Ein Moskauer Gericht hat den Journalisten Iwan Safronow am 5. September 2022 zu 22 Jahren Haft im Straflager verurteilt – wegen angeblichen „Hochverrats“. Safronow, der zunächst mehrere Jahre als Journalist, für Vedomosti und Kommersant geschrieben hatte, spezialisiert auf Militär und Raumfahrt, arbeitete zuletzt bei der Raumfahrtbehörde Roskosmos. Er war bereits 2020 festgenommen worden, ihm wurde vorgeworfen, Staatsgeheimnisse an ausländische Geheimdienste weitergegeben zu haben. Beobachter kritisierten die Vorwürfe gegen ihn von Anfang an als konstruiert, Safronow weigerte sich bis zuletzt, seine Schuld einzugestehen. Bereits Safronows Vater war Militärexperte und Kommersant-Journalist, er kam 2007 unter ungeklärten Umständen ums Lebens, laut offizieller Quellen soll er Selbstmord begangen haben – was seine Familie bis heute bezweifelt.
Der Fall Safronow wird von unabhängigen Beobachtern in größeren Zusammenhang mit dem repressiven Vorgehen des Staates gegen kremlkritische Stimmen gestellt. Am Tag des Urteils gegen Safronow wurde der Novaya Gazeta die Drucklizenz entzogen, kurz zuvor waren zahlreiche weitere Journalisten zu sogenannten „ausländischen Agenten“erklärt worden. Das extrem hohe Strafmaß im Fall Safronow löste nun Entsetzen aus. Meduzasammelt Reaktionen von Kollegen, Weggefährten, Juristen, Menschenrechtlern, Politikern …
„Die Mauern sind nicht so undurchdringlich, wie sie scheinen“ Ekaterina Schulmann, Politologin 22 Jahre Straflager unter verschärften Haftbedingungen plus 500.000 Rubel [etwa 8200 Euro – dek] Geldstrafe und zwei Jahre eingeschränkte Freiheit nach Entlassung aus der Haft. Doch irgendetwas sagt mir, dass er das nicht absitzen wird – denn weder der Emir noch der Esel leben ewig, und die Mauern sind nicht so undurchdringlich, wie sie zunächst scheinen.
„Auf dermaßen viel Böses gibt es keine Antwort“ Ilja Krassilschtschik, Leiter des Projekts Slushba poddershki, ehemaliger Herausgeber von Meduza Ich habe immer geglaubt und glaube weiterhin, dass die Gerechtigkeit triumphieren wird. Wie viele Jahre ich das schon glaube. Aber mit jedem Mal, mit jedem Prozess, mit jedem Krieg verstehe ich weniger, was für die gerecht ist. Es scheint, dass es keinerlei Gerechtigkeit mehr gibt, auf dermaßen viel Böses gibt es keine Antwort, um wieder ein Gleichgewicht herzustellen.
Ehrlich gesagt, habe ich wegen Hochverrats keine Urteile zu mehr als 20 Jahren gefunden. Es muss einem bewusst sein, dass Artikel 275 des Strafgesetzbuchs [für Hochverrat] eine Höchststrafe von 20 Jahren vorsieht. Iwan Safronow wurde zu mehr Jahren verurteilt, weil er für zwei Aspekte schuldig erklärt wurde, die jeweils einzeln mit Strafen belegt wurden. So kam das endgültige Strafmaß durch teilweises oder vollständiges Aufsummieren zustande. Das Strafmaß wegen Hochverrats war schon immer hoch. Aber in den letzten Jahren steigt es immer weiter an. Waren es vor zehn Jahren noch sechs bis neun Jahre, liegen die Urteile in den letzten fünf Jahren bei 12 bis 15 Jahren Haft. […] Iwan Safronow erhielt eine absurd hohe Strafe, eine demonstrativ grausame Strafe – entsprechend der heutigen Realität in Russland.
„Dieses Urteil ist ein Signal an alle Kriegsberichterstatter“ Galina Arapowa, Direktorin des Mass Media Defence Center, zitiert in Republic Mir scheint, in Safronows konkretem Fall besteht das Problem auch darin, dass dieses Urteil der gesamten Medienszene demonstrieren soll, dass das Thema Krieg, genauer Kriegsindustrie und Raumfahrt, ein Tabu ist. Es ist ein Signal an alle Journalisten, dass man sich von diesen Themen fernhalten muss, ansonsten handelt man sich schnell 22 Jahre Haft ein. Außerdem ist es ein Signal an die Kriegskorrespondenten und Analysten, dass sie nichts anderes über dieses Thema schreiben dürfen als das, was in den Pressemitteilungen von Roskosmos und Verteidigungsministerium verlautbart wird. Und das ist tatsächlich ein wirkliches Elend, denn es bedeutet, dass ein großer Teil des Staatshaushalts tabu ist für Diskussion, Analyse und Medienberichterstattung.
„Iwan sagte, dass er niemals weggehen würde“ Taissija Bekbulatowa, Chefredakteurin des Onlinemediums Holod Ich weiß noch, dass Wanja [Safronow] ein paar Jahre vor seiner Verhaftung bemerkt hat, dass er beschattet wurde. Er wusste nicht, womit das zusammenhing. Ich fragte ihn damals, ob er nicht lieber ausreisen möchte, aber er sagte, dass er niemals weggehen würde, ungeachtet aller Risiken, denn dies sei sein Land und hier sei seine Familie.
Erst der Vater, nun der Sohn Lisa Focht, Korrespondentin der russischen BBC Iwan Safronow hat heute 22 Jahre bekommen. Da finde ich keine Worte. Wie soll man verstehen, wie Iwans Angehörige damit umgehen – zum Beispiel die Mutter, die zunächst ihren Mann verloren hat und jetzt zuschauen muss, wie man ihren Sohn für ein Vierteljahrhundert hinter Gitter bringt.
„Dieser Kannibalismus wird niemals vergessen“ Leonid Wolkow, Politiker und Mitstreiter von Alexej Nawalny zu 22 Jahren Haft unter verschärften Haftbedingungen Im Jahr 2015 bekam Wassja Fjodorowitsch, ein Jurist aus Jekaterinburg und Anführer einer Bande, die Usbeken und Tadshiken tötete, 22 Jahren Haft unter verschärften Haftbedingungen. Es ging damals um ungefähr 40 Morde, von denen 14 Morde und 5 Mordversuche vom Gericht bewiesen wurden. Jetzt kämpft er womöglich in der Ukraine. Und kriegt am Ende auch noch einen Orden von Putin (ich hoffe, posthum). Safronow wird seine Strafe nicht absitzen. Das wird alles sehr viel früher vorbei sein. Aber der Kannibalismus dieser Unmenschen, die 24 Jahre forderten und ihm 22 Jahre gegeben haben, die sich diesen „Fall“ ausgedacht und ihn vor Gericht gebracht haben – das ist alles schon dokumentiert und wird niemals vergessen.
„Ich würde hier keine Tendenz ablesen wollen“ Jewgeni Popow, stellvertretender Vorsitzender des Duma-Ausschusses für Informationspolitik Als Journalist schockieren mich diese Zahlen. Aber die Beschuldigung wiegt schwer. Ich hoffe, dass das erst der Anfang ist. Die Verteidigung hat angekündigt, dass sie das Urteil anfechten und all ihre Argumente vorbringen wird. Sollte auch nur die geringste Hoffnung bestehen, dass Iwan unschuldig ist, sollte es Chancen und Argumente geben, dann bin ich sicher, dass diese in höheren Instanzen umgesetzt werden. Natürlich ist die Zahl riesig, einfach unglaublich.
Ich würde hier keine Tendenz ablesen wollen und erst recht nicht um mich werfen mit Begriffen wie „Repression“. Ich hoffe, wir werden die Argumente der Ermittlungen zu sehen bekommen, allerdings werden die Chancen immer kleiner.
„Morgen … nein, heute schon könnte jeder russische Bürger der nächste sein“ Witali Jegorow, Gründer des YouTube-Projekts Otkryty kosmos Wir sind Iwan Safronow
Wanjas Pech war es, dass er einem Geheimdienst-Oberst über den Weg gelaufen ist … Oder war es sein Glück? Er ist schon erlöst, keine schnelle Eingreiftruppe wird sich mehr auf ihn stürzen, er muss sich von den Ermittlern keine Drohungen anhören, was Verwandte und Freunde betrifft, muss nicht mit seinem Gewissen darüber verhandeln, was besser ist: Geständnis und 12 Jahre oder Ehre und 22 Jahre. Jetzt hat er zu essen und staatliche Garantien über eine stabile Zukunft für mehr als 20 Jahre. Etwas, was die Mehrheit der Bürger in Russland nicht hat. Vielleicht sogar niemand.
Weiß jemand, was die Spürhunde heute machen, die den Fall Safronow geleitet haben? Glaubt jemand, dass diese tollen Leute mit kaltem Herz und heißem Kopf in Rente auf die Krim gegangen sind, um dort Gemüse anzubauen mit dem Gefühl erfüllter Pflichten? Bei wem werden morgen Speznas-Einheiten auf dem Balkon landen? Wessen vom Staatsanwalt verfasstes Urteil wird am nächsten Morgen mit nüchterner Stimme vom Richter verlesen?
Diese Maschine, die Wanja gefressen hat, ist nicht niedergestreckt, sie hat den Hals noch nicht voll und ist noch nicht zum Stehen gekommen. Ihre Schräubchen tun weiter ihre Arbeit, denn sie brauchen neue Titel, Auszeichnungen, KPI [Key Performance Indicators – dek]. Sie brauchen uns. […]
Morgen … nein, heute schon könnte jeder russische Bürger der nächste sein.
Auch du.
Und ich.
Ich will nichts anheizen, keine Angst machen und niemandem drohen. Ich verkünde nur Fakten. Akzeptiert sie als Realität und trefft eure Entscheidung. Solange es auf eurem Balkon noch ruhig ist.
„Ist das schon 1937 oder kommt das noch?“ Irina Jakutenko, Wissenschaftsjournalistin Iwan Safronow hat 22 Jahre bekommen. In 22 Jahren kann man geboren werden, die Schule durchlaufen, ein Studium abschließen, einen Job beginnen, seine erste Liebe treffen, heiraten und sogar ein Kind kriegen. Das ist ein ganzes Leben. Dazu noch 500.000 Rubel [etwa 8200 Euro – dek] Strafe, damit auch die Eltern ihre Freude haben. Freunde des Vergleichens: Ist das schon 1937, das Jahr des Großen Terrors, oder kommt das noch?
„Zum ********“ Alexej Ponomarjow, Musiker und Podcast-Redakteur Wanja Safronow hat 22 Jahre Strafkolonie bekommen für einen fingierten Fall von „Hochverrat“. Vor 22 Jahren habe ich die Schule abgeschlossen, die Wanja und ich gemeinsam besuchten. Zum ******** [Durchdrehen], verdammt noch mal.
„Es geht um Rache des Staates“ Nikita Mogutin, Journalist 22 Jahre für Iwan Safronow – dabei geht es nicht um Gerichtsbarkeit und nicht um den Kampf für Gerechtigkeit. 22 Jahre unter verschärften Haftbedingungen für einen Journalisten, für seine berufliche Tätigkeit – dabei geht es um die prinzipielle Rachsucht des russischen Staates. Dabei geht es um die Niederlage des Systems im Sommer 2019, als sie den Fall Iwan Golunow fingierten [dem Meduza-Journalisten wurde ein Drogendelikt untergeschoben – dek]. Unter Druck [großer Proteste und Solidaritätsbekundungen – dek] musste das System zurückweichen, Iwan kam frei, die Anakonda musste ihre Beute wieder herauswürgen.
Umso entscheidender war es nicht nachzugeben im Fall Safronow. Wer auch immer hinter diesen fingierten Vorwürfen stand – der Inlands– oder der Auslandsgeheimdienst – sie rächten sich für ihre demütigende Niederlage. Schon 2019 haben wir darüber gesprochen, dass es „schrecklich sein wird, der nächste Journalist zu sein“, denn der würde nicht freigelassen und nicht gerettet. „Für dich selbst und für Wanka“.
Genau deswegen geht es bei den 22 Jahren für den Journalisten Safronow um die Rache der gedemütigten Elite, eine Rache an jedem, der sich damals für Wanja Golunow einsetzte, eine grundlegende Antwort jedem, der dachte, dass die öffentliche Meinung in Russland irgendetwas beeinflusst.
„Eine Bande von Kriegsverbrechern, die bis zum Hals im Blut stehen“ Borislaw Koslowski, Wissenschaftsjournalist und Autor Wenn Safronow frei kommt, ist er 54 Jahre alt.
Er ist 8 Jahre jünger als ich, der Kerl ist Jahrgang 1990.
Über die Stichhaltigkeit der Anklage kann man bei Projektnachlesen – teilt den Link nicht, wenn ihr in Russland seid, dafür könnt ihr auch eingebuchtet werden, weil Projekt „unerwünschte Organisation“ ist.
Der Slogan „Freiheit für Safronow“ scheint mir selten unsinnig – er sieht aus wie ein Appell an jene, die über Safronows Freiheit verfügen, also an eine Bande von Kriegsverbrechern, die bis zum Hals im Blut stehen. Das heißt, die gehen gerade ihrer üblichen Beschäftigung nach und zermalmen von Slowjansk bis Mykolajiw massenhaft lebendige Menschen zu Hackfleisch und sollen nun irgendwie mal kurz Pause machen, um Safronow freizulassen.
Stattdessen wünsche ich Safronow, Jaschin [der wegen Verbreitung angeblicher „Fakes“ über die russische Armee in Haft ist – dek] und Nawalny nur eines: dass sie den Moment erleben, wenn irgendwer diese ganzen blutrünstigen Untoten mit Putin an der Spitze unschädlich macht. Und die Frage nach ihrer Freiheit klärt sich von alleine. Bis dahin wird sie sich leider überhaupt nicht klären.
„Wozu? Damit andere Angst haben“ Njuta Federmesser, Vorsitzende des Fonds für Hospiz-Unterstützung Wera (dt. Glaube) 22 Jahre.
Und es ist sinnlos zu fragen: Wofür? Denn wie immer ist die richtige Frage: Wozu? Damit andere Angst haben.
Vor was Angst haben? Vor allem und allen. Sich selbst, ihrem Schatten, ihren Verwandten, Freunden, Vorgesetzten und Untergebenen, ihrem Spiegelbild, ihren Kindern, ihren eigenen Worten und Gedanken.
Wozu? Um zu herrschen – nicht auf Grund von Intellekt und Kompetenz, sondern auf Grund von menschlicher Angst. Die Geschichte zeigt, dass diese Methode funktioniert. Für eine begrenzte Zeit.
Für unabhängige Journalisten und Medien hat sich die Situation in Russland seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine dramatisch verschlechtert. Soweit bekannt, haben seither mindestens 500 Medienschaffende das Land verlassen. Über die Lage der Medien in Russland und Belarus haben dekoder-Redakteure seit dem 24. Februar 2022 in zahlreichen Interviews, online, in Radio und Print, gesprochen.
Die Interviews und Podiumsdiskussionen im Überblick (in chronologischer Reihenfolge):
21. Februar 2023: „Kritischer Journalismus in Russland und Belarus“
29. Juni 2022 „Der Diskurs geht weiter“ TAZ: Thema im Interview mit dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher sind die neuen Wege, die sich die russischen unabhängigen Medien im Exil suchen. Riga ist ein Anlaufpunkt, so sich Redaktionen neu sortieren. Aber auch die bedeutende Rolle von YouTube wird dargestellt – dort erlebt der geschlossene Sender Echo Moskwy zumindest eine teilweise Wiedergeburt: „Der Diskurs geht weiter“
29. Juni 2022 „Krieg ohne Ende?“ TAZ-Salon: Tamina Kutscher spricht über die Themen, die jetzt im unabhängigen russischen Diskurs dominieren, allen voran „Wo liegt unsere Schuld? Wo liegt unsere Verantwortung?“ Es sind Stimmen wie die von Anton Dolin, der vor Jahren entschieden hat, sich journalistisch lieber Filmkritiken zuzuwenden (statt der Politik im eigenen Land) und sich nun dafür Vorwürfe macht. Sie spricht über die Arbeit von mutigen regionalen Journalisten und Medien wie Ljudi Baikala, deren Texte auch die Wirkung der Propaganda offenlegen. Das und mehr in einem Austausch mit Susanne Schattenberg von der FSO, die auch dekoder-Gnosistin ist, sowie mit Roman Dubasevych von der Universität Greifswald: „Krieg ohne Ende?“
Es geht um Skandalisierung und darum, ein Feindbild zu schärfen
– Tamina Kutscher am 04.05. im SRF über russische Polit-Talkshows
05.05.2022 „Geschichtsbilder (in den sozialen Medien) im Krieg in der Ukraine“ STIFTUNG EVZ: Die Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft fragt in ihrer Reihe EVZ Conversations! nach der Instrumentalisierung der Geschichte in Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. dekoder-Politikredakteur Anton Himmelspach über die in vielen liberalen russischen Medien diskutierte Frage, ob der Krieg gegen die Ukraine auch ein Krieg gegen den Westen sei. „Geschichtsbilder (in den sozialen Medien) im Krieg in der Ukraine“
04.05.2022 „Talkmaster Solowjow: der finstere Diener seines Herrn“ SRF: dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher ordnet beim SRF einen der zentralen Propagandisten des russischen Staatsfernsehens ein, Wladimir Solowjow. „Es geht um Skandalisierung und darum, ein Feindbild zu schärfen“ – das der Ukraine und des Westens: „Talkmaster Solowjow: der finstere Diener seines Herrn“
03.05.2022 „Totale Kontrolle? Zensur & Pressefreiheit in Russland seit Beginn des Ukraine-Krieges“ CAMPUS-FORUM: dekoder-Redakteur Ingo Petz diskutierte beim Campus-Forum. Diskurs in der Stasi-Zentrale mit und sprach über Pressefreiheit in Russland und über die Schließung unabhängiger Medien, die es bereits zu Beginn von Putins erster Amtszeit gab. Er verweist auf die Zerschlagung des damaligen „Leuchtturms der neuen, russischen freien Medienlandschaft“ NTW und die gleichzeitige Herausbildung spezifischer Mechanismen der russischen Propaganda, „deren Ergebnis wir uns gerade täglich anhören“:„Totale Kontrolle? Zensur & Pressefreiheit in Russland seit Beginn des Ukraine-Krieges“
28.04.2022 „Wahrheit gegen Propaganda – Medienberichterstattung in Krise und Krieg“ MEDIA FORUM: Bei einer Diskussionsrunde des Medieninstituts Mainz gibt dekoder-Redakteurin Mandy Ganske-Zapf zwei Monate nach Beginn des großflächigen Angriffskriegs auf die Ukraine Einblick in die verheerende Lage der russischen Medien. Sie weist darauf hin, dass viele Menschen sich nach jahrelanger repressiver Politik unter Putin von Politik abgekoppelt haben. Also kaum noch zu erreichen sind, selbst wenn sie unabhängige Informationen erhalten. „Wahrheit gegen Propaganda – Medienberichterstattung in Krise und Krieg“
23.04.2022 „Medien im Krieg: Zuerst stirbt die Wahrheit“ REPUBLIK: Bei einem Tag voller Panel-Diskussionen des Online-Magazins Republik in Zürich spricht dekoder-Wissenschaftsredakteur Leonid Klimov zur Frage, wie jetzt noch unabhängiger Journalismus innerhalb Russlands möglich ist: Diese Landschaft wurde fast komplett platt gemacht, sagt er auf dem Podium – und gibt einen Einblick in die neuen repressiven Gesetze, die seit dem großflächigen Angriffskrieg in Russland greifen. Mit ihm diskutieren die ukrainische Desinformationsforscherin Anastasiia Grynko und die Republik-Redakteurin Adrienne Fichter. „Medien im Krieg: Zuerst stirbt die Wahrheit“
Was wir derzeit in Russlands Medienlandschaft erleben, ist beispiellos. Es geht dem Staat um die totale Kontrolle des Informationsraumes
– Tamina Kutscher zu den Repressionen gegen Medienschaffende in Russland
13.04.2022 „‚Spezialeinsatz‘ in der Ukraine: Viele Russen unterstützen Putins Krieg“ DEUTSCHE WELLE: „Die Propaganda tut ihre Wirkung – und auch die Entpolitisierung in 20 Jahren Putin.“ – dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher im Interview mit der Deutschen Welle zu den hohen Zustimmungswerten für Putin in Russland, was das mit Propaganda zu tun hat und wie dramatisch sich die innenpolitische Lage in Russland für Meinungsfreiheit und Medienschaffende verschärft hat: „‚Spezialeinsatz‘ in der Ukraine: Viele Russen unterstützen Putins Krieg“
09.04.2022 „Putins Propaganda – Warum Russlands Bevölkerung nicht aufschreit“ SR2: dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher in der Sendung SR2 Medien – Cross und Quer zur Frage, wie dominierend das russische Staatsfernsehen in Russland ist. „Polit-Talkshows haben die Funktion einzupeitschen.“ „Putins Propaganda – Warum Russlands Bevölkerung nicht aufschreit“
09.04.2022 „Putins perfekter Erfüllungsgehilfe“ WESTFÄLISCHE NACHRICHTEN: „Er ist eine Art Propagandaminister geworden.“ – dekoder-Politikredakteur Anton Himmelspach hat mit den Westfälischen Nachrichten über den russischen Außenminister Sergej Lawrow gesprochen (hinter Paywall): „Putins perfekter Erfüllungsgehilfe“
05.04.2022 11 Fragen an Tamina Kutscher von dekoder.org KAS: Es ist Anfang April und die Lage der russischen unabhängigen Medien hat sich bereits dramatisch verschärft. Zum Zeitpunkt, als das Interview geführt wird, erscheint die Novaya Gazeta noch, die als ein Aushängeschild auch der investigativen Medien noch mehrere Wochen versucht hat, der Staatspropaganda etwas entgegenzusetzen. Darüber und über die Gewalt des Staates insgesamt nach innen, spricht dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher mit der Konrad-Adenauer-Stiftung: „Je länger der Krieg dauert, je grausamer die Bilder, desto stärker wird die Kontrolle im Inneren“
02.04.2022 „Meduza – regierungskritische Medienstimme im Exil“ DLF KULTUR: Ein russisches Exilmedium, das bereits seit dem Jahr 2014 in Riga eine gut funktionierende Redaktion aufgebaut hat, ist Meduza. Unter Herausgeberin Galina Timtschenko bildet Meduza gerade auch jetzt in Zeiten des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraineeine kritische Stimme, die kontinuierlich ohne Bruch seit dem 24. Februar 2022 berichten konnte. Andere Medien, die noch in Russland waren, müssen sich im Exil zunächst neu erfinden. Doch auch Meduza kommt nun unter großen finanziellen Druck. dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher kommt im hier gezeichneten Medienporträt zu Wort: „Meduza – regierungskritische Medienstimme im Exil“
Nischen, wie es sie bisher gab, soll es offensichtlich nicht mehr geben. Allein diese Chance scheint schon zu viel zu sein
– Mandy Ganske-Zapf am 29.03. in NDR Kultur über Drangsalierung letzter unabhängiger Internetmedien in Russland
31. März 2022 „dekoder – über den Versuch Russland zu entschlüsseln“ RADIO CORAX: Wie sieht die russische Medienlandschaft einen guten Monat nach Beginn des russischen Angriffskrieges aus? dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher spricht über die Auswirkungen des Gesetzes über die „Diskreditierung der russischen Armee“ vom 4. März 2022, das zur Folge hat, dass unabhängige Medien den Krieg nicht mehr als Krieg bezeichnen dürfen. „Wir erleben einen Kahlschlag“ – Doshd, Novaya Gazeta, Echo Moskwy gaben auf und auch sonst wird die Entwicklung der vergangenen Wochen nachgezeichnet. „dekoder – über den Versuch Russland zu entschlüsseln“
30.03.2022 „Das ist selbst für Russland beispiellos“ T-ONLINE: Mit der Novaya Gazeta ist „das letzte große unabhängige Medium gefallen“, sagt dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher im Gespräch mit t-online. Gleichzeitig weist sie darauf hin, wie sehr Plattformen wie YouTube und Telegram damit für den russischen Informationsraum an Bedeutung gewinnen: „Das ist selbst für Russland beispiellos“
Wir brauchen viel mehr Wissen über die Ukraine
– Ingo Petz am 30.03. beim Digitalen Salon der Humboldt-Universität zu Berlin
30.03.2022 „Zensur, Solidarität und Informationsfreiheit auf digitalen Plattformen im Russland-Ukraine-Krieg“ HIIG: Unser Redakteur Ingo Petz hat beim Digitalen Salon der Berliner Humboldt-Universität zum Thema Propaganda, Krieg und soziale Medien mitdiskutiert. Er macht darauf aufmerksam, dass man die autoritären Regime unterscheiden lernen müsse, das Regime Putin, das Regime Lukaschenko. Zugleich appelliert er: „Wir brauchen viel mehr Wissen über die Ukraine.“ Der ganze Stream: „Zensur, Solidarität und Informationsfreiheit auf digitalen Plattformen im Russland-Ukraine-Krieg“
29.03.2022 „Medien in Russland: Aus für Kreml-kritische Zeitung ‚Nowaja Gaseta‘“ NDR KULTUR: Am 28. März kündigt die Novaya Gazeta an, bis auf Weiteres nicht mehr zu erscheinen. Der Grund: Die Zensur und die Verwarnungen der Medienaufsicht, die die Zeitung erhalten hat, die dem Medium am Ende die Lizenz kosten könnte, wie es in einer entsprechenden Erklärung heißt. Was bedeutet das Vorgehen des Staates? „Nischen, wie es sie bisher gab, soll es offensichtlich nicht mehr geben. Allein diese Chance scheint schon zu viel zu sein.“ – das sagt Redakteurin Mandy Ganske-Zapf auf NDR Kultur zum Aussetzen der Novaya und spricht darüber, wo sich kritische Stimmen aus dem russischen unabhängigen Journalismus jetzt noch finden. „Medien in Russland: Aus für Kreml-kritische Zeitung ‚Nowaja Gaseta‘“
25.03.2022 „So hetzen russische Talkshows im Auftrag des Kreml“ SPIEGEL: Die Polit-Talkshows in staatlichen und staatsnahen russischen Fernsehkanälen sind derb und drastisch. Wie sind geäußerte Drohungen, dass es zu Atombombenangriffen auf Europa kommen wird, zu deuten? dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher sagt: „Hier wird Propaganda-Narrativen nochmal ein emotionaler Verstärker geboten.“ Der ganze Beitrag über russische Polit-Talkshows, Solowjow & Co.: „So hetzen russische Talkshows im Auftrag des Kreml“
22.03.2022 „Hilfe für Medienschaffende aus der Ukraine und Russland“ DLF KULTUR: Mindestens 150 Journalistinnen und Journalisten haben, soweit bekannt, bis dato Russland verlassen. Ihre Lage im Exil – alles andere als einfach. Auch Medien, die es schon länger im Exil gibt, darunter das Online-Medium Meduza, bangen um ihre Finanzierung. Das betrifft aber auch die unabhängigen Medien in der Ukraine, die im Krieg noch ganz andere Probleme haben. dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher sagt: „Es ist auch ein Informationskrieg, und er richtet sich auch in Russland selber gegen die, die für die Wahrheit kämpfen und die, die diesen Krieg als Krieg benennen.“: „Hilfe für Medienschaffende aus der Ukraine und Russland“
20.03.2022 „Putins Fernsehsoldaten“ SPIEGEL: Die russische Staatspropaganda rückt immer mehr in den Fokus der Medien in Deutschland. Viele fragen sich, wie sie funktioniert. Welche Narrative bedient sie, an welche Diskurse knüpft sie an? Der ganze Beitrag dazu mit dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher: „Putins Fernsehsoldaten“
16.03.2022 „Russische Bevölkerung von unabhängiger Berichterstattung abgeschnitten“ SWR: Seit zwölf Tagen gilt das neue Gesetz gegen die „Diskreditierung“ der Armee, das in Russland verbietet, den Krieg einen Krieg zu nennen und das vorschreibt, nur gemäß offizieller staatlicher Stellen in Russland über das Vorgehen in der Ukraine zu berichten. Das wird vom offiziellen Russland als „militärische Spezialoperation“ bezeichnet. dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher erklärt bei SWRaktuell, dass es nun immer schwieriger für die Menschen in Russland wird, sich frei und unabhängig zu informieren: „Russische Bevölkerung von unabhängiger Berichterstattung abgeschnitten“
15.03.2022 „Ovsyannikovas TV-Protest: Wie Kritik in Russland noch möglich ist“ DLF KULTUR: Im russischen Staatsfernsehen taucht eine Frau im Hintergrund der Hauptnachrichtensendung auf und zeigt ein Plakat in die Kamera, auf dem die Worte stehen: „Stoppt den Krieg“ und „Glaubt nicht der Propaganda“. Die Frau heißt Marina Oswjannikowa und war bis dahin Teil der Propagandamaschinerie im staatlichen Ersten Kanal. dekoder-Redakteurin Mandy Ganske-Zapf dazu, wie diese Aktion einzuordnen ist: „Ovsyannikovas TV-Protest: Wie Kritik in Russland noch möglich ist“
13.03.2022 „Wissen und Macht: Medien im russischen Krieg gegen die Ukraine“ DLF KULTUR: „Das Internet kann man nicht abstellen: Wer sich in Russland informieren will, kann das tun“ – stimmt das so noch? dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher zu Zensur in der in diesen Tagen noch mehr wachsenden Bedeutung des Internets und von Social Media. Gerade wird für die russische Gesellschaft immer wichtiger, VPN zu nutzen, um weiter auf den russischsprachigen Internetmedien lesen zu können, die von der Medienaufsicht in Russland gesperrt wurden: „Wissen und Macht: Medien im russischen Krieg gegen die Ukraine“
Zwei große Schwergewichte haben aufgegeben. Einer davon war Echo Moskwy – das ist ein wahnsinniger Einschnitt, weil es diesen Sender über Jahrzehnte gab
– Mandy Ganske-Zapf am 12.03. in rbb Kultur über das Ende einer (Radio)Epoche in Russland
12.03.2022 „Unabhängigkeit bewahren“ RBB KULTUR: Innerhalb von ein bis zwei Wochen hat sich die Lage für russische unabhängige Medien radikal verschärft. Am 1. März wurde der Radiosender Echo Moskwy geschlossen: „Das ist ein wahnsinniger Einschnitt, weil es diesen Sender über Jahrzehnte gab und mit ihm im Netz auch eine regelrechte Enzyklopädie kritischer Berichterstattung.“ dekoder-Redakteurin Mandy Ganske-Zapf über die Schließung von Echo Moskwy und den Fernsehkanal Doshd Anfang März, auch dekoder wird vorgestellt: „Unabhängigkeit bewahren“
12.03.2022 „Kritische russische Medien vor dem Aus“ WDR5: Unter dem Eindruck des großflächigen Angriffskriegs gegen die Ukraine wird die Nische der kleinen unabhängigen russischen Medien in diesen Tagen regelrecht zunichte gemacht. „Sie werden mundtot gemacht“, sagt dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher. Zugleich wurden tausende Menschen bei Anti-Kriegs-Protesten festgenommen. „Das alles verfehlt nicht seine Wirkung.“ Das ganze Gespräch – mit einem Blick auch nach Belarus: „Kritische russische Medien vor dem Aus“
09.03.2022 „Unabhängige Berichterstattung in Russland fast nicht mehr möglich“ BR2: Tamina Kutscher über die ersten Tage seit Beginn der Invasion in die Ukraine und zur dramatischen Lage für russische Journalistinnen und Journalisten: „Unabhängige Berichterstattung in Russland fast nicht mehr möglich“
06.03.2022 „Die Tage für unabhängige Medien in Russland sind gezählt“ TAZ: In der Nische der unabhängigen russischen Medien wurde in den ersten Tagen des Angriffskrieges versucht, so gut es geht, kritisch zu berichten. Sie hatten die Dinge beim Namen genannt, doch dann knickten sie unter dem Eindruck der harten Repressionen nach innen immer mehr ein. Die Novaya Gazeta – die von Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow geleitet wird – versucht, noch durchzuhalten. Tamina Kutscher sagt zur Strategie der Novaya, unter diesen Bedingungen zu arbeiten und zur Lage insgesamt: „Wir müssen davon ausgehen, dass die Tage für unabhängige Medien in Russland im Grunde gezählt sind.“
Wir müssen davon ausgehen, dass die Tage für unabhängige Medien in Russland im Grunde gezählt sind
– Tamina Kutscher am 06.03. in der taz
04.03.2022 „Die Propaganda in Russland funktioniert“ DLF Nova: In diesen ersten Tagen des Angriffskrieges wird deutlich, wie die Propagandamaschinerie in Russland anzieht und die Formeln permanent wiederholt, die Präsident Wladimir Putin in seinen Ansprachen geäußert hat, um den Krieg legitim erscheinen zu lassen. Der Begriff „militärische Spezialoperation“ wurde etabliert und soll durchgesetzt werden. Zugleich, sagt Tamina Kutscher, steigt die Repression nach innen: „Die Propaganda in Russland funktioniert“
03.03.2022 „Unterdrückung des unabhängigen Journalismus in Russland“ SWR1: Tamina Kutscher zeichnet nach, wie stark der Druck auf die wenigen unabhängigen russischen Medien innerhalb dieser ersten Kriegstage aufgebaut wird. Denn: Diese unabhängige Medienszene ist klein und droht nun, völlig zerstört zu werden: „Unterdrückung des unabhängigen Journalismus in Russland“
25.02.2022 „Wie funktioniert die russische Propaganda im Krieg gegen die Ukraine?“ ÜBERMEDIEN: Einen Tag nach Beginn der russischen Invasion war dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher zu Gast im Übermedien-Podcast Holger ruft an. Das Gespräch war bereits vor dem 24. Februar geplant und fand dann unter dem Eindruck des Angriffs statt. Ein Talk über russische Propaganda im Krieg gegen die Ukraine, die Rolle der unabhängigen Medien aus Russland (sowie Belarus): „Wie funktioniert die russische Propaganda im Krieg gegen die Ukraine?“
Am 22. August 1990 um 18:57 geht der erste unabhängige Radiosender der Sowjetunion auf Sendung. Als Radio-M gestartet, bekommt der Sender bald einen neuen Namen, mit dem er in die Geschichte eingehen soll: Echo Moskwy (dt. Das Echo Moskaus). Am Beginn stand der kollektive Wunsch nach Veränderung und Demokratisierung. Mit dem Slogan „Das freie Radio für freie Menschen“ wird Echo Moskwy über mehr als drei Jahrzehnte hinweg als Hochburg des liberalen Diskurses gelten. Der überwiegende Teil seines Weges aber war von Strategien der Anpassung an ein immer autoritärer werdendes politisches System und feindlicheres gesellschaftliches Klima geprägt. Dabei wird erst im Nachhinein sichtbar, wie vorhersehbar das Ende doch war: Am Abend des 1. März 2022, nur wenige Tage nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die gesamte Ukraine, wird der Sender abgeschaltet, die Website gesperrt. Am 3. März folgt auch die „Liquidierung“ der Trägergesellschaft – eine Entscheidung des Direktorenrats des Mehrheitseigentümers Gazprom-Media, die laut Chefredakteur Alexej Wenediktow, gerade einmal 15 Minuten in Anspruch genommen hat. Die „Liquidierung“ von Echo Moskwy bedeutete nicht nur das Aus eines der letzten kritischen Medien in Russland – sondern läutete symbolisch das Ende einer Epoche ein, die der Radiosender nicht nur begleitet, sondern auch mitgestaltet hat.
Am 1. August 1990 trat in der Sowjetunion das Gesetz über die Presse und andere Massenmedien in Kraft, das faktisch die sowjetische Zensur aufhob. Die Idee eines neuen Radiosenders war aber schon da. Bereits im Mai trifft sich eine Gruppe von Moskauer Enthusiasten und Intellektuellen.
Das Gründungskollektiv
Ihre Vision war die Schaffung einer „vollkommen neuen Art“ von Radio, das den „Prinzipien des freien Journalismus und einer vollkommenen Abwesenheit von Propaganda und Gehirnwäsche“1 verpflichtet sein sollte. Mit zum Gründerkollektiv gehörten Professoren der journalistischen Fakultät der Moskauer Staatlichen Universität, Abgeordnete des Moskauer Stadtsowjets sowie Journalisten aus Rundfunk und Presse. Als zentrale Figur für Konzept und Umsetzung gilt jedoch Sergej Korsun, zum damaligen Zeitpunkt Sprecher für das französischsprachige Radioprogramm des internationalen sowjetischen Radiosenders Radio Moskau. Für die Programmentwicklung zog er seinen Arbeitskollegen Sergej Buntman hinzu.
Am 22. August 1990 war die Gruppe soweit, und was sie sich überlegt hatten, ging tatsächlich auf Sendung – ein Programm aus aktuellen Nachrichten, einem Interview mit dem damaligen Reformer und Jelzin-Mitstreiter Sergej Stankewitsch und der Musiknummer All my loving der Beatles.2 Die Sendezeit in den ersten Monaten war auf zunächst zwei, später drei Stunden beschränkt.
Von seiner Gründung im August 1990 dauerte es nur wenige Monate, bis der Radiosender zum Schlüsselmedium des politischen Prozesses wurde. Den ersten Anlass dazu gab die sowjetische Militärintervention in Litauen im Januar 1991, über die der Radiosender live berichtete. Zum entscheidenden Medium wurde Echo Moskwy dann während des Augustputsches in Moskau im selben Jahr. Während das Staatsfernsehen die Aufnahme des Balletts Schwanensee übertrug, sendete Echo Moskwy in den Tagen vom 19. bis 21. August 1991 mit Unterbrechungen Informationen zu den Ereignissen und mobilisierte die Menschen für den Widerstand gegen die Putschisten. Es waren Tage, die die Zukunft des Landes entscheiden sollten. So wurde der Sender Teil der großen Erzählung von Ende und Neubeginn in Russland.
Institutionalisierung und zunehmender politischer Druck
Auf die ersten Jahre des Enthusiasmus folgte eine Phase der Professionalisierung und Institutionalisierung unter den ökonomisch schwierigen Bedingungen der 1990er Jahre. Man begann, rund um die Uhr zu senden und stellte das Unternehmen auf eine sichere finanzielle Basis, indem der Medienmagnat Wladimir Gussinski mit seiner Most-Gruppe (ab 1997 Media-Most) zum Mehrheitseigentümer wurde. Auf diese Zeit geht eine Klausel zurück, die bis zum Schluss Geltung hatte und einen Schutz gegenüber Eingriffen vonseiten des Eigentümers darstellte. Sie besagte, dass der Chefredakteur vom Kollektiv zu wählen ist. 1998 wurde als Chefredakteur jener Mann gewählt, der den Sender bis zum Schluss wesentlich bestimmen sollte: Alexej Wenediktow.
Nach der Zerschlagung von Gussinskis Medienunternehmen wurde Echo Moskwy 2001 in die Gazprom-Media-Holding überführt. Seit diesem Zeitpunkt, insbesondere aber seit Putins dritter Amtszeit ab Mai 2012, war die Frage der Unabhängigkeit des Senders von staatlichen Zugriffen über den verlängerten Arm von Gazprom-Media ein dauerhaftes Thema.
Dabei ist unbestritten, dass Echo Moskwy gerade im Unterschied zum Fernsehsender NTW, der ebenso von Gussinskis Media-Most-Gruppe zu Gazprom-Media wechselte, bis zuletzt ein politisch und gesellschaftlich höchst kritisches Programm bot. Insbesondere im Zuge der Krim-Annexion und mit Beginn des Krieges im Osten der Ukraine 2014 stellte sich der Sender gegen die patriotische Mobilisierung in den Staatsmedien und demonstrierte „editorial dissidence“, wie der bulgarische Investigativ-Journalist und Rechercheleiter von Bellingcat Christo Grozev die auch weiterhin verfolgte kremlkritische Haltung des Senders nannte.3
Forum des Wortes und der Diskussion
Echo Moskwy war für seine Zuhörerinnen und Zuhörer deutlich mehr als nur eine Informationsquelle – es war ein einzigartiges Forum des Wortes und der Diskussion. Neben aktuellen Informationen und Kurznachrichten im Halbstundentakt bestand das Programm aus einer Fülle an Interview-Sendungen mit Experten aus Politik und Gesellschaft sowie aus sogenannten „Autoren-Programmen“, die meist in Monologform bestritten wurden. Auch die thematischen Programmschienen zu Geschichte, Literatur, Kultur, Reisen und vielem mehr spielten für den Sender eine wichtige Rolle. Musik wurde nur in Spezialsendungen gespielt und blieb vorwiegend auf die Nachtstunden beschränkt. Zu den Stimmen und – seit Beginn der Live-Übertragung der Sendungen – Gesichtern des Senders wurden unter anderem Tatjana Felgengauer, Alexander Pljuschtschew und Olga Bytschkowa, die die Interview-Sendung Osсoboje mnenije (dt. Besondere Meinung) moderierten. Eigene „Autoren-Programme“ bekamen auch bekannte Personen des öffentlichen und kulturellen Lebens, wie die Schriftstellerin und Journalistin Julia Latynina, der Vielschreiber Dimitri Bykow oder der Spekulationen zugeneigte Politologe Stanislaw Belkowski.
Obwohl die sogenannten liberalen oder oppositionellen Positionen bei der Auswahl der Gäste und Experten eindeutig in der Überzahl waren, kamen regelmäßig auch Personen aus dem kremlnahen Milieu und konservativen Meinungsspektrum zu Wort, wie der dem konservativ-orthodoxen Lager zuzurechnende Journalist Maxim Schewtschenko, der Putin nahestehende Politologe Sergej Markow oder der Chefredakteur des Boulevard-Blattes Komsomolskaja Prawda Wladimir Sungorkin.
Obwohl Echo Moskwy als Radiosender zu den traditionellen, „alten“ Medien gehörte und mit seinem linearen Programm in mehr als 30 Städten Russlands empfangen werden konnte, hatte sich der Sender in den letzten zehn Jahren seines Bestehens zu einer vielgestaltigen Internetplattform entwickelt. So bot die Webadresse echo.msk.ru eine Reihe von Blogs, ein frei zugängliches Sendungsarchiv und Live-Video-Übertragungen aus dem Radiostudio. Der Sender selbst erreichte täglich ein Millionenpublikum und rangierte über viele Jahre unter den meistgehörten Radiosendern von Moskau und Sankt Petersburg.
Fragen journalistischer Ethik und innere Spannungen
Im Jahr 2014 stieg nicht nur der politische Druck auf die Inhalte, sondern es mehrten sich auch offensichtliche Eingriffe in die Personalstruktur. So besetzte der Direktorenrat die Stelle des Generaldirektors mit Jekaterina Pawlowa, einer Journalistin aus den Staatsmedien mit engen Beziehungen zur Regierung (ihr Ehemann Alexej Pawlow war zum damaligen Zeitpunkt stellvertretender Leiter der Presse- und Informationsabteilung der Präsidialverwaltung).4 Im selben Jahr entbrannte ein Konflikt um die Entlassung des Echo-Journalisten Alexander Pljuschtschew durch den damaligen Generaldirektor von Gazprom-Media Michail Lesin, der mit einem Kompromiss zwischen Lesin und Wenediktow – Personalentscheidungen im Journalistenkollektiv waren die alleinige Angelegenheit des Chefredakteurs – endete. So wurde Pljuschtschew, der einen beleidigenden Tweet anlässlich des Todes von Alexander Iwanow, dem Sohn des hochrangigen Politikers und Putin-Vertrauten Sergej Iwanow, gepostet hatte,5 für zwei Monate beurlaubt. Die Echo-Journalistinnen und Journalisten einigten sich im Anschluss auf besondere Verhaltensregeln in den sozialen Medien. Gleichzeitig zeigte dieser Fall, dass die Grenzen zwischen politischer Einmischung und journalistischer Ethik nicht immer klar gezogen werden können.
Auch wenn es Einzelfälle blieben, kam es auf politischen Druck hin zu Einmischungen in den Redaktionsalltag. Das zeigte sich unter anderem in Löschungen von bereits gesendeten Inhalten von der Webseite. So wurde im Dezember 2015 ein Interview mit dem Publizisten und Satiriker Viktor Schenderowitsch entfernt, in dem dieser die grassierende Gesetzlosigkeit im Land beklagt und auf die direkten Verbindungen von Wladimir Putin zu kriminellen Kreisen in den 1990er Jahren verwiesen hatte.6
Fragen journalistischer Ethik, die nicht zuletzt auch auf innere Spannungen schließen ließen, bewegten das Gründungsmitglied Sergej Korsun dazu, 2015 den Sender zu verlassen. Korsun begründete sein Ausscheiden damit, dass die Werte, für die Echo Moskwy einst stand und zu denen unter anderem journalistische Professionalität und Redlichkeit gehörten, nicht mehr auf allen Ebenen gegeben seien. Korsuns Kritik galt vor allem der jungen, umstrittenen Journalistin Lesja Rjabzewa, der er vorwarf, die Grenzen des professionellen Journalismus durch provokante Äußerungen und eine zum Teil vulgäre Sprache überschritten zu haben.7
Am Bestehen des Senders bis zum März 2022 hatte der Chefredakteur Alexej Wenediktow zweifelsohne einen wesentlichen Anteil. Wenediktow oder Wenik (dt. Besen), wie er unter anderem wegen seiner Frisur von vielen scherzhaft genannt wird, war bei den Echo-Journalistinnen und Journalisten für sein aufbrausendes Temperament und sein autoritäres Auftreten bekannt.8 Er verstand es über die Jahre hinweg, zwischen den politisch Verantwortlichen, den ökonomischen Interessen von Gazprom-Media und den Angestellten seines Senders zu vermitteln. Selbst Generaldirektor Michail Lesin, mit dem er im Fall Pljuschtschew im Clinch gelegen hatte, bescheinigte Wenediktow ein ausgeprägtes politisches Gespür: „Wenediktow erschien mir immer als ein kluger und talentierter Politiker, der viele Jahre lang geschickt zwischen den Aktionären, den politischen Kräften manövriert hat. Er war für alle bequem. All die Mythen, dass er super-demokratisch und liberal sei, lassen wir beiseite.“9
Wenediktow selbst nannte im Jahr 2018 gegenüber dem YouTuber Juri Dud drei Hauptgründe, warum die politische Macht mit Wladimir Putin an der Spitze ein Interesse am Fortbestand des Senders gehabt haben könnte.10 Erstens gelte Echo Moskwy als „Vitrine der Freiheit des Wortes in diesem Land“, sprich: als Feigenblatt, das sich vorzeigen lässt. Zweitens würde der Präsident nur zu gut wissen, dass der Sender niemanden politisch unterstützen und niemals einen „Krieg“ gegen ihn führen würde, und drittens habe Putin gegenüber Wenediktow persönliche, vielleicht sogar sentimentale Beziehungen aus der ersten Zeit seiner Präsidentschaft. Abgesehen davon würde Putin selbst kritische Informationen aus dem Radiosender beziehen.
Seit dem 3. März 2022 ist Wenediktows optimistische Einschätzung genauso Geschichte wie die Existenz der meisten unabhängigen Medien in Russland.
Shiwoi gwosd: Weiterleben oder Wiedergeburt?
Es gehört zur Ironie der Geschichte, dass auf der Frequenz von Echo Moskwy in Moskau, Sankt Petersburg und einigen anderen russischen Städten am 9. März 2022 Radio Sputnik auf Sendung ging. Gleichzeitig hat Wenediktow seine Widerstandsfähigkeit unter Beweis gestellt und bereits am 4. März seinen neuen Telegram-Kanal mit den Worten „Ja tut s wami“ (dt. Ich bin hier mit euch) eröffnet. Bereits eine Woche später nimmt der Youtube-Kanal Shiwoi gwosd (dt. Lebender Nagel) seinen Betrieb auf. Die Programm-Ankündigung für den 11. März 2022 erinnert mit insgesamt drei Sendungen stark an die Anfänge von Echo Moskwy, doch das Trägermedium hat sich grundlegend geändert. Denn obwohl sich viele der Echo-Journalistinnen und Journalisten nach kurzer Zeit unter dem Dach von Shiwoi gwosd einfinden und auch Podcasts der Sendungen unter dem alten Markenzeichen Echo Moskwy zur Verfügung gestellt werden, verfügen die Formate nicht mehr über die Präsenz, die der Radiosender mit seiner Live-Übertragung im Alltag der Menschen einnahm. So gesehen ist das Weiterleben von Echo Moskwy weniger ein Zeichen für dessen Wiedergeburt, als vielmehr dafür, dass mit der Abschaltung des Senders am 1. März 2022 eine Epoche zu Ende gegangen ist.
Den Text über die Geschichte des Senders konnte man auf der Website unter https://echo.msk.ru/about/history/timeline.html nachlesen. ↩︎
vgl. Slavtcheva-Petkova, Vera (2018): Russia’s Liberal Media: Handcuffed but Free, N.Y, London, S. 118 ↩︎
Der Fall wird von Vera Slavtcheva-Petkova detailliert beschrieben: Slavtcheva-Petkova, Vera (2018): Russia’s Liberal Media: Handcuffed but Free, N.Y, London, S. 128-129 ↩︎
Wenn alles aussieht wie immer, aber nichts mehr so ist wie zuvor: Dieses Tagebuch führte die Medienwissenschaftlerin Xenia Lutschenko im März 2022, bevor sie die Grenze zwischen Russland und Estland überquerte. Im Text sind alle Zeitangaben aus dem Gedächtnis rekonstruiert: Sämtliche Chats und Nachrichten mit den genauen Daten der Einträge aus dem Frühling hatte sie vor dem Überqueren der russisch-estnischen Grenze bei Iwan-Gorod/Narwa am 7. April 2022 gelöscht.
Der Text erscheint im Rahmen des Projekts Dunkle Zeiten, helle Nächte des Goethe-Instituts in Kooperation mit dekoder. Für diese Reihe wurden Autorinnen und Autoren sowie Film- und Medienschaffende in Russland und im Exil eingeladen, den neuen Alltag seit dem 24.2.2022 zu dokumentieren und zu reflektieren.
4. März – Schnee
Der Schnee war bereits festgetreten, sodass man darauf laufen konnte, ohne einzusinken. Er war noch winterlich weiß, ohne schwarze Spuren. Die Schatten der Bäume waren lang wie im Februar, das grelle Sonnenlicht zog scharfe blaue Linien in den Schnee. Ljussjas fuchsrotes Fell flackerte auf, als sie darüber lief, meine weiße Hündin Ingrid lief ihr entgegen. Ljussjas Besitzerin Mascha kam auf mich zu. Wir schauten uns an und weinten beide los.
„Aber du hast doch die israelische Staatsbürgerschaft“, sagte Mascha ermutigend. „Wie kommst du darauf?“ „Nein? Ich war mir sicher … Du siehst aus wie jemand, der die israelische Staatsbürgerschaft hat.“
Am nächsten Tag landete Mascha mit ihrer Familie in Jerewan. Der Flug war mehrmals verschoben worden, manche Maschinen hatten umdrehen und nach Moskau zurückfliegen müssen. Am selben Tag reiste mit denselben Verschiebungen und Nervenzusammenbrüchen meine andere gute Freundin Mascha ab, sie brachte ihren 19-jährigen Sohn aus dem Land.
Ich wurde nur 34 Jahre nach dem 8. Mai 1945 geboren. Ich lebe schon acht Jahre länger als die Anzahl an Jahren, die zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und meiner Geburt liegen. Ich wurde also etwa in die Mitte des friedlichen Stücks Geschichte hineingeboren.
Trotzdem haben wir viele Kriege gesehen – Tschetschenien, Serbien, Afghanistan, Syrien, Armenien und Aserbaidshan, Georgien und eben den im Donbass 2014. Aber ich sehe zum ersten Mal auf Fotos und Videos, wie man Menschen unter Trümmern hervorholt, wie Kinder, die in ihren eigenen Hinterhöfen getötet wurden, in Leichenhallen liegen, wie Kolonnen von Flüchtenden Richtung Grenze ziehen, und ich spüre fast körperlich, dass das bald mit uns, mit mir, mit meinen Nachbarn passieren könnte. Nicht nur könnte, sondern muss – nach dem Prinzip der Gerechtigkeit. Und das macht es umso schlimmer.
Wir haben viele Kriege gesehen – Tschetschenien, Serbien, Afghanistan, Syrien, Armenien und Aserbaidschan, Georgien, und eben den im Donbass 2014. Aber ich sehe zum ersten Mal auf Fotos und Videos, wie man Menschen unter Trümmern hervorholt, wie Kinder, die in ihren eigenen Hinterhöfen getötet wurden, in Leichenhallen liegen
6. März – Wegfliegen
Gleich am 25. Februar schrieb mir meine Freundin, die Journalistin K., dass sie sofort wegfliegen würde, mit den Kindern und dem Kater. Später schrieb ihr Mann, fragte mich, ob ich Geld für sie mitnehmen könnte.
Dann schrieb meine Freundin S. – Journalistin, „ausländische Agentin“. Sie hatte Angst vor der Passkontrolle. Sie musste dringend weg, wie auch K. Es gab eine deutliche Warnung, dass man sie sehr bald verhaften würde. S. ging zur Passkontrolle, alle Apps auf ihrem Telefon hatte sie gelöscht. Sie hatte Angst. Ich saß mit meinem Telefon in der Hand da und betete, dass man sie rauslässt.
Ein paar Tage später trafen sich K. und S. in Istanbul. Sie begegneten sich zum ersten Mal. Beide steckten wegen des Schneesturms in Istanbul fest. Zwei meiner engsten Freundinnen, beide haben zwei Töchter, waren tagelang in Istanbul eingeschneit. Sie warteten auf besseres Wetter, ihre Bankkarten funktionierten [wegen des SWIFT-Ausschlusses – dek] nicht mehr, sie mussten Geld für Essen auftreiben. Und ich konnte ihnen nicht mehr helfen.
Meine lieben, wagemutigen Mädels in Istanbul. In der Stadt, in der ich für eine sehr kurze Romanze glücklich gewesen war. Das war noch vor der Pandemie, vor dem Krieg, in jener Vergangenheit, in der irgendwas falsch gelaufen ist. In Istanbul bekommst du auf der Straße aus dem Samowar kleine Gläser mit Tee, den du auf niedrigen Holzscheiten trinkst, im Café nebenan dampft in einem großen Kessel nach Gewürzen duftende Suppe, der Morgenhimmel über dem Bosporus ist golden wie auf Ikonen, der Wind zerzaust deine Haare, auf den Prinzeninseln blühen riesige purpurne Blumen, die Hagia Sophia ist noch keine Moschee, die Fresken auf den Emporen noch nicht verdeckt, im asiatischen Teil der Stadt streunen große gutmütige Hunde, und an der Schießbude im Park kann man auf Luftballons zielen. Die Hunde, die Blumen, die Samowars und die Luftballons sind ziemlich sicher noch da. Nicht mehr da ist das Leben. Und der Schnee. Bald wird er ganz aufhören, und alle werden in verschiedene Richtungen davonfliegen.
S. ging zur Passkontrolle, alle Apps auf ihrem Telefon hatte sie gelöscht. Ich saß mit meinem Telefon in der Hand da und betete, dass man sie rauslässt
13. März – Timofej
Seit dem 24. Februar gibt es in Russland keinen Gott mehr, und alles ist erlaubt. Es gibt keine Gesetze, keine Moralvorstellungen, keine Verfassung, höchstens die Verkehrsregeln werden aus praktischen Gründen noch beachtet. Wenn du keine Nachricht überprüfen kannst, es nur Gerüchte, Leaks und Propaganda gibt, glaubst du für alle Fälle alles, selbst das, was noch eine Woche zuvor vollkommen unvorstellbar war.
Am 2. März kamen Gerüchte auf, dass Putin am 4. März vor der Föderationsversammlung das allgemeine Kriegsrecht verkünden würde. Das hätte die Schließung der Grenzen bedeutet, zumindest für Männer im wehrpflichtigen Alter. Also für Studenten, Söhne.
Also begann ein Massenexodus. Die Flugpreise gingen durch die Decke (am 3. und 4. März kostete ein Ticket nach Dubai bis zu 500.000 Rubel [etwa 4200 Euro – dek] ), die Tickets waren im Nu ausverkauft. Ich geriet in Panik. Dann bat ich einen Freund, der sich mit Flugtickets auskennt und immer die unkonventionellsten Lösungen findet, nach einem Flug für uns zu suchen. Ich hatte Freunde, die seit einem Jahr in Montenegro lebten und ihre Hilfe angeboten hatten. Überhaupt sind die Worte „Freunde“, „Freundin“, „Freund“ die Schlüsselworte dieser Tage. Das ist die wichtigste Errungenschaft meines Lebens – geliebte, nahestehende Menschen. Und wahrscheinlich das Einzige, was uns diese Katastrophe überstehen und vielleicht sogar bei Verstand bleiben lässt.
Ich brachte meinen Ältesten, Timofej, in der Nacht vom 3. auf den 4. März zum Flieger nach Belgrad, mit einem langen Aufenthalt in Dubai. Der Flug kostete 70.000 Rubel [etwa 600 Euro – dek]. Er war fast 24 Stunden unterwegs. In dieser Nacht verstand ich, dass Mir zerreißt es das Herz keine Metapher ist. Irgendetwas innen drin zerreißt. Der Schmerz ergießt sich aus diesem Riss in deinen Körper, gluckert, bricht als Schluchzen hervor und verebbt kurz, um dann wieder anzuschwellen. Er gleicht einem heißen Ozean, endlos rollt er in Wellen ans Ufer und wieder weg, spült Erinnerungen an Land, Gesprächsfetzen, Kinderschuhe.
Wir erledigten alles sehr schnell. Ich verlor nur einmal die Orientierung, als wir auf dem Weg zum Notar waren. Ich wusste plötzlich nicht mehr, in welche Richtung wir mussten und wo ich überhaupt war. Wir waren zwei Straßenblocks von unserem Haus entfernt. Timofej machte yandex.maps auf und nahm mich an die Hand.
Mir war bewusst, dass ich innerhalb eines Tages über sein Schicksal entschied. Er studierte gerne an der Wyschka, hatte viele Freunde, klare Pläne für sein Leben, eine Zukunftsvision, Träume. Ich weiß nicht, ob er irgendwann wieder ein Zuhause haben wird. So viel Angst wie in diesen 24 Stunden hatte ich noch nie in meinem Leben. Noch nie hatte ich derart endgültige und mich erschlagende Entscheidungen getroffen.
Selbst wenn der Aufschub für Studenten bei der Wehrpflicht nicht aufgehoben wird, sind junge Männer hier Zielscheibe für Polizei und die Sicherheitsdienste. Ich war mir selbst zuwider, als ich hinter ihm herlief und sagte: „Lösch diese Story. Hör auf, diese Demo-Aufrufe zu teilen. Warum hast du wieder was über Putin bei Insta geschrieben? Willst du dein Schicksal herausfordern? Ist deine Meinung etwa so wichtig?“ Er hat immer geantwortet: „Warum dürfen du und deine Freunde das und ich nicht? Was ist das für eine Doppelmoral?“ Ja, ich war mit ihm auf der Demo, als Nawalny verhaftet wurde. Ja, er war mit einem Freund noch einmal ohne mich da, „nur mal schauen“. Aber die meisten seiner Freunde waren bereits auf dem Revier, einen von ihnen mussten wir aus einer Haftanstalt in Jegorjewsk holen.
Selbst wenn Timofej in Russland geblieben und es ihm gelungen wäre, nicht in die Armee oder ins Gefängnis zu kommen – nach dem 24. Februar hätte es hier für ihn keine Zukunft mehr gegeben. Ich sagte zu ihm: „Es wird wie in der Sowjetunion. Aus Perspektivlosigkeit werden die Menschen zur schlimmsten Version ihrer selbst: der ständige Druck, das ständige Umschauen – nicht, dass noch was passiert –, die Selbstzensur, die Unmöglichkeit, sich selbst zu verwirklichen, all das führt zu Komplexen, Kränkungen und Aggressionen, die an den Nächsten ausgelassen werden. Ich will nicht, dass das mit dir passiert.“
Im Taxi auf dem Weg zum Flughafen Wnukowo löschten wir alle Apps von seinem Telefon. Der Flughafen ist fast menschenleer, aber nicht so leer, wie er es während der Pandemie war. Die Leute stehen ruhig in der Schlange an der Gepäckannahme, als würden sie in den Urlaub fliegen. Ich lächele und mache Scherze, berühre Timofej bei jeder Gelegenheit – mal an der Schulter, mal an der frischrasierten Wange. Wir umarmen uns, er geht zur Passkontrolle, ich schaue ihm hinterher: Er trägt seine Lederjacke (er wollte sie nicht dalassen, sie piept bei jedem Metallrahmen), einen schweren Rucksack, er reckt seinen Hals – mein Kleiner, mein kleiner großer Junge. In jenen Minuten, die er vor der Kabine auf seinen Pass wartete, wusste ich nicht, was ich mehr wollte: dass man ihn durchlässt, oder dass man ihn mir zurückgibt. Wir würden es schon irgendwie schaffen. Ich würde ihn einfach auf der Datscha verstecken …
Sie gaben ihn mir nicht zurück. Ich saß alleine im leeren Flughafencafé, trank Bier und bewegte mich zwei Stunden lang nicht vom Fleck. Ich bestellte das Taxi erst, als er im Flugzeug saß.
Eine Woche später, als er sich in Montenegro eingerichtet hatte, antwortete Timofej auf die Frage, wie es ihm geht: „Ganz ok, außer dass ich aus meinem Leben gerissen wurde.“ Ich sagte: „Du wurdest nicht herausgerissen, sondern dieses Leben existiert nicht mehr.“
Aus Gewohnheit nehme ich im Supermarkt zwei Brötchen für meine zwei Jungs mit. Dann erinnere ich mich wieder und lege eins zurück. Meine Freundin hat sich einen Alarm eingerichtet, um mich jeden Tag auf Telegram zu erinnern: „Du hast alles richtig gemacht.“
Ich brachte meinen Ältesten, Timofej, in der Nacht vom 3. auf den 4. März zum Flieger nach Belgrad, mit einem langen Aufenthalt in Dubai. In dieser Nacht verstand ich, dass ‚Mir zerreißt es das Herz‘ keine Metapher ist
18. März – Scham
Meine lustige Haushaltshilfe Natascha kommt. Alle meine Freunde und Freundesfreunde kennen die absurden Natascha-Geschichten und den Spruch „und dann kam Natascha“. Sie putzt sehr schnell und ordentlich, plappert pausenlos, kommt niemals pünktlich, und man könnte eine endlose Slapstick-Komödie über sie drehen.
Natascha kommt aus der Ukraine, aus Iwano-Frankiwsk. Vom ersten Tag an schrieb sie mir auf WhatsApp. Fragte, was jetzt wird. Was wir jetzt tun sollen. Das kann doch nicht sein? Echte Truppen? Und was ist mit der Grenze? Wie komme ich nach Hause? Und wenn ich hier bleibe? Was soll ich tun, Xenia? Was mache ich jetzt? Da sind doch meine … Was, was, was wird jetzt sein? Sie fragte mich nach einem Vorschuss, damit sie ihrer Mutter so viel wie möglich überweisen konnte, ich gab ihr das Geld natürlich.
Jetzt fragt mich Natascha jedes Mal, wenn sie kommt: „Weinen Sie wieder, Xenia? Lassen Sie uns nicht weinen.“ Und wischt sich selbst die Tränen ab, wenn sie gerade telefoniert hat. Sie hat verstanden, dass sie nirgendwohin kann, dass sie hier festhängt, aber wenigstens fallen hier keine Bomben … Wir nehmen uns jetzt in den Arm, obwohl ich vor dem Krieg Distanz gewahrt habe. Ihre Mutter hört die Bomben. Natascha hört sie auch, wenn sie sie anruft.
Bekannte, Freunde oder Verwandte in der Ukraine hat in Russland fast jeder. Man schämt sich zu sehr, um zu fragen, wie es ihnen geht. Aber nicht zu fragen, schämt man sich noch mehr. Jedes Mal muss ich mich überwinden, um die Frage bei WhatsApp oder Facebook zu stellen. Die Antworten lauten in etwa: „Ich bin wieder in Kyjiw, in Sicherheit, wobei das relativ ist: Luftangriffe, Raketenbeschüsse, russische Untergrundkämpfer und all die anderen Herrlichkeiten, die der Krieg so mit sich bringt“, „Wir sind okay, heute Nacht nur drei Stunden im Bunker“ (Lwiw, eine junge Frau mit vierjähriger Tochter), „Ich war im besetzten Gebiet, jetzt bin ich in Kyjiw“. Nicht ein böses Wort, obwohl ich darauf gefasst war. Nur Großherzigkeit. Ich möchte da einfach nur heulen – also heule ich.
Einer von „meinen“ Ukrainern ist Geistlicher. Er erzählt mir auf Facebook, wie ein gemeinsamer Bekannter am Tag zuvor über einen humanitären Korridor aus besetztem Gebiet nach Hause zurückkehrte und wie er davor zwei Wochen ohne Strom, Wasser und Kontakt zur Außenwelt verbracht hatte. Ich sage: „Passen Sie bitte auf sich auf, wir müssen uns unbedingt wiedersehen.“ Und er: „Wir sehen uns ganz sicher wieder, wir werden die ganze Ewigkeit haben, um miteinander zu sprechen“ – „Ich würde es aber im Diesseits bevorzugen“ – „Ich auch. Christus ist unter uns.“ Und ich denke: Glaube ich daran gerade?
Und so liege ich hier auf meinem Bett in Moskau, neben mir schnurrt mein warmer Kater, den ich in zwei Wochen verlassen werde, um mich herum mein Zuhause, von dem ich mich in jeder Sekunde verabschiede. Und er sitzt in seinem Zuhause in Kyjiw, jederzeit gefasst darauf, einen Luftalarm zu hören und ins Versteck zu rennen. Zwischen uns ist das Facebook-Fenster, ich sehe seine Antworten grau und er meine. Kann Christus wirklich unter uns sein? Das ist unbegreiflich, aber andererseits – wo sollte Er sonst sein?
Wir kommunizieren über Telegram und Signal. Wir besprechen Luftangriffe, Gefangene, besetzte Gebiete, Einkesselungen, Flüchtlinge. Die Digitalisierung kollidiert auf merkwürdige Weise mit der Archaik. Wie kann es in der digitalisierten Welt Kriege geben? Krieg – das ist doch etwas Mittelalterliches, Chthonisches. Im Krieg gibt es dreieckige Frontbriefe, Funker, Telegramme, schwarze Lautsprecher mit Juri Lewitans Stimme, im besten Fall einen Fernseher. Aber nun wird auf Facebook von Bombenschutzbunkern und Splitterverletzungen berichtet.
Bekannte, Freunde oder Verwandte in der Ukraine hat in Russland fast jeder. Man schämt sich zu sehr, um zu fragen, wie es ihnen geht. Aber nicht zu fragen, schämt man sich noch mehr
20. März – Alles ist jetzt strafbar
Am 4. März, da war Timofej noch auf Zwischenstopp in Dubai, trat ein Gesetz gegen Fake News in Kraft. Dazu schreibt mein Freund Ilja Ber später: „Ich habe mir im Vorhinein überlegt, wann es mir zu viel wird. Jetzt.“
Mir wurde auch ganz leicht, leer und haltlos zumute. Als wäre ich ein Luftballon, bei dem man die Schnur durchschneidet. Jetzt war die Klarheit da. Ich kann ganz objektiv hier nicht mehr leben, ich habe keine Wahl mehr.
Journalismus, journalistische Ausbildung, Medienkompetenz – das alles ist jetzt strafbar.
An den zwei Universitäten, an denen ich arbeite – an der Schaninka und an der RANCHiGS – begannen Diskussionen, ob das Gesetz gegen Fake News denn anwendbar sei auf das, was die Lehrenden in den Hörsälen sagen. In der Schaninka trafen wir uns und besprachen die Risiken. Ich sagte, dass erstens mehr als die Hälfte der Lehrenden, alles Journalisten, weggegangen seien, und dass es zweitens keine Redaktionen mehr gebe, in denen die Studenten ein Praktikum machen könnten – alle waren entweder geschlossen oder von Roskomnadsorgesperrt oder zumindest als „ausländischer Agent“ deklariert oder überhaupt eine schillernde Kombi aus allen drei Versionen. Und der Inhalt des Studiums selbst ist strafbar geworden: Jeder zweite Lehrende fällt unter einen Paragrafen des Strafgesetzbuchs, sobald er den Mund aufmacht, und durch die Bank weg jeder von ihnen bringt den Studenten etwas bei, das sie bei gewissenhafter Erfüllung auf die Liste der „ausländischen Agenten“, in die Haftanstalt oder gar in die Strafkolonie bringt.
Die Urgesteine an unseren Unis rieten uns, „auf die Theorie auszuweichen“, den Großteil der Fächer theoretisch zu lehren, ohne irgendeinen „Aktualitätsbezug“. Aber das geht nicht. Der Lehrplan ist ein rechtsbindendes Dokument, in das man nicht nachträglich Änderungen einbauen kann. Und vor allem: Strafbar ist nicht nur der Inhalt, das wäre wirklich halb so wild, sondern sind die Methoden selbst! Informationen verifizieren, Quellen prüfen, alle Konfliktparteien abbilden, Beweise suchen, alles in Zweifel ziehen – das ist das Wesen, die Grundlage unseres Berufs. Und genau das ist jetzt unmöglich geworden – in der Praxis wie in der Lehre. „Ziehen Sie wenigstens noch dieses eine Semester durch“, bittet mich die Leitung der RANCHiGS, als ich ihr meine Argumente vorlege. Immer dieses Ziehen und Zerren.
Sieben Jahre habe ich diese Lehrpläne entwickelt und alles aufgebaut, wir hatten mit einer Gruppe von zehn Studenten begonnen, und jetzt sind es mehr als 500. Und dutzende Lehrende, darunter die besten Journalisten Russlands. Ich habe ein großes, lustiges Team – ich liebe es, Menschen zusammenzubringen, die ich gut finde, damit wir gemeinsam etwas Tolles machen. Wir hatten so viele Ideen und konnten das eine oder andere sogar umsetzen.
Der Niedergang begann schon im Herbst [2021], als unser Rektor Sergej Sujew aufgrund einer fingierten Anklage wegen Betrugs eingesperrt wurde. Schon damals erstarrten wir, duckten uns und hielten uns die Ohren zu. Ich ging zu den Gerichtsverhandlungen, las die Akten, schrieb interne Texte, nahm an strategischen Diskussionen teil, versuchte zu verstehen und zu helfen. Wir hielten uns alle aneinander fest und bemühten uns, einander im Auge zu behalten. Wir wurden mit Ermittlungen und staatsanwaltlichen Überprüfungen überschüttet. Sogar die Diplomarbeiten der letzten Jahre und die wissenschaftlichen Publikationen unserer Mitarbeiter wollten sie sehen.
Aber das Schlimmste ist, einem Menschen, der in U-Haft langsam, aber sicher umgebracht wird, über das Briefsystem der Strafvollzugsbehörde eine Nachricht zu schreiben. Und er schreibt zurück, versucht sogar zu scherzen, und du liest den handgeschriebenen Brief, den der Zensor fotografiert und als JPG geschickt hat, und du weißt, dass die Hand gezittert hat, dass die Kraft zu schreiben schwindet.
Schon damals war klar, dass wir nicht lange durchhalten werden. Aber wir wollten noch kämpfen, noch irgendwas retten, uns Umgehungsmanöver ausdenken. Zumal Sergej Sujew uns bei unserem letzten Treffen gebeten hatte, „an der Routine festzuhalten“.
Jetzt ist das endgültige Ende gekommen. Das Huhn ist schon geköpft, aber es rennt noch herum und verspritzt sein Blut.
Eine Predigt des Priestermönchs Giovanni Guaita, die seine Zuhörer auf YouTube gestellt haben, dauert 30 Sekunden: „Heute gedenken wir der Enthauptung des Heiligen Johannes. Johannes der Täufer war ein Prophet, der mit dem Leben dafür bezahlte, dass er die Wahrheit sagte. Es ist sehr tragisch, wenn wir eine solche Angst davor haben, die Wahrheit zu sagen, dass wir bereit sind, alles zu verlieren, um nur ja nichts zu riskieren. Amen.“
Jetzt ist das endgültige Ende gekommen. Das Huhn ist schon geköpft, aber es rennt noch herum und verspritzt sein Blut
23. März – Anschwärzen
Am 16. März erhielt der Rektor der RANCHiGS eine „Darlegung“ der Staatsanwaltschaft, in der es hieß, dass die Studienpläne unserer Fakultät Liberal Arts der Verfassung und „den Strategieprinzipien der nationalen Sicherheit der Russischen Föderation“ widersprächen und „auf eine Zerstörung der traditionellen Werte der russischen Gesellschaft und auf eine Verfälschung der Geschichte“ abzielten. In der Schaninka traf genau dasselbe Dokument der Staatsanwaltschaft ein.
An den Universitäten finden Versammlungen mit Studierenden statt, bei denen Lehrende und Beamte „in Zivil“ erklären, worauf jetzt zu achten sei. Auch bei uns gab es für die Studierendenvertreter Vorträge zum Thema „geopolitische Aufklärung der studentischen Jugend und Orientierung bei aktuellen Herausforderungen und Gefahren im Bereich der Informationssicherheit“. Sofort spülte es jene Mitarbeiter nach oben und an die Macht, die schon früher versucht hatten, die Studierenden unter Druck zu setzen und zu manipulieren, die aber in der Minderheit gewesen waren. Natürlich ließen die Studierenden dem Medium DoxaZitate aus dieser Versammlung zukommen, die besagten, dass die Leitung der RANCHiGS den russischen Präsidenten rückhaltlos unterstütze und man wachsam sein solle vor dem Hintergrund des Cyberkriegs und der Verbreitung von Russophobie. Was so viel heißt wie: Man soll die Lehrenden anschwärzen.
Schon am nächsten Tag kamen E-Mails von Studenten. Das sind natürlich historische Dokumente. Ich speichere Screenshots davon.
„Ich schreibe Ihnen, weil ich Sie warnen möchte: Eine Studentin am Institut für Soziologie will Beschwerde einreichen (Denunziation) über Ihre Haltung und darüber, was Sie in den Vorlesungen vermitteln. Ich weiß nicht, ob sie es durchzieht, aber ich möchte Sie auf jeden Fall wissen lassen, dass es unter den Studierenden schon welche gibt, die zu solchen Denunziationen bereit sind.“
Sofort spült es jene Mitarbeiter nach oben und an die Macht, die schon früher versucht hatten, die Studierenden unter Druck zu setzen und zu manipulieren, aber in der Minderheit gewesen waren
27. März – Gehen oder Bleiben
Als ich mir einen Hund anschaffte, war mir absolut bewusst, was das für eine Verantwortung ist.
Ich holte Ingrid zu mir, als ich ein stabiles Leben und Pläne hatte: Datscha, Auto, verlässliche Arbeit – und das jahrein, jahraus. Wir gingen täglich zwei Stunden spazieren – eine Stunde morgens, eine Stunde abends. Ich konnte meinem Hund ein schönes, glückliches Leben bieten. Jetzt kann ich das nicht mehr. Wahrscheinlich muss ich in den nächsten Monaten (Wochen?) doch noch das Land verlassen. Natürlich nur, wenn die Grenzen offen bleiben und sofern kein Wunder geschieht.
Das bedeutet nicht nur, dass ich Ingrid wahrscheinlich im Gepäckraum eines Flugzeugs unterbringen werde müssen, sondern ich werde sie auch in meinem Vagabundenleben hinter mir herschleifen müssen. Arbeit und Wohnung werden wir nicht mehr haben.
Ich beantrage die Dokumente, bespreche mich mit allen. Bloß zuhause ist alles wie immer. Mein jüngerer Sohn und ich wohnen zu zweit in der Wohnung, in der sich nichts verändert hat, nur viel leiser ist es jetzt. Meine fünfzig Zimmerpflanzen stehen an ihren Plätzen, im Frühling steht das große Umtopfen auf dem Plan. Kescha, der Gecko, raschelt wie immer nachts in seinem Terrarium. Wieso noch mal wegfahren? Und wohin?
Wiener Juden in den 1930ern. Acht-Zimmer-Wohnungen, Klaviere, Schulkinder, Spaziergänge in den Parks. Auch sie sagten: Wo sollen wir denn hin? Unser gewohntes Leben passiert hier. Wie sollen wir das alles zurücklassen? Dann war es zu spät. Im Versuch zu bleiben, wollen wir die Vergangenheit festhalten, denn die Gegenwart ist zu schrecklich, und eine Zukunft gibt es nicht.
Wir bleiben nicht lange. Nur ein paar Monate. Wir warten ab und kommen zurück. Die nächste Falle.
Die Russen flohen nach der Revolution ebenfalls, nach Harbin, Konstantinopel, Prag, Belgrad, Paris, Berlin – um abzuwarten. Sie lebten jahrzehntelang ein temporäres Leben und starben als Fremde. Wieso sollte es diesmal anders sein?
Andererseits, wie können wir erkennen, dass das auch mit uns passiert? So richtig echt? Wenediktow hat kürzlich irgendwo auf YouTube gesagt: „Im Geschichtsbuch zu leben ist eine Katastrophe.“ Es passiert was, etwas Unsichtbares, Unhörbares, Ungreifbares. Du klappst den Laptop zu – und weg ist es. Aber davon, dass ich meinen Laptop zuklappe, hören die Menschen in Mariupol nicht auf zu sterben, das Gericht in Twer erstarrt nicht wie ein Meereswesen und erklärt Facebook so oder so für „extremistisch“.
Kürzlich war ich im Einkaufszentrum Afimall. Manche Geschäfte sind wirklich geschlossen. Aber generell ist die Stimmung nicht gedrückt. Wäre ich da aus meinem normalen friedlichen Leben hineingestellt und gefragt worden: „Was stimmt hier nicht?“ – ich hätte es nicht sofort bemerkt. Die Leute flanieren, shoppen, lachen, essen Eis. Musik spielt. Alles wie immer. Mir wurde ganz anders: Bin ich verrückt? Wieso habe ich mein Kind weggeschafft und ihm Wohnung, Studium und Freunde weggenommen? Was soll das, meinen zweiten Sohn mitten im Schuljahr zu verschleppen? Sieh mal, ist doch alles in bester Ordnung, nichts anders als sonst? Ich bin die einzige, die herumschleicht wie ein Geist und den Leuten ins Gesicht schreien will: „Versteht ihr nicht?! Wisst ihr nicht, was da läuft?!“
Am Morgen war ich mit dem Hund draußen und traf einen Jungen aus dem Nachbarhaus, den Sohn eines berühmten Rockmusikers, mit seinem Mops. „Oh“, sage ich, „ihr seid noch da?“ (Er hatte mal seine israelische Staatsbürgerschaft erwähnt.) „Wissen Sie, ich bin Banker, da ist in Israel die Konkurrenz sehr hoch, das ist mir zu riskant. Ich stecke mir lieber ein Z ans Revers, wenn’s sein muss, aber sonst treib ich keinen Aufwand.“ Noch hat ihn niemand dazu aufgefordert, und vielleicht wird das auch niemand tun, aber mental hat er seine Entscheidung schon getroffen! Kürzlich hat eine Bekannte zu meiner Freundin gesagt: „Ist mir scheißegal. Was ich denke, geht keinen was an, und wenn ich ein Z malen soll, mach ich das eben.“ Sie werden Zs malen. Und sich Zs ans Revers stecken.
Alles wie immer. Mir wurde ganz anders: Bin ich verrückt? Ich bin die einzige, die herumschleicht wie ein Geist und den Leuten ins Gesicht schreien will: ‚Versteht ihr nicht?! Wisst ihr nicht, was da läuft?!‘
28. März – Camouflage
Ich wohne neben der Frunse-Militärakademie und gehe jeden Tag mit meinem Hund daran vorbei. Im Februar/März ist dreimal wöchentlich morgens die Durchfahrt über das Dewitschje-Feld gesperrt: Marschkolonnen proben für die Parade zum 9. Mai. Mit Blasorchester, Trommeln, roten Flaggen. Das massive Gebäude der Akademie ziert ein Turmsockel, auf dem ein Schützenpanzer steht und in dem mit monumentaler Schrift ein Stalin-Zitat eingemeißelt ist – ohne Namenszeichen, als wäre es eine Volksweisheit: „Kein Fußbreit fremder Erde wollen wir, aber auch kein Handbreit unseres Bodens geben wir her.“
Da marschieren sie also mit roten Flaggen unter diesem Schriftzug. In den Pausen sitzen sie im Park verstreut auf den Bänken und tippen in ihre Handys, kaufen sich was im Supermarkt Pjatjorotschka, schlendern durch die Alleen. Das ganze Viertel ist in Camouflage. Und ich gehe immer wieder an ihnen vorbei. Manchmal versuche ich, in ihren Gesichtern zu lesen, ob sie Angst davor haben, in die Ukraine zu müssen? Denken sie sich überhaupt irgendwas? Wollen sie töten? Kann ein Mensch töten wollen? Auf Telegram lese ich: das Theater in Mariupol, das zerstörte Charkow, Irpen, Sumy, Nikolajew, Cherson. Kein Fußbreit fremder Erde wollen wir.
Manchmal versuche ich, in ihren Gesichtern zu lesen, ob sie Angst davor haben, in die Ukraine zu müssen? Denken sie sich überhaupt irgendwas? Wollen sie töten? Kann ein Mensch töten wollen?
30. März – Goliaths Sieg
Letzten Herbst habe ich meinen Journalismus-Studenten zum ersten Mal eine Vorlesung über Dissidenten gehalten. Am 24. Februar 2022 musste ich natürlich sofort an den 21. August 1968 denken, daran, was meine ältere Freundin Lena Dorman, die Tochter der Dissidenten Veronika Turkina und Juri Schtein, erzählt hat. Wie sie und ihre Mutter da gerade in der Tschechoslowakei waren, wie sie weinten vor Scham und wie schlimm es war, nach Hause zu fahren, wie die Tschechen sie trösteten: „Wir wissen ja, dass das nicht ihr seid.“ Und weiter Panzer, Panzer, Panzer.
Das war für mich eine sagenhafte, fast mythische Geschichte. Die ich immer als Sieg Davids über Goliath verstand, die davon erzählt, wie es nach der finstersten Finsternis wieder Licht wird, wenn man sich nur nicht von seinem Weg abbringen lässt: Die Gefängnistore öffnen sich, die Eisernen Vorhänge und Berliner Mauern fallen, und nur Brodsky will nicht zurück nach Hause.
All diese Jahre habe ich in der festen Überzeugung gelebt, dass das eine Geschichte mit Happy End ist und wir in der Zeit danach leben. Ein langweiliges Leben, ohne Heldentaten. Auf ihren Schultern.
Und plötzlich finde ich mich in einer Umarmung mit Lena Dormans Tochter Anja in Lenas Küche wieder. Wir zittern. Wir wischen uns nicht mal mehr die Tränen ab, lassen sie einfach laufen, und niemand achtet mehr darauf. Anja fliegt übermorgen mit ihren Kindern weg. Wir fragen einander immer wieder: „Wie nur? Wie konnte das passieren? Uns?! Und was ist es eigentlich, was da passiert ist? Hat es überhaupt einen Namen?“
Und da wird mir klar, dass wir es noch übler erwischt haben als die Titanen. Mariupol, Wolnowacha, Irpen, Millionen Menschen ohne Dach über dem Kopf, Millionen Familien ohne Väter. Das ist das Fegefeuer, bei uns ist die Hölle.
Und sollte ich irgendwann einmal wieder irgendwelchen Studenten von Dissidenten erzählen, dann wird das ungefähr so klingen: „Für die damalige Generation war der Einmarsch der sowjetischen Truppen in die Tschechoslowakei, die russischen Panzer in Prag so wie für euch die Bombardierung von Charkow. Nur dass damals etwas mehr als hundert Menschen ums Leben kamen und nichts zerstört wurde.“
Am Ende hat also doch Goliath gesiegt.
Wir wischen uns nicht mal mehr die Tränen ab, lassen sie einfach laufen, und niemand achtet mehr darauf. ‚Wie nur? Wie konnte das passieren? Uns?! Und was ist es eigentlich, was da passiert ist? Hat es überhaupt einen Namen?‘
1. April – Steh auf und geh! Ertrag es nicht!
„Lass alles hier und folge mir.“ „Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden, wo sie die Motten und der Rost fressen und wo die Diebe nachgraben und stehlen.“ „Ich bin ein Gast auf Erden; verbirg Deine Gebote nicht vor mir …“
Nicht, dass ich früher nicht gewusst hätte, dass einem letztlich nur die Hoffnung auf Gott bleibt und nicht „auf die Fürsten, auf die Söhne der Menschen“. Oder gar keine Hoffnung – auch eine Option. Nackt kommt ihr auf diese Welt und nackt geht ihr. Doch nie zuvor habe ich mich so als Jüdin empfunden wie jetzt. Ich höre die Stimmen meiner Großmütter und meiner Urgroßväter, die Rabbiner waren und mich jetzt anfeuern: Auf und los! Ertrag es nicht! Sieh nicht zurück! Weine, heule, beiß die Zähne zusammen und renn! Und mein schweigsamer griechischer Großvater nickt zustimmend: Fremdling wurdest du getauft – geh und erfüll deine Vorsehung, ein Engel behüte deinen Weg.
Ich stehe auf und gehe. Ich gehe durch mein Zuhause, in dem ich 15 Jahre gewohnt habe, und streiche über die Wände. Ich lege mich auf meinen schönen Holzfußboden und liege da, als wäre er die Erde, die mir Kraft gibt. Ich sortiere meine Tischtücher und Geschirrtücher im Schrank, stelle Tassen und Teller um – die haben wir aus Korfu mitgebracht, und das ist polnisches Porzellan, und das meine zwei liebsten Weingläser aus der Glasbläserei im spanischen Biota. Ich lege mich auf mein Bett, mal der Länge nach, mal quer, rolle mich bis zur Nasenspitze in meine Decke ein – wie viel Kummer habe ich da hineingeweint, wie oft eine Bronchitis und Ohrenschmerzen, wie viele Migränen und Kater darin auskuriert. Nein, nein, ihr sollt nicht Schätze sammeln auf Erden, bindet euch nicht, denn das ist kein Anker, sondern ein Wackerstein um den Hals, ein Betonklotz am Bein – den man sprengen, absäbeln, zerhacken, zerreißen muss.
Meine Heimat – das ist der Sommer im Dorf auf der Datscha. Das heiße Flimmern über den Wiesen, die würzige, von Kräuterduft gesättigte Luft, der staubige Wegerich entlang der Feldwege und die Kletten an den kurzen Hosen. Letzten Sommer fuhr ich nach dem Lockdown in mein Dorf und lag jeden Tag im Gras am Teich.
Keine Spuren der Zeit – keine Stromleitungen, kein Straßenlärm, kein Müll. Ich lag da und dachte darüber nach, dass sich hier absolut nichts verändert hatte seit … seit wem eigentlich? Welche Stämme lebten früher auf dem Gebiet des heutigen Zentralrussland, sagen wir mal zwischen Oka und Dnjepr?
Seit ich 13, 16, 25 bin, war hier der Juli immer gleich – eine schon trockene Wiese voll fliederfarbener Blümchen, ein Birkenhain, eine staubige Straße den Feldrain entlang, weiter hinten Kiefern, dicke und dünne Libellen.
Jetzt werde ich nicht mehr hier sein. Der Teich, die Wiese, die Walderdbeeren, die Kornblumen und die Rufe der Vögel hoch am Himmel werden wiederkommen. Auf meiner Terrasse wird meine alte Mama abends die orange Lampe anzünden, und die Nachtfalter werden an die Fenster klopfen.
Am 7. April hat Xenia Lutschenko Russland über die Grenze Iwan-Gorod/Narwa nach Estland verlassen.
Dieses Material ist Teil des Projekts Dunkle Zeiten, helle Nächte des Goethe-Instituts in Kooperation mit dekoder
Seit Februar 2017 ist die russische Medienszene um einen YouTube-Kanal und Medienstar reicher. vDud (rus. „вДудь“) heißt das Interview-Projekt des Sportjournalisten und Bloggers Juri Dud, das drei Jahre nach seinem Start über sieben Millionen Abonnenten und über 925 Millionen Aufrufe vorweisen kann. Der durchschlagende Erfolg des Projekts lässt die Novaya Gazeta bereits ein halbes Jahr nach Erscheinen des ersten Videos vom „Dud-Effekt“ sprechen. Dieser zeige sich vor allem darin, dass die Abwesenheit im russischen Staatsfernsehen immer stärker von Erfolg gekrönt sei. Und in der Tat: der Dud-Effekt wirkt, vor allem auf junge Menschen. Im April 2022 wurde Juri Dud auf die Liste der sogenannten „ausländischen Agenten“ gesetzt.
Der 1986 in Potsdam geborene Juri Dud hat seine Berufswahl bereits als Jugendlicher getroffen. Als sich sein Kindheitstraum, Fußballspieler zu werden, aufgrund chronischen Asthmas zerschlug, entdeckte er den Journalismus – nach der Prostitution der in Russland am leichtesten zugängliche Beruf, wie Dud witzelt.1
Als am 2. Februar 2017 der YouTube-Kanal vDud online ging, war der damals 30-jährige Dud bereits ein bekanntes Gesicht in der medialen Öffentlichkeit. Seine ersten Schritte im Journalismus hatte er schon als Kind gemacht: Mit elf schrieb er für eine Zeitung für Gleichaltrige, mit 13 absolvierte er ein Praktikum bei der Zeitung Segodnja. Bereits mit 14 wurde er freier Mitarbeiter bei der Izvestia, bekam dort mit 16 eine feste Anstellung als Sportreporter und absolvierte parallel dazu ein Journalistikstudium an der Moskauer Staatlichen Universität. Er war als Sportreporter für mehrere Fernsehsender wie NTW-Pljus, Rossija 2 oder Match TV tätig und von 2011 bis 2018 Chefredakteur des renommierten Internetportals Sports.ru. Für diese Medienauftritte wurde er 2016 und 2017 vom Männer- und Lifestyle-Magazin GQ – Gentlemen’s Quarterly zum „Mann des Jahres“ gekürt.2
Gegenpol zum Fernsehen
Die Erfolgsstrategien von Duds YouTube-Projektes sind einfach, transparent und unverhohlen kommerziell. Dies schmälert jedoch keineswegs seine gesellschaftliche und politische Relevanz und Brisanz. vDud ist als Gegenpol und Konkurrenz zum überästhetisierten und überregulierten staatlichen beziehungsweise staatsnahen Fernsehen konzipiert. Im Intro zu einer vDud-Spezialausgabe, die die „goldenen“ 1990er Jahre des Musiksenders MTV in Russland beleuchtet, formuliert Dud seine Kritik am heutigen Fernsehen explizit und schonungslos: „Wir sind es gewohnt, dass das Fernsehen eine Schande ist. Das wichtigste Massenmedium des Landes lügt, fügt Schaden zu, bereitet die Bevölkerung auf den Krieg vor und kommuniziert mit den Menschen in einer toten Komsomol-Sprache.“3
Mit dem Interview bedient Dud ein klassisches Fernsehformat, doch sein legeres Auftreten, sein Nicht-Still-Sitzen-Können und seine direkten Fragen – insbesondere in Bezug auf Geld, Vermögensverhältnisse und Sex – sind gerade ein Beispiel dafür, wie man es nach Lehrmeinung nicht machen sollte. Dennoch wirkt er, wie ihm wohlgesonnene Kritiker immer wieder bescheinigen, gut vorbereitet auf seine Gesprächspartner, stimmt die Fragen gezielt auf sein Gegenüber ab und nimmt sich die Zeit, die er für angemessen hält (die Dauer eines Interviews beträgt zwischen 40 Minuten und 2 Stunden).
Das Interview-Setting ist minimalistisch, die Kamera meist statisch auf die beiden frontal einander gegenübersitzenden Gesprächspartner gerichtet. Abgesehen von nur wenigen, kurz eingespielten Standbildern oder Videoclips und einer alternierenden Position, die die Gesprächspartner im Stehen zeigt, liegt die Konzentration auf dem Interview selbst.
Tabubruch und Freiheit
Tabubrüche gehören zu Duds grundlegenden Erfolgsstrategien, doch sie sind gemäßigt, wohldosiert und wohlkalkuliert. Sie ziehen die mediale Aufmerksamkeit auf sich – ähnlich wie in das Videobild eingeblendete Schlagwörter oder zentrale Aussagen und „starke“ Ausdrücke der Interviewpartner die Aufmerksamkeit der Rezipienten wecken. Bereits der Titel des Kanals spielt mit einem Sprachtabu, steckt darin doch nicht nur der Nachname seines Schöpfers, sondern auch das Thema Sex, über das dieser so gerne spricht (vdut’ ist gleichbedeutend mit dt. „durchficken“).
Während die Unterhaltungsprogramme und Talk-Shows in den großen russischen Fernsehkanälen immer pompöser, gleichförmiger und starrer werden, vermitteln bereits die Anordnung und der Ablauf von Duds Interviews den Eindruck des Ungezwungenen und Spontanen. Der YouTube-Kanal vDud und sein Schöpfer strahlen Freiheit aus – die Freiheit, sich nicht an Sprachkonventionen halten zu müssen und die russische Vulgärsprache Mat nach Lust und Laune verwenden zu können (was insbesondere für die Interviewpartner gilt). Die Freiheit, politisch brisante und gesellschaftlich tabuisierte Themen diskutieren zu können und schließlich die Freiheit, die Interviewpartner unabhängig von politischen Vorgaben auszuwählen.
Waren es am Anfang hauptsächlich noch Vertreter der Musikszene (den Auftakt bildeten die Rapper Basta und L’One sowie der Punk-Rock-Star Sergej Schnurow), die er interviewte, so weitete Juri Dud den Personenkreis sehr schnell auf ausgeprägte Persönlichkeiten des kulturellen Lebens, der Medienszene und sogar der Wissenschaft aus. Unter den Gästen der regelmäßigen Interviews finden sich der Chefredakteur von Radio Echo Moskwy Alexej Wenediktow, der Fernseh-Interviewer Nummer eins Wladimir Posner oder der ehemalige Fernsehmoderator Sergej Dorenko.
Duds Auswahl der Gesprächspartner zielt immer wieder auch darauf ab, Persönlichkeiten in die mediale Öffentlichkeit zurückzuholen, die die russischen Staatsmedien mit einem Bann belegt haben. Dies gilt für Alexej Nawalny genauso, wie für Michail Chodorkowski. Gleichzeitig finden sich unter Duds Gästen aber auch Vertreter des politischen Establishments, wie Wladimir Shirinowski oder der Präsidentschaftskandidat der Kommunisten Pawel Grudinin, mediale Gallionsfiguren des patriotischen Lagers, wie der Regisseur Nikita Michalkow und der mächtige Medienmann Dimitri Kisseljow oder der ukrainische Fernsehmoderator Dimitri Gordon.
Im Präsidentschaftswahlkampf 2018 hat sich Juri Dud mit dem Kandidaten der Kommunisten getroffen und ihn über sein Verhältnis zu Stalin befragt
Ist die Rede von Interviewpartnern, so scheint die Verwendung der geschlechtsspezifischen männlichen Form hier durchaus adäquat, stellen weibliche Gäste doch die Ausnahme dar. So waren im Laufe der ersten drei Jahre nur wenige Frauen bei Dud zu Gast, unter anderem die Journalistin und Fernsehmoderatorin Xenia Sobtschak und die ehemalige Pussy Riot-Aktivistin und Performance-Künstlerin Nadeshda Tolokonnikowa.
Generationen verbinden
Die Auswahl der Gäste wie auch die Diskussionsthemen zeigen, dass Dud einerseits seine eigene Generation und vor allem junge Menschen ansprechen will, während er andererseits über seine Diskussionspartner die jüngere Vergangenheit des Landes ergründet. Das Interesse an der Zeit und den Personen, die ihn persönlich geprägt haben, verpackt er häufig in bewusst naive, mitunter provokative, jedenfalls aber ungewohnt direkte Fragen. Gerade dies verleiht den Interviews eine Lebendigkeit, Natürlichkeit und Aufrichtigkeit, die man im Fernsehen mittlerweile kläglich vermisst. Im Interview mit Chodorkowski lautete beispielsweise eine Frage, warum dieser damals, im Jahr 1996, – bei aller Wertschätzung für Boris Jelzin – auf einen „lebenden Leichnam“ gesetzt hätte.
Hipster und Volksaufklärer
Juri Dud vereint in seinem Internet-Auftritt verschiedene soziale Rollenbilder, die vor allem greifbar werden im Kontrast zu dem, was er nicht ist und nicht sein will. Den ideologisch deklarierten traditionellen Werten und dem politischen Patriotismus setzt Dud Weltoffenheit und liberale Werte entgegen, dem Zynismus der offiziellen Medienmacher Aufrichtigkeit, dem journalistischen Dilettantismus und Opportunismus Professionalität und Leistungsbereitschaft, dem radikalen Protest gemäßigte Kritik am System, dem antimaterialistischen Habitus der spätsowjetischen Intelligenzija Konsum und Markenbewusstsein. Rein äußerlich ist er ein Hipster mit perfekt gestyltem Haar, lässig gekleidet in Jeans, T-Shirt und Turnschuhen, das iPhone stets griffbereit.
Die größte Resonanz sowohl an Aufrufen wie auch in der öffentlichen Debatte erzielt Dud allerdings weniger mit den Interview-Ausgaben, als vielmehr mit Dokumentarfilmen über gesellschaftlich brisante Themen. Bereits im ersten Jahr erweiterte Dud das reine Interview-Format in Richtung eines Interview-basierten dokumentarischen Porträts, als er dem Schauspieler und Idol des ersten postsowjetischen Jahrzehnts Sergej Bodrow eine vDud-Ausgabe widmete. Dem folgten weitere Porträts über Kultur- und Medienschaffende der vergangenen Jahrzehnte, die für ganze Generationen prägend waren, etwa über den Kultregisseur Alexej Balabanow oder über Oleg Tabakow, einen der bekanntesten sowjetischen Schauspieler seit der Tauwetterzeit.
Duds Interesse an diesen Persönlichkeiten ist stets von Fragen der Gegenwart und der subjektiven Wahrnehmung seiner Generation motiviert. Zu seinen besonderen Stärken zählt dabei, das Charakteristische der jeweiligen Person im Intro der einzelnen Folge konzis zu formulieren. Im Fall von Oleg Tabakow etwa die Verbindung von Konservatismus und Interesse für das Neue, im Fall von Balabanow die Liebe zu Russland bei gleichzeitiger Kritik. Auf diese Weise – und unabhängig vom Format – enthüllt Dud mit jeder Ausgabe ein weiteres kleines Stück seiner Lebenshaltung und seines Verständnisses von Gesellschaft, Politik und Geschichte. Man könnte auch sagen, er arbeitet kontinuierlich an seiner Rolle als moralisches Vorbild, Volksaufklärer und Volksbildner im YouTube-Format.
Am deutlichsten kommt diese Rolle in drei thematisch fokussierten Dokumentarfilmen zum Ausdruck: in Kolyma – rodina naschego stracha (Kolyma – Heimat unserer Angst), Beslan. Pomni (dt. Beslan. Gedenke) und WITSCH w Rossii (dt. HIV in Russland). Die Grundfragen, die er in diesen Filmen stellt, sind so einfach wie erhellend, so selbstverständlich für die Aufgeklärten wie eine wahre Entdeckung für die Nichtwissenden. Kolyma, der Inbegriff des stalinistischen Gulag, soll vor allem jenen als Entdeckung dienen, die noch nie etwas vom Stalinterror gehört haben – laut einer Umfrage betrifft das fast die Hälfte der 18- bis 24-Jährigen in Russland. Im Fall von HIV geht es dagegen darum, die russische Gesellschaft allgemein und insbesondere junge Menschen über die Krankheit und über das Leben mit der Krankheit zu informieren.
Weltoffener russländischer Patriotismus
Solide journalistische Recherchen und ausgesprochen gut gewählte Interviewpartner sind in Duds Dokumentarfilmen gepaart mit starken, eingängigen Thesen. Die Hauptthese in Kolyma lautet, dass das (Über)Leben im Kommunismus zu einer Grundangst der Eltern- und Großelterngeneration geführt habe, die sich etwa in der Devise „Nur ja nicht auffallen!“ – „Ne wysowywaisja!“ – zeige. In Beslan rollt Dud die zeitliche Abfolge der Geiselnahme 2004 minutiös auf, um die Frage der politischen Verantwortung für die Katastrophe noch einmal aus heutiger Sicht und mit heutigem Wissensstand zu stellen und nicht zuletzt auch, um die Opfer ausführlich zu Wort kommen zu lassen.
In seiner Gesamtheit ist vDud ein gelungener Hybrid, in dem das alte Fernsehinterview mit seinem Fokus auf Gesprächsinhalte, die Fernsehdokumentation und das dokumentarische Porträt an die neuen ökonomischen Regeln und Bedingungen der digitalen Medien angepasst werden. Dud bewirbt in integrierten Werbespots Gadgets und Dienstleistungsangebote jeder Art und macht kein Hehl daraus, dass sich damit gutes Geld verdienen lässt. Damit inszeniert er sich als Vertreter einer westlich orientierten, dynamischen Pop- und Konsumkultur. Gleichzeitig macht die große öffentliche Resonanz des Projekts deutlich, dass Dud das Potenzial hat, gesellschaftlichen Konsens zwischen unterschiedlichen Gruppen und Positionen herzustellen – zwischen Alt und Jung, intellektuell und kommerziell, traditionell und liberal. Einem engstirnigen Nationalismus setzt er seine Vorstellung eines weltoffenen russländischen Patriotismus entgegen, indem er vermittelt, dass „die Welt groß und klasse ist“ und man sich daher besser als ein Teil dieser Welt definiert, „als sie misstrauisch durch den Zaun zu beäugen“.4 Im April 2022 wurde Juri Dud auf die Liste der sogenannten „ausländischen Agenten“ gesetzt.
vgl. Jurij Dud’ im Interview mit The Flow, 11.06.2016 oder zu Gast bei Ivan Urgant in der Fernsehshow Večernyj Urgant am 29.09.2017 ↩︎
Ein weiteres Mal bekam er diesen Preis im September 2019 verliehen. ↩︎