur von Johnson und Selensky geziert haben soll, war die erste aus einer ganzen Reihe von Publikationen, mit deren Hilfe man den Lesern im Internet offenbar beweisen will: In Europa und anderen Teilen der Welt habe man die Ukraine-Hilfe satt und unterstütze das Vorgehen des Kreml auf jede erdenkliche Weise.
Fake Cover propagieren Putins Sicht auf die Welt
Nach dem Johnson-Cover gingen im Internet mindestens fünfzehn weitere Fake-Cover von Charlie Hebdo und anderen weniger bekannten Magazinen aus den USA, der Türkei, Spanien und Deutschland viral. Sie wurden von Internet-Usern in diversen Ländern aufgegriffen und propagierten alle auf die eine oder andere Weise Putins Sicht auf die Welt. Hier sind einige Beispiele:
Ende August/Anfang September 2022 tauchte im Netz ein angebliches Charlie Hebdo-Cover auf, auf dem der französische Präsident Emmanuel Macron mit dem Wasserwerfer auf französische Demonstranten schießt, links unten in der Ecke war wieder der Hund mit dem Selensky-Gesicht abgebildet (zwei Wochen später war der ukrainische Präsident in derselben Gestalt auf einer weiteren Fake-Titelseite mit dem neuen britischen König Charles III. zu sehen.)
Gegen Ende September wird die geografische Reichweite größer – diesmal verbreiten die Telegram-Kanäle ein angebliches Cover des spanischen Magazins El Jueves. Es zeigt die Leader der NATO-Länder, wie sie eine Videoansprache von Wladimir Putin sehen, die sie offenbar derart beeindruckt, dass sie sich in die Hose machen – die Urinspuren zu ihren Füßen ergeben die Buchstaben OTAN, die spanische Abkürzung für die Nordatlantische Allianz.
Anfang Oktober taucht die erste Titelseite aus den USA auf – angeblich soll die Zeitschrift Mad eine Karikatur veröffentlicht haben, die Joe Biden als Laokoon mit der berühmten antiken Skulpturengruppe zeigt. Als Schlangen fungieren die unlängst gesprengten Rohre der Gasleitung Nord Stream, daneben wieder die schon bekannte Gestalt des ukrainischen Präsidenten. „Natürlich war es Biden, er hat es bloß vergessen“, lautet die Bildunterschrift.
Ende November erschien ein Interview mit Papst Franziskus, in dem er sagte, Tschetschenen und Burjaten hätten sich als „die grausamsten“ Kriegsteilnehmer hervorgetan. Die russischen Machthaber reagierten umgehend auf seine Worte, indem sie den Pontifex an die Kreuzzüge erinnerten und ihm vorwarfen, er würde der LGBT-Gemeinschaft nahestehen; auf den Telegram-Kanälen tauchten wieder gefälschte Titelseiten auf. Eine – wieder angeblich von Charlie Hebdo – zeigt Franziskus, wie er einem Jugendlichen an den Hintern fasst, auf einer anderen – angeblich von der türkischen LeMan – sagt der Papst, neben einem Mann in Nazi-Uniform stehend: „Die Tschetschenen sind die eigentlichen Menschenquäler – nicht wir!“
Fakes mit veralteten Strichcodes
Weder Charlie Hebdo noch die Kollegen aus den anderen Ländern haben Ausgaben mit diesen Titelseiten herausgebracht, wie das Faktencheck-Projekt Provereno und andere zeigten. Diese Karikaturen finden sich nicht auf den Seiten der entsprechenden Satire-Blätter, und unter den Nummern sind ganz andere Ausgaben erschienen. Zudem wurden auf den Fakes veraltete Strichcodes verwendet und Grammatikfehler gemacht. Die Zeitschrift Charlie Hebdo, die bei den russischen Telegram-Kanälen besonders beliebt ist, hat sogar eine Erklärung veröffentlicht, in der sie abstreitet, irgendetwas mit den in Umlauf gebrachten Karikaturen zu tun zu haben.
Fake-Cover wenden sich an die Russen, die überzeugt werden sollen, dass ein Teil der westlichen Gesellschaft die Position des Kreml teilt
Sämtliche Cover waren zunächst im russischsprachigen Segment des Messengers Telegram aufgetaucht und nicht in den sozialen Netzwerken oder auf den Seiten der Satiremagazine. Die beiden Cover mit Charles III. und der Pipeline Nord Stream wurden als erstes von Kristina Potuptschik gepostet, Medienmanagerin und ehemalige Kommissarin der kremltreuen Jugendbewegung Naschi[dt. die Unsrigen]. Die Karikatur von Macron und Selensky erschien erstmalig auf dem Telegram-Kanal Pul N3 – dahinter steht Dimitri Smirnow, der mit der Komsomolskaja Prawda eine der größten russischen Zeitungen im Journalistenpool des Präsidenten vertritt. Andere Cover erschienen auf Kanälen mit so sprechenden Namen wie Ukrainski Fresh, Putin TG Team und Putin bei Telegram.
Vermutlich richten sich die Fake-Cover an die Russen, die auf diese Weise davon überzeugt werden sollen, dass ein Teil der westlichen Gesellschaft die Position des Kreml teilt, wobei die Regierungen der westlichen Länder das ignorieren und, besessen von dem Wunsch, das große Russland zu bezwingen, ihr Spiel spielen. Viele dieser Publikationen wurden auch außerhalb der russischen Föderation populär, was offenbar ein netter Bonus für ihre Erschaffer ist. Die Befürworter von Putins Krieg in Europa und anderen Teilen der Welt brauchen eine ähnliche Message wie die in Russland – und die bekommen sie.
Die meisten der Karikaturen – von einem oder mehreren anonymen Autoren für kremltreue Telegram-Kanäle gezeichnet – wurden als Titelseiten von Charlie Hebdo ausgegeben, einer Zeitschrift, die weder in Russland noch international einer Erklärung bedarf. Die Fälschung von Titelblättern einiger anderer Magazine war offenbar situationsbedingt, zum Beispiel ein Fake-Cover der Oktoberausgabe der deutschen Satirezeitschrift Titanic, auf dem Selensky als schwarzes Loch dargestellt ist, das militärische und finanzielle Hilfe anderer Staaten verschlingt. Diese Karikatur ist ein Beispiel für ein weiteres Narrativ, das auf Telegram aktiv vorangetrieben wird: Man vermittelt den Lesern, in den verschiedensten Ländern hätte die Bevölkerung vom ukrainischen Präsidenten die Nase voll.
Glaubt man den kremltreuen Telegram-Kanälen, dann sind Vergleiche Wolodymyr Selenskys mit einem schwarzen Loch von Oktober bis Dezember 2022 auch als Graffiti in europäischen Hauptstädten und im Fernsehen vorgekommen, und engagierte Studenten aus Serbien hätten sogar dafür plädiert, ein echtes schwarzes Loch im Weltall nach dem ukrainischen Präsidenten zu benennen. Hier ein paar dieser Falschmeldungen:
Geräusche aus dem schwarzen Loch
Mitte Oktober meldeten russische Telegram-Kanäle gefolgt von mehreren reichweitenstarken Medien einen Fauxpas im regionalen US-amerikanischen TV-Sender Local 4 News: Die Moderatoren hätten davon berichtet, dass es der NASA gelungen sei, die Geräusche eines schwarzen Lochs aufzuzeichnen, doch beim Abspielen des Videos sei ein Ausschnitt aus einer Videobotschaft von Wolodymyr Selensky auf dem Bildschirm erschienen. In Wirklichkeit war die Sendung bereits Ende August ausgestrahlt worden und der ukrainische Präsident kam nicht darin vor.
Graffitis mit schwarzem Loch
Anfang November berichteten Medien und zahlreiche Internet-User, dass Graffiti-Künstler Selensky in Warschau als schwarzes Loch verewigt hätten. Diese Meldungen stützten sich auf einen Instagram-Account, der zu diesem Zeitpunkt 35 Follower hatte und nur einen einzigen Post – aus dem Zentrum der polnischen Hauptstadt. Dabei gab es in den Sozialen Netzwerken keine anderen Fotos dieses Werks, das sich an einer der belebtesten Kreuzungen Warschaus befunden haben soll. Die lokalen Behörden dementierten seine Existenz und Street-Art-Kenner hatten Zweifel daran – es sei unmöglich, unbemerkt und so schnell eine derart aufwändige Arbeit zu vollbringen. Zum Ende des Monats wurden Publikationen zu einem identischen (und ebenfalls nie existenten) Graffiti in Paris beliebt.
Banner mit schwarzem Loch
Mitte November wurde auf Telegram die angebliche Reportage eines deutschen Mediums verbreitet (der Fernsehsender blieb ungenannt), zu sehen war da ein Bus mit der Aufschrift „Selensky ist ein schwarzes Loch“. Wie sich herausstellte, hatten die Produzenten des Fakes einen Ausschnitt aus einem sechs Wochen alten Interview mit einer Bundestagsabgeordneten für Die Welt manipuliert: Bei dem war im Hintergrund ein Bus mit dem Logo eines Transportunternehmens und nicht mit einer Diffamierung des ukrainischen Präsidenten vorbeigefahren.
Benennung eines schwarzen Lochs nach Selensky
Ende November tauchte in den Sozialen Netzwerken ein Video auf, das angeblich von der Deutschen Welle (DW) publiziert worden war. Es ging darin darum, dass Studenten der Universität Belgrad vorgeschlagen hätten, ein schwarzes Loch nach dem ukrainischen Präsidenten zu benennen. In offiziellen Social-Media-Accounts der DW fehlt dieses Video allerdings, die englischen Untertitel zur Erklärung weisen massenhaft grammatikalische und stilistische Fehler auf, und die „serbischen Studenten“ sind in Wirklichkeit Cottbuser Schüler aus einem Beitrag der DW von 2017.
Wie auch im Fall der Cover war das erste Beispiel dieses Narrativs – Selensky als schwarzes Loch – erstmals in Kristina Potuptschiks Telegram-Kanal zu sehen. Auch sonstige erfundene Beweise dafür, dass die Bevölkerung westlicher Länder von der Unterstützung der Ukraine genug hätte, postete die Medienmanagerin, aber nicht als Erste. Verbreitet wurden diese Fakes unter anderem von wichtigen russischen Medien wie Argumenty i fakty, Life und Rossiskaja Gaseta, sowie von Wladimir Solowjow und anderen Größen des russischen Fernsehens.
Crossover goes Propaganda
In der Pop-Kultur nennt man es „Crossover“, wenn in einem Film oder Buch Figuren aus anderen Werken vorkommen, die ursprünglich nichts miteinander zu tun hatten. Diesen Kniff wenden allem Anschein nach jetzt auch die Propagandisten an. Uns sind mindestens zwei solcher Fälle bekannt.
Bei einem davon geht es ebenfalls um den Vergleich Selenskys mit einem schwarzen Loch – Anfang November meldeten russische Medien, etwa Izvestia oder Ren TV, dass auf einem Bildschirm auf dem New Yorker Time Square ein Video mit den Worten „black hole“ und einer Porträtaufnahme des ukrainischen Präsidenten gelaufen sei. Von diesem Zwischenfall berichteten übrigens weder amerikanische Medien noch die zigtausend New Yorker, die jeden Tag über diesen betriebsamen Platz laufen.
Mitte des Monats teilten dann Telegram-Blogger, allen voran Potuptschik, fleißig eine Karikatur – angeblich vom Cover der spanischen Zeitschrift El Jueves. Sie zeigte den Time Square mit Selensky auf einem Bildschirm, während einfache New Yorker kotzen. „So aufdringlich wie ein Dickpic“, lautet die Bildunterschrift. Und selbstverständlich hat genau wie bei unseren bisherigen Beispielen die angeblich zitierte Satirezeitschrift nie ein solches Cover herausgebracht.
Neonazis bei der Fußball WM
Das andere Crossover wurde rund um das propagandistische Klischee über die flächendeckende Verbreitung des Neonazismus in der Ukraine konstruiert. Am 22. November, kurz nach Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft, berichteten regierungstreue russische Blogger und einige Medien, ukrainische Fans hätten in Katar ein Banner beschmiert, dem darauf abgebildeten Turnier-Maskottchen ein Hitlerbärtchen aufgemalt und „Sieg Heil“ dazugeschrieben. Die Autoren der Meldung beriefen sich auf ein angeblich von Al Jazeera gemachtes Video, das, wie Faktenchecker herausfanden, erstmals im russischen Telegram aufgetaucht ist. Das Video war aus YouTube-Filmen montiert worden (eines davon neun Jahre alt), und das einzige Foto vom angeblichen Ort des Vandalismus wurde mit einem Bildbearbeitungsprogramm verändert.
Telegram wird zu einer Karikatur seiner selbst
Trotzdem kursierte in den sozialen Netzwerken bereits zwei Tage später ein angebliches Charlie-Hebdo-Cover, auf dem das Banner gerade beschmiert wird und Einheimische von Katar dazu meinen, das sei „etwas auf Ukrainisch“. Natürlich hat es so ein Titelblatt nie wirklich gegeben. In einem Kommentar zu diesen Fake-Covers erklärte die Redaktion der berühmten französischen Zeitschrift: „Die App Telegram … ursprünglich erfunden, um den russischen Geheimdiensten auszuweichen, wird zu einer Karikatur ihrer selbst.“
Der großflächige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine galt von Anfang an offiziell als eine „militärische Spezialoperation“, an der nur Berufs- und Zeitsoldaten teilnahmen. Der Pressesprecher des russischen Verteidigungsministeriums meldete seit dem 24. Februar einen Erfolg nach dem anderen. Anfang Oktober standen die staatlich kontrollierten Medien jedoch vor einer schwierigen Aufgabe: Wie kann man nach mehr als sechs angeblich erfolgreichen Monaten der „Spezialoperation“ die Notwendigkeit einer Mobilmachung erklären und zwar so, dass die einzelnen Medien sich nicht gegenseitig widersprechen? Für solche Fälle werden in der Präsidialadministration sogenannte metoditschki – Leitfäden – verfasst, die die Stoßrichtung der Berichterstattung vorgeben.
Russland kämpfe nicht gegen die Ukraine, sondern gegen die NATO – heißt es etwa in einem Leitfaden, der die Mobilmachung erklären soll. Gleichzeitig sollen die Medien laut dem Leitfaden betonen, Russland mache nur ein Prozent der Reservisten mobil, es gebe also keinen Grund zur Panik. Diese und andere Texte tauchen regelmäßig auf und werden von unabhängigen Journalistinnen und Journalisten analysiert und mit der tatsächlichen Berichterstattung verglichen. Andrej Perzew hat die Leitfäden des letzten halben Jahres angeschaut und erklärt in einem Text für Meduza, wie die Manipulation der Berichterstattung über den Krieg funktioniert.
Wie Meduza bereits berichtete, erstellt die Präsidialadministration der Russischen Föderation für staatlich kontrollierte Medien regelmäßig spezielle Leitfäden, die vorgeben, wie diese Medien über den Krieg und die damit verbundenen Ereignisse berichten sollen. Solche „Empfehlungen“ bekommen die Propagandamacher fast täglich. Es wird darin im Detail beschrieben, wie diese oder jene Nachricht zu beleuchten ist und welche Emotionen bei den Zuschauern, Lesern oder Zuhörern erzeugt werden sollen.
Fast täglich bekommen die Propagandamacher Empfehlungen aus dem Kreml
Anfang Oktober erhielt Meduza Zugang zu mehr als zehn solcher Dokumente, die der Kreml zwischen April und Oktober 2022 erstellt hat. Die Echtheit der Texte bestätigte eine der Präsidialadministration nahestehende Quelle sowie ein Mitarbeiter der staatlichen Medien, dem die Leitfäden von seiner Arbeit her bekannt sind.
Die Anweisungen sind klar strukturiert: Alle Texte enthalten ein „Hauptereignis“, über das berichtet werden soll. Im Leitfaden von Anfang Oktober war das beispielsweise eine Umfrage des WZIOM, wonach 75 Prozent der Befragten die Annexion der ukrainischen Gebiete angeblich „positiv“ bewerten und 83 Prozent finden, Russland müsse „die Interessen der Bevölkerung verteidigen, auch wenn sich das negativ auf die Beziehungen zu anderen Staaten auswirkt“.
Das Fazit, das die Propagandisten verbreiten sollen, lautet folgendermaßen: „Die Bürger Russlands sind überzeugt von der Rechtmäßigkeit und Legitimität der Entscheidung der Bürger in der [annektierten] DNR, LNR sowie den Regionen Cherson und Saporishshja.“
Darüber hinaus enthalten die Leitfäden zentrale Propaganda-„Linien“, die der russischen Bevölkerung vermittelt werden sollen. Im Dokument vom 4. Oktober lauten diese „Linien“: „Stärkung Russlands“, „Spezialoperation. Bild des Sieges“ und „Neue Weltordnung“.
Die Linie „Stärkung Russlands“ besagt, das Land sei „offiziell um vier Regionen angewachsen“. Außerdem wird dort genau beschrieben, wie die Propagandisten über die Mobilmachung zu berichten haben: Der Bevölkerung soll vermittelt werden, dass „die Mehrheit der mobilisierten Soldaten ihre Aufgaben und Ziele bei der Verteidigung der Heimat verstehen“. Der Mobilisierungsprozess in Russland sieht demnach angeblich so aus:
„Es entstehen kameradschaftliche Kollektive mit festem Zusammenhalt, die Männer sind bereit, sich untereinander zu helfen, sie erinnern sich gut an ihre militärischen Fertigkeiten und lernen schnell Neues. Es werden neue effektive Mechanismen entwickelt, um sicherzustellen, dass die, die ihre Pflicht gegenüber der Heimat erfüllen wollen, das ohne Schwierigkeiten können. Auf dem Portal für staatliche Dienstleitungen Gosuslugi sind seit der Freischaltung für die Registrierung von Freiwilligen bereits mehr als 70.000 Anfragen eingegangen. In einigen Regionen ist der Plan der Teilmobilmachung bereits erfüllt – unter anderem dank dem Einsatz der Freiwilligen.“
Das Kapitel „Spezialoperation. Bild des Sieges“ kennt keinen Rückzug
Das Kapitel „Spezialoperation. Bild des Sieges“ ist der Situation an der Front gewidmet. Obwohl sich die russischen Truppen seit Wochen in Wirklichkeit stetig auf dem Rückzug befinden, schlagen die Leitfäden des Kreml vor, über ihre „Siege“ zu sprechen – zum Beispiel zu unterstreichen, wie viel ukrainische Militärtechnik „die russische Armee bereits vernichtet“ habe.
Dabei wird den Propagandisten „empfohlen“, darauf hinzuweisen, dass jeder Widerstand seitens der ukrainischen Armee nur zur „Selbstzerstörung der Ukraine“ führt (weiter wird diese These nicht ausgeführt).
Laut dem Abschnitt „Neue Weltordnung“ sollen die Medien dem Publikum einen einfachen Gedanken vermitteln: Die Staaten der ehemaligen UdSSR sollten „eine Lehre aus dem Schicksal der Ukraine ziehen“ und nicht die Beziehungen zu Russland belasten. Als Negativbeispiel wird Moldau und die amtierende Präsidentin Maia Sandu angeführt (die moldauische Landesregierung hat den russischen Angriffskrieg wiederholt verurteilt und angekündigt, die Grenzkontrollen zu verschärfen; zuletzt gab es Berichte von russischen Staatsbürgern, dass man ihnen die Einreise verweigere).
Ferner wird empfohlen, die These von der „Neuen Weltordnung“, für die Russland angeblich kämpft, mit der Information zu untermalen, dass der Export von russischem Öl nach Indien im September 2022 im Vergleich zum August desselben Jahres um 18 Prozent gestiegen sei. Diese Zahlen sollen die Entwicklung der Zusammenarbeit mit Staaten illustrieren, „die an einer gerechten und auf Gleichheit basierenden Weltordnung interessiert“ seien.
„Zusammenstehen“ und „Vereinigung“ hervorrufen sollen die tragenden Gefühle sein
Neben konkreten Propaganda-„Linien“ ist in den Leitfäden von „Gefühlen, Emotionen und Empfindungen“ die Rede, die nach Ansicht des Kreml bei der russischen Bevölkerung erzeugt werden sollen. Dieser Abschnitt trägt in den Dokumenten die Überschrift „Emotionale Basis“. So soll beispielsweise die Annexion der ukrainischen Gebiete bei den Russen das Gefühl von „Zusammenstehen“ und „Vereinigung“ hervorrufen. Ein Gefühl von „Zusammenstehen“ soll den Autoren zufolge auch die Explosion auf der Krim-Brücke erzeugt haben. Dabei ist an die Stelle von „Überzeugung“ und „Stolz“, von denen in den Monaten zuvor in diesem Abschnitt oft die Rede war, Anfang Oktober die „Hoffnung“ getreten – offenbar vor dem Hintergrund der erfolgreichen Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte.
Laut Meduzas Quelle, die dem Kreml nahesteht, stammen diese Texte aus der Direktion für gesellschaftliche Projekte der Präsidialadministration, die auch Telegram-Kanäle, Blogger und diverse Massenmedien kuratiert. Unmittelbar verantwortlich für die Zusammenstellung der Leitfäden soll der Vizechef der Direktion Alexej Sharitsch sein, der Anfang der 2010er Jahre stellvertretender Direktor des Rüstungskonzerns Uralwagonsawod war (auf Anfragen von Meduza antwortete er nicht).
„Deshalb erinnert die ganze Propaganda im Grunde an Uralwagonsawod“, kommentiert Meduzas Gesprächspartner ironisch, der für ein staatliches Medium arbeitet, das seine Instruktionen aus dem Kreml bekommt.
Seit dem Einmarsch in die Ukraine hat man es nicht geschafft, sich etwas Neues für die mediale ,Bearbeitung‘ einfallen zu lassen
Er fügt hinzu, dass die Mitarbeiter der Präsidialadministration seit dem Einmarsch in die Ukraine es nicht geschafft hätten, sich etwas Neues für die mediale „Bearbeitung“ der Invasion einfallen zu lassen und sich deshalb auf die Erfahrung aus der Berichterstattung bei den Wahlen und anderen politischen Ereignissen in Russland stützen. So würden sie unter anderem für staatliche und loyale Medien immer noch diese Leitfäden verwenden.
„Jetzt, während des Krieges, haben es die Jungs [aus dem Kreml] natürlich schwer. Wir können den ukrainischen Medien nichts entgegensetzen. Die entstellten Leichen russischer Soldaten lassen sich schwer schönreden“, meint Meduzas Interviewpartner.
Auch andere Gesprächspartner von Meduza bezweifeln die Wirksamkeit dieser Methoden. Ein Politikberater, der für die Präsidialadministration tätig war, erklärte zum Beispiel, die Thesen aus den Leitfäden könnten nur das „loyale Publikum“ überzeugen, das sich nicht für alternative Informationsquellen interessiert.
Wir können den ukrainischen Medien nichts entgegensetzen
„Die Journalisten bei den Medien [die ihre Anweisungen aus dem Kreml bekommen] sind ohne die Leitfäden oft gar nicht in der Lage, selbst etwas zu schreiben, und wenn, dann nur völligen Unsinn … Und dann muss man auch noch die Konsequenzen ausbaden“, sagt er. „Im Internet gibt es auch eine loyale Leserschaft, und die anderen kann man sowieso nicht mehr überzeugen, erst recht nicht mit solchen Methoden.“
Ein Interviewpartner, der der Parteispitze von Einiges Russland nahesteht, ist der Meinung, dass die Erstellung von Leitfäden generell „keine Methode ist, um die Stimmungen der Massen zu lenken, sondern lediglich das Tagesgeschäft“:
„Die Medien, die Pressestellen, die Blogger – das ist ein riesiger, täglich rotierender Mechanismus, geschmiert von millionenschweren Budgets. Dieser Mechanismus muss allein aufgrund seiner Existenz funktionieren und ein Produkt erzeugen, denn das sichert den Beteiligten ihre Einkünfte. Die Kosten einer Unterbrechung, selbst eines längeren Stillstands sind viel zu hoch.“
Ein Moskauer Gericht hat den Journalisten Iwan Safronow am 5. September 2022 zu 22 Jahren Haft im Straflager verurteilt – wegen angeblichen „Hochverrats“. Safronow, der zunächst mehrere Jahre als Journalist, für Vedomosti und Kommersant geschrieben hatte, spezialisiert auf Militär und Raumfahrt, arbeitete zuletzt bei der Raumfahrtbehörde Roskosmos. Er war bereits 2020 festgenommen worden, ihm wurde vorgeworfen, Staatsgeheimnisse an ausländische Geheimdienste weitergegeben zu haben. Beobachter kritisierten die Vorwürfe gegen ihn von Anfang an als konstruiert, Safronow weigerte sich bis zuletzt, seine Schuld einzugestehen. Bereits Safronows Vater war Militärexperte und Kommersant-Journalist, er kam 2007 unter ungeklärten Umständen ums Lebens, laut offizieller Quellen soll er Selbstmord begangen haben – was seine Familie bis heute bezweifelt.
Der Fall Safronow wird von unabhängigen Beobachtern in größeren Zusammenhang mit dem repressiven Vorgehen des Staates gegen kremlkritische Stimmen gestellt. Am Tag des Urteils gegen Safronow wurde der Novaya Gazeta die Drucklizenz entzogen, kurz zuvor waren zahlreiche weitere Journalisten zu sogenannten „ausländischen Agenten“erklärt worden. Das extrem hohe Strafmaß im Fall Safronow löste nun Entsetzen aus. Meduzasammelt Reaktionen von Kollegen, Weggefährten, Juristen, Menschenrechtlern, Politikern …
„Die Mauern sind nicht so undurchdringlich, wie sie scheinen“ Ekaterina Schulmann, Politologin 22 Jahre Straflager unter verschärften Haftbedingungen plus 500.000 Rubel [etwa 8200 Euro – dek] Geldstrafe und zwei Jahre eingeschränkte Freiheit nach Entlassung aus der Haft. Doch irgendetwas sagt mir, dass er das nicht absitzen wird – denn weder der Emir noch der Esel leben ewig, und die Mauern sind nicht so undurchdringlich, wie sie zunächst scheinen.
„Auf dermaßen viel Böses gibt es keine Antwort“ Ilja Krassilschtschik, Leiter des Projekts Slushba poddershki, ehemaliger Herausgeber von Meduza Ich habe immer geglaubt und glaube weiterhin, dass die Gerechtigkeit triumphieren wird. Wie viele Jahre ich das schon glaube. Aber mit jedem Mal, mit jedem Prozess, mit jedem Krieg verstehe ich weniger, was für die gerecht ist. Es scheint, dass es keinerlei Gerechtigkeit mehr gibt, auf dermaßen viel Böses gibt es keine Antwort, um wieder ein Gleichgewicht herzustellen.
Ehrlich gesagt, habe ich wegen Hochverrats keine Urteile zu mehr als 20 Jahren gefunden. Es muss einem bewusst sein, dass Artikel 275 des Strafgesetzbuchs [für Hochverrat] eine Höchststrafe von 20 Jahren vorsieht. Iwan Safronow wurde zu mehr Jahren verurteilt, weil er für zwei Aspekte schuldig erklärt wurde, die jeweils einzeln mit Strafen belegt wurden. So kam das endgültige Strafmaß durch teilweises oder vollständiges Aufsummieren zustande. Das Strafmaß wegen Hochverrats war schon immer hoch. Aber in den letzten Jahren steigt es immer weiter an. Waren es vor zehn Jahren noch sechs bis neun Jahre, liegen die Urteile in den letzten fünf Jahren bei 12 bis 15 Jahren Haft. […] Iwan Safronow erhielt eine absurd hohe Strafe, eine demonstrativ grausame Strafe – entsprechend der heutigen Realität in Russland.
„Dieses Urteil ist ein Signal an alle Kriegsberichterstatter“ Galina Arapowa, Direktorin des Mass Media Defence Center, zitiert in Republic Mir scheint, in Safronows konkretem Fall besteht das Problem auch darin, dass dieses Urteil der gesamten Medienszene demonstrieren soll, dass das Thema Krieg, genauer Kriegsindustrie und Raumfahrt, ein Tabu ist. Es ist ein Signal an alle Journalisten, dass man sich von diesen Themen fernhalten muss, ansonsten handelt man sich schnell 22 Jahre Haft ein. Außerdem ist es ein Signal an die Kriegskorrespondenten und Analysten, dass sie nichts anderes über dieses Thema schreiben dürfen als das, was in den Pressemitteilungen von Roskosmos und Verteidigungsministerium verlautbart wird. Und das ist tatsächlich ein wirkliches Elend, denn es bedeutet, dass ein großer Teil des Staatshaushalts tabu ist für Diskussion, Analyse und Medienberichterstattung.
„Iwan sagte, dass er niemals weggehen würde“ Taissija Bekbulatowa, Chefredakteurin des Onlinemediums Holod Ich weiß noch, dass Wanja [Safronow] ein paar Jahre vor seiner Verhaftung bemerkt hat, dass er beschattet wurde. Er wusste nicht, womit das zusammenhing. Ich fragte ihn damals, ob er nicht lieber ausreisen möchte, aber er sagte, dass er niemals weggehen würde, ungeachtet aller Risiken, denn dies sei sein Land und hier sei seine Familie.
Erst der Vater, nun der Sohn Lisa Focht, Korrespondentin der russischen BBC Iwan Safronow hat heute 22 Jahre bekommen. Da finde ich keine Worte. Wie soll man verstehen, wie Iwans Angehörige damit umgehen – zum Beispiel die Mutter, die zunächst ihren Mann verloren hat und jetzt zuschauen muss, wie man ihren Sohn für ein Vierteljahrhundert hinter Gitter bringt.
„Dieser Kannibalismus wird niemals vergessen“ Leonid Wolkow, Politiker und Mitstreiter von Alexej Nawalny zu 22 Jahren Haft unter verschärften Haftbedingungen Im Jahr 2015 bekam Wassja Fjodorowitsch, ein Jurist aus Jekaterinburg und Anführer einer Bande, die Usbeken und Tadshiken tötete, 22 Jahren Haft unter verschärften Haftbedingungen. Es ging damals um ungefähr 40 Morde, von denen 14 Morde und 5 Mordversuche vom Gericht bewiesen wurden. Jetzt kämpft er womöglich in der Ukraine. Und kriegt am Ende auch noch einen Orden von Putin (ich hoffe, posthum). Safronow wird seine Strafe nicht absitzen. Das wird alles sehr viel früher vorbei sein. Aber der Kannibalismus dieser Unmenschen, die 24 Jahre forderten und ihm 22 Jahre gegeben haben, die sich diesen „Fall“ ausgedacht und ihn vor Gericht gebracht haben – das ist alles schon dokumentiert und wird niemals vergessen.
„Ich würde hier keine Tendenz ablesen wollen“ Jewgeni Popow, stellvertretender Vorsitzender des Duma-Ausschusses für Informationspolitik Als Journalist schockieren mich diese Zahlen. Aber die Beschuldigung wiegt schwer. Ich hoffe, dass das erst der Anfang ist. Die Verteidigung hat angekündigt, dass sie das Urteil anfechten und all ihre Argumente vorbringen wird. Sollte auch nur die geringste Hoffnung bestehen, dass Iwan unschuldig ist, sollte es Chancen und Argumente geben, dann bin ich sicher, dass diese in höheren Instanzen umgesetzt werden. Natürlich ist die Zahl riesig, einfach unglaublich.
Ich würde hier keine Tendenz ablesen wollen und erst recht nicht um mich werfen mit Begriffen wie „Repression“. Ich hoffe, wir werden die Argumente der Ermittlungen zu sehen bekommen, allerdings werden die Chancen immer kleiner.
„Morgen … nein, heute schon könnte jeder russische Bürger der nächste sein“ Witali Jegorow, Gründer des YouTube-Projekts Otkryty kosmos Wir sind Iwan Safronow
Wanjas Pech war es, dass er einem Geheimdienst-Oberst über den Weg gelaufen ist … Oder war es sein Glück? Er ist schon erlöst, keine schnelle Eingreiftruppe wird sich mehr auf ihn stürzen, er muss sich von den Ermittlern keine Drohungen anhören, was Verwandte und Freunde betrifft, muss nicht mit seinem Gewissen darüber verhandeln, was besser ist: Geständnis und 12 Jahre oder Ehre und 22 Jahre. Jetzt hat er zu essen und staatliche Garantien über eine stabile Zukunft für mehr als 20 Jahre. Etwas, was die Mehrheit der Bürger in Russland nicht hat. Vielleicht sogar niemand.
Weiß jemand, was die Spürhunde heute machen, die den Fall Safronow geleitet haben? Glaubt jemand, dass diese tollen Leute mit kaltem Herz und heißem Kopf in Rente auf die Krim gegangen sind, um dort Gemüse anzubauen mit dem Gefühl erfüllter Pflichten? Bei wem werden morgen Speznas-Einheiten auf dem Balkon landen? Wessen vom Staatsanwalt verfasstes Urteil wird am nächsten Morgen mit nüchterner Stimme vom Richter verlesen?
Diese Maschine, die Wanja gefressen hat, ist nicht niedergestreckt, sie hat den Hals noch nicht voll und ist noch nicht zum Stehen gekommen. Ihre Schräubchen tun weiter ihre Arbeit, denn sie brauchen neue Titel, Auszeichnungen, KPI [Key Performance Indicators – dek]. Sie brauchen uns. […]
Morgen … nein, heute schon könnte jeder russische Bürger der nächste sein.
Auch du.
Und ich.
Ich will nichts anheizen, keine Angst machen und niemandem drohen. Ich verkünde nur Fakten. Akzeptiert sie als Realität und trefft eure Entscheidung. Solange es auf eurem Balkon noch ruhig ist.
„Ist das schon 1937 oder kommt das noch?“ Irina Jakutenko, Wissenschaftsjournalistin Iwan Safronow hat 22 Jahre bekommen. In 22 Jahren kann man geboren werden, die Schule durchlaufen, ein Studium abschließen, einen Job beginnen, seine erste Liebe treffen, heiraten und sogar ein Kind kriegen. Das ist ein ganzes Leben. Dazu noch 500.000 Rubel [etwa 8200 Euro – dek] Strafe, damit auch die Eltern ihre Freude haben. Freunde des Vergleichens: Ist das schon 1937, das Jahr des Großen Terrors, oder kommt das noch?
„Zum ********“ Alexej Ponomarjow, Musiker und Podcast-Redakteur Wanja Safronow hat 22 Jahre Strafkolonie bekommen für einen fingierten Fall von „Hochverrat“. Vor 22 Jahren habe ich die Schule abgeschlossen, die Wanja und ich gemeinsam besuchten. Zum ******** [Durchdrehen], verdammt noch mal.
„Es geht um Rache des Staates“ Nikita Mogutin, Journalist 22 Jahre für Iwan Safronow – dabei geht es nicht um Gerichtsbarkeit und nicht um den Kampf für Gerechtigkeit. 22 Jahre unter verschärften Haftbedingungen für einen Journalisten, für seine berufliche Tätigkeit – dabei geht es um die prinzipielle Rachsucht des russischen Staates. Dabei geht es um die Niederlage des Systems im Sommer 2019, als sie den Fall Iwan Golunow fingierten [dem Meduza-Journalisten wurde ein Drogendelikt untergeschoben – dek]. Unter Druck [großer Proteste und Solidaritätsbekundungen – dek] musste das System zurückweichen, Iwan kam frei, die Anakonda musste ihre Beute wieder herauswürgen.
Umso entscheidender war es nicht nachzugeben im Fall Safronow. Wer auch immer hinter diesen fingierten Vorwürfen stand – der Inlands– oder der Auslandsgeheimdienst – sie rächten sich für ihre demütigende Niederlage. Schon 2019 haben wir darüber gesprochen, dass es „schrecklich sein wird, der nächste Journalist zu sein“, denn der würde nicht freigelassen und nicht gerettet. „Für dich selbst und für Wanka“.
Genau deswegen geht es bei den 22 Jahren für den Journalisten Safronow um die Rache der gedemütigten Elite, eine Rache an jedem, der sich damals für Wanja Golunow einsetzte, eine grundlegende Antwort jedem, der dachte, dass die öffentliche Meinung in Russland irgendetwas beeinflusst.
„Eine Bande von Kriegsverbrechern, die bis zum Hals im Blut stehen“ Borislaw Koslowski, Wissenschaftsjournalist und Autor Wenn Safronow frei kommt, ist er 54 Jahre alt.
Er ist 8 Jahre jünger als ich, der Kerl ist Jahrgang 1990.
Über die Stichhaltigkeit der Anklage kann man bei Projektnachlesen – teilt den Link nicht, wenn ihr in Russland seid, dafür könnt ihr auch eingebuchtet werden, weil Projekt „unerwünschte Organisation“ ist.
Der Slogan „Freiheit für Safronow“ scheint mir selten unsinnig – er sieht aus wie ein Appell an jene, die über Safronows Freiheit verfügen, also an eine Bande von Kriegsverbrechern, die bis zum Hals im Blut stehen. Das heißt, die gehen gerade ihrer üblichen Beschäftigung nach und zermalmen von Slowjansk bis Mykolajiw massenhaft lebendige Menschen zu Hackfleisch und sollen nun irgendwie mal kurz Pause machen, um Safronow freizulassen.
Stattdessen wünsche ich Safronow, Jaschin [der wegen Verbreitung angeblicher „Fakes“ über die russische Armee in Haft ist – dek] und Nawalny nur eines: dass sie den Moment erleben, wenn irgendwer diese ganzen blutrünstigen Untoten mit Putin an der Spitze unschädlich macht. Und die Frage nach ihrer Freiheit klärt sich von alleine. Bis dahin wird sie sich leider überhaupt nicht klären.
„Wozu? Damit andere Angst haben“ Njuta Federmesser, Vorsitzende des Fonds für Hospiz-Unterstützung Wera (dt. Glaube) 22 Jahre.
Und es ist sinnlos zu fragen: Wofür? Denn wie immer ist die richtige Frage: Wozu? Damit andere Angst haben.
Vor was Angst haben? Vor allem und allen. Sich selbst, ihrem Schatten, ihren Verwandten, Freunden, Vorgesetzten und Untergebenen, ihrem Spiegelbild, ihren Kindern, ihren eigenen Worten und Gedanken.
Wozu? Um zu herrschen – nicht auf Grund von Intellekt und Kompetenz, sondern auf Grund von menschlicher Angst. Die Geschichte zeigt, dass diese Methode funktioniert. Für eine begrenzte Zeit.
Für unabhängige Journalisten und Medien hat sich die Situation in Russland seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine dramatisch verschlechtert. Soweit bekannt, haben seither mindestens 500 Medienschaffende das Land verlassen. Über die Lage der Medien in Russland und Belarus haben dekoder-Redakteure seit dem 24. Februar 2022 in zahlreichen Interviews, online, in Radio und Print, gesprochen.
Die Interviews und Podiumsdiskussionen im Überblick (in chronologischer Reihenfolge):
21. Februar 2023: „Kritischer Journalismus in Russland und Belarus“
29. Juni 2022 „Der Diskurs geht weiter“ TAZ: Thema im Interview mit dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher sind die neuen Wege, die sich die russischen unabhängigen Medien im Exil suchen. Riga ist ein Anlaufpunkt, so sich Redaktionen neu sortieren. Aber auch die bedeutende Rolle von YouTube wird dargestellt – dort erlebt der geschlossene Sender Echo Moskwy zumindest eine teilweise Wiedergeburt: „Der Diskurs geht weiter“
29. Juni 2022 „Krieg ohne Ende?“ TAZ-Salon: Tamina Kutscher spricht über die Themen, die jetzt im unabhängigen russischen Diskurs dominieren, allen voran „Wo liegt unsere Schuld? Wo liegt unsere Verantwortung?“ Es sind Stimmen wie die von Anton Dolin, der vor Jahren entschieden hat, sich journalistisch lieber Filmkritiken zuzuwenden (statt der Politik im eigenen Land) und sich nun dafür Vorwürfe macht. Sie spricht über die Arbeit von mutigen regionalen Journalisten und Medien wie Ljudi Baikala, deren Texte auch die Wirkung der Propaganda offenlegen. Das und mehr in einem Austausch mit Susanne Schattenberg von der FSO, die auch dekoder-Gnosistin ist, sowie mit Roman Dubasevych von der Universität Greifswald: „Krieg ohne Ende?“
Es geht um Skandalisierung und darum, ein Feindbild zu schärfen
– Tamina Kutscher am 04.05. im SRF über russische Polit-Talkshows
05.05.2022 „Geschichtsbilder (in den sozialen Medien) im Krieg in der Ukraine“ STIFTUNG EVZ: Die Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft fragt in ihrer Reihe EVZ Conversations! nach der Instrumentalisierung der Geschichte in Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. dekoder-Politikredakteur Anton Himmelspach über die in vielen liberalen russischen Medien diskutierte Frage, ob der Krieg gegen die Ukraine auch ein Krieg gegen den Westen sei. „Geschichtsbilder (in den sozialen Medien) im Krieg in der Ukraine“
04.05.2022 „Talkmaster Solowjow: der finstere Diener seines Herrn“ SRF: dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher ordnet beim SRF einen der zentralen Propagandisten des russischen Staatsfernsehens ein, Wladimir Solowjow. „Es geht um Skandalisierung und darum, ein Feindbild zu schärfen“ – das der Ukraine und des Westens: „Talkmaster Solowjow: der finstere Diener seines Herrn“
03.05.2022 „Totale Kontrolle? Zensur & Pressefreiheit in Russland seit Beginn des Ukraine-Krieges“ CAMPUS-FORUM: dekoder-Redakteur Ingo Petz diskutierte beim Campus-Forum. Diskurs in der Stasi-Zentrale mit und sprach über Pressefreiheit in Russland und über die Schließung unabhängiger Medien, die es bereits zu Beginn von Putins erster Amtszeit gab. Er verweist auf die Zerschlagung des damaligen „Leuchtturms der neuen, russischen freien Medienlandschaft“ NTW und die gleichzeitige Herausbildung spezifischer Mechanismen der russischen Propaganda, „deren Ergebnis wir uns gerade täglich anhören“:„Totale Kontrolle? Zensur & Pressefreiheit in Russland seit Beginn des Ukraine-Krieges“
28.04.2022 „Wahrheit gegen Propaganda – Medienberichterstattung in Krise und Krieg“ MEDIA FORUM: Bei einer Diskussionsrunde des Medieninstituts Mainz gibt dekoder-Redakteurin Mandy Ganske-Zapf zwei Monate nach Beginn des großflächigen Angriffskriegs auf die Ukraine Einblick in die verheerende Lage der russischen Medien. Sie weist darauf hin, dass viele Menschen sich nach jahrelanger repressiver Politik unter Putin von Politik abgekoppelt haben. Also kaum noch zu erreichen sind, selbst wenn sie unabhängige Informationen erhalten. „Wahrheit gegen Propaganda – Medienberichterstattung in Krise und Krieg“
23.04.2022 „Medien im Krieg: Zuerst stirbt die Wahrheit“ REPUBLIK: Bei einem Tag voller Panel-Diskussionen des Online-Magazins Republik in Zürich spricht dekoder-Wissenschaftsredakteur Leonid Klimov zur Frage, wie jetzt noch unabhängiger Journalismus innerhalb Russlands möglich ist: Diese Landschaft wurde fast komplett platt gemacht, sagt er auf dem Podium – und gibt einen Einblick in die neuen repressiven Gesetze, die seit dem großflächigen Angriffskrieg in Russland greifen. Mit ihm diskutieren die ukrainische Desinformationsforscherin Anastasiia Grynko und die Republik-Redakteurin Adrienne Fichter. „Medien im Krieg: Zuerst stirbt die Wahrheit“
Was wir derzeit in Russlands Medienlandschaft erleben, ist beispiellos. Es geht dem Staat um die totale Kontrolle des Informationsraumes
– Tamina Kutscher zu den Repressionen gegen Medienschaffende in Russland
13.04.2022 „‚Spezialeinsatz‘ in der Ukraine: Viele Russen unterstützen Putins Krieg“ DEUTSCHE WELLE: „Die Propaganda tut ihre Wirkung – und auch die Entpolitisierung in 20 Jahren Putin.“ – dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher im Interview mit der Deutschen Welle zu den hohen Zustimmungswerten für Putin in Russland, was das mit Propaganda zu tun hat und wie dramatisch sich die innenpolitische Lage in Russland für Meinungsfreiheit und Medienschaffende verschärft hat: „‚Spezialeinsatz‘ in der Ukraine: Viele Russen unterstützen Putins Krieg“
09.04.2022 „Putins Propaganda – Warum Russlands Bevölkerung nicht aufschreit“ SR2: dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher in der Sendung SR2 Medien – Cross und Quer zur Frage, wie dominierend das russische Staatsfernsehen in Russland ist. „Polit-Talkshows haben die Funktion einzupeitschen.“ „Putins Propaganda – Warum Russlands Bevölkerung nicht aufschreit“
09.04.2022 „Putins perfekter Erfüllungsgehilfe“ WESTFÄLISCHE NACHRICHTEN: „Er ist eine Art Propagandaminister geworden.“ – dekoder-Politikredakteur Anton Himmelspach hat mit den Westfälischen Nachrichten über den russischen Außenminister Sergej Lawrow gesprochen (hinter Paywall): „Putins perfekter Erfüllungsgehilfe“
05.04.2022 11 Fragen an Tamina Kutscher von dekoder.org KAS: Es ist Anfang April und die Lage der russischen unabhängigen Medien hat sich bereits dramatisch verschärft. Zum Zeitpunkt, als das Interview geführt wird, erscheint die Novaya Gazeta noch, die als ein Aushängeschild auch der investigativen Medien noch mehrere Wochen versucht hat, der Staatspropaganda etwas entgegenzusetzen. Darüber und über die Gewalt des Staates insgesamt nach innen, spricht dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher mit der Konrad-Adenauer-Stiftung: „Je länger der Krieg dauert, je grausamer die Bilder, desto stärker wird die Kontrolle im Inneren“
02.04.2022 „Meduza – regierungskritische Medienstimme im Exil“ DLF KULTUR: Ein russisches Exilmedium, das bereits seit dem Jahr 2014 in Riga eine gut funktionierende Redaktion aufgebaut hat, ist Meduza. Unter Herausgeberin Galina Timtschenko bildet Meduza gerade auch jetzt in Zeiten des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraineeine kritische Stimme, die kontinuierlich ohne Bruch seit dem 24. Februar 2022 berichten konnte. Andere Medien, die noch in Russland waren, müssen sich im Exil zunächst neu erfinden. Doch auch Meduza kommt nun unter großen finanziellen Druck. dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher kommt im hier gezeichneten Medienporträt zu Wort: „Meduza – regierungskritische Medienstimme im Exil“
Nischen, wie es sie bisher gab, soll es offensichtlich nicht mehr geben. Allein diese Chance scheint schon zu viel zu sein
– Mandy Ganske-Zapf am 29.03. in NDR Kultur über Drangsalierung letzter unabhängiger Internetmedien in Russland
31. März 2022 „dekoder – über den Versuch Russland zu entschlüsseln“ RADIO CORAX: Wie sieht die russische Medienlandschaft einen guten Monat nach Beginn des russischen Angriffskrieges aus? dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher spricht über die Auswirkungen des Gesetzes über die „Diskreditierung der russischen Armee“ vom 4. März 2022, das zur Folge hat, dass unabhängige Medien den Krieg nicht mehr als Krieg bezeichnen dürfen. „Wir erleben einen Kahlschlag“ – Doshd, Novaya Gazeta, Echo Moskwy gaben auf und auch sonst wird die Entwicklung der vergangenen Wochen nachgezeichnet. „dekoder – über den Versuch Russland zu entschlüsseln“
30.03.2022 „Das ist selbst für Russland beispiellos“ T-ONLINE: Mit der Novaya Gazeta ist „das letzte große unabhängige Medium gefallen“, sagt dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher im Gespräch mit t-online. Gleichzeitig weist sie darauf hin, wie sehr Plattformen wie YouTube und Telegram damit für den russischen Informationsraum an Bedeutung gewinnen: „Das ist selbst für Russland beispiellos“
Wir brauchen viel mehr Wissen über die Ukraine
– Ingo Petz am 30.03. beim Digitalen Salon der Humboldt-Universität zu Berlin
30.03.2022 „Zensur, Solidarität und Informationsfreiheit auf digitalen Plattformen im Russland-Ukraine-Krieg“ HIIG: Unser Redakteur Ingo Petz hat beim Digitalen Salon der Berliner Humboldt-Universität zum Thema Propaganda, Krieg und soziale Medien mitdiskutiert. Er macht darauf aufmerksam, dass man die autoritären Regime unterscheiden lernen müsse, das Regime Putin, das Regime Lukaschenko. Zugleich appelliert er: „Wir brauchen viel mehr Wissen über die Ukraine.“ Der ganze Stream: „Zensur, Solidarität und Informationsfreiheit auf digitalen Plattformen im Russland-Ukraine-Krieg“
29.03.2022 „Medien in Russland: Aus für Kreml-kritische Zeitung ‚Nowaja Gaseta‘“ NDR KULTUR: Am 28. März kündigt die Novaya Gazeta an, bis auf Weiteres nicht mehr zu erscheinen. Der Grund: Die Zensur und die Verwarnungen der Medienaufsicht, die die Zeitung erhalten hat, die dem Medium am Ende die Lizenz kosten könnte, wie es in einer entsprechenden Erklärung heißt. Was bedeutet das Vorgehen des Staates? „Nischen, wie es sie bisher gab, soll es offensichtlich nicht mehr geben. Allein diese Chance scheint schon zu viel zu sein.“ – das sagt Redakteurin Mandy Ganske-Zapf auf NDR Kultur zum Aussetzen der Novaya und spricht darüber, wo sich kritische Stimmen aus dem russischen unabhängigen Journalismus jetzt noch finden. „Medien in Russland: Aus für Kreml-kritische Zeitung ‚Nowaja Gaseta‘“
25.03.2022 „So hetzen russische Talkshows im Auftrag des Kreml“ SPIEGEL: Die Polit-Talkshows in staatlichen und staatsnahen russischen Fernsehkanälen sind derb und drastisch. Wie sind geäußerte Drohungen, dass es zu Atombombenangriffen auf Europa kommen wird, zu deuten? dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher sagt: „Hier wird Propaganda-Narrativen nochmal ein emotionaler Verstärker geboten.“ Der ganze Beitrag über russische Polit-Talkshows, Solowjow & Co.: „So hetzen russische Talkshows im Auftrag des Kreml“
22.03.2022 „Hilfe für Medienschaffende aus der Ukraine und Russland“ DLF KULTUR: Mindestens 150 Journalistinnen und Journalisten haben, soweit bekannt, bis dato Russland verlassen. Ihre Lage im Exil – alles andere als einfach. Auch Medien, die es schon länger im Exil gibt, darunter das Online-Medium Meduza, bangen um ihre Finanzierung. Das betrifft aber auch die unabhängigen Medien in der Ukraine, die im Krieg noch ganz andere Probleme haben. dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher sagt: „Es ist auch ein Informationskrieg, und er richtet sich auch in Russland selber gegen die, die für die Wahrheit kämpfen und die, die diesen Krieg als Krieg benennen.“: „Hilfe für Medienschaffende aus der Ukraine und Russland“
20.03.2022 „Putins Fernsehsoldaten“ SPIEGEL: Die russische Staatspropaganda rückt immer mehr in den Fokus der Medien in Deutschland. Viele fragen sich, wie sie funktioniert. Welche Narrative bedient sie, an welche Diskurse knüpft sie an? Der ganze Beitrag dazu mit dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher: „Putins Fernsehsoldaten“
16.03.2022 „Russische Bevölkerung von unabhängiger Berichterstattung abgeschnitten“ SWR: Seit zwölf Tagen gilt das neue Gesetz gegen die „Diskreditierung“ der Armee, das in Russland verbietet, den Krieg einen Krieg zu nennen und das vorschreibt, nur gemäß offizieller staatlicher Stellen in Russland über das Vorgehen in der Ukraine zu berichten. Das wird vom offiziellen Russland als „militärische Spezialoperation“ bezeichnet. dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher erklärt bei SWRaktuell, dass es nun immer schwieriger für die Menschen in Russland wird, sich frei und unabhängig zu informieren: „Russische Bevölkerung von unabhängiger Berichterstattung abgeschnitten“
15.03.2022 „Ovsyannikovas TV-Protest: Wie Kritik in Russland noch möglich ist“ DLF KULTUR: Im russischen Staatsfernsehen taucht eine Frau im Hintergrund der Hauptnachrichtensendung auf und zeigt ein Plakat in die Kamera, auf dem die Worte stehen: „Stoppt den Krieg“ und „Glaubt nicht der Propaganda“. Die Frau heißt Marina Oswjannikowa und war bis dahin Teil der Propagandamaschinerie im staatlichen Ersten Kanal. dekoder-Redakteurin Mandy Ganske-Zapf dazu, wie diese Aktion einzuordnen ist: „Ovsyannikovas TV-Protest: Wie Kritik in Russland noch möglich ist“
13.03.2022 „Wissen und Macht: Medien im russischen Krieg gegen die Ukraine“ DLF KULTUR: „Das Internet kann man nicht abstellen: Wer sich in Russland informieren will, kann das tun“ – stimmt das so noch? dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher zu Zensur in der in diesen Tagen noch mehr wachsenden Bedeutung des Internets und von Social Media. Gerade wird für die russische Gesellschaft immer wichtiger, VPN zu nutzen, um weiter auf den russischsprachigen Internetmedien lesen zu können, die von der Medienaufsicht in Russland gesperrt wurden: „Wissen und Macht: Medien im russischen Krieg gegen die Ukraine“
Zwei große Schwergewichte haben aufgegeben. Einer davon war Echo Moskwy – das ist ein wahnsinniger Einschnitt, weil es diesen Sender über Jahrzehnte gab
– Mandy Ganske-Zapf am 12.03. in rbb Kultur über das Ende einer (Radio)Epoche in Russland
12.03.2022 „Unabhängigkeit bewahren“ RBB KULTUR: Innerhalb von ein bis zwei Wochen hat sich die Lage für russische unabhängige Medien radikal verschärft. Am 1. März wurde der Radiosender Echo Moskwy geschlossen: „Das ist ein wahnsinniger Einschnitt, weil es diesen Sender über Jahrzehnte gab und mit ihm im Netz auch eine regelrechte Enzyklopädie kritischer Berichterstattung.“ dekoder-Redakteurin Mandy Ganske-Zapf über die Schließung von Echo Moskwy und den Fernsehkanal Doshd Anfang März, auch dekoder wird vorgestellt: „Unabhängigkeit bewahren“
12.03.2022 „Kritische russische Medien vor dem Aus“ WDR5: Unter dem Eindruck des großflächigen Angriffskriegs gegen die Ukraine wird die Nische der kleinen unabhängigen russischen Medien in diesen Tagen regelrecht zunichte gemacht. „Sie werden mundtot gemacht“, sagt dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher. Zugleich wurden tausende Menschen bei Anti-Kriegs-Protesten festgenommen. „Das alles verfehlt nicht seine Wirkung.“ Das ganze Gespräch – mit einem Blick auch nach Belarus: „Kritische russische Medien vor dem Aus“
09.03.2022 „Unabhängige Berichterstattung in Russland fast nicht mehr möglich“ BR2: Tamina Kutscher über die ersten Tage seit Beginn der Invasion in die Ukraine und zur dramatischen Lage für russische Journalistinnen und Journalisten: „Unabhängige Berichterstattung in Russland fast nicht mehr möglich“
06.03.2022 „Die Tage für unabhängige Medien in Russland sind gezählt“ TAZ: In der Nische der unabhängigen russischen Medien wurde in den ersten Tagen des Angriffskrieges versucht, so gut es geht, kritisch zu berichten. Sie hatten die Dinge beim Namen genannt, doch dann knickten sie unter dem Eindruck der harten Repressionen nach innen immer mehr ein. Die Novaya Gazeta – die von Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow geleitet wird – versucht, noch durchzuhalten. Tamina Kutscher sagt zur Strategie der Novaya, unter diesen Bedingungen zu arbeiten und zur Lage insgesamt: „Wir müssen davon ausgehen, dass die Tage für unabhängige Medien in Russland im Grunde gezählt sind.“
Wir müssen davon ausgehen, dass die Tage für unabhängige Medien in Russland im Grunde gezählt sind
– Tamina Kutscher am 06.03. in der taz
04.03.2022 „Die Propaganda in Russland funktioniert“ DLF Nova: In diesen ersten Tagen des Angriffskrieges wird deutlich, wie die Propagandamaschinerie in Russland anzieht und die Formeln permanent wiederholt, die Präsident Wladimir Putin in seinen Ansprachen geäußert hat, um den Krieg legitim erscheinen zu lassen. Der Begriff „militärische Spezialoperation“ wurde etabliert und soll durchgesetzt werden. Zugleich, sagt Tamina Kutscher, steigt die Repression nach innen: „Die Propaganda in Russland funktioniert“
03.03.2022 „Unterdrückung des unabhängigen Journalismus in Russland“ SWR1: Tamina Kutscher zeichnet nach, wie stark der Druck auf die wenigen unabhängigen russischen Medien innerhalb dieser ersten Kriegstage aufgebaut wird. Denn: Diese unabhängige Medienszene ist klein und droht nun, völlig zerstört zu werden: „Unterdrückung des unabhängigen Journalismus in Russland“
25.02.2022 „Wie funktioniert die russische Propaganda im Krieg gegen die Ukraine?“ ÜBERMEDIEN: Einen Tag nach Beginn der russischen Invasion war dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher zu Gast im Übermedien-Podcast Holger ruft an. Das Gespräch war bereits vor dem 24. Februar geplant und fand dann unter dem Eindruck des Angriffs statt. Ein Talk über russische Propaganda im Krieg gegen die Ukraine, die Rolle der unabhängigen Medien aus Russland (sowie Belarus): „Wie funktioniert die russische Propaganda im Krieg gegen die Ukraine?“
Am 22. August 1990 um 18:57 geht der erste unabhängige Radiosender der Sowjetunion auf Sendung. Als Radio-M gestartet, bekommt der Sender bald einen neuen Namen, mit dem er in die Geschichte eingehen soll: Echo Moskwy (dt. Das Echo Moskaus). Am Beginn stand der kollektive Wunsch nach Veränderung und Demokratisierung. Mit dem Slogan „Das freie Radio für freie Menschen“ wird Echo Moskwy über mehr als drei Jahrzehnte hinweg als Hochburg des liberalen Diskurses gelten. Der überwiegende Teil seines Weges aber war von Strategien der Anpassung an ein immer autoritärer werdendes politisches System und feindlicheres gesellschaftliches Klima geprägt. Dabei wird erst im Nachhinein sichtbar, wie vorhersehbar das Ende doch war: Am Abend des 1. März 2022, nur wenige Tage nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die gesamte Ukraine, wird der Sender abgeschaltet, die Website gesperrt. Am 3. März folgt auch die „Liquidierung“ der Trägergesellschaft – eine Entscheidung des Direktorenrats des Mehrheitseigentümers Gazprom-Media, die laut Chefredakteur Alexej Wenediktow, gerade einmal 15 Minuten in Anspruch genommen hat. Die „Liquidierung“ von Echo Moskwy bedeutete nicht nur das Aus eines der letzten kritischen Medien in Russland – sondern läutete symbolisch das Ende einer Epoche ein, die der Radiosender nicht nur begleitet, sondern auch mitgestaltet hat.
Am 1. August 1990 trat in der Sowjetunion das Gesetz über die Presse und andere Massenmedien in Kraft, das faktisch die sowjetische Zensur aufhob. Die Idee eines neuen Radiosenders war aber schon da. Bereits im Mai trifft sich eine Gruppe von Moskauer Enthusiasten und Intellektuellen.
Das Gründungskollektiv
Ihre Vision war die Schaffung einer „vollkommen neuen Art“ von Radio, das den „Prinzipien des freien Journalismus und einer vollkommenen Abwesenheit von Propaganda und Gehirnwäsche“1 verpflichtet sein sollte. Mit zum Gründerkollektiv gehörten Professoren der journalistischen Fakultät der Moskauer Staatlichen Universität, Abgeordnete des Moskauer Stadtsowjets sowie Journalisten aus Rundfunk und Presse. Als zentrale Figur für Konzept und Umsetzung gilt jedoch Sergej Korsun, zum damaligen Zeitpunkt Sprecher für das französischsprachige Radioprogramm des internationalen sowjetischen Radiosenders Radio Moskau. Für die Programmentwicklung zog er seinen Arbeitskollegen Sergej Buntman hinzu.
Am 22. August 1990 war die Gruppe soweit, und was sie sich überlegt hatten, ging tatsächlich auf Sendung – ein Programm aus aktuellen Nachrichten, einem Interview mit dem damaligen Reformer und Jelzin-Mitstreiter Sergej Stankewitsch und der Musiknummer All my loving der Beatles.2 Die Sendezeit in den ersten Monaten war auf zunächst zwei, später drei Stunden beschränkt.
Von seiner Gründung im August 1990 dauerte es nur wenige Monate, bis der Radiosender zum Schlüsselmedium des politischen Prozesses wurde. Den ersten Anlass dazu gab die sowjetische Militärintervention in Litauen im Januar 1991, über die der Radiosender live berichtete. Zum entscheidenden Medium wurde Echo Moskwy dann während des Augustputsches in Moskau im selben Jahr. Während das Staatsfernsehen die Aufnahme des Balletts Schwanensee übertrug, sendete Echo Moskwy in den Tagen vom 19. bis 21. August 1991 mit Unterbrechungen Informationen zu den Ereignissen und mobilisierte die Menschen für den Widerstand gegen die Putschisten. Es waren Tage, die die Zukunft des Landes entscheiden sollten. So wurde der Sender Teil der großen Erzählung von Ende und Neubeginn in Russland.
Institutionalisierung und zunehmender politischer Druck
Auf die ersten Jahre des Enthusiasmus folgte eine Phase der Professionalisierung und Institutionalisierung unter den ökonomisch schwierigen Bedingungen der 1990er Jahre. Man begann, rund um die Uhr zu senden und stellte das Unternehmen auf eine sichere finanzielle Basis, indem der Medienmagnat Wladimir Gussinski mit seiner Most-Gruppe (ab 1997 Media-Most) zum Mehrheitseigentümer wurde. Auf diese Zeit geht eine Klausel zurück, die bis zum Schluss Geltung hatte und einen Schutz gegenüber Eingriffen vonseiten des Eigentümers darstellte. Sie besagte, dass der Chefredakteur vom Kollektiv zu wählen ist. 1998 wurde als Chefredakteur jener Mann gewählt, der den Sender bis zum Schluss wesentlich bestimmen sollte: Alexej Wenediktow.
Nach der Zerschlagung von Gussinskis Medienunternehmen wurde Echo Moskwy 2001 in die Gazprom-Media-Holding überführt. Seit diesem Zeitpunkt, insbesondere aber seit Putins dritter Amtszeit ab Mai 2012, war die Frage der Unabhängigkeit des Senders von staatlichen Zugriffen über den verlängerten Arm von Gazprom-Media ein dauerhaftes Thema.
Dabei ist unbestritten, dass Echo Moskwy gerade im Unterschied zum Fernsehsender NTW, der ebenso von Gussinskis Media-Most-Gruppe zu Gazprom-Media wechselte, bis zuletzt ein politisch und gesellschaftlich höchst kritisches Programm bot. Insbesondere im Zuge der Krim-Annexion und mit Beginn des Krieges im Osten der Ukraine 2014 stellte sich der Sender gegen die patriotische Mobilisierung in den Staatsmedien und demonstrierte „editorial dissidence“, wie der bulgarische Investigativ-Journalist und Rechercheleiter von Bellingcat Christo Grozev die auch weiterhin verfolgte kremlkritische Haltung des Senders nannte.3
Forum des Wortes und der Diskussion
Echo Moskwy war für seine Zuhörerinnen und Zuhörer deutlich mehr als nur eine Informationsquelle – es war ein einzigartiges Forum des Wortes und der Diskussion. Neben aktuellen Informationen und Kurznachrichten im Halbstundentakt bestand das Programm aus einer Fülle an Interview-Sendungen mit Experten aus Politik und Gesellschaft sowie aus sogenannten „Autoren-Programmen“, die meist in Monologform bestritten wurden. Auch die thematischen Programmschienen zu Geschichte, Literatur, Kultur, Reisen und vielem mehr spielten für den Sender eine wichtige Rolle. Musik wurde nur in Spezialsendungen gespielt und blieb vorwiegend auf die Nachtstunden beschränkt. Zu den Stimmen und – seit Beginn der Live-Übertragung der Sendungen – Gesichtern des Senders wurden unter anderem Tatjana Felgengauer, Alexander Pljuschtschew und Olga Bytschkowa, die die Interview-Sendung Osсoboje mnenije (dt. Besondere Meinung) moderierten. Eigene „Autoren-Programme“ bekamen auch bekannte Personen des öffentlichen und kulturellen Lebens, wie die Schriftstellerin und Journalistin Julia Latynina, der Vielschreiber Dimitri Bykow oder der Spekulationen zugeneigte Politologe Stanislaw Belkowski.
Obwohl die sogenannten liberalen oder oppositionellen Positionen bei der Auswahl der Gäste und Experten eindeutig in der Überzahl waren, kamen regelmäßig auch Personen aus dem kremlnahen Milieu und konservativen Meinungsspektrum zu Wort, wie der dem konservativ-orthodoxen Lager zuzurechnende Journalist Maxim Schewtschenko, der Putin nahestehende Politologe Sergej Markow oder der Chefredakteur des Boulevard-Blattes Komsomolskaja Prawda Wladimir Sungorkin.
Obwohl Echo Moskwy als Radiosender zu den traditionellen, „alten“ Medien gehörte und mit seinem linearen Programm in mehr als 30 Städten Russlands empfangen werden konnte, hatte sich der Sender in den letzten zehn Jahren seines Bestehens zu einer vielgestaltigen Internetplattform entwickelt. So bot die Webadresse echo.msk.ru eine Reihe von Blogs, ein frei zugängliches Sendungsarchiv und Live-Video-Übertragungen aus dem Radiostudio. Der Sender selbst erreichte täglich ein Millionenpublikum und rangierte über viele Jahre unter den meistgehörten Radiosendern von Moskau und Sankt Petersburg.
Fragen journalistischer Ethik und innere Spannungen
Im Jahr 2014 stieg nicht nur der politische Druck auf die Inhalte, sondern es mehrten sich auch offensichtliche Eingriffe in die Personalstruktur. So besetzte der Direktorenrat die Stelle des Generaldirektors mit Jekaterina Pawlowa, einer Journalistin aus den Staatsmedien mit engen Beziehungen zur Regierung (ihr Ehemann Alexej Pawlow war zum damaligen Zeitpunkt stellvertretender Leiter der Presse- und Informationsabteilung der Präsidialverwaltung).4 Im selben Jahr entbrannte ein Konflikt um die Entlassung des Echo-Journalisten Alexander Pljuschtschew durch den damaligen Generaldirektor von Gazprom-Media Michail Lesin, der mit einem Kompromiss zwischen Lesin und Wenediktow – Personalentscheidungen im Journalistenkollektiv waren die alleinige Angelegenheit des Chefredakteurs – endete. So wurde Pljuschtschew, der einen beleidigenden Tweet anlässlich des Todes von Alexander Iwanow, dem Sohn des hochrangigen Politikers und Putin-Vertrauten Sergej Iwanow, gepostet hatte,5 für zwei Monate beurlaubt. Die Echo-Journalistinnen und Journalisten einigten sich im Anschluss auf besondere Verhaltensregeln in den sozialen Medien. Gleichzeitig zeigte dieser Fall, dass die Grenzen zwischen politischer Einmischung und journalistischer Ethik nicht immer klar gezogen werden können.
Auch wenn es Einzelfälle blieben, kam es auf politischen Druck hin zu Einmischungen in den Redaktionsalltag. Das zeigte sich unter anderem in Löschungen von bereits gesendeten Inhalten von der Webseite. So wurde im Dezember 2015 ein Interview mit dem Publizisten und Satiriker Viktor Schenderowitsch entfernt, in dem dieser die grassierende Gesetzlosigkeit im Land beklagt und auf die direkten Verbindungen von Wladimir Putin zu kriminellen Kreisen in den 1990er Jahren verwiesen hatte.6
Fragen journalistischer Ethik, die nicht zuletzt auch auf innere Spannungen schließen ließen, bewegten das Gründungsmitglied Sergej Korsun dazu, 2015 den Sender zu verlassen. Korsun begründete sein Ausscheiden damit, dass die Werte, für die Echo Moskwy einst stand und zu denen unter anderem journalistische Professionalität und Redlichkeit gehörten, nicht mehr auf allen Ebenen gegeben seien. Korsuns Kritik galt vor allem der jungen, umstrittenen Journalistin Lesja Rjabzewa, der er vorwarf, die Grenzen des professionellen Journalismus durch provokante Äußerungen und eine zum Teil vulgäre Sprache überschritten zu haben.7
Am Bestehen des Senders bis zum März 2022 hatte der Chefredakteur Alexej Wenediktow zweifelsohne einen wesentlichen Anteil. Wenediktow oder Wenik (dt. Besen), wie er unter anderem wegen seiner Frisur von vielen scherzhaft genannt wird, war bei den Echo-Journalistinnen und Journalisten für sein aufbrausendes Temperament und sein autoritäres Auftreten bekannt.8 Er verstand es über die Jahre hinweg, zwischen den politisch Verantwortlichen, den ökonomischen Interessen von Gazprom-Media und den Angestellten seines Senders zu vermitteln. Selbst Generaldirektor Michail Lesin, mit dem er im Fall Pljuschtschew im Clinch gelegen hatte, bescheinigte Wenediktow ein ausgeprägtes politisches Gespür: „Wenediktow erschien mir immer als ein kluger und talentierter Politiker, der viele Jahre lang geschickt zwischen den Aktionären, den politischen Kräften manövriert hat. Er war für alle bequem. All die Mythen, dass er super-demokratisch und liberal sei, lassen wir beiseite.“9
Wenediktow selbst nannte im Jahr 2018 gegenüber dem YouTuber Juri Dud drei Hauptgründe, warum die politische Macht mit Wladimir Putin an der Spitze ein Interesse am Fortbestand des Senders gehabt haben könnte.10 Erstens gelte Echo Moskwy als „Vitrine der Freiheit des Wortes in diesem Land“, sprich: als Feigenblatt, das sich vorzeigen lässt. Zweitens würde der Präsident nur zu gut wissen, dass der Sender niemanden politisch unterstützen und niemals einen „Krieg“ gegen ihn führen würde, und drittens habe Putin gegenüber Wenediktow persönliche, vielleicht sogar sentimentale Beziehungen aus der ersten Zeit seiner Präsidentschaft. Abgesehen davon würde Putin selbst kritische Informationen aus dem Radiosender beziehen.
Seit dem 3. März 2022 ist Wenediktows optimistische Einschätzung genauso Geschichte wie die Existenz der meisten unabhängigen Medien in Russland.
Shiwoi gwosd: Weiterleben oder Wiedergeburt?
Es gehört zur Ironie der Geschichte, dass auf der Frequenz von Echo Moskwy in Moskau, Sankt Petersburg und einigen anderen russischen Städten am 9. März 2022 Radio Sputnik auf Sendung ging. Gleichzeitig hat Wenediktow seine Widerstandsfähigkeit unter Beweis gestellt und bereits am 4. März seinen neuen Telegram-Kanal mit den Worten „Ja tut s wami“ (dt. Ich bin hier mit euch) eröffnet. Bereits eine Woche später nimmt der Youtube-Kanal Shiwoi gwosd (dt. Lebender Nagel) seinen Betrieb auf. Die Programm-Ankündigung für den 11. März 2022 erinnert mit insgesamt drei Sendungen stark an die Anfänge von Echo Moskwy, doch das Trägermedium hat sich grundlegend geändert. Denn obwohl sich viele der Echo-Journalistinnen und Journalisten nach kurzer Zeit unter dem Dach von Shiwoi gwosd einfinden und auch Podcasts der Sendungen unter dem alten Markenzeichen Echo Moskwy zur Verfügung gestellt werden, verfügen die Formate nicht mehr über die Präsenz, die der Radiosender mit seiner Live-Übertragung im Alltag der Menschen einnahm. So gesehen ist das Weiterleben von Echo Moskwy weniger ein Zeichen für dessen Wiedergeburt, als vielmehr dafür, dass mit der Abschaltung des Senders am 1. März 2022 eine Epoche zu Ende gegangen ist.
Den Text über die Geschichte des Senders konnte man auf der Website unter https://echo.msk.ru/about/history/timeline.html nachlesen. ↩︎
vgl. Slavtcheva-Petkova, Vera (2018): Russia’s Liberal Media: Handcuffed but Free, N.Y, London, S. 118 ↩︎
Der Fall wird von Vera Slavtcheva-Petkova detailliert beschrieben: Slavtcheva-Petkova, Vera (2018): Russia’s Liberal Media: Handcuffed but Free, N.Y, London, S. 128-129 ↩︎
Wochentags, 10.30 Uhr1: Nach einer kurzen Sendung, in der es um Gesundheitsfragen, Abnehmtipps und Haarpflege geht, laufen auf den zwei wichtigsten Staatssendern Russlands, Rossija 1 und Perwy Kanal, die ersten politischen Talkshows. Gemeinsam mit den Nachrichten dominieren sie das Fernsehprogramm bis Mitternacht. Unterbrechungen durch andere Sendungen gibt es kaum, weshalb Polit-Talks gemeinsam mit den Nachrichten auf dem Perwy Kanal auf rund zwölf Stunden Sendezeit pro Tag kommen.2 In den Talkshows geht es nahezu ausschließlich um den Krieg gegen die Ukraine, der als „militärische Spezialoperation“ bezeichnet wird.
Wie kommt es, dass Nachrichten und Polit-Talkshows eine derart große Rolle im russischen Staatsfernsehen spielen? Und worum geht es in diesen Sendungen? Slawistin Magdalena Kaltseis blickt hinter die Kulissen und erzählt die Geschichte vom Aufstieg der TV-Talkshows zum derzeit wohl wichtigsten Fernsehgenre und Propagandainstrument Russlands.
Waffenlieferungen an die Ukraine werden nicht nur im deutschen Fernsehen heiß debattiert. Auch das russische Staatsfernsehen beschäftigt sich damit, jedoch auf eine spezielle Art und Weise. So fragte der Fernsehmoderator Wladimir Solowjow am 15. Juni 2022 einen seiner Gäste: „Werden sie [die NATO – dek] endlich gegen uns kämpfen?“. „Ja“, antwortet der Gast, „faktisch tun sie das schon. Wir sehen jetzt, wie die ganze Welt auf Russland scharf gemacht wird, das ist der alte Plan, den man jetzt in die Tat umzusetzen versucht. Jede NATO-Armee öffnet ihre Lager und alles, was sie an Waffen haben, schmeißen sie an die Front …“. „Dann macht es doch Sinn“, entgegnet der Moderator Solowjow, „eine zweite Front zu eröffnen und Deutschland anzugreifen, solange es absolut wehrlos ist? Damit es bei diesen Nazis keine Illusionen mehr gibt.“3
Dieser kurze Ausschnitt aus dem Talkshow-Abend mit Wladimir Solowjow, der wochentags jeden Abend auf Rossija 1 läuft, macht deutlich, auf welcher Ebene die Debatten im Fernsehen geführt werden. Dem Westen wird in diesen Shows einerseits pausenlos gedroht, unter anderem mit Atomwaffen. Andererseits werden die USA, die EU oder die NATO lächerlich gemacht, zum Beispiel, indem US-Präsident Joe Biden in einem eingespielten Video eine schrille und kreischende Synchronstimme erhält.
ARENEN DER EMOTIONEN
Talkshows sind eine Mischung aus Unterhaltung und Information und werden dem sogenannten Infotainment zugeordnet – auch in Russland. Aber insbesondere bei russischen Talkshows geht es nicht primär um ihren Informationswert, sondern vor allem um die Emotionen, die sie hervorrufen. Skandale, Hetzrede, persönliche Beleidigungen und geschmacklose Unterhaltung stehen im Zentrum dieses heute gut etablierten Typs politischer Talkshows in den russischen Staatssendern. Auf diese Weise sind russische Polit-Talkshows, wie sie von staatlichen und staatsnahen TV-Sendern produziert werden, offensichtlich ein Erfolgsrezept. Aufgrund ihrer Vielfalt, der oftmals obszönen und vulgären Sprache4 sowie der geladenen Gäste sprechen sie unterschiedliche Bevölkerungsschichten und Generationen an – politische Talkshows belegen stets hohe Plätze in Sendungsrankings und erreichen häufig einen Zuschaueranteil von bis zu 25 Prozent, manchmal auch mehr.
Dabei wird in den Sendungen versucht, emotionale Reaktionen des Publikums durch lautes Brüllen, verbale oder physische Attacken5, Schockbilder oder Gräuelgeschichten zu erzeugen. Diese Taktiken dienen nicht nur boulevardesker Unterhaltung, sondern auch der Verstärkung von Feindbildern, die in den Talkshows transportiert werden – allen voran gegenüber der Ukraine und den USA. Oftmals werden in den Sendungen Kämpfe inszeniert: Liberal-oppositionell oder ukrainefreundlich gesinnte Diskutanten treffen auf dem Bildschirm auf patriotisch-konservative Gäste. Letztere dominieren die Shows, diffamieren ihre Kontrahenten und gehen meist als „Sieger“ hervor. Aber auch die Moderatoren der Polit-Talks werden schon einmal handgreiflich und werfen Gäste aus dem Studio: „Halt die Fresse! Verpiss dich, du faschistische Laus!“ Mit diesen Worten schrie der Moderator der Sendung Wremja pokashet (dt. Die Zeit wird es zeigen) einen der „proukrainischen“ Gäste an, der angemerkt hatte, die Rote Armee sei 1941 aus der Ukraine „schändlich abgehauen“. Im Anschluss wurde der Gast vom Security-Team aus dem Studio geworfen.
Heute fungieren politische Talkshows in erster Linie als emotionale Unterstützung einer weitgehend entpolitisierten und bereits vorherrschenden Stimmung, die durch die politische Führung, das System unter Putin und entsprechende Nachrichten geschaffen wurde. Gleichzeitig haben sie in den letzten Jahren zunehmend eine didaktische und meinungsmanipulative Funktion eingenommen und beeinflussen somit maßgeblich die öffentliche Meinung.6 Das war jedoch nicht immer so.
SYMBOLE DER PERESTROIKA
In Russland etablierten sich Talkshows erst während des Zusammenbruchs der Sowjetunion und stehen in engem Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Umbrüchen und Veränderungen dieser Zeit.7 Als Diskussions- und Gesprächsplattform stellten die Talkshow in einer Periode der angestrebten Transparenz, Offenheit und Meinungsfreiheit das geeignete Format dar, um politische oder gesellschaftliche Fragen öffentlich zu diskutieren. Neue TV-Formate wurden zunächst aus dem westlichen Fernsehen übernommen, wobei sich Talkshows aufgrund ihres hohen Massenanreizes und der relativ niedrigen Produktionskosten besonders gut für das russische Fernsehen eigneten.8 Insbesondere waren es jedoch die politischen Talkshows nach US-amerikanischem Vorbild, die übernommen wurden. Eine der ersten Ende der 1980er Jahre entstandenen Talkshows und Symbole der Perestroika war die von dem 1995 erschossenen Journalisten Wladislaw Listjew moderierte Sendung Wsgljad (dt. Blick), in der neben der Diskussion der Wochennachrichten erstmals auch zeitgenössische Popmusik aus dem Ausland und Musikclips westlicher Popstars zu hören und zu sehen waren.9 Aus dieser Zeit stammt auch der heute im Russischen gebräuchliche Terminus tok-schou, eine direkte lexikalische Entlehnung des englischen Begriffs talk show.10
ENTPOLITISIERUNG DES FERNSEHENS
Bis zur Jahrtausendwende entwickelte sich eine eigenständige Form der russischen Polit-Talkshows, zu deren Gründungsvätern neben Listjew auch Wladimir Posner zählte, der noch bis zur Invasion in die Ukraine im Februar 2022 als Moderator tätig war und als TV-Patriarch gilt. Während einige Polit-Talkshows, die sich anfangs vor allem mit dem Wechsel der politischen Elite beschäftigten, zu „Instrumenten innerer Informationskriege“11 wurden, hatten andere Sendungen eine wichtige investigative Funktion. So thematisierte beispielsweise die Talkshow Nesawissimoje rassledowanije (dt. Unabhängige Untersuchung) auf NTW die Rolle des FSB bei der Serie von Bombenanschlägen in Moskau und anderen russischen Städten im August und September 1999.12
NTW nahm ab Beginn der 2000er Jahre eine führende Rolle bei der Produktion politischer Talkshows ein,13 beispielsweise wurde auf diesem Sender die von Jewgeni Kisseljow moderierte Talkshow Glas naroda (dt. Stimme des Volkes) ausgestrahlt. Allerdings ging in den Jahren unmittelbar nach dem Amtsantritt Wladimir Putins die Anzahl politischer Talkshows zunächst zurück, was mit der allgemeinen Entpolitisierung des russischen Fernsehens in den 2000er Jahren einherging.14
DER Krieg gegen die Ukraine UND DIE NEUE FORM DER POLIT-TALKSHOW
Das Jahr 2014, die Annexion der Krim und der Krieg im Donbass stellten einen Wendepunkt für Polit-Talks dar, da im Herbst 2014 nicht nur die Anzahl politischer Talkshowreihen im russischen Fernsehen stark zugenommen hat, sondern seitdem auch ein neuer Stil in diesen Shows beobachtet werden kann.15 So kam zu dieser Zeit Wremja pokashet neu bei Perwy kanal ins Programm. Diese Show war eine Neuheit im russischen Fernsehen, da mit ihr erstmals eine Polit-Talkshow nachmittags ausgestrahlt wurde und sie daher von der bekannten Fernsehkritikerin Irina Petrowskaja als „Politik für Hausfrauen“ bezeichnet wurde16. Seit dem 24. Februar 2022 und der Ausweitung des Krieges auf die gesamte Ukraine produziert diese Show bis zu sechs Stunden Sendezeit täglich und konzentriert sich meist auf ein einziges Thema: die Ukraine.
Auf anderen Fernsehkanälen wie Rossija 1, NTW und TWZ drehen sich die politischen Talkshows ebenfalls fast ausschließlich um die Ukraine, und auch hier wurden politische Talkshowreihen neu ins Programm aufgenommen. Im September 2016 startete auf Rossija 1 die Polit-Talkshow 60 minut, die mittlerweile zwei Mal täglich – vormittags und abends – gesendet wird. Kennzeichnend für diese Sendung sind neben persönlichen Beleidigungen und Anfeindungen der Gäste vor allem Diffamierungen des ukrainischen Staates, weshalb sie von kritischen Stimmen auch „60 Minuten des Ukrainehasses“ genannt wird.17 Die beiden Moderatoren – Olga Skabejewa und Jewgeni Popow – werden im Gegensatz zu vielen anderen im Studio weder handgreiflich noch verwenden sie obszöne Lexik. Sie benutzen hingegen andere Methoden, um die Ukraine zu diffamieren. So schenkte das Moderatorenpaar dem inzwischen verstorbenen rechtspopulistischen Politiker Wladimir Shirinowski zu seinem 73. Geburtstag im Jahr 2019 eine Torte in Form der Ukraine, welche er mit einem Messer in zwei Hälften teilte. Anlässlich des Todestages des Politikers am 6. April 2022 wurde dieses Video in der Sendung noch einmal gezeigt und der sichtlich aggressive Akt der Zerteilung der Ukraine von der Moderatorin, Olga Skabejewa, süffisant als „Vorhersehung“ gedeutet.
Teilungsphantasie im Jahr 2019: Wladimir Shirinowski zerschneidet vor laufender Kamera eine Torte, die die Form der Ukraine hat, und kommentiert, welcher Teil des Landes seiner Vorstellung nach besser zu Russland gehören sollte.
Neben der Abwertung der Ukraine sind die russische Außenpolitik, die historische Glorifizierung Russlands sowie der Konkurrenzkampf mit dem Westen beliebte Themen in den Talkshows. Oftmals werden auch unterschiedliche und widersprüchliche Deutungen bestimmter Ereignisse geliefert: etwa über den Abschuss des Flugs MH 17 oder die Kriegsverbrechen in Butscha. Ziel ist es, das Publikum zu verwirren und Fakten zu verwischen. Seit dem Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine sah sich auch das Publikum in Russland über Soziale Netzwerke mit einer Flut von Fotos und Videos konfrontiert, welche die zerstörten ukrainische Städte und Kriegsverbrechen zeigten, mutmaßlich begangen durch die russische Armee. Binnen weniger Tage verabschiedet die Staatsduma daraufhin ein Gesetz, wonach die Verbreitung von „Fake News“ über die russische Armee – respektive Informationen, die nicht unmittelbar von russischen offiziellen Stellen stammen, – mit bis zu 15 Jahren Haft bestraft werden können. Kurz darauf kündigte der Perwy Kanal eine neue Sendung unter dem Titel AntiFejk (dt. Anti-Fake) an: „Videos und Fotos dürfen nicht als Beweise oder Informationsquellen gelten, egal woher sie stammen“, so der Werbespot der Show.18 Diese neue Show soll dem Zuschauer, wie verkündet wird, dabei helfen, die „Lüge von der Wahrheit“ zu unterscheiden und demonstrieren, dass alles, was die ukrainische Seite oder der Westen berichten, falsch bzw. Fake ist. Damit schafft sie vor allem eines: Desinformation. Die Show versucht, Zweifel an den Gräueltaten der russischen Armee in der Ukraine zu streuen und dadurch beim Zuschauer Gleichgültigkeit zu fördern. Das geschieht auch dadurch, dass sie „dem kollektiven Westen eine beispiellose Emotionalisierung“ vorwirft, die auf Fakes beruhe – das Mitgefühl mit den Opfern in der Ukraine wird dadurch zu einem „feindlichen, westlichen Gefühl“.19
ZENTRALE INSTANZ – DER MODERATOR
Zu den zentralen Charakteristika von Talkshows zählt neben der vermeintlichen Leichtigkeit des Gesprächs und der Anwesenheit eines Publikums (was jedoch während der Coronapandemie aufgegeben und nur teilweise wieder aufgenommen wurde) die Wortgewandtheit des Moderators.20 Letzterer ist gleichzeitig Marke und Aushängeschild der Talkshow, sein Familienname figuriert oftmals als Teil des Talkshownamens. Bemerkenswert ist, dass Polit-Talkshows seit 2014 auch immer wieder von Politikern der Putin-Partei Einiges Russland moderiert werden, darunter Pjotr Tolstoi und Wjatscheslaw Nikonow.21
Einer der derzeit wohl bekanntesten Moderatoren ist Wladimir Solowjow. Er ist einer der wichtigsten Propagandisten des russischen Staatsfernsehens, und im Zusammenhang mit dem Krieg wurden gegen ihn persönlich Sanktionen verhängt. Beleidigung und Diffamierungen sind bei Solowjow an der Tagesordnung, insbesondere gegen Oppositionelle und unabhängige Medien. So bezeichnete er in seiner Sendung die Novaya Gazeta und ihre Mitarbeiter als „widerliche, dumme Drecksäcke“ und den Chefredakteur des (inzwischen geschlossenen) Radiosenders Echo Moskwy als „Faulzahn“. Adolf Hitler dagegen nannte der Moderator einen „mutigen Mann“, weshalb er von Alla Gerber, der Präsidentin der Holocaust Stiftung, als „Schande für den Journalismus, die Nation und Russland“ kritisiert wurde.22
Solowjow ist jedoch nicht der Einzige, der polarisiert und stark diffamierende sowie expressive Lexik verwendet. Ein weiteres grelles Beispiel dafür ist Artjom Scheinin, der seit 2016 durch seine Moderation von Wremja pokashet einem breiteren Publikum bekannt geworden ist. Er zeichnet sich durch seine platte und politisch inkorrekte Ausdrucksweise sowie die Verwendung von Mat aus.23 Scheinin provoziert bewusst in seinen Talkshows – sei es mit der Verharmlosung der Tötung von Menschen24 oder mit einem Eimer Fäkalien: So sollte in einer Sendung ein ukrainischer Experte vor laufenden Kameras quasi bekennen, dass die Krim schon immer russisch gewesen sei. Als er sich weigerte, stellte Scheinin dem völlig verdutzten Gast einen vorbereiteten Eimer mit Fäkalien vor die Füße; das Studiopublikum klatschte begeistert.
Moderator Artjom Scheinin stellt einem verdutzten Gast einen Eimer Fäkalien vor die Füße, weil der sich weigert, die Krim als russisch anzuerkennen.
WIEDERKEHRENDE GESICHTER UND MEINUNGEN
Obwohl die teilweise unzensierte Sprache der Moderatoren den Anschein von Spontanität und Live-Übertragungen vermittelt, sind die meisten Sendungen inszeniert und folgen einem vorgefertigten Drehbuch.25 Speziell in russischen Talkshows werden immer wieder dieselben Gäste und sogenannte Experten eingeladen, damit sie eine bestimmte Position – Freund oder Feind Russlands – vertreten. So mimt beispielsweise der gebürtige Amerikaner Michael Bohm regelmäßig den westlichen Feind Russlands, tingelt durch die verschiedenen Sendungen und Fernsehkanäle und wird dafür sehr gut bezahlt.26 Darin besteht auch der Unterschied zu den Polit-Talkshows der 1990er Jahre: Waren damals die Talkshows und Moderatoren noch um einen gewissen Meinungspluralismus bemüht, sind heute diejenigen erfolgreich, die am lautesten schreien, geschmacklose Witze vorbringen, raufen, den Gegner verbal niedermachen und mit allen Mitteln polarisieren.
Seit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine lässt sich zudem eine weitere Tendenz in den Polit-Talks ausmachen – die wiederholte Prophezeiung eines nuklearen Kriegs beziehungsweise Dritten Weltkriegs. Ob dies im Auftrag des Kreml geschieht oder ob es dabei um Stimmungsmache oder das „Testen“ bestimmter Szenarien geht, bleibt offen. Es wird jedoch ernsthaft über die Möglichkeit einer Ausweitung des Krieges gesprochen: Wie die Chefredakteurin von RT, Margarita Simonjan, in Solowjows Sendung im April 2022 verkündet, scheine ihr das Unmögliche, dass alles in einem Atomkrieg ende, immer wahrscheinlicher. Solowjow zitiert daraufhin wortwörtlich eine Äußerung Putins, mit welcher er bereits 2018 auf dem Waldai-Forumprovoziert hatte: „Aber wir kommen ins Paradies und sie [der Westen und die Ukraine – dek] werden einfach verrecken.“
vgl. Novikova (2008): Sovremennye televizionnye zrelišča: istoki, formy i metody vozdejstvija, Sankt Peterburg, S. 195 ↩︎
vgl. Dunn (2009): Where did it all go wrong? Explaining Russian television in the Putin era, in: Beumers/Hutchings/Rulyova (eds.): The Post-Soviet Russian Media – Conflicting Signals, New York, S. 44 ↩︎
vgl. Dolgova (2015): Fenomen populjarnosti obščestvenno-političeskich tok-šou na rossijskom TV osen’ju 2014 goda – vesnoj 2015 goda, in: Vestnik MGU serija 10, Žurnalistika 6, S. 163 ↩︎
Die Novaya Gazeta mit ihrem Chefredakteur, dem Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow, versucht auch in Kriegszeiten ihren eigenen Weg zu gehen und, so gut und so lange es geht, unabhängig zu berichten – auch aus dem und über den Krieg in der Ukraine. Zwar beugt sich die Novaya der Zensur, insofern, als sie gemäß der aktuellen Gesetzeslage nicht das Wort „Krieg“ verwendet, sondern „<…>“, auch einzelne Artikel hat die Novaya aus dem Netz genommen, und sie zensiert mitunter Berichte von Korrespondenten aus der Ukraine – all dies macht sie aber stets transparent. Ein Kompromiss, um unter Bedingungen immer stärkerer Desinformation und restriktiver Mediengesetze weiter unabhängig arbeiten und informieren zu können. Die Leser äußerten bei einer extra initiierten Umfrage Anfang März Verständnis und auch Zuspruch: „Besser irgendwie arbeiten als gar nicht.“ – „Uns ist allen völlig klar, dass Krieg ist. Sie brauchen ihn gar nicht direkt Krieg zu nennen.“ Manche schlugen gar vor, die ganze Absurdität zu perfektionieren und damit zu demaskieren, dass künftig am besten auch nur noch die Rede ist von: Lew Tolstois Roman „Spezialoperation und Frieden“.
Während immer mehr Medien blockiert werden und zahlreiche unabhängige Journalistinnen und Journalisten aus Angst um ihre Sicherheit das Land verlassen (laut Investigativmedium Agenstwo sind es mehr als 150, die bereits gegangen sind), scheint sich die Novaya noch auf einen gewissen „Sonderstatus“ verlassen zu können, den sie als Leuchtturm der unabhängigen Berichterstattung seit den 1990er Jahren genießt.
Kürzlich kündigte Muratow außerdem an, seine Nobelpreismedaille versteigern und den Erlös spenden zu wollen – für ukrainische Geflüchtete. Das gab die Novaya Gazeta in einer Meldung bekannt, in der sich auch eine Reihe weiterer Forderungen fanden – etwa die nach einem Waffenstillstand. Darüber hatte Muratow außerdem bereits Anfang März mit der Journalistin Katerina Gordejewa gesprochen, die auf YouTube ihren bekannten Video-Podcast Skashi Gordejewoi (dt. Sag’s Gordejewa) betreibt.
Im Podcast erklärt Muratow, warum er mit dem Krieg gerechnet hat, inwiefern dieser nun nicht nur die Ukraine, sondern auch Russland zerstört. Und worauf er, Muratow, jetzt noch hofft – wider besseren Wissens.
Katerina Gordejewa: Haben Sie tatsächlich bis zum Schluss nicht geglaubt, dass es Krieg geben könnte?
Dmitri Muratow: Wir haben schon im Vorfeld geahnt, dass es leider Krieg geben wird. Wir hatten in der Redaktion viele Besprechungen zu diesem Thema, untereinander, mit den Ressorts, mit allen. Uns war klar, dass es direkt nach Olympia losgeht.
Es war klar, dass Wladimir Putin bei einigen Auftritten völlig unmissverständlich all die Kränkungen aufgezählt hatte, die Russland, also Putin in Person, zugefügt worden waren. Es war klar aufgrund der Wortwahl – ständig war da die Rede von Nazis, Faschisten, dem Großen Vaterländischen Krieg, den Heldentaten unserer Vorfahren …
Es war klar, dass jener Krieg, der Große Vaterländische Krieg, für Putin nie aufgehört hat. Putin ist zu jung, um dabei gewesen zu sein, aber ich möchte die Vermutung äußern, dass Wladimir Putin jetzt danach strebt, seinen persönlichen Sieg im Zweiten Weltkrieg zu erringen. Einen Sieg, der darin besteht, die Ergebnisse zu verteidigen, die er für richtig hält. So kämpft er dort jetzt gerade: als Teilnehmer des Zweiten Weltkriegs. Das ist meine Vermutung.
Aber wenn ich diese Aufrüstung des Bewusstseins sehe, manchmal übrigens eine durchaus humanistische – zum Beispiel das Unsterbliche Regiment, die Armeekathedralen als Orte des Gedenkens: Das alles ist zweifellos ein Leben in der Vergangenheit. Es geht darum, den Sieg zu erringen, als hätte es diesen Sieg nie gegeben.
Die Menschen, die Putin jetzt umgeben, bleiben die aus Angst bei ihm oder weil sie an das glauben, was er tut?
Ich habe gestern [das Interview wurde am 7. März veröffentlicht – dek] mit ein paar Mitgliedern des Machtapparats gesprochen, und ich kann mich nicht erinnern, wann sie … – ich will sie nicht Elite nennen, ich nenne sie Machthaber, Entourage, aber sicher nicht Elite, nicht nach dieser berühmten Sitzung des Sicherheitsrates, nachdem wir gesehen haben, wie sie zittern, wie viele von ihnen breitbeinig zum Podium gegangen sind … Weißt du, warum? Wegen ihrer Pampers, Katja. Also, ich möchte sie nicht Elite nennen, aber ich möchte sagen, dass sie sich noch nie so einig waren. Noch nie waren sich die Leute, die an der Macht sind und die mit ihr betraut sind, so einig – ich rede jetzt nicht vom Business, das sind verwandte Dinge, aber doch nicht dasselbe … Sie sind sich absolut einig. Sie teilen Putins Weltbild zu hundert Prozent.
Ich möchte sie nicht Elite nennen, aber ich möchte sagen, dass sie sich noch nie so einig waren
Präsident Putin hat sein eigenes Weltbild. Dieses Weltbild ist fast so unerschütterlich wie die ägyptischen Pyramiden, wo zwischen den Steinblöcken keine Nadel Platz hat. Sein Weltbild ist absolut klar: Russland ist eine Festung. Es ist ein isolationistisches Land, unendlich reich an Bodenschätzen, ein Land, das niemanden braucht, das endlich begreifen muss, dass der Westen der Feind ist, dass die Welt der Feind ist … Das ist sein Weltbild, und es hat um sich gegriffen, es hat die ganze Elite infiziert …
Jetzt haben Sie es doch gesagt!
Aus reiner Gewohnheit, weißt du …
Aber im politologischen Sinn ist das die Elite.
Ich weiß nicht … – ich bin nicht bereit, sie Helden oder Elite zu nennen … Mitstreiter vielleicht. Eine Elite, das sind Leute, die bis aufs Blut und weiter für das Glück ihres Landes ackern.
Das, was man Ehre und Heldenmut nennt.
Genau, also können wir das nicht sagen. Sie teilen ein und dasselbe Weltbild. Es gibt da überhaupt keine Spaltung. Die ganzen Theorien, die man uns überall aufschwatzen wollte und von denen man immer noch sagt: dass es zu einem Machtwechsel durch die Spaltung der Eliten kommen wird … Da ist keine Spaltung.
Aber Sie haben doch selbst gesagt: dass die Angst hatten, als sie vor dem Sicherheitsrat sprechen sollten.
Die hatten Angst, das Falsche zu sagen, sie waren schließlich zu einer Prüfung angetreten, und nicht alle hatten den Text auswendig gelernt. Aber jetzt ist allen alles klar.
Und alle teilen diese Ansichten?
Ich kann nicht für jeden einzelnen sprechen, aber ich kann sagen, dass sie alles tun werden, was Putin ihnen befiehlt. Alles. Eine treuere Regierung hat es, glaube ich, noch nie gegeben.
Ich kann nicht für jeden einzelnen sprechen, aber ich kann sagen, dass sie alles tun werden, was Putin ihnen befiehlt
Wie hat das alles angefangen, und was hat überhaupt die Ukraine damit zu tun? Das hat doch nicht erst 2014 angefangen?
Nein, das hat früher angefangen, wenn man bedenkt, wo Putin jetzt angekommen ist. Wenn du dich erinnerst: Russland hatte 2006 eine NATO-Vertretung in Brüssel, den NATO-Russland-Rat. Dort saßen diverse Vertreter, unter anderem übrigens Rogosin. Putin hatte damals ernsthaft vorgeschlagen, über einen Beitritt Russlands in die NATO nachzudenken, und war sehr erstaunt, als man ihm sagte, dass man dafür eine Art Probezeit braucht, Dokumente vorbereiten muss … Er war überzeugt, dass man so ein einmaliges Angebot [seitens Russland – dek] nicht ablehnen würde, aber man legte ihm Steine in den Weg. Und als er später vollkommen überzeugt war, dass man ihn betrügt – das heißt, dass der Westen Putin betrügt – da kam die Münchner Rede, in der 2007 absolut alles gesagt wurde, was wir jetzt und hier haben. Diese Rede wurde wohl kaum ernstgenommen. Nur von kleineren Regimes in Lateinamerika und in Kuba.
Sie wurde angehört, und sie hatte einen zweiten, besänftigenden Teil, aber die großen Politiker, selbst die Leader der europäischen Welt haben das nicht ernstgenommen. Sie hielten das für Rhetorik.
Aber im nächsten Jahr kam dann der Georgienkrieg, und Präsident Bush sagte zu Wladimir Putin das eine und zu Michail Saakaschwili etwas anderes. Und die Geheimdienste sind dafür da, alles Gesagte zu vergleichen. Seither glaube ich, dass das einer der wichtigsten Wendepunkte war, denn Russland hatte immer von einem Bekenntnis zu westlichen Werten geredet, von der Diktatur des Gesetzes, davon, wie offen wir seien, wie global die Welt sei. Das alles hat genau in diesem Moment aufgehört: „Man kann ihnen nicht glauben, sie verstehen nur Gewalt, Worte verstehen sie nicht.“ Ich spreche das als inneren Monolog, so wie ich mir den inneren Monolog der kollektiven Staatsmacht vorstelle.
Das heißt, die kollektive Staatsmacht fühlte sich vom Westen gekränkt?
Sehr gekränkt, zutiefst gekränkt, bis zum Umfallen gekränkt. Und dann passierte noch etwas: Putin wurde plötzlich klar, dass die Leute, die ihm was von Werten erzählen, eigentlich Preise meinen. Sieh doch mal, Putin hat massenweise repräsentative mächtige Leute aus dem Westen, westliche Politiker in die Aufsichtsräte der russischen Staatsunternehmen eingekauft.
Sie meinen die, die jetzt eiligst austreten …
Jetzt treten sie eiligst aus, aber genau so eilig sind sie damals eingetreten – so eilig, dass sie fast auf ihrer Schleimspur ausgerutscht wären. Der französische Premier, der deutsche Kanzler, italienische Politiker … Sie nahmen brav Platz, bekamen ihre …
… riesigen …
Ich weiß es nicht von allen genau, ich habe nicht alle Zahlen im Kopf, aber es ging um ein paar Millionen Dollar im Jahr. Und er, Putin, lacht sich kaputt. Er sagt: „Und diese Leute wollen mir was von Werten erzählen? Ihr wollt alle nur Kohle.“ Und er ist davon vollkommen überzeugt.
Sie haben die Zukunft des Landes zerbrochen. Zack – haben sie genommen, und weg war sie
Ich glaube, er ist überzeugt davon, dass er ihnen die Freundschaft angeboten hatte und zurückgewiesen wurde, und jetzt sollen sie bitte nicht beleidigt sein. Das ist eine normale Denkweise, ich bin selbst in einem solchen Hinterhof aufgewachsen, das ist so eine ganz normale Hinterhoflogik von Achtklässlern: Sei jetzt bitte nicht beleidigt. Das ist ein krasser psychischer Bruch, auch jetzt in diesem für unser Land absolut kritischen Krisenmoment.
Denn was ist in der Nacht auf den 24. Februar passiert? Sie haben die Zukunft des Landes zerbrochen. Zack – haben sie genommen, und weg war sie. Lang und ausführlich hat er seine Kränkungen aufgezählt.
Und es gibt noch ein Detail, auch das kam in der Rede vor: Mit wem soll man denn bitteschön verhandeln, die wechseln doch ständig? Das sind jetzt meine Worte, aber im Großen und Ganzen – sieh mal: Seit Putin an der Macht ist, gab es verschiedene Kanzler in Deutschland, mehrere Präsidenten in den USA, fast ein halbes Dutzend Präsidenten und Premiers in Italien und Frankreich … Sie wechseln die ganze Zeit, und wirklich, so nach dem Motto: Mit wem soll er da reden außer mit Gandhi? Gerade gewöhnst du dich an jemanden, und schon ist seine Amtszeit vorbei. Das ist doch wahrlich nicht vernünftig, oder? Einfach unvernünftig! Und plötzlich steht Putin da als der erfahrenste Politiker der Welt. Er ist knapp über 22 Jahre an der Macht, denn schon als Premierminister standen ihm mächtige Hebel zur Verfügung. Keiner von den europäischen und nordamerikanischen Politikern ist je so lange an der Macht gewesen. Er kennt sie alle in- und auswendig, und er glaubt denen absolut nichts, keinem von denen.
Das ist ein gekränktes Bewusstsein und die felsenfeste Überzeugung, im Recht zu sein
Er denkt ganz bestimmt: „Warum kümmert es euch denn jetzt plötzlich, dass wir mit diesem Krie…, ach, wie heißt das … mit dieser militärischen Spezialoperation zur Wiederherstellung in der Ukraine sind. … Vorher hat doch angeblich niemand etwas gemerkt – dass sie Janukowitsch gestürzt haben, dass seit acht Jahren im Donbass [Krieg ist].“ Und auf die Frage, ob nicht wir Russen es waren, die zuerst im Donbass einmarschiert sind, kommt immer die Antwort: „Alles hat damit angefangen, dass der Westen die Krim nicht anerkannt hat, aber da hat doch das Volk abgestimmt …“
Das ist ein gekränktes Bewusstsein und die felsenfeste Überzeugung, im Recht zu sein. Als die Überzeugung noch klein war, war es einfach eine Anhäufung von Kränkungen, aber als dann Iskander-, Bulawa- und Zirkon-Raketen ins Spiel kamen, wurde klar, dass man diese Kränkung durchaus anderen vorhalten kann.
Was meinen Sie: War Putin bewusst, dass bisher noch niemand einen Krieg gewonnen hat gegen ein Land, das diesen Krieg als Vaterländischen Krieg sieht? Als Beispiel dient hier die Sowjetunion [im Zweiten Weltkrieg – dek] oder auch Russland im Napoleonischen Krieg.
Mit dieser militärischen Wucht und Übermacht kann man das Land natürlich vorübergehend unterwerfen, es aufteilen … Einen westlichen Teil, der leben kann, wie er will, mit Lwiw als Hauptstadt, einen zentralen Teil, der natürlich unter russischer Schirmherrschaft stehen müsste, und dann würde man sehen, wer der wichtigste Präsidentschaftskandidat bei den nächsten Wahlen wäre, und schließlich die Ost-Ukraine, die natürlich russisch sein muss. So ungefähr war der Plan. Aber es hat sich herausgestellt, dass da ein Mann mit Eiern in der Hose ist – Selensky, was kaum jemand geglaubt hat. Seine Zustimmungswerte waren vorher nach unten gegangen, also dachten unsere Propagandisten, das ukrainische Volk würde die russische Armee mit Blumen empfangen.
Aber jeder, der in den letzten Jahren auch nur einmal in der Ukraine gewesen ist, hätte doch sagen können, dass das nicht stimmt. Hat man Putin angelogen?
Das kann ich dir erklären. Das ist keine Lüge, das ist viel besser. Schau mal, unsere Regierung bestellt für ihren Boss Propaganda fürs Volk. Sie schaut zu, wie das Fernsehen die Aufgabe erledigt und beginnt allmählich selbst, das zu glauben, was sie in Auftrag gegeben hat, es ist ja im Fernsehen zu sehen. In der Psychologie nennt man das Selbstinduktion. Das ist einer der schwerwiegendsten Gründe: Sie haben sich an ihrer eigenen Propaganda überfressen, sie sind so voll davon, dass sie jetzt kotzen müssen. Sie glauben jetzt tatsächlich an das, was sie sich selbst ausgedacht haben.
Sie haben Echo Moskwy abgeschaltet, sie haben alle jungen und hoffnungsfrohen freien Medien mit diesem „Ausländische Agenten“-Gesetz ruiniert. Es gibt einen riesigen Exodus an Journalisten, Profis, Analytikern, Programmierern, Fachleuten für die Erforschung von Big Data in Russland. Einen gigantischen Exodus. Gigantisch. Du wirst bald sehen, wovon ich rede. Das sind dann meine persönlichen Verluste. So degradiert man ein ganzes Volk.
Sie haben sich an ihrer eigenen Propaganda überfressen, sie sind so voll davon, dass sie jetzt kotzen müssen
Sie haben ziemlich viele Kriege mit eigenen Augen gesehen. Von dem, was Sie jetzt beobachten – die Soldaten der russischen Armee, die russische Militärtechnik, die Soldaten der ukrainischen Armee, die ukrainische Militärtechnik –, können Sie sich da ein Bild vom Zustand der beiden Armeen machen?
Muratow: Damals in Karabach habe ich gesehen, wie das Donezker Einsatzregiment des seinerzeit noch sowjetischen Innenministeriums mit alten Panzern versuchte, die Berge hochzukriechen. Der Anblick war nicht so überzeugend.
In Afghanistan sah ich eine Armee, die zwar schon viel besser aufgestellt war, die aber nicht wusste, wofür sie kämpfte. Die kämpften dort nur für ihre Kameraden, nicht um irgendeine internationale Pflicht zu erfüllen, da hatte keiner einen Plan. Der Krieg lief hauptsächlich unter dem Motto: „Wir rächen unseren gefallenen Freund.“ Was wir dort überhaupt zu suchen hatten, diese Frage wurde gar nicht gestellt.
Ja. Lauter Grundwehrdienstler, die wurden beeidigt und los ging's. Die hatten nicht einmal alle das halbe Jahr Grundausbildung.
Ich bekomme jetzt viele Meldungen rein, dass die Armee nicht versteht, wieso sie gegen die Ukraine kämpfen soll. Aber Befehl ist Befehl
Die heutige Armee ist anders. Es gibt eigentlich zwei Armeen: die traditionelle russische und die Armee von Kadyrow. Kadyrows Armee ist auf Kampf gedrillt, die kämpfen gern, das ist ihr Lebensinhalt. Sie sind gut ausgerüstet, tragen die modernsten Kampfanzüge, die allerneuesten Ratniki. Sie haben im Tschetschenienkrieg viele, wie sie es nennen, Schaitanygefangen und den Umgang mit Waffen von Kindesbeinen an gelernt. Im Grunde versteht Kadyrow sein Land nicht als kleine subventionierte Region Russlands, sondern als Armee, deren Oberbefehlshaber er ist. Daher werden beim Signal des Kriegshorns „Putins Fußsoldaten“ tatsächlich zur Infanterie. Sie haben ein Motiv, nämlich, zu kämpfen.
Die traditionelle Armee hingegen hat kein Motiv. Ich bekomme jetzt viele Meldungen rein, dass die Armee nicht versteht, wieso sie gegen die Ukraine kämpfen soll. Aber Befehl ist Befehl. Das ist alles ziemlich streng hierarchisch strukturiert, wie üblich beim Militär. Und die Angst vor der Strafe des Tribunals, die Angst, dass der Kommandant unzufrieden ist, die treibt die Soldaten an, immer weiter. Aber das Motiv „die Heimat verteidigen“, das fehlt.
Halten Sie alles, was da passiert, gewissermaßen für ein Versagen Ihrer Strategie? Denn Sie waren doch einer, der in ganz schweren Zeiten versucht hat, zwischen den beiden Seiten zu vermitteln. Sie konnten sowohl mit denjenigen reden, die auf Demonstrationen wollten, als auch mit denen, die für deren Genehmigung zuständig waren. Sie haben sich gekümmert, haben Leuten geholfen und so weiter. Denken Sie, dass diese Kompromisse dazu beigetragen haben, dass alles innerhalb einer Sekunde in sich zusammengestürzt ist?
Muratow: Ich habe keine Zeit für Social Media, dadurch habe ich viel Scheiße gar nicht mitgekriegt. Nur davon gehört. Gleichzeitig habe ich keinen einzigen Vorwurf gegen unsere Zeitung gehört. Mir wurden Vorwürfe gemacht, aber nicht der Zeitung. Zum Glück, war es nicht umgekehrt.
Was heißt überhaupt sich einigen oder zuhören? Eigentlich ist das meine Arbeit, ich habe ein zweites Signalsystem, also: reden, zuhören, reden, zuhören. Man muss sich die Argumente anhören, und man muss auf jeden Fall den Mund aufmachen, wenn man die Möglichkeit hat, etwas zu bewirken. Klar, man muss hinfahren und reden, um die Demonstranten freizubekommen. Aber ich glaube, diese Möglichkeit habe ich jetzt gar nicht mehr.
Offiziellen Umfragen zufolge unterstützt die Mehrheit der Russen die Militäroperation … Muratow: Können Sie das wiederholen? Welchen Umfragen zufolge? Offiziellen. Muratow: Die wer durchführt? Das WZIOM. Muratow: Ist das WZIOM ein staatliches Institut? Ja. Muratow: Dann macht also der Staat mithilfe eines staatlichen Dienstes eine Umfrage für sich selbst, um seine eigene Position zu untermauern.
Sogar wenn wir das Ergebnis halbieren, sind es immer noch viele.
Muratow: Okay, einverstanden, aber sogar das WZIOM, kommt zu dem Ergebnis, dass ein Drittel dagegen ist. Also sogar laut staatlicher Umfrage sind ein Drittel dagegen. Das sind, an der Gesamtbevölkerung bemessen, 50 Millionen. Ein Drittel. Immerhin ein Drittel. Ein Drittel! Das sind enorm viele!
Sogar wenn wir davon ausgehen, dass sie lügen, können wir uns immer noch vorstellen, dass der Teil, der dafür ist, und der Teil, der dagegen ist, egal wie groß, aber ungefähr gleich groß sind. Normalerweise führt das dazu, dass Sofakonflikte zu handfesten Auseinandersetzungen werden. Wie schätzen Sie diese Perspektive ein?
Muratow: Das würde ich gern anders beantworten. Es gab im Januar eine Umfrage von Lewada. Das sind telefonische Umfragen, Feldforschung. Es ist ja klar, dass die Leute Angst haben, wenn man sie fragt: „Sind Sie für die militärische Spezialoperation des Präsidenten zur Wiederherstellung der Ordnung?“ Man hat die Telefonnummern der befragten Personen, weiß also auch, wo sie wohnen. Was sollen sie da schon sagen? Ja, sagen sie, ich bin dafür. Die haben doch Schiss, verdammt.
Stehen wir im Land am Rand einer großen Bürgerkonfrontation, die katastrophale Folgen haben wird?
Muratow: Ich denke nicht über einen Bürgerkrieg in Russland nach. Worüber ich ernsthaft nachdenke, ist die Frage, was diese verschiedenen Teile der Bevölkerung zusammenbringen kann. Total überzeugt bin ich von: Waffenstillstand …
Glauben Sie?
Muratow: Waffenstillstand, Verhandlungen, humanitäre Korridore, humanitäre Hilfe, Austausch von Kriegsgefangenen und Rückholung der Gefallenen, auf beiden Seiten. Darüber hinaus wird man sich auf nichts einigen können. Auf gar nichts. Worauf soll man sich denn jetzt noch einigen?
Waffenstillstand, Verhandlungen, humanitäre Korridore, humanitäre Hilfe, Austausch von Kriegsgefangenen und Rückholung der Gefallenen, auf beiden Seiten. Darüber hinaus wird man sich auf nichts einigen können
Unsere Korrespondentin Nadja Andrejewa ist jetzt in Saratow … Sie hat von einer irren Geschichte berichtet, ich werde den Namen des jungen Mannes nicht nennen … Am 24. wurde er getötet, die Nachricht über seinen Tod kam an seinem Geburtstag, am 25. Februar, wenn ich nicht irre. Die Familie ließ ein Grab ausheben und mit einer Plane abdecken, langsam stellte sich die Frage, wann denn die Leiche käme. Aber die war verlorengegangen. Und noch immer wartet dieses abgedeckte leere Grab in der Stadt Saratow [diesen Artikel, wie auch einige weitere, hat die Novaya Gazeta inzwischen gelöscht aufgrund der zensierenden Gesetzgebung, die eine Berichterstattung nur gemäß „offizieller Quellen“ erlaubt, bei „Falschinformation“ drohen bis zu 15 Jahre Haft – dek]. Deswegen braucht es einen Austausch der Gefallenen, humanitäre Korridore und Waffenstillstand.
Gut, aber halten Sie das für möglich?
Muratow: Nun, ich denke, nachdem nichts anderes möglich ist – niemand wird die Anerkennung der Volksrepubliken Donezk und Luhansk zurücknehmen, niemand wird die Krim zurückgeben –, bleibt nur die Möglichkeit, nicht noch mehr Menschen zu opfern. Der Krieg wird so oder so zu Ende gehen, die Frage ist nur, wie hoch die Verluste sein werden.
Glauben Sie daran, dass unsere Kinder oder wenigstens unsere Enkelkinder mit ihren ukrainischen Altersgenossen ohne Hass oder Schuldgefühle werden reden können?
Muratow: In unserer Generation wird das nicht mehr möglich sein. In der Generation, die jetzt 20 oder 21 ist, geht das vielleicht noch, da herrscht eine andere Empathie. Die meisten jungen Leute sind kategorische Kriegsgegner, und die meisten von ihnen haben plötzlich innerhalb von zwei, drei Tagen kapiert, dass das das letzte iPhone war, dass der letzte Flug weg ist und sie die Länder, von denen sie geträumt und gelesen haben, nie zu Gesicht kriegen werden.
Das ist kein Scheißdreck, weil die Menschen geträumt haben, dass ihnen in der Zukunft die Welt offensteht und dass auch Russland weltoffen ist
Aber das ist doch ein Scheißdreck im Vergleich zu den vielen Toten in der Ukraine …
Muratow: Nein, das ist kein Scheißdreck, weil die Menschen von einer Zukunft geträumt haben, sie haben davon geträumt, dass man Russland in dieser Zukunft lieben würde, dass ihnen die Welt offensteht, dass auch Russland weltoffen ist, dass die Grenzen immer mehr verschwinden und nur mehr zu Ordnungszwecken und für den Zoll bestehen. Sie haben ganz bestimmt davon geträumt, würdige und gleichberechtigte Weltbürger zu sein, dass massenhaft Touristen kommen würden. Von einer Atmosphäre zwischen Russland und dem Rest der Welt wie zur Zeit der Fußball-WM, oder noch besser wie 2014 in Sotschi, vor der Annexion der Krim – davon hat diese junge Generation geträumt. Sie wollten eine schöne Welt, und keine, in der sie losrennen müssen, um für ihre Großmütter schnell noch die letzten Medikamente aufzukaufen.
Schämen Sie sich dafür, dass wir das nicht geschafft haben?
Muratow: Nein. Es tut mir nur unfassbar leid. Aber Scham fühle ich nicht. Ich schäme mich sicher nicht für das, was ich 30 Jahre lang gemacht habe. Es schmerzt mich, dass Anna [Politkowskaja] nicht mehr da ist, genauso wie [die Kollegen – dek] Jura [Schtschekotschichin], Igor [Domnikow] und Stass [Markelow], dass Nastja [Baburowa] und Natascha [Estemirowa] tot sind und dass der Krieg im Donbass Nugsar Mikeladse kaputtgemacht und letztlich umgebracht hat. Dafür verspüre ich Verantwortung und Schuld. Aber nicht für das, was wir tun.
Aber es ist uns nicht gelungen …
Muratow: Schau, manches ist doch gelungen, ein paar Jahre lang lief es gut, da ist uns doch was gelungen. Aber wie es ausgeht, in meinem Leben zum Beispiel … Das steht alles schon bei Jewgeni Schwarz, den ich sehr schätze: „Alles war gut, alles endet traurig.“ Leider kann ich dir, solange dort die Bomben fallen, nichts Aufbauendes sagen.
Aber ich finde andererseits auch, dass sich jetzt Gut und Böse sehr deutlich offenbart haben. Das sieht man sogar daran, wer in der UNO Russland unterstützt hat und wer nicht. Zwei, drei Diktatoren sind noch auf unserer Seite, aber der Rest der Welt, in dem die Menschen glücklicher leben als in Nordkorea, sieht das anders. Und das ist auch sehr viel wert. Ich hoffe sehr darauf, dass wir einen Waffenstillstand erreichen. Das ist alles. Mein Wunsch ist nicht groß, aber schwer erfüllbar.
Am 2. Februar 2022 sprach die deutsche Kommission für Zulassung und Aufsicht (ZAK) ein Sendeverbot für den Fernsehkanal RT DE aus. Am Tag darauf kündigte das russische Außenministerium „Gegenmaßnahmen“ an – die Schließung des Senders Deutsche Welle in Russland. Hintergründe dazu im Bystro von Daria Zakharova – in acht Fragen und Antworten.
1. Anfang Februar sprach die Rundfunkkommission ZAK ein Sendeverbot für RT DE aus. Wie hat alles angefangen?
RT DE war seit 2014 – zunächst unter dem Namen RT Deutsch – mit einer deutschsprachigen Newsseite und einzelnen Sendungen im Internet präsent. Im Sommer 2021 kündigte RT DE an, im deutschen Fernsehen senden zu wollen – und zwar über einen deutschsprachigen Kanal. Dazu – und auch für Live-Sendungen in Rundfunk, Fernsehen, Internet und in einer App – ist in Deutschland eine Sendelizenz nötig, das gilt für jedes Medium. Im Juni 2021 beantragte der Sender eine Sendelizenz in Luxemburg, der Antrag wurde jedoch abgelehnt. Die luxemburgische Medienaufsichtsbehörde verwies auf die Zuständigkeit Deutschlands, da man ja dort senden wolle. Daraufhin wandte sich RT DE an die Medienaufsicht in Serbien und erhielt im Dezember 2021 erfolgreich eine Sendelizenz. Unter Berufung auf diese serbische Genehmigung wollte RT DE den Sender in Deutschland betreiben: In der offiziellen Stellungnahme von RT DE heißt es, das Europäische Übereinkommen über den grenzüberschreitenden Rundfunk, das unter anderem auch von Deutschland und Serbien unterzeichnet wurde, gebe dem Sender das Recht, in beiden Ländern zu arbeiten.
2. Ende Dezember ging der Fernsehsender RT DE in Deutschland an den Start. Was geschah dann?
Bereits eine Woche nach dem Sendestart forderte die Medienanstalt Berlin-Brandenburg (MABB) den Satellitenbetreiber Eutelsat auf, die Ausstrahlung von RT DE einzustellen. Die MABB war der Ansicht, dass der Besitz einer serbischen Lizenz für RT DE eben „keine ausreichende Grundlage für die Ausstrahlung in Deutschland darstellt“, da der Produktionsstandort in Deutschland sei. Da es bei der Entscheidung um einen bundesweiten Sachverhalt ging, hat die Kommission zur Zulassung und Aufsicht (ZAK) den Fall geprüft und ihren Beschluss Anfang Februar mitgeteilt: RT DE muss sein Fernsehprogramm einstellen, und zwar über App, Internet und Satellit.
3. Nun hat RT DE aber eine serbische Lizenz – und verweist auf ein entsprechendes Abkommen zwischen Serbien und Deutschland. Warum hält die ZAK diese Lizenz nicht für ausreichend?
Die Rundfunkkommission ZAK geht davon aus, dass RT DE von Berlin aus sendet, wo es einen großen Standort mit mehr als 200 Mitarbeitern aufgebaut hat. Demnach müsste es eine deutsche Lizenz beantragen und diese innehaben, um senden zu dürfen. Da RT DE sein Impressum erst im Juni 2021 geändert hat und damals die Produktionsfirma in Berlin durch die TV Novosti in Moskau ersetzte, bestehen zumindest Zweifel am genauen Produktionsstandort.
RT DE wird zudem offiziell von der russischen Regierung finanziert. In Deutschland gilt aber das Prinzip der Staatsferne, das nach den Erfahrungen im Nationalsozialismus etabliert wurde: Laut Medienstaatsvertrag darf eine Zulassung nicht an staatliche Stellen im In- und Ausland gehen.
Sollte dieses Vorgehen über Serbien allerdings bewusst gewählt worden sein, um das im Medienstaatsvertrag geregelte Kriterium der Staatsferne zu umgehen, könnte es sich sogar um Rechtsmissbrauch handeln. RT DE widerspricht dem Umstand, vor allem aus Berlin-Adlershof zu senden, und hat nun die Möglichkeit, gerichtlich gegen die Entscheidung der ZAK vorzugehen.
4. Was genau sind denn die Unterschiede zwischen RT und der Deutschen Welle – die Sender sind doch beide aus Staatshaushalten finanziert?
Die Finanzierung beider Sender kommt jeweils aus dem Staatshaushalt, das ist richtig. Es gibt allerdings bedeutende strukturelle Unterschiede: Die Deutsche Welle ist kein staatlicher, sondern ein öffentlich-rechtlicher Auslandsssender, deswegen gibt es beispielsweise Aufsichtsgremien aus Zivilgesellschaft und Politik – während RT direkt dem Kreml unterstellt ist. Das hat Auswirkungen auf das operative Geschäft. Und es steht auch jeweils ein unterschiedliches journalistisches Selbstverständnis dahinter: RT-Chefredakteurin Margarita Simonjan nannte RT in einem Interview mit lenta.ru von 2013 ein „Verteidigungsministerium“ des Kreml, „eine Waffe wie jede andere auch“. Die DW dagegen betont die journalistische Unabhängigkeit und Objektivität. Solche Unterschiede in der Haltung schlagen sich auch auf Inhalte nieder.
5. In Reaktion auf die Entscheidung hat Russland nun den deutschen Auslandssender Deutsche Welle verboten. Welche Sendemöglichkeiten genau hat die Deutsche Welle in Russland noch?
Laut der Pressemitteilung auf der Webseite des russischen Außenministeriums umfassen die Maßnahmen einen „Sendestopp der Deutschen Welle über Satellit und andere Mittel in der Russischen Föderation“, die „Annullierung der Akkreditierung für alle Mitarbeiter“ und die „Schließung der Korrespondentenstelle“ in Moskau. Zudem werde man prüfen, ob die Deutsche Welle die Funktion eines „ausländischen Agenten“ erfülle. Die Deutsche Welle hat kein russischsprachiges Satellitenprogramm, ein entsprechender Kanal ist nur per Stream und auf Youtube verfügbar. Allerdings werden die deutsch- und englischsprachigen Sendungen der Deutschen Welle von einigen russischen Satellitenbetreibern ausgestrahlt. Dies werden die Betreiber vermutlich einstellen. Auf ähnliche Weise wurde 2014 auf Druck des Kremls auch der unabhängige russische Fernsehsender Doshd vom Netz genommen.
6. Wie „symmetrisch“ sind diese Maßnahmen seitens Russlands?
Indem das russische Außenministerium die Schließung als „Gegenmaßnahme“ bezeichnet, legitimiert es RT DE gewissermaßen als Teil des russischen Staatsapparats. Wenn „Gegenmaßnahmen“ auf Ebene des Außenministeriums erfolgen, dann in der Regel im diplomatischen Bereich, etwa in Form von Ausweisung von Diplomaten, Gegensanktionen usw. Zweitens werden Journalisten von RT DE nicht daran gehindert, in Deutschland zu arbeiten – sie werden weiterhin an Veranstaltungen teilnehmen und vor Ort berichten können. Die Mitarbeiter der Deutschen Welle in Moskau dagegen verlieren ihre Akkreditierung – die in Russland notwendige Erlaubnis, um überhaupt als Journalisten zu arbeiten. Drittens wurde die Entscheidung in Deutschland von einer Regulierungsbehörde getroffen, in Russland jedoch von einem übergeordneten Ministerium. Viertens hatte RT DE tatsächlich keine deutsche Sendelizenz, während die Deutsche Welle seit 2015 ganz legal in Russland arbeitet. Und man darf auch den grundsätzlichen qualitativen Unterschied zwischen diesen beiden Sendern nicht vergessen: RT ist ein unmittelbar durch den Kreml finanzierter und kontrollierter Staatssender, während die Deutsche Welle, wie oben dargelegt, trotz staatlicher Finanzierung redaktionell unabhängig agiert.
7. Die RT-Journalistin Margo Zvereva sagte in der Pressekonferenz von Sergej Lawrow und Annalena Baerbock im Januar 2022 , dass russische Journalisten in Deutschland „massivem Druck und massiver Diskriminierung ausgesetzt“ seien. Ist das so?
RT DE hatte tatsächlich gewisse Probleme, in Deutschland zu senden. Bereits vor dem jetzigen Ausstrahlungsverbot aufgrund der fehlenden Lizenz wurde der Youtube-Kanal von RT DE wegen der „Verbreitung von Falschnachrichten zur Coronaviruspandemie“ gesperrt. Diese Sperrung war allerdings eine Entscheidung des US-Konzerns und nicht der deutschen Rechtsprechung. Solche Maßnahmen hindern die Journalisten von RT DE außerdem nicht daran, sich grundsätzlich frei im Land zu bewegen, an Veranstaltungen und auch an Pressekonferenzen teilzunehmen und darüber zu berichten – etwa auf der Website des Senders. Im Unterschied dazu musste die Deutsche Welle nun ihr Büro in Moskau komplett schließen und die Journalisten verloren ihre Akkreditierung.
8. Es wird immer wieder davor gewarnt, dass über RT DE gerade in der deutschen Querdenker-Szene großen Anklang fände. Wie groß ist der Einfluss von RT DE tatsächlich?
Der russische Staatskanal ist allgemein beliebt bei verschiedenen rechten und linken Kreisen in Deutschland. Abgeordnete der AfD und – seltener – der Linken erscheinen oft auf den Seiten und Bildschirmen staatlicher und regierungsnaher russischer Medien. In den Beiträgen unterstützen sie in der Regel die Politik Putins und die Annexion der Krim. RT DE äußert sich oft skandalös und populistisch-propagandistisch. Diese Sprache findet bei vielen radikalen und marginalisierten Kreisen in Deutschland Anklang. Der Youtube-Kanal von RT DE scheint sich relativ großer Beliebtheit zu erfreuen. Zum Zeitpunkt der Sperrung im September 2021 wurden die meisten Videos mehr als 100.000 angeschaut. Es ist jedoch schwierig, die Popularität von RT DE objektiv zu bewerten – dem Sender wird oft vorgeworfen, die Zahlen künstlich nach oben zu schrauben. So veröffentlichte das Team von Alexej Nawalny eine detaillierte Untersuchung über die große Anzahl von Bots in den Kommentaren und Zuschauerzahlen der RT-Kanäle.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.