Am 9. September findet in Russland der sogenannte einheitliche Wahltag statt: Unter anderem sollen 26 Gouverneure neu gewählt werden. Während des Wahlkampfes in der Oblast Samara ist nun eine sogenannte „soziale Werbung“ aufgetaucht. Ebenso anonym wie ein Wahlwerbespot zur Präsidentschaftswahl 2018, sorgt auch diese Werbung derzeit für Aufruhr.
Dabei wirbt der Spot gar nicht für einen Kandidaten, offenbar soll er Menschen einfach dazu animieren, überhaupt zur Wahl zu gehen. Die Mittel dazu sind hier ähnlich wie bei dem berüchtigten Wahlwerbespot zur Präsidentschaftswahl – die Macher bedienen sich erneut homophober Ressentiments und reproduzieren gängige Klischees über Liberale („Liberasten“).
Die Frage, wer dahinter steckt, wird auch bei diesem Video vermutlich nie beantwortet. Viele munkeln, dass die Polittechnologen des derzeitigen technokratischen Interims-Gouverneurs Dimitri Asarow die eigentlichen Auftraggeber seien, Beweise für diese These bleiben allerdings aus.
Während des Wahlkampfes ist ein anonymer Wahlwerbespot aufgetaucht, der sehr schnell viral ging. Der Spot betont, wie wichtig es ist, wählen zu gehen. Geht man nicht, so zeigt der Film Folgen, vor denen der russische Wähler anscheinend Angst haben soll: Etwa ein Gesetz, dass jede Familie einen Schwulen in Pflege nehmen muss. Die Hauptfigur mimt der beliebte Komiker Sergej Burunow, der sehr bekannt ist aus dem Fernsehen.
Seit der Spot erschien, spekuliert das Netz: Wer war der Auftraggeber? Steckt gar Putins Wahlkampfstab dahinter?
Oleg Kaschin kommentiert aufRepublic, dass diese Frage im Grunde irrelevant sei, in jedem Fall könne man in dieser Art der Wahlwerbung die Handschrift des Staatsapparates erkennen. Der Spot sage viel darüber aus, wie sich der Staat den Durchschnittsrussen vorstelle, und in welcher Sprache er mit diesem kommuniziere:
[bilingbox]Die Sprache von Fernseh-Comedians eignet sich sich bestens für eine Wahlkampagnen-Ausschlachtung im Interesse Putins, unter anderem deshalb, weil die jetzige Epoche keinerlei eigene originelle Sprache hervorgebracht hat. Ein Defizit an Worten und Redeweisen sowie die Verarmung politischer Rhetorik in kritischem Ausmaß ist ein Fakt, als dessen leibhaftige Verkörperung die staatlichen Pressesprecher gelten können, allen voran Dimitri Peskow.
Über deren Stimme kommunizieren die Machthaber mit der Gesellschaft. Und diese Stimme ist nicht imstande auch nur irgendwas Überzeugendes hervorzubringen. Deswegen versammeln die Machthaber – wenn sie dem Volk etwas Ernstes mitteilen wollen (und die Wahlbeteiligung ist das Ernsteste, was es derzeit im Zusammenhang mit den Wahlen gibt) – Komiker und inszenieren mit deren Zugkraft parodistische Stücke.~~~Язык телевизионных юмористов лучше всего подходит для предвыборной эксплуатации в интересах Путина в том числе потому, что никакого другого собственного оригинального языка эта эпоха не произвела. Дефицит слов и интонаций, критическое обеднение политической риторики – факт, живым воплощением которого можно считать государственных пресс-секретарей во главе с Дмитрием Песковым. Их голосом с обществом разговаривает власть, и этот голос не в состоянии произнести ничего убедительного вообще, поэтому, когда власти нужно сообщить народу что-то серьезное (а явка же – это сейчас самое серьезное из всего, что связано с выборами), она собирает комических актеров и ставит их силами пародийный сценарий.[/bilingbox]
Zwei Stempel im russischen Pass, da steht es schwarz auf weiß: Pawel Stozko und Jewgeni Wojciechowski sind miteinander verheiratet. Das schwule Paar gab sich in Kopenhagen das Jawort, wie es viele homosexuelle Russen tun, ließ die Ehe aber in Russland anerkennen, was noch niemand versucht hat. In ihrem Fall ging es allerdings problemlos – zunächst. Im Fernsehsender Doshd erzählen sie von dem ungewöhnlichen Vorgehen und erklären ihre Beweggründe, die Ehe in Russland offiziell registrieren zu lassen.
Doch unmittelbar nach Publikwerden des ungewöhnlichen Falles, erklärte die Sprecherin des Innenministeriums Irina Wolk die Pässe für ungültig. Der zuständigen Behördenmitarbeiterin, die die Ehe anerkannt hatte, und ihrer Vorgesetzten werde gekündigt, so Wolk. Die Wohnung des Paares wurde belagert von Polizisten, die von ihnen verlangten, die Pässe herauszugeben. Zwischenzeitlich wurde der Strom abgedreht, um Druck auf sie auszuüben. Den beiden wurde eine „Ordnungswidrigkeit” vorgeworfen, nämlich das „vorsätzliche Beschädigen von Dokumenten“. Die Eltern von Pawel Stozko erhielten anonyme Drohanrufe, sogar die Polizei kam bei ihnen vorbei – ohne Durchsuchungsbefehl, unter dem Vorwand, es sei ein Verbrechen im Hof des Hauses begangen worden.
Vorwürfe, die gleichgeschlechtliche Ehe sei verboten in Russland, wo es das sogenannte Anti-Propagandagesetz gibt, sind allerdings haltlos. Das erklärte auch Jelena Lukjanowa, Professorin an der MGU und spezialisiert auf Verfassungsrecht, auf dem Radiosender Echo Moskwy: „Sie haben ihre Ehe in genauer Übereinstimmung mit dem russischen Familienrecht registrieren lassen, in dem nicht steht, welches Geschlecht die Bürger haben müssen, die ihre im Ausland geschlossene Ehe in Russland anerkennen lassen.”
Pawel Stozko und Jewgeni Wojciechowski jedenfalls haben inzwischen das Land verlassen. In einer Stellungnahme dazu schreibt das Russian LGBT Network, das Paar habe sich aufgrund des „großen Drucks“ zu diesem Schritt gezwungen gesehen.
Am 1. April veröffentlichte die unabhängige Novaya Gazeta einen Bericht darüber, dass in der russischen Teilrepublik Tschetschenien mehr als hundert Männer festgenommen worden seien. Viele davon seien misshandelt worden, der Zeitung seien außerdem die Namen von drei Todesopfern bekannt. Der Grund für die landesweiten Festnahmen sei die „nicht-traditionelle sexuelle Orientierung“ der Männer gewesen: ihre Homosexualität oder einfach der bloße Verdacht, sie seien homosexuell.
Die Massenfestnahmen seien auf einen Befehl zur „prophylaktischen Säuberung“ zurückzuführen, meint Elena Milashina, Investigativ-Reporterin der Novaya Gazeta. Sie betont, dass in Tschetschenien generell eine feindliche, geradezu aggressive Haltung gegenüber Homosexuellen herrsche, das offene Bekenntnis käme einem „Todesurteil“ gleich.
Reaktionen
Diese Haltung spiegeln schließlich auch Reaktionen von offizieller Seite:
Alwi Karimow etwa, Sprecher des tschetschenischen Machthabers Ramsan Kadyrow, bezeichnete den Artikel als „Lüge“ und „Desinformation“: „Man kann keine Leute verhaften oder unterdrücken, die es in der Republik gar nicht gibt.“
Jekaterina Sokirjanskaja von der NGO International Crisis Group, aber auch andere internationale Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch machten darauf aufmerksam, dass sich in Tschetschenien nur dann etwas ändere, wenn Moskau ein Machtwort spreche, Aufklärung fordere und zugleich den Informanten Schutz gewähre. Auch die Parlamentarische Versammlung desEuroparates gab eine Pressemitteilung heraus, in der sie die unmittelbare Aufnahme von Ermittlungen fordert, gleiches forderte unter anderem auch ein Sprecher des US-Außenministeriums.
Derzeit halten sich Russlands oberste Behörden allerdings zurück. Kreml-Sprecher Peskow empfahl den Betroffenen, vor Gericht zu gehen. Unmittelbar nach der Veröffentlichung hatte die tschetschenische Menschenrechtsbeauftragte Cheda Saratowa in einem Moskauer Radiosender gesagt, Homosexualität entspreche nicht der Tradition und den Werten Tschetscheniens. Ein Ermittlungsgesuch wegen einer solchen Tat würden sie gar nicht erst annehmen. Später nahm sie diese Aussage zurück: Sie habe nicht klar denken können, da sie „schockiert“ gewesen sei, angesichts der Tatsache, dass es Homosexuelle in Tschetschenien gebe.
In einem zweiten Artikel zum Thema veröffentlichen Elena Milashina und ihre Kollegin Irina Gordienko nun weitere Recherchen sowie einzelne Augenzeugenberichte und Protokolle von Betroffenen und Informanten.
Der Sender Radio Svoboda nahm die Artikel zum Anlass für eigene Recherchen zum Thema. Diese bestätigen die Berichte der Novaya Gazeta und weisen außerdem auf eine weitere Repressionswelle bereits Ende vergangenen Jahres hin.
Die Investigativ-Journalistinnen Elena Milashina und Irina Gordienko recherchieren beide seit Jahren im Nordkaukasus, werden dabei immer wieder massiv bedroht. Elena Milashina wurde 2012 nahe ihrer Wohnung in Moskau auf der Straße brutal zusammengeschlagen. Die Täter wurden allerdings nie gefunden.
Im vergangenen Jahr erhielt Elena Milashina für ihre investigative Arbeit den Free Media Award der Zeit-Stiftung und der norwegischen Stiftung Fritt Ord.
[Update vom 17. Januar 2019: Die Novaya Gazetaberichtet unter Berufung auf die NGO Russische LGBT-Netz von einer weiteren Verfolgungswelle gegen LGBT in Tschetschenien. Die genauen Umstände würden noch geprüft, ersten Anzeichen nach handelt es sich diesmal allerdings um Aktionen einzelner Polizisten, die nicht auf eine Initiative der obersten Staatsebene zurückgehen.]
Unser Artikel Ehrenmord, in dem wir über Massenverhaftungen und Tötungen von Tschetschenen berichteten, die der Homosexualität beschuldigt oder auch nur verdächtigt werden, stieß auf starke Resonanz.
Offizielle Vertreter der Republik Tschetschenien sprechen wie gewohnt von „Diffamierung“ und Verbreitung von „Gerüchten“. Der Pressesekretär des tschetschenischen Innenministeriums meinte, es handele sich um einen „schlechten Aprilscherz“.
Der Berater Ramsan Kadyrows in religiösen Fragen, Adam Schachidow, beschuldigte die Novaya Gazeta der „Verleumdung einer ganzen Nation“, und der tschetschenische Journalistenverband schlug vor, „die Mitarbeiter der Novaya Gazeta von nun an nicht mehr Journalisten zu nennen“.
Wobei alle, tschetschenische Beamte wie Parlamentsabgeordnete und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, einhellig die bloße Tatsache bestritten, dass es in der Bevölkerung Homosexuelle gebe. Und – gleichzeitig – feststellten: Für solche Leute sei Tschetschenien der falsche Ort. Überhaupt hätten sie kein Recht auf Leben.
Hotline des LGBT-Netzwerks
Zu dieser Zeit trafen unter der Adresse kavkaz[at]lgbtnet.org die ersten E-Mails ein; sie war vom russischen LGBT-Netzwerk in Kooperation mit der Novaya Gazeta und Rechtsanwälten aus Russland eingerichtet und am Tag vor der Publikation [des ersten Artikels Ehrenmord – dek] in Sozialen Netzwerken verbreitet worden. Menschen, die in Tschetschenien aufgrund ihrer sexuellen Orientierung verfolgt wurden, suchten über verschiedene Kanäle Kontakt [die Organisation veröffentlichte auch eine Telefonnummer – dek].
Manch einer konnte sich auf eigene Faust nach Europa absetzen und sammelt jetzt Informationen seiner Freunde, die in Tschetschenien geblieben sind. Ein anderer hat die Teilrepublik verlassen, hält sich in Russland auf und setzte sich von dort aus mit uns in Verbindung. Wieder ein anderer befindet sich in Tschetschenien und versteckt sich.
Zusammen mit Aktivisten des russischen LGBT-Netzwerks sind wir so an drei Zeugenberichte von Tschetschenen gekommen, die uns im direkten Gespräch erzählt haben, was mit ihnen passiert ist. Derzeit sind alle drei und auch ihre Familien in Sicherheit, außerhalb Russlands. Uns erreichten außerdem drei weitere Geschichten, deren Protagonisten entweder umgekommen sind oder sich in Tschetschenien verstecken (die Redaktion verfügt über Sprachmitteilungen eines der Untergetauchten – Elena Milashina).
Alle diese Berichte sind zu unterschiedlichen Zeiten eingetroffen, von verschiedenen Leuten, die in verschiedenen Regionen Tschetscheniens wohnten, aus unterschiedlichen sozialen Schichten kommen und untereinander nicht bekannt sind. Trotzdem gibt es in allen Berichten wiederkehrende Momente, die eine Chronik massenhafter Repressionen gegen Tschetschenen durchscheinen lassen, die der Homosexualität verdächtigt werden.
In dem vorigen Artikel [Ehrenmord, siehe oben – dek] stützten wir uns auf Aussagen unserer Informanten aus dem UFSB und dem Innenministerium in Tschetschenien. Sie brachten die Massenrepressionen gegen die tschetschenische LGBT-Community damit in Verbindung, dass Gay-Pride-Paraden in vier Städten des Kaukasus angemeldet worden waren. Die Anträge hatten Aktivisten des Online-Projekts GayRussia.ru Anfang März gestellt. Diese Anträge, die im Kaukasus sehr negativ aufgenommen wurden, provozierten allerdings die zweite Repressionswelle.
Es hatte nämlich schon eine erste gegeben.
Die begann für Tschetschenien ganz „traditionell“. Ende Februar wurde ein Mann festgenommen, der, nach Informationslage der Novaya Gazeta, unter Drogeneinfluss stand. Man muss wissen, dass in Tschetschenien nicht nur bei der Bekämpfung von Terroristen, Salafisten und Homosexuellen, sondern auch bei Drogensüchtigen und sogar Verkehrssündern die gleichen Methoden eingesetzt werden: Zuerst durchsuchen die Polizisten die Mobiltelefone.
Auf dem Handy des festgenommenen Drogenkonsumenten fand man Fotos und Videos freizügigen Inhalts sowie Dutzende Kontakte ortsansässiger Homosexueller. Diese Datensammlung war es, die die erste Welle von Festnahmen und Gewalt auslöste. Zu der Zeit, als der Projektleiter von GayRussia.ru, Nikolaj Alexejew, beschloss, den Kaukasus in seine russlandweite Aktion miteinzubeziehen, gab es in Tschetschenien schon Todesopfer. Doch die Welle war am Abflauen. Zumindest hatte man aus einer der geheimen Haftanstalten, die wirklich alle von uns Befragten erwähnten, jene Häftlinge bereits entlassen, die wegen Verdachts auf Homosexualität saßen, als der provokante Antrag der GayRussia-Aktivisten eintraf. Und jetzt – ist das Gefängnis wieder voll.
Geheimgefängnis in Argun
Von dem geheimen Gefängnis in der Stadt Argun hatten wir schon vor eineinhalb Wochen aus behördlichen Quellen erfahren. Das Gefängnis besteht aus mehreren Gebäuden, die offiziell leerstehen. In den 2000er Jahren befand sich dort eine Militärkommandantur, danach die Abteilung des Innenministeriums für den Bezirk Argun. Diese Abteilung ist jetzt woanders untergebracht, und die ehemalige Militärkommandantur (Adresse: Uliza Kadyrowa 99 b, Argun) wurde zu einer der vielen Stätten in Tschetschenien, wo Menschen im Geheimen festgehalten werden.
Zudem schickte uns ein Informant der Novaya Gazeta, der sich derzeit in Europa aufhält, ein Foto mit Polizisten darauf, dazu folgenden Kommentar: „Diese beiden (gemeint sind die Personen im Vordergrund – Red. Novaya Gazeta) begannen in Argun als erste, Männer mit nichttraditioneller Orientierung zu vernichten“. [im Original mit gravierenden orthographischen Fehlern – dek].
Dieses Foto fand die Novaya Gazeta dann auf dem Instagram-Account von Ajub Katajew, dem Chef des OMWD der Stadt Argun. Vor einer Gruppe tschetschenischer Polizisten sind zwei Männer gut erkennbar: Der Sprecher des tschetschenischen Parlaments, Magomed Daudow (besser bekannt unter seinem Spitznamen Lord), und der Chef des OMWD Argun Ajub Katajew. Das Foto wurde am 7. März auf Instagram gepostet.
Unseren Informanten zufolge, auch derer, die in Argun inhaftiert waren, war eben dieser Lord bei der Entlassung von Häftlingen und bei deren Aushändigung an Verwandte dabei.
Es lässt sich leicht feststellen, dass der tschetschenische Parlamentssprecher im Februar und März die ehemalige Militärkommandantur regelmäßig aufsuchte. Eine der einfachsten Methoden (aber lange nicht die einzige) ist es, Verbindungen von Daudows Handy mit Mobilfunkmasten aufzuzeichnen, unter deren Radius die Adresse Uliza Kadyrowa 99 b fällt. Dabei ist nicht zu vergessen: Das OMWD Argun befindet sich jetzt an einer anderen Adresse, dort wird von ganz anderen Mobilfunkmasten aus gesendet. Welchen Grund hatte Daudow, immer wieder an die alte Adresse zu fahren?
Unter den Festgenommenen waren viele ‚zufällige Opfer‘
Aus den Zeugenberichten, die der Novaya Gazeta und den Aktivisten des russischen LGBT-Netzwerks vorliegen, geht außerdem hervor, dass unter den Festgenommenen viele „zufällige Opfer“ waren. Die Handys der Verhafteten wurden absichtlich nicht ausgeschaltet: So gerieten alle Männer, die anriefen (auch mit komplett unschuldigen Anliegen), sofort in das Spinnennetz dieser Massenkampagne für die sexuelle Reinheit Tschetscheniens.
Auch sie wurden illegal verhaftet, geprügelt, mit Strom gefoltert, bestenfalls gegen enorme Summen freigelassen. Wir wissen von Situationen, in denen Verwandte im Schnellverfahren Wohnung und Besitz verkaufen mussten, um ihre Angehörigen zu retten.
Leider konnten nicht alle gerettet werden.
Zum aktuellen Zeitpunkt weiß die Novaya Gazeta von drei Todesfällen
Zum aktuellen Zeitpunkt weiß die Novaya Gazeta von drei Todesfällen. Diese sind von etlichen Zeugen gut dokumentiert und bestätigt worden (sowohl von Augenzeugen als auch von Informanten der Novaya Gazeta in den Strafverfolgungsbehörden Tschetscheniens).
Es gibt außerdem Hinweise auf ein mögliches viertes Todesopfer. Ob dieser Mensch noch am Leben ist, kann nur das russische Ermittlungskomitee feststellen. Doch über all die Jahre, in denen wir dem Ermittlungskomitee Verbrechen melden, haben wir eine traurige Tendenz festgestellt: Jede Meldung eines Verbrechens (als die laut Mediengesetz automatisch jede Publikation gilt, insbesondere wenn sie über einen gewaltsamen Tod informiert) registriert das Komitee als Hinweis und nimmt keinerlei Überprüfung vor.
Angesichts dieses Umstands beabsichtigen wir, uns an die Generalstaatsanwaltschaft Russlands zu wenden mit der Forderung, den Präsidenten des Ermittlungskomitees, Bastrykin, zu verpflichten [im Original gefettet – dek], auf Basis unserer Publikationen eine Überprüfung gemäß Artikel 144–145 der russischen Strafprozessordnung vorzunehmen. Wenn der Generalstaatsanwalt Tschaika einer solchen Forderung nachkommt, hat das Ermittlungskomitee keine Möglichkeit mehr, das Gesetz zu umgehen. Wenn aber der Staatsanwalt die Forderung ablehnt, dann haben wir einen Anlass, ihn wegen Unterlassung zur Verantwortung zu ziehen.
In den vergangenen zwei Jahren – genau seit dem Mord an Boris Nemzow, bei dem die Auftraggeber offensichtlich straflos davonkamen – sind Massenverfolgungen in Tschetschenien zu einer üblen Tradition geworden. Und mit jedem Mal werden die Ausmaße der Repressionen katastrophaler und die Anlässe immer absurder.
Das ist das klassische Prinzip der Omertà
Das Ausbleiben einer adäquaten juristischen Reaktion durch die föderalen Strafverfolgungsbehörden führt zur Rechtsimmunität der tschetschenischen Silowiki. Das ist das klassische Prinzip der Omertà.
Andererseits werden die Massenverfolgungen zweifellos auch durch das Schweigen der tschetschenischen Bevölkerung begünstigt.
Allerdings birgt die Kampagne gegen die örtliche LGBT-Community Chancen, dem tschetschenischen Schweigen ein Ende zu setzen. In den letzten Tagen haben wir nicht nur eine Menge E-Mails bekommen. Wir haben auch gesehen, wie Menschen ihre Angst überwinden, weil sie erzählen wollen, was ihnen widerfahren ist.
Dafür gibt es möglicherweise eine Erklärung. Die Vertreter der LGBT-Community unterscheiden sich nämlich von allen anderen Aktivisten und Menschenrechtlern. Man kann aufhören, sich für Menschenrechte einzusetzen, man kann seine politischen Ansichten ändern, man kann sogar den Glauben wechseln. Doch was man nicht ändern kann, ist die Hautfarbe oder die Sexualität. Genau deswegen wurden LGBT-Aktivisten und Schwarze in Amerika zum Motor der Menschenrechtsbewegung. Genau deswegen brechen in Tschetschenien die verfolgten Homosexuellen das Schweigen.
Und noch etwas: In Tschetschenien hat jeder Gefangene, für welche Vergehen auch immer er sitzt, eine Überlebenschance. Alle – nur nicht Schwule. Kaum wird seine besondere sexuelle Orientierung publik, spricht die tschetschenische Gesellschaft ihm das Recht auf Leben ab. Und Menschen, die in die Ecke gedrängt werden, verlieren die Angst.
Text: Elena Milashina
Zeuge 1
Jahrelang hatten mich die Beamten der Strafverfolgungsbehörde in der Mangel. Sie erpressten mich, ich zahlte der Polizei Geld: monatlich mehrere zehntausend Rubel. Schweigegeld. Sie hatten ein mit dem Handy aufgenommenes Video, auf dem ich zu sehen war.
Die Bullen haben Spitzel, meist sind das Drogensüchtige, die sie erwischt haben. Im Tausch gegen Freiheit und Geheimhaltung kooperieren sie und locken Leute in die Falle – immer neue Klienten, die man erpressen kann. Das ist für die Polizei im Land ein lukratives Geschäft. Viele Bullen haben so eine Klientel, deren Namen würden sie nicht mal ihren Vorgesetzten nennen – dann wäre ja das Geld aus.
Trotz der Zahlungen holten sie mich regelmäßig aufs Revier, prügelten mich, folterten mich mit Strom, verhöhnten und erniedrigten mich. Wollten, dass ich andere Schwule verrate.
Nach den Prügeln erholte ich mich ein, zwei Tage bei Freunden, bis die blauen Flecken ein wenig zurückgingen, erst dann ging ich nach Hause – meiner Familie sagte ich, das sei von einer Schlägerei. So ging das zwei Jahre.
Sie holten mich regelmäßig aufs Revier, prügelten mich, folterten mich mit Strom, verhöhnten und erniedrigten mich. Wollten, dass ich andere Schwule verrate
Ich komme aus einer normalen Familie, mit vielen Verwandten. Lange Zeit wollte ich mich nicht damit abfinden, dass ich schwul bin, dachte, das sei eine Krankheit, die man bekämpfen und überwinden kann. Ich wollte eine Familie. Habe geheiratet. Ich war sicher, dass das mit der Zeit vergeht. Das Land verlassen (um ein freies Leben zu führen – Anm. Novaya Gazeta) wollte ich nicht – ich hatte Angst um meine Angehörigen. Wenn das bekannt wird, trifft die Schande nämlich sie.
Aber irgendwann hielt ich die Misshandlungen nicht mehr aus, ließ alles stehen und liegen und floh nach Moskau. Dachte, ein neues Leben anzufangen. Um mich wenigstens irgendwie zu schützen, machte ich eine Eingabe beim Innenministerium und der Staatsanwaltschaft, dass mich die Polizei in Tschetschenien verfolgt, systematisch prügelt und erpresst. In Moskau nahm man meine Eingabe nicht mal entgegen – es hieß: „Macht das dort unter euch aus. Wir mischen uns nicht ein.“
Ein paar Monate nach meiner Flucht fanden sie mich in Moskau. Schlugen mich. Forderten wieder Geld. Ich wollte mich umbringen. Und hab mich nur deswegen nicht aufgehängt, weil ich Leute gefunden habe, die mir halfen, das Land zu verlassen. Jetzt gehe ich zu einem Psychologen und denke, das hätte ich schon viel früher tun sollen.
Lange Zeit wollte ich mich nicht damit abfinden, dass ich schwul bin, dachte, das sei eine Krankheit, die man bekämpfen und überwinden kann
So eine Hetzjagd auf Schwule, wie derzeit in meinem Land, gab es noch nie. Begonnen hat es nach dem 20. Februar. Da nahmen Polizisten einen Typen fest, der unter Lyrica stand (ein krampflösendes Medikament auf Pregabalin-Basis. Wirkt euphorisierend, beliebt bei Drogensüchtigen. – Irina Gordienko), durchstöberten sein Handy und fanden Pornobilder, Videos, eine Menge Kontakte, Chats mit anderen Schwulen. Das ging alles hinauf bis zum Lord, der drehte durch. Mit den Kontaktdaten begannen massenhafte Festnahmen. Die Leute wurden bei der Arbeit festgenommen, zu Hause, sogar, wenn die Person einfach nur das Pech hatte, in diesem Telefonbuch gelandet zu sein. Es begann eine Kettenreaktion.
So eine Hetzjagd auf Schwule, wie derzeit in Tschetschenien, gab es noch nie
Die Verhafteten wurden gefoltert, auf Flaschen gesetzt, mit Strom gequält. Manche wurden halbtot geprügelt und den Verwandten wie ein Sack voll Knochen übergeben. Konkret weiß ich von zwei Todesfällen …
Wenn sie dich kriegen, gibt es drei Wege da raus: Entweder du zahlst Riesensummen – ich hab von einer halben Million [Rubel – dek] gehört – oder du verpfeifst andere. Oder sie verpfeifen dich bei deinen Verwandten. Mit den Worten „regelt das selber“. Die meisten, die entkommen sind, flüchten und verstecken sich.
Zeuge 2
Das Gelände, wo sie mich hinbrachten, sieht verlassen aus, ist es aber nicht. Es ist eher sowas wie ein geheimes Gefängnis, von dessen Existenz offiziell niemand weiß. Im Nebenraum saßen Syrer – junge Männer, die verdächtigt werden, Kontakt zu Syrienkämpfern zu haben, oder deren Verwandte, oder solche, die aus Dummheit nach Syrien gefahren sind, enttäuscht wurden und nach Hause geflüchtet sind. Die sitzen da Jahre.
Außerdem sitzen welche, die auf Drogen erwischt wurden. Verschiedene Drogen, aber vor allem das Psychopharmakon Lyrica, für dessen Konsum man in der Republik hart bestraft wird.
Wir waren ein paar Dutzend Leute, die Zahl änderte sich ständig, manchmal wurde einer frei gelassen, dann brachten sie neue. In einem großen Raum wurde uns eine kleine Ecke zugeteilt, etwa zwei mal drei Meter, deren Grenze wir nicht übertreten durften. Wir saßen dort tagelang, wochenlang, manche monatelang. Dreimal pro Tag wurden wir raus auf die Toilette geführt, ein Extra-Gebäude.
Außerdem wurden wir mehrmals am Tag rausgeholt und geprügelt – das hieß Verhör, Prophylaxe, Bearbeitung, wie auch immer. Ihr Hauptanliegen war: an deine Kontakte heranzukommen. Wenn du auf Verdacht festgenommen wirst, denken sie, dass automatisch dein ganzer Bekanntenkreis schwul ist. Deswegen wurden unsere Handys, nachdem sie sie einkassiert hatten, nicht ausgeschaltet: Sie warteten, dass jemand schrieb oder anrief. Jeder Mann, der anruft oder schreibt, ist der nächste Fang. Meistens riefen sie diese Leute zurück und lockten sie unter irgendeinem Vorwand zu einem Treffen.
Unsere Handys wurden nicht ausgeschaltet. Jeder Mann, der anruft oder schreibt, ist der nächste Fang
Die befestigten die Kabel von Elektroschockern an unseren Händen und drehten den Regler auf, sodass Strom floss. Das tut weh. Erst hab ich ausgehalten, dann verlor ich das Bewusstsein und fiel um. Wenn der Strom fließt und dein Körper zu zittern beginnt, setzt irgendwann dein Kopf aus und du beginnst zu schreien. Die ganze Zeit sitzt du da und hörst die Schreie der Menschen, die sie foltern.
Die Folter beginnt, sobald einer auf dem Gelände ankommt. Strom, Prügel mit Polypropylen-Rohren. Man schlug uns immer nur unter der Gürtellinie – auf die Beine, die Schenkel, das Gesäß, das Kreuz. Sie sagten, wir seien „Hunde, die keine Lebensberechtigung“ hätten.
Die anderen Häftlinge zwangen sie dazu, uns niederzumachen. Die sitzen dort jahrelang, die meisten haben die Hoffnung auf Freiheit aufgegeben. Die haben nicht wirklich eine Wahl. Wir verstanden das.
Man schlug uns immer nur unter der Gürtellinie – auf die Beine, die Schenkel, das Gesäß, das Kreuz. Sie sagten, wir seien ‚Hunde, die keine Lebensberechtigung‘ hätten
Sie schlugen uns auch mit Stöcken, stellten uns in zwei Reihen einander gegenüber auf, mehrere Dutzend Leute. Sie teilten Stöcke aus, ähnlich wie Baseballschläger. Und jeder musste durch dieses Spalier. Drei, vier Schläge sind schwer zu ertragen, es tut irre weh, aber wenn du durch zwanzig musst – das halten ganz viele nicht aus.
Ich wusste nicht, was tun mit diesem Schmerz, obwohl ich immer dachte, ich hätte eine hohe Schmerztoleranz. Um dem Schmerz etwas entgegenzuhalten, begann ich, meine Finger blutig zu beißen. Das half.
Manche schlugen sie mit besonderer Vorliebe. Einen, den quälten sie besonders, er saß dort schon länger als wir, den hatten sie schon völlig kleingekriegt, schlugen ihn so, dass er offene Wunden hatte. Dann übergaben sie ihn seinen Verwandten und etwas später hieß es, er sei schon unter der Erde.
Ich wusste nicht, was tun mit diesem Schmerz, obwohl ich immer dachte, ich hätte eine hohe Schmerztoleranz
Abgesehen von der physischen Folter, machten sie uns nieder und quälten uns psychisch: beleidigten uns, ließen uns das Gelände putzen, ins Gesicht gespuckt zu kriegen, war nichts Ungewöhnliches. Und die ganze Zeit betonten sie: Ihr habt keine Wohnung mehr, alle lassen euch im Stich, ihr kommt hier nie raus! Täglich brachten sie mehr Leute – die Verhöre und arglosen Anrufe führten zu immer neuen Verhaftungen.
Nach mehreren Wochen, wenn die Menschen sich nur mehr wie Tiere vorkamen, riefen sie die Verwandten. Wer sich entschloss, zu kommen, wurde erst ebenfalls gedemütigt, dann händigten sie die Person aus.“
Aufgezeichnet von Irina Gordienko
Mitteilungen an die Hotline 29.03.2017 bis 02.04.2017
Nachrichten, die bei der Hotline des russischen LGBT-Netzwerks eingingen unter kavkaz[at]lgbtnet.org, eingerichtet für Bewohner Tschetscheniens. Die Nachrichten sind zwischen dem 29. März und dem 2. April eingegangen. Alle Geschichten werden mit Zustimmung der Informanten veröffentlicht.
1. „Den Sicherheitskräften zufolge war der Befehl zur Festnahme von der Regierung ausgegangen“
Ein junger Mann aus Grosny, schwul. Kam vor ein paar Monaten nach NN (Name der Stadt zum Schutz der Auskunftsperson anonymisiert – Anm. d. Novaya Gazeta). Wollte sich hier niederlassen, fand aber keine Arbeit und wollte Mitte März zurück nach Tschetschenien. Versuchte, einen Freund zu erreichen, der meldete sich aber nicht. Er meldete sich erst nach einer Woche und sagte, er sei gerade von (tschetschenischen – Anm. d. Novaya Gazeta) Sicherheitskräften freigelassen worden. Sie hatten ihn wegen Verdachts auf Homosexualität festgenommen.
Um ein Geständnis zu erzwingen, hatten sie ihn mit einem Schlauch geschlagen und mit Strom gefoltert (an seinen Handgelenken wurden Kabel festgeklemmt – Anm. d. Novaya Gazeta). Er sagte, zusammen mit ihm seien an die 30 Leute im selben Raum gefangengehalten worden.
Den Sicherheitskräften zufolge war der Befehl zur Festnahme von der Regierung ausgegangen. Die Gefangenen wurden gezwungen, die Daten anderer Schwuler herauszugeben. Und je mehr einer erzählte, desto länger wurde er festgehalten.
2. „Dem Vater kündigten sie an, seinen Sohn im Lokalfernsehen zu blamieren“
Ein weiterer Mann, der sich mit der Bitte um Hilfe an die Hotline wandte, erzählte, sein Bekannter (die Daten, die eine genaue Identifikation dieser Person erlauben, werden zu Ermittlungszwecken weitergeleitet – Anm. d. Novaya Gazeta) sei ebenfalls wegen Verdachts auf homosexuelle Orientierung festgenommen worden. Anlass dazu sei ein Chat auf VKontakte gewesen. Spätabends sei vor seinem Haus ein schwarzer Toyota Camry ohne Nummernschild vorgefahren.
Männer in Uniformen des Sondereinsatzkommandos Tereksetzten den jungen Mann ins Auto und fuhren an einen unbekannten Ort, ohne seine Familie über den Grund der Festnahme aufzuklären. Er wurde mehrere Tage festgehalten, gefoltert.
Seine Verwandten konnten den Ort der illegalen Verwahrung ihres Angehörigen ausfindig machen. Dem Vater kündigten sie an, seinen Sohn im Lokalfernsehen zu blamieren und dann freizulassen.
Der Mann wurde tatsächlich freigelassen, zu welchen Bedingungen, ist unbekannt. Ebenfalls unbekannt ist sein weiteres Schicksal. Bekannt ist nur, dass er Tschetschenien nicht verlassen hat.
3. „Die Verwandten legten ihm Handschellen an und fuhren mit ihm an einen unbekannten Ort“
Eine anonymer Informant teilte der Hotline mit, wie er festgenommen wurde. Auf der Kommandantur wurde er in einer verlassenen Betonbaracke in der Nähe von Argun Zeuge, wie der Homosexualität verdächtigte Männer massenhaft gefoltert wurden.
Er selbst wurde am 28. Februar gefangengenommen. Zusammen mit ihm befanden sich noch 15 Männer in der Baracke, darunter ein in Tschetschenien bekannter Friseur und ein Fernsehmoderator.
Die Gefangenen wurden geschlagen und mit Strom gefoltert. Auf den Fotos, die der Informant übermittelte, sind großflächige Hämatome auf Beinen und dem unterem Rücken zu sehen.
Die Gefangenen bekamen so gut wie nichts zu essen. Sie wurden oft geschlagen, manche starben dabei. Am 5. März wurde ein junger Mann namens NN (die persönlichen Daten sind bekannt und werden zu Ermittlungszwecken weitergeleitet – Anm. d. Novaya Gazeta) von seinem Vater und seinem Bruder aus der Kommandantur abgeholt. Seine Verwandten legten ihm Handschellen an und fuhren mit ihm in einem weißen Auto an einen unbekannten Ort. Er ist nicht nach Hause zurückgekehrt.
Zu den anderen Gefangenen wurde gesagt: „Wenn ihr Männer in der Familie habt, dann töten sie euch auch wie NN.“
Der anonyme Informant selbst wurde am 7. März entlassen (die Umstände seiner Entlassung gab er nicht bekannt, er sagte nur, dass er in Tschetschenien offiziell als tot gelte). Er konnte zusammen mit seiner Familie Tschetschenien verlassen. Im Moment hält er sich außerhalb Russlands auf.
Am 27. Mai 1993 begann für Homosexuelle ein neues Kapitel in Russland. Der Paragraph 121.1 des Strafgesetzbuches, der sexuelle Kontakte zwischen Männern mit einer Gefängnisstrafe bis zu sieben Jahre ahndete, wurde abgeschafft. Damals existierte im Land bereits eine zunehmend nach Öffentlichkeit suchende LGBT-Bewegung. Die Entkriminalisierung ermöglichte es ihr, ihre Interessen zunehmend öffentlich zu vertreten und wahrgenommen zu werden1. Die öffentliche Resonanz war in großen Teilen indes negativ – bis heute ist eine Abneigung gegen Homosexualität in der russischen Gesellschaft weit verbreitet. Im Zuge der Annahme des Gesetzes gegen „homosexuelle Propaganda“ im Jahr 2013 – das sogenannte „Verbot der Propaganda nichttraditioneller sexueller Orientierungen unter Minderjährigen“ – heizte sich die homophobe Atmosphäre im Land spürbar auf und zwang die LGBT-Szene erneut ins Verborgene: nun findet der Austausch vielfach fernab der breiten Öffentlichkeit seinen Raum, darunter in den Nischen des Internets.
Die erste Schwulenorganisation, das Leningrader Guy-Laboratorium um Alexander Saremba entstand bereits 19842 – wurde jedoch schnell zerschlagen. Die erste Lesbenorganisation der Sowjetunion – Klub der unabhängigen Frauen – wurde ebenfalls noch vor der Perestroika in Leningrad (dem heutigen St. Petersburg) gegründet. Während die Abschaffung des Straftatbestandes aus Paragraph 121.1 noch in weiter Ferne schien, existierte der Klub verdeckt und wurde von Behörden zumindest toleriert. Die Zeiten änderten sich schnell. Die Zeitung Tema, die 1989 von LGBT-Aktivist Roman Kalinin ins Leben gerufen wurde und sich den Problemen der männlichen Homosexuellen widmete, konnte bereits während der Perestroika verbreitet werden und wurde von staatlicher Seite geduldet. Gemeinsam mit Jewgenia Debrjanskaja, Ex-Ehefrau von Alexander Dugin, gründete Kalinin 1990 die Assoziation der sexuellen Minderheiten mit dem Ziel, den Paragraph 121.1 abzuschaffen und eine umfassende Gleichstellung für Männer und Frauen zu erlangen3. So gab es noch vor der Entkriminalisierung im Jahr 1993 einen regelrechten Gründungs-Boom von neuen Organisationen, Medien und Klubs. Und mit der Legalisierung erlebte die höchst fragmentierte Szene einen weiteren Schub, Optimismus verbreitete sich.
Doch verflog diese Euphorie der ersten LGBT-Stunde im Verlauf der 1990er Jahre: Interessenvertretungen spalteten sich, viele Aktivisten der Gründungsphase zogen sich zurück und wendeten sich kommerziellen Projekten zu, etwa als Klubbetreiber. Mit der Finanzkrise 1998 wurden die meisten Print-Formate, in denen sich die Szene austauschen konnte, vorerst eingestellt.
Die Politik setzte kaum Signale für den Minderheitenschutz: So wurden die nach sowjetischem Strafrecht verurteilten Homosexuellen nie rehabilitiert, geschweige denn entschädigt. Erst 1999 wurde Homosexualität nicht mehr als „Krankheit“ eingestuft und von einer entsprechenden offiziellen Liste gestrichen. Am gesellschaftlichen Klima änderte das wenig: Laut Umfragen des unabhängigen Lewada-Zentrums hielten im Jahr 2013 immer noch 43 Prozent der Befragten Homosexualität für moralisch verwerflich, 35 Prozent für eine Krankheit – an diesen Zahlen hat sich seit Beginn der Untersuchung im Jahr 1998 kaum etwas verändert.4
Konservativer Rollback?
Zwar gab es in den 2000er Jahren Schritte zur rechtlichen Gleichstellung in der Gesellschaft. So wurde 2008 zum Beispiel das Blutspendeverbot für homosexuelle Männer aufgehoben – eine diskriminierende Praxis, deren Abschaffung westeuropäische LGBT-Verbände seit Jahren von der EU einfordern. Auch konnten sich in der Öffentlichkeit erneut Magazine etablieren: die 2003 gegründete und erfolgreiche Zeitschrift Kwir, aus demselben Verlagshaus kam die 2006 gegründete Lesbenzeitung Pinx.
Die Situation war jedoch stets durch forcierte Versuche geprägt, die gerade erst wieder erlangten Rechte erneut zu beschneiden. Auf der regionalen Ebene gab es seit dem Jahr 2006 bereits einzelne Gesetze, die das spätere, landesweit gültige Gesetz gegen „homosexuelle Propaganda“ vorwegnahmen. Nach mehreren gescheiterten Anläufen hatten die Hardliner in der Duma damit schließlich 2013 Erfolg5: Dem neuen, landesweit gültigen Gesetz nach ist es seitdem verboten, in Gegenwart von Minderjährigen „nicht-traditionelle Beziehungen“ zu propagieren. Der Begriff Propaganda wird in dem Gesetz bewusst unscharf gehalten.
Wie es zur Anwendung kommen kann, zeigt besonders eindrücklich das Beispiel des 2013 gegründeten Internet-Projektes Deti-404 (dt. „Kinder-404“): Es widmet sich der Beratung von Kindern und Jugendlichen. Da die Macher des sogenannten Anti-Propaganda-Gesetzes aber gerade diese Zielgruppe vor Homosexualität „beschützen“ wollen, ist das Projekt vielen Hardlinern ein Dorn im Auge.6 Die Medienaufsicht hat das Portal zensiert, danach ist es auf eine neue Internet-Adresse umgezogen, außerdem laufen Gerichtsprozesse. Erst im Oktober 2016 drohte die Medienaufsicht nach Angaben der Seitenbetreiber wieder mit einer Websperre wegen offiziell verbotener Inhalte. Vor Kurzem nun starteten einige der Initiatoren von Deti-404 ein ähnliches Projekt: Der Sitz des Video-Portals Illuminator.info ist außerhalb Russlands und damit außer Reichweite der Behörden. Es richtet sich aufklärerisch mit Interviews von Fachexperten an ratsuchende Eltern.
Rückzug aus dem Offline-Leben
Die Anzahl von Online-Ressourcen der LGBT-Community wächst. Bereits seit 1996 hält sich zum Beispiel das Portal Gay.ru. Im darauffolgenden Jahr nahm auch die erste lesbische Seite VolgaVolga Anlauf. Nach der Fusion mit Kwir spaltete sich ein Teil von VolgaVolga als eigenständiges lesbiru.com-Projekt davon ab. Viele andere neue Projekte wurden zu einem Teil der Community, viele lokale Seiten entstanden und bemühen sich, neben solchen Platzhirschen wie zum Beispiel Gayly.ru (das seit 2001 besteht), um Nutzer.
Diese Portale und Formate sorgen in der Community für Vernetzung, bieten häufig auch Hilfe und Beratung. Der überregionale Dachverband Russian LGBT network versucht nach Kräften, die einzelnen Bemühungen zu koordinieren. Die Hauptlast der Beratungsarbeit tragen aber regionale Organisationen, wie zum Beispiel Rainbow Syndrome aus Rostow oder Wyhod aus St. Petersburg – eine NGO, die 2008 als erste LGBT-Organisation Russlands ihre formelle Gründung ohne eine Gerichtsklage erwirken konnte.
Ein Teil der Community wandert aus Russland aus und organisiert sich im Ausland, so wie beispielsweise im deutschen Verein Quarteera. Ein anderer Teil stellt angesichts öffentlicher (zum Teil organisierter) Anfeindungen und Prügelattacken solche öffentlichkeitswirksamen Aktionen wie Pride Parades ein. Schließlich gibt es immer noch Aktivisten, die unerschrocken auf die Straße gehen. So mischen sie sich beispielsweise unter die Teilnehmer von offiziellen Feierlichkeiten zum 1. Mai, bilden Gruppen bei Demonstrationen und bekunden dabei ihren Protest gegen die Homophobie. Am 17. Mai, dem Internationalen Tag gegen Homophobie, Transphobie und Biphobie, finden landesweit Flashmobs statt. Andere Aktionen sind zum Beispiel der St. Petersburger LGBT International Film Festival Side by Side, oder die alljährlich Anfang April stattfindende Woche gegen Homophobie. Tendenziell ist aber eine Verlagerung der aktivistischen Arbeit ins Internet zu beobachten.
Viele Printerzeugnisse wurden zum Ende der 2000er Jahre eingestellt oder verlagerten ihr Angebot ins Internet. Die Digitalisierung und eine Art Zeitungssterben können hier genauso als Gründe genannt werden, wie die fortschreitende Marginalisierung von LGBT-Personen und die Tabuisierung von LGBT-Themen. Pinx musste alsbald genauso schließen wie die 2013 gegründete Hochglanzzeitschrift Agens für Lesben. Kwir gibt es nur noch online, daneben bleiben nur einige wenige Printerzeugnisse.7
Gessen, Mascha (1993): Prava gomoseksualistov i lesbijanok v Rossijskoj Federacii: Otčet komissii po pravam čeloveka dlja gomoseksualistov i lesbijanok, San Francisco ↩︎
Kon, Igor (1997): Seksualnaja kultura v Rossii: Klubnička na berezke, Moskau, S. 356 ↩︎
Als Printerzeugnisse mit nennenswerter Reichweite blieben zum Beispiel die seit 2005 in Moskau erscheinende Zeitschrift Best for und die in Nowotscherkassk erscheinende Mens-GID bestehen – Magazine, die sich an den männlichen Teil der Community wenden. ↩︎
„Über lange Zeit hatte ich mit heftiger innerer Homophobie zu kämpfen, an der ich mehrere Jahre mit einem Psychologen gearbeitet habe.“ So schildert eine junge Russin ihre erste Hürde auf dem Weg von einer mit Zweifeln belasteten Jugendlichen hin zur selbstbewussten Frau. Innerlich kann sie inzwischen zu sich und ihrer gleichgeschlechtlichen Liebe stehen. Ein großer Schritt in Russland, wo Homosexuelle offen angefeindet werden, Homophobie weit verbreitet ist. Nun ist sie 25 Jahre alt, arbeitet als Lehrerin und plant ihr öffentliches Coming Out.
Das bewegende Protokoll einer jungen Lesbe hat das Webmagazin Takie Dela aufgeschrieben.
Jedes Kind beschäftigt sich zu einer bestimmten Zeit mit seiner Identität. Ich überlegte, was ich werden soll: Junge oder Mädchen? Ein Mädchen zu sein ist gut, weil man als Mädchen hübsch sein und schicke Kleidchen anziehen kann, ein Junge zu sein ist gut, weil man als Junge mit einem Mädchen zusammen sein kann.
Mit neun gefiel mir ein Mädchen. Natürlich war das keine Beziehung. Meine ganze Kindheit über war mir klar, dass mir Mädchen gefallen, aber an meinem Bewusstsein zog das irgendwie vorbei. Mich störte dieses Wissen nicht weiter. Vielleicht nahm ich es nicht ernst, vielleicht weigerte sich mein Gehirn, genauer darüber nachzudenken.
Viel später erst wurde mir klar, dass ich Schwierigkeiten hatte, mich selbst zu akzeptieren, und dass ich darüber dringend sprechen musste. Für mich war das ein Problem, denn ich bin in einer gläubigen Familie aufgewachsen, ging in die Sonntagsschule. Über lange Zeit hatte ich mit heftiger innerer Homophobie zu kämpfen, an der ich dann mehrere Jahre mit einem Psychologen gearbeitet habe.
Die Bewusstwerdung
Mit achtzehn, ich studierte schon an der Uni, verliebte ich mich in meine Russischdozentin. Ich war heftig verliebt damals. In diesem Moment musste ich mir eingestehen, dass ich nicht einfach von ihr als Mensch fasziniert war, am liebsten hätte ich permanent Zeit mit ihr verbracht. Wir saßen einfach zusammen und redeten über die russische Sprache und Literatur. Sie ahnte nichts von meinen Gefühlen, und ich war noch nicht fähig, mich ihr zu offenbaren. Ich glaube auch nicht, dass sie davon angetan gewesen wäre.
Dann begann ich, mit einem Psychologen zu arbeiten. Zwei Jahre hatte ich Einzeltherapie und machte auch Gruppentherapie. Als ich so weit war, dass ich mich selbst akzeptieren konnte, erzählte ich die ganze Sache zunächst meinen engsten Freunden. Dann meiner Familie. Meine Schwestern reagierten ganz entspannt, mit meiner Mutter war es schwierig, und das ist es bis heute. Meine Mutter kann mich nicht akzeptieren, das erste halbe Jahr redeten wir überhaupt nicht mehr miteinander, inzwischen sprechen wir über alles mögliche, aber nicht darüber. Sie streift das Thema äußerst selten – „deine Freundinnen“ sagt sie höchstens mal etwas spitz.
Mir ist bewusst, dass ich ein Doppelleben führe. Sobald ich bei der Arbeit bin, verhalte ich mich komplett anders, sage andere Dinge
Die Hilfe
Die innere Homophobie hatte bei mir krasse Auswirkungen. Eine Zeitlang verließ ich gar nicht mehr das Haus, schloss mich in meinem Zimmer ein, meine Freunde haben mich gerettet, sie brachten mir Essen. Ich stand bloß noch auf, um mich zu betrinken und wieder einzuschlafen. Ich wollte nicht mehr leben, hatte Selbstmordgedanken. Eine schreckliche Zeit in meinem Leben war das, an die ich heute nur noch selten denke.
Irgendwann wurde mir klar, dass ich mir professionelle Hilfe suchen muss, weil ich einfach nicht mehr konnte. Ich ging zu einem Psychologen, lernte Leute kennen und begann, mich zu engagieren. Ungefähr vier Jahre hat es gedauert, bis ich mich voll akzeptieren konnte. Erst vor zwei Jahren konnte ich aufatmen und sagen: „Alles cool!“
Ich hab mich für den Weg von Engagement und Selbstakzeptanz entschieden, denn ich glaube, das Wichtigste im Leben eines jeden Menschen ist es, zu spüren, dass er ist, wer er ist, und dass man deswegen nicht leidet. Ich fühlte, dass ich das Richtige tue und anderen Menschen helfen kann, die mit den gleichen Problemen konfrontiert sind wie ich.
Der Glaube
Als ich aufhörte, zur Sonntagsschule zu gehen, litt und weinte ich sehr, schließlich war es ein wichtiger Teil meines Lebens. Ich liebe Frauen, und das ist aus Sicht der orthodoxen Religion so etwas wie Sünde. Irgendwann war ich zu dem Schluss gekommen, dass es Gott nicht gibt, wenn er uns erst so erschafft und dann nicht akzeptiert. Mittlerweile finde ich trotzdem wieder zu Gott zurück, aber heute unterscheide ich für mich klar zwischen Glauben und Religion. Mit der Religion habe ich nichts zu schaffen, mit dem Glauben durchaus.
Der Beruf
Während meines Studiums an der pädagogischen Hochschule war ich nicht überzeugt davon, dass ich später als Lehrerin arbeiten würde, aber es machte mir Spaß. Bereits im vierten Studienjahr fing ich an, zu unterrichten. Vor drei Jahren habe ich mein Studium abgeschlossen, und seitdem arbeite ich als Lehrerin.
Natürlich kann ich bei der Arbeit nicht über meine sexuelle Orientierung sprechen. Das ist unmöglich. Nur ein paar Kollegen von mir wissen Bescheid, sie sind enge Freunde. Mir ist bewusst, dass ich ein Doppelleben führe. Sobald ich bei der Arbeit bin, verhalte ich mich komplett anders, sage andere Dinge. Die Unmöglichkeit offen zu sprechen bedeutet für mich, dass ich in meinem Beruf nicht frei atmen kann.
Außerdem ist es für mich wirklich hart, genau solche Kids zu sehen, wie ich früher eins war, und zu wissen, dass ich nicht offen mit ihnen sprechen kann, obwohl ich zu meinen Schülern eigentlich ein sehr vertrauensvolles Verhältnis habe. Einmal wandte sich ein Transjunge an mich [eine junge Frau, die sich als Mann versteht – Takie Dela]. Ich weiß nicht, warum er ausgerechnet zu mir kam. Er hat noch keine Geschlechtsangleichung gemacht, nimmt keine Hormone, fühlt sich einfach als Mann. Er kam zu mir und erzählte mir davon. Ich bin keine Psychologin und bin nicht berechtigt, darüber zu sprechen, aber auf der anderen Seite war mir klar, dass ich ihm irgendetwas raten musste.
Es war ziemlich riskant, jedes Wort von mir hätte später gegen mich verwendet werden können, aber ich sprach trotzdem mit ihm, gab ihm Broschüren und Sticker zu Transsexualität und sagte ihm, er könne sich jederzeit an mich wenden. Bisher ist er nicht noch einmal zu mir gekommen, aber in unserer Korrespondenz bezeichnet er sich als Mann. Ich finde das sehr gut.
Die Stadt
Hier in der Stadt gibt es etliche Gruppierungen, die Schwule und Lesben ablehnen. Es ist schon mehrfach zu Prügelattacken auf LGBT-Aktivistinnen und Aktivisten gekommen, und zwar zu ziemlich schlimmen. Ich selbst habe vor fünf Jahren angefangen, mich zu engagieren. Mein Psychologe hatte mir geraten, doch mal zu einer LGBT-Veranstaltung zu gehen. In dem Jahr planten Nazis einen Überfall auf die Aktivisten, die das Festival veranstalteten, sie haben uns sogar mit Bussen weggekarrt und es gab Wachschutz, damit uns nichts passierte. Etwas wirklich Schlimmes war dann auch nicht, keine Prügeleien oder so, allerdings hatten die Typen die Treppe zum Festivalgebäude mit Farbe übergossen.
Dieses Jahr fand wieder eine Veranstaltung statt, und mittlerweile gehörte ich zu den Organisatoren. Es war echt hart. Wir wollten lediglich ein Turnier abhalten, aber das wurde uns verboten, immer wieder bekamen wir Ablehnungen. Nur ein einziger Sportplatz hat uns zugesagt. Wir haben alle unsere Telefone ausgeschaltet und die Adresse nur untereinander weitergegeben, so waren wir nicht „aufzuspüren“. Nur so konnte das überhaupt normal ablaufen.
Ich will nicht in dem Bewusstsein leben, dass man mich für die Wahrheit, die ich ausspreche, ins Gefängnis bringen kann
Die Angst
Mir graut davor, mein ganzes Leben so zu verbringen. Eines Tages wird es einen Postauf meiner Seite geben und ich werde mich für alle Menschen, die mich kennen, outen … Natürlich nicht jetzt gleich, zwei, drei Jahre werde ich noch brauchen, um mich psychisch darauf vorzubereiten.
Wenn das Gefühl kommt, dass ich moralisch bereit bin, werde ich merken, dass es soweit ist. Ich werde wissen, dass es keinen Weg zurück mehr gibt, ich muss mich nicht mehr an Vergangenes halten, weder an Leute noch an die Arbeit.
Die Zukunft
Mein Plan ist, den Schuldienst zu verlassen und als Nachhilfelehrerin zu arbeiten. Ich werde keiner kommunalen Einrichtung angehören, so wird es schwer sein nachzuvollziehen, mit wem und wo ich arbeite. Das ist der Kompromiss in meiner Situation.
In den siebziger Jahren haben Lehrer und Lehrerinnen in den USA erkämpft, dass sie in ihrem Beruf arbeiten und dabei offen schwul oder lesbisch leben können. Als ich davon hörte, verspürte ich eine Art Stolz und wünschte mir, es würde bei uns auch so sein.
Meine Freundin und ich planen, Kinder zu haben. Ich denke schon jetzt an Familie, will selbst ein Kind zur Welt bringen oder auch adoptieren. Ich hoffe sehr, dass wir einmal eine große Familie haben werden und ein großes Haus.
Das Gesetz
Wenn ich mich mit besagtem Transjungen unterhalte, kann ich dem Gesetz nach für meine Äußerungen belangt werden. Ich will nicht in dem Bewusstsein leben, dass man mich für die Wahrheit, die ich ausspreche, ins Gefängnis bringen kann. Aber ich habe keine andere Wahl.
Ich würde sagen, die gesellschaftliche Aggression hat zugenommen. Kann sein, dass die staatliche Politik sich im Verhalten der Menschen widerspiegelt, die Leute haben Angst, selbständig zu denken. Andererseits habe ich viel Kontakt zu Kindern und Jugendlichen und sehe unter ihnen eine Menge LGBT-Kids. Während die ältere Generation stärker eingeschüchtert ist und weniger über sich spricht, ist die junge, in Zeiten des Internets aufgewachsene Generation bei uns freier, wobei auch sie Probleme mit der Selbstakzeptanz und mit ihren Eltern hat.
Die Zuversicht
Auch jemand, der sich selbst im Grunde akzeptiert, kann in Bezug auf bestimmte Lebenssituationen unsicher sein. Wenn du das Gefühl hast, du wirst allein damit nicht fertig, solltest du dir professionelle Hilfe holen. Es gibt das russische LGBT-Netzwerk, wo man anrufen und mit Psychologen oder Juristen sprechen kann.
Früher war ich voller Selbstzweifel – was meine Standpunkte und Ansichten betraf. Wenn dir klar wird, dass du eine Persönlichkeit bist, hörst du auf, Angst zu haben und machst alles richtig, und das gibt dir viel Kraft.
Ich glaube, mit der LGBT-Bewegung in Russland wird alles gut werden. Allerdings weiß ich nicht, wann das das sein wird und ob ich es noch erleben werde.
32 Minuten dauerte die Autofahrt, auf der die Menschenrechtsbeauftragte des russischen Präsidenten Tatjana Moskalkowa, die Fragen des Novaya Gazeta-Korrespondenten Pavel Kanygin beantwortete. Oder eben auch nicht beantwortete: „Schwule und politische Gefangene – sind das etwa die brennendsten Fragen?“, sagt die russische Menschenrechtsbeauftragte und einstige Generalmajorin der Polizei im Interview zu Kanygin. Hier, wie auch an anderen Stellen, offenbart sich ein grundlegend unterschiedliches Verständnis dessen, was eigentlich mit „Menschenrechten“ gemeint ist.
Das Interview, das die Novaya Gazeta in der vergangenen Woche veröffentlichte, schlug aber auch aus anderen Gründen hohe Wellen: Nicht nur, dass Moskalkowa während des Gesprächs unvermittelt vom „Sie“ zum „Du“ wechselt, die Namen renommierter Menschenrechtsorganisationen offensichtlich nicht auf dem Schirm hat, schließlich den Fahrer bittet anzuhalten und kurz darauf das Interview abbricht. Sondern sie wandte sich, wie Kanygin berichtet, eine Stunde später nochmal an ihn mit der Bitte, das Interview nicht zu veröffentlichen, da sie darin „einen schlechten Eindruck“ mache. Die Novaya Gazeta, die das gesamte Gespräch schließlich abdruckte, berichtet außerdem von „nicht-öffentlichem“ Druck, der auf die Redaktion ausgeübt worden sei. Und veröffentlichte das Gespräch – mit dem Hinweis, Staatsbeamte seien verpflichtet, über ihre Tätigkeit zu informieren. Zuvor war der Menschenrechtsbeauftragten drei Tage Zeit gegeben worden, das verschriftlichte Interview zu autorisieren. Eine Möglichkeit, von der sie aber keinen Gebrauch gemacht hatte.
Pavel Kanygin: Die Tätigkeit als Menschenrechtsbeauftragte ist ein ganz neues Arbeitsfeld für Sie. Wie fühlen Sie sich in der Position?
Tatjana Moskalkowa: Das ist eine rhetorische Frage. Die Antwort lautet: Es ist schwierig. Denn es ist ein neues Leben, ein anderer Blickwinkel auf die Geschehnisse, die ich in meiner bisherigen Laufbahn eben anders wahrgenommen habe.
Dabei gehören Sie doch zu den Silowiki.
Ich habe zehn Jahre in der Abteilung für Begnadigung des Präsidiums des Obersten Sowjets der RSFSR gearbeitet. Neun Jahre in der Duma. Das alles waren sehr wichtige soziale Erfahrungen für mich, denen nun ein besonderer Wert zukommt, wenn es darum geht, meinen Platz und meine Rolle im System zum Schutz der Menschenrechte zu verstehen und den Menschen nützlich zu sein. Und effektiv Menschen zu schützen, die in eine schwierige Lebenslage geraten sind. Menschen, die sich der Willkür, dem Bösen und der Unmöglichkeit widersetzen, im Kampf mit einem stärkeren Gegner ihr Recht zu verteidigen. Dank meiner Erfahrung und Kommunikationsfähigkeit ist mir diese Chance zuteil geworden.
In Russland hat es sich ergeben, dass die Idee vom Schutz der Menschenrechte im Antagonismus steht zur Regierung und zum System. Folgen daraus keine moralischen Widersprüche für Sie?
Man verwechselt den Menschenrechtsrat oft mit einer Organisation für Menschenrechte. Der Menschenrechtsrat ist ein Staatsorgan. Es ist ein Organ, das sich quasi zwischen der Gesellschaft und dem Staat befindet.
Unter den Menschenrechtlern ist die Menschenrechtsbeauftragte vielleicht sogar der größte Menschenrechtler
Es spricht mit den Regierungsorganen in einer für sie verständlichen Sprache und schafft entsprechende Umstände, damit diese Organe nicht nur hören, sondern auch zuhören.
Sie sehen sich also nicht als eine Menschenrechtlerin der Gesellschaft?
Doch, genau das tue ich. Unter den Menschenrechtlern ist die Menschenrechtsbeauftragte vielleicht sogar der größte Menschenrechtler.
Wie würden Sie die gegenwärtige Situation der Menschenrechte in Russland beschreiben?
Ich denke, es gibt derzeit viele Verstöße im Land, die sowohl System- als auch Einzelcharakter tragen. Diese Verstöße lassen sich im sozialen Bereich wie auch im Bereich des Strafrechts und des allgemeinen Rechts beobachten … Aber der Fortschritt in unserem Bereich, im Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft ist nicht zu übersehen. Wenn wir unsere Zeit mit früheren historischen Abschnitten vergleichen, sehen wir einen Fortschritt!
Meinen Sie wirklich, dass man die Gesetze, die die Regierung in den vergangenen Jahren verabschiedet hat, als Fortschritt bezeichnen kann?
Propaganda von Homosexualität? So ein Gesetz gibt es bei uns nicht. Sie meinen vielleicht das Gesetz zum Verbot von Kinderpornografie.
Das Gesetz haben Sie auch unterstützt. Aber mir geht es um das Ganze.
Lassen Sie uns ganz konkret sprechen. Wenn es Ihnen um Minderheiten geht, dann können Sie selbst sehen, dass die sexuellen Minderheiten seit 2012 und bis heute in keiner Weise in ihren Rechten beschnitten wurden.
Sagen Sie mir doch, wo genau man LGBT einschränkt, dann können wir weiterreden
Sie haben nicht aufgehört zu existieren. Man hindert sie nicht daran zu tun, was sie tun. Sagen Sie mir doch, wo genau man sie einschränkt, dann können wir weiterreden.
Im Ausdruck ihrer Lebensform, im Familienrecht, in ihrem Recht, sich als gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft zu bezeichnen.
Das alles gibt es nicht. Nennen Sie mir Beispiele für Beschränkungen ihrer Rechte. Vielleicht haben Sie ja recht und ich übersehe irgendwelche Vorgänge, die mit der Umsetzung der Gesetze verbunden sind.
Gut. Was ist zum Beispiel damit, dass LGBT ihre gemeinnützigen Organisationen nicht anmelden dürfen? Sich nicht versammeln und keine Veranstaltungen durchführen dürfen? Keine Kinder adoptieren dürfen?
Adoptieren dürfen sie nicht, nein. Was den Rest betrifft, so weiß ich, dass in Sankt Petersburg gerade erst eine Demonstration stattgefunden hat. Und man dafür gesorgt hat, dass sie nicht mit dem Tag der Fallschirmjäger zusammenstoßen. Damit die Interessen der unterschiedlichen sozialen Gruppen nicht aufeinanderprallen. Auch die LGBT existieren und führen Demonstrationen durch. Niemand engt sie ein.
Anders gefragt: Sie sind bereit sich für die Rechte von sexuellen Minderheiten einzusetzen? Können sie mit Ihrer Hilfe und Unterstützung rechnen?
Im Fall von Verstößen gegen ihre Rechte, werde ich natürlich alle Mittel ergreifen, um diese Verstöße zu beheben. Kennen Sie denn Fälle, in denen jemand aufgrund von LGBT-Zugehörigkeit in seinem Recht auf Bildung eingeschränkt worden wäre? Einen Arbeitsplatz nicht bekommen hätte? Oder an einer Universität nicht angenommen worden wäre?
Solche Fälle gibt es ist massenweise, Tatjana Nikolajewna.
Ich habe in meiner ganzen Amtszeit als Menschenrechtsbeauftragte noch kein einziges solches Gesuch bekommen. Und das ist die Wahrheit. Es ist die Wahrheit.
Ehe wir das Thema LGBT abschließen, würde ich gern noch eine Sache spezifizieren. Als in der Duma über das „Antischwulen-Gesetz“ diskutiert wurde, weiß ich, dass unter anderem Sie sich dafür eingesetzt haben, den Paragraphen zur Strafbarkeit von Unzucht zwischen Männern wieder ins Strafgesetzbuch aufzunehmen. Hat sich Ihre Position seitdem geändert?
Nein! Ich habe niemals … Das ist völliger Unsinn! Sie können sich die Mitschriften der Duma besorgen und sich selbst davon überzeugen.
Sie haben in einem Interview darüber gesprochen.
Nein, ich habe mich nie öffentlich für eine Wiedereinführung der Strafbarkeit von Unzucht zwischen Männern eingesetzt. Denn meinen Überzeugungen nach bin ich Demokratin und schätze alle Errungenschaften der 1990er Jahre, die wir erkämpft haben: die Aufhebung des Eisernen Vorhangs, die Menschenrechte, die Abschaffung des Einparteiensystems, ein freies Parlament und auch den Verzicht auf die Strafbarkeit von Unzucht zwischen Männern.
Aber ein Mensch kann trotzdem seine eigene Meinung haben. Dem einen gefällt Rot, dem anderen Schwarz. Ich gehöre nicht zu denen, die gleichgeschlechtliche Beziehungen ausweiten wollen, aber auch nicht zu denen, die sie unterbinden wollen. Das ist ein sensibler Bereich, allerdings bin ich eine Anhängerin von traditionellen Beziehungsformen.
Gut. Lassen wir dieses sensible Thema. In diesem Jahr wurden unter Ihrem Vorsitz staatliche Förderungen an unterschiedliche NGOs vergeben. Die Menschenrechts-NGOs wurden jedoch weitestgehend ignoriert. Gesellschaftliches Verdikt, Für Menschenrechte oder Memorialbekamen keine Förderung. Bei der Moskauer Helsinki-Gruppe gab es Schwierigkeiten. Aber dafür haben die NachtwölfeGeld bekommen. Wie erklären Sie das?
[Pause] Die Arbeit der Vergabestelle ist folgendermaßen aufgebaut: Alle Anträge auf Förderung werden Experten vorgelegt. Es gibt Kriterien, anhand derer die Experten Punkte vergeben. Wenn ein Projekt nicht den Förderkriterien entspricht, erhält die Organisation eine niedrige Punktzahl.
Auch die Förderkommission ist an das Urteil der Experten gebunden. Wenn eine Organisation eine niedrige Punktzahl erhalten hat, dann hat die Kommission kein Recht, ihr eine Förderung zu geben. Wenn eine Organisation schon mal eine Förderung bekommen hat, muss sie erst einmal einen Bericht über die Verwendung vorlegen. Sobald ein Bericht vorliegt, kann sie sich wieder bewerben …
Könnten Sie trotzdem etwas zur Situation der konkreten NGOs sagen, die ich genannt habe?
Pawel, ich kann Ihnen nachher zu jeder einzelnen Organisation etwas sagen. Heißt sie genau so – Helsinki-Gruppe? Und ihr Antrag wurde abgelehnt?
Sie heißt Moskauer Helsinki-Gruppe.
Das ist der genaue Name? Und ihr Antrag wurde abgelehnt?
Man sagt, es hätte Probleme gegeben.
Da ist doch Alexejewa dabei? Letztendlich haben wir ihr doch eine Förderung gegeben, eine recht große sogar. Das kann ich Ihnen mit Sicherheit sagen. Wer also noch? Für Menschenrechte von Ponomarjow. Ich werde nachfragen. Vielleicht hat er keinen Bericht über die letzte Förderung eingereicht. Und er hat sogar Geld für andere Organisationen bekommen, wo er ebenfalls als Organisator eingetragen ist.
Oder wollen Sie etwa behaupten, dass Ponomarjow keine Förderungen bekommt? Oder Alexejewa nicht? Ich kann Ihnen zeigen, wieviel sie vom Staat bekommen! Das ist nicht wenig!
Von einer Organisation wurde der Antrag abgelehnt, weil sie nämlich im vergangenen Jahr 22 Millionen aus dem Ausland bekommen hat. Dieser eine Fond, der mit „M“ anfängt …
Memorial?
Wahrscheinlich, ja. Der Staat berücksichtigt doch alles und rechnet alles mit ein. Diese Organisation hat bereits genug, womit sie arbeiten kann. Und was die Nachtwölfe betrifft, schauen wir uns deren Projekt doch erst einmal genauer an.
Ach was. Sehen wir uns doch deren Antrag an. Sogar Sie, die Novaya Gazeta, könnten sich mit einem Projekt bewerben, obwohl sie eine Zeitung sind und wir Ihnen nicht einfach so Geld zuteilen dürften. Aber wenn Sie beispielsweise ein Projekt zur Resozialisierung von Strafgefangenen vorschlagen und das parallel unter Ihrem Label betreiben würden – warum sollte man sich das nicht anschauen? [Die Moskauer Helsinki-Gruppe bekam vom Staat 4,2 Millionen Rubel Unterstützung. Die Nachtwölfe erhielten die Präsidenten-Förderung von einer anderen Vergabestelle, die allerdings keine Menschenrechts-Mittel vergibt – Anm. d. Novaya Gazeta]
Eine Frage zum sogenannten Jarowaja-Paket. Neulich haben Sie es folgendermaßen kommentiert: Es beunruhige Sie, dass die Altersgrenze der Strafmündigkeit bei den Extremismus-Paragraphen auf 14 Jahre herabgesenkt wurde. Was ist mit den anderen Regelungen? Beunruhigen sie Sie nicht?
Die anderen Regelungen dieses Gesetzes sind ratifiziert, in Kraft getreten und zeigen ihre Wirkung. Und seitdem ist bei mir noch keine einzige Beschwerde eingegangen. Sicher, einige sprechen sich dagegen aus, aber das Gesetz wurde bereits verabschiedet. Und Gesetz ist Gesetz.
Aber kritisieren darf man es?
Das darf man. Auch ich habe mich dazu geäußert. Der Menschenrechtsrat wird die Situation beobachten, um Informationen zu sammeln und zu verstehen, wie diese Regelungen wirken und ob die Bedenken berechtigt sind, die von Menschenrechtsorganisationen und anderen Gegnern dieses Gesetzes vorgebracht werden. Vielleicht müssen dann tatsächlich dringende Veränderung in das Gesetz eingebracht werden.
Was sagt Ihnen denn Ihre Intuition?
Das ist keine Kategorie, derer ich mich in diesem Fall bedienen würde.
Sie haben sich für Ildar Dadin eingesetzt, haben eine Revision seines Urteils gefordert. Viele haben Ihre Initiative sehr positiv aufgenommen …
Was meine Initiative betrifft, ist das allerdings nicht ganz zutreffend. Bei mir ist ein Gesuch seines Anwalts eingegangen. Und solange das Gericht noch keine endgültige Entscheidung getroffen hat, verfügt die Menschenrechtsbeauftragte über die Möglichkeit, ein Gesuch an das Gericht zu richten, was ich auch getan habe. Das Oberste Gericht wird den Fall weiter prüfen. Andere Mittel hat die Menschenrechtsbeauftragte derzeit nicht.
Sind Sie mit der Position der Menschenrechtler einverstanden, Ildar Dadin sei ein politischer Gefangener?
Ich habe meine Position diesbezüglich mehr als einmal deutlich gemacht: Ich unterstütze den Gebrauch des Begriffs „politischer Gefangener“ nicht. Ich finde nicht, dass dieser Begriff dem russischen Rechtssystem angemessen ist.
Der Begriff ‚politischer Gefangener‘ ist dem russischen Rechtssystem nicht angemessen. Ich unterstütze den Gebrauch dieses Begriffs nicht
Den Begriff gibt es also nicht, aber die Menschen schon?
Was soll das heißen? Wen würden Sie in Russland denn einen politischen Gefangenen nennen?
Ich habe Ihnen doch gesagt, dass viele Menschen Ildar Dadin für einen politischen Gefangenen halten. Man hält auch den unglückseligen Mochnatkin …
Für welche Verbrechen sitzen sie denn ein? Für Verbrechen, die im Strafgesetzbuch festgeschrieben sind.
Aber die Gesetze sind in den vergangenen Jahren enorm verschärft worden. Beispielsweise das Demonstrationsgesetz.
Das Demonstrationsgesetz hat sich verändert. Aber man muss sich in jedem einzelnen Fall die Beweislage ansehen und welche Verstöße begangen wurden. Was [im Fall von Dadin] überhaupt vorlag – ein Angriff auf die öffentliche Ordnung, auf die Rechte anderer Menschen oder auf die Grundprinzipien des Staates. Es wurde allerdings von der ganzen Gesellschaft als eine gesellschaftlich gefährliche Tat eingestuft.
Dimitri Medwedew hat gern immer wieder betont, dass es in Russland notwendig sei, von der Bestrafung durch Freiheitsentzug Abstand zu nehmen, solange ein Mensch nicht das Leben, die Gesundheit oder das Eigentum anderer gefährdet hat. Was bei Dadin zutrifft. Unterstützen Sie diese Herangehensweise?
Wenn du zwei administrative Rechtsverstöße begangen hast, ist das nach unserer Rechtsprechung ein administratives Präjudiz, das zu einer strafrechtlichen Angelegenheit wird. Wie es auch im Fall von Dadin geschehen ist.
Lassen Sie uns irgendwo parken und Plätze tauschen, ich muss ein paar Anrufe machen
(Wendet sich an den Fahrer.) Lassen Sie uns irgendwo parken und Plätze tauschen, ich muss ein paar Anrufe machen.
Kann ich noch ein paar Fragen stellen?
Pascha, das sind doch sicherlich schon genug von diesen Fragen, um das Bild zu zeichnen, das ihr zeichnen wollt.
Warum sagen Sie das? Ich habe noch viele Fragen, zu denen ich gern ihre Meinung hören würde …
Die haben sie schon gehört. Sie sehen die Dinge einseitig. Weil es Sie gar nicht interessiert, wie beispielsweise die Rechte von Menschen verteidigt werden, denen gekündigt wurde, und vieles mehr. Es interessiert Sie nur ein kleiner Ausschnitt – die Schwulen und diese …
Sie sehen die Dinge einseitig. Es interessiert Sie nur ein kleiner Ausschnitt – die Schwulen und diese …
Politischen Gefangenen?
Politischen Gefangenen, genau. Golubyjeist übrigens ein schönes Wort. Alles andere interessiert Sie gar nicht, der riesige Bereich von Problemen … Was ist zum Beispiel mit den Wehrdienstleistenden, die vier Jahre lang keine Gehaltsanpassung bekommen? Oder mit alleinerziehenden Müttern oder den Müttern mit vielen Kindern, die in Moskau keine Wohnung bekommen und auf den Wartelisten nicht vorrücken?
Mich interessiert alles, Tatjana Nikolajewna. Auch der Gefangenenaustausch mit der Ukraine und viele andere Themen …
Ein Austausch stand nie zur Debatte. Es war die Rede von Übergabe, und noch nicht einmal von Übergabe, sondern von Transfer, von der Überführung verurteilter ukrainischer Bürger in die Ukraine. Und das wird noch verhandelt.
Arbeiten Sie mit der Menschenrechtsbeauftragten der DNR Daria Morossowa zusammen?
Das hat sich bisher nicht ergeben. Ich arbeite mit Lutkowskaja zusammen.
Könnten Sie darauf genauer eingehen? Das ist interessant.
Aber du fragst ja nicht. Du fragst nur was über LGBT und über die politischen Gefangenen. Sind das etwa die brennenden Fragen? Sie greifen sich einen Bereich der Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft heraus, und zwar einen sehr kleinen.
Die Fragen, die du stellst, machen 2 Prozent der eingegangenen Gesuche aus. Nur 2 Prozent!
Nehmen wir doch den Bericht für 2015 von Ella Pamfilowa. Die Fragen, die du stellst, machen 2 Prozent der eingegangenen Gesuche aus. Nur 2 Prozent! Und die restlichen – da wollen Menschen eine Wohnung, ein Dach überm Kopf, ein anständiges Gehalt, einen anständigen Urlaub, ein anständiges Gesundheitssystem. Wenn Personen mit nicht-traditioneller sexueller Orientierung unbedingt auf die Straße gehen möchten, verbietet es ihnen doch niemand …
Naja, sei’s drum. Warum regen Sie diese Fragen so auf? Lassen Sie uns über Barrierefreiheit sprechen. Darüber, dass für Rollstuhlfahrer in keiner einzigen Stadt unseres Landes ein normales Leben möglich ist. Oder über die Waisen, die dank des Dima-Jakowlew-Gesetzes in Kinderheimen dahinvegetieren. Bekommen Sie deswegen Beschwerden? Sind das Probleme mit Einzel- oder vielleicht doch mit Systemcharakter?
Als ich für das Dima-Jakowlew-Gesetz gestimmt habe, war das Ziel, unsere Kinder vor Missbrauch in ausländischen Familien zu schützen. Wissen Sie, dass der Staat damals nichts über das Schicksal von über 600 Kindern herausfinden konnte, die adoptiert und ins Ausland gebracht wurden? Was ist mit diesen Kindern? Sind sie noch am Leben? Deswegen bereue ich überhaupt nichts, ich freue mich sogar darüber, dass wir dieses Gesetz verabschiedet haben.
Als ich für das Dima-Jakowlew-Gesetz gestimmt habe, war das Ziel, unsere Kinder vor Missbrauch in ausländischen Familien zu schützen. Ich bereue überhaupt nichts
Und was die Behinderten betrifft, schauen sie doch mal in die Oblast Wladimir, wie viele Rampen und Behinderteneingänge da gebaut wurden. Gerade jetzt vor den Wahlen gibt es ein ganzes Programm für sie. Nicht nur hier, sondern russlandweit. Natürlich rückt diese Frage immer mehr in den Vordergrund. Es wurden extra dafür Gelder bereitgestellt und Förderungen geschaffen. Ja, das ist noch zu wenig. Man wünscht sich immer, dass es mehr solcher Hilfen gäbe, und dafür werde ich kämpfen. Und auch für die Behinderten, die in geschlossenen Heimen leben. Und für viele andere.
Wenn das so ist, sind wir bereit, Sie zu unterstützen.
Das würde ich so nicht sagen – nach den Fragen, die Sie stellen. Du hast es noch nicht einmal geschafft, mir Beispiele zu nennen, wo diese LGBTs in ihren Rechten beschnitten werden … In der Gesellschaft finden solche Fragen zurzeit keine breite Unterstützung.
Die Nachricht vom Mord an dem bekannten Journalisten Dimitri Zilikin erschütterte Ende März die russische Medien-Community. Zilikin, der unter anderem für Vedomosti und den Kommersant geschrieben hatte, war in seiner Petersburger Wohnung tot aufgefunden worden. Er war an dutzenden Messerstichen verblutet. Der Täter hatte außerdem Computer und Handy gestohlen und nach der Tat die Wohnungstür von außen verschlossen.
Es sind Codes wie dieser, die alle kennen: Ein alleinstehender Mann, den man tot in seiner eigenen Wohnung findet. Alles deutet auf ein Gewaltverbrechen hin, oft ist das Opfer zuvor beraubt worden. Die Publizistin Masha Gessen beschreibt in der New York Times in ihrem Artikel The Art of Reading Russian Obituaries (Die Kunst, russische Todesanzeigen zu lesen) diese Verschlüsselung von Gewaltverbrechen gegen Homosexuelle in Russland. Jeder weiß, worum es geht, aber keiner spricht darüber.
Die geringe Akzeptanz von LGBT spiegelt sich auch in dem im Juli 2013 erlassenen Gesetz, das so genannte homosexuelle „Propaganda“ unter Strafe stellt – etwa eine positive Äußerung über Homosexualität in Anwesenheit von Kindern oder Minderjährigen.
Colta.ru holt in vier Interviews mit einem Polizisten, einer Juristin und zwei schwulen Männern, die selbst Opfer homosexuellenfeindlicher Gewalt wurden, das Phänomen aus der Tabuzone.
Der Überfall geschah auf der Wassiljewski-Insel in Sankt Petersburg am 22. November 2015 gegen neun Uhr abends, im Tutschkow Pereulok. Nicht weit von der Metrostation Sportiwnaja. Ich trat aus dem Gebäude, in dem das LGBT-Filmfestival Bok o Bok („Seite an Seite“) stattfand, und ging Richtung Metro. Ich war allein.
Plötzlich sah ich mich von irgendwelchen Typen umringt, von vorn versperrte mir so ein junger Muskelprotz den Weg, einer mit Schnurrbart. Das war nicht irgendein normaler Kerl, das war so ein Kampfsporttyp. Und hinter mir, wie wenn die Welpen auf die Jagd mitgenommen werden, so Jungsche. Wolfswelpen. Die werden mitgenommen, damit sie lernen, wie man jemanden angreift. Vielleicht waren sie noch nicht mal volljährig.
Sie haben mehr als sieben Minuten lang auf mich eingeschlagen. Wie viele es waren, kann ich nicht mehr genau sagen
Die Typen sahen alle slawisch aus, keine Spur kaukasisch. Es war ein Gefühl wie im Krieg: die werden dich töten, einfach, weil du Soldat bist. Also es hat keiner mit mir gesprochen. Der Typ, der mir den Weg versperrte, sagte so was wie „Hallo Schwuchtel“ oder „Hier nimm das, du Schwuchtel“. Dann habe ich die Arme vor dem Gesicht verschränkt und nichts mehr gesehen.
Zwei Rippen haben sie mir gebrochen und die Nieren verletzt. Sie haben mehr als sieben Minuten lang auf mich eingeschlagen. Wie viele es waren, kann ich nicht mehr genau sagen. Als ich mich losreißen konnte, drehte ich mich um – da standen mindestens zehn Leute und skandierten: „Gute Schwuchtel – tote Schwuchtel“.
Ich nahm die Beine in die Hand, rannte bis zur Uferstraße und rief sofort die Polizei. Wie ich gehörte habe, kam die Polizei später auch, doch sie fanden niemanden mehr vor, was offenkundig auch gar nicht ihr Interesse war.
Der Rettungswagen las mich auf der Straße auf und brachte mich ins Marijnski-Krankenhaus. Sowohl den Ärzten als auch der Polizei erklärte ich, dass es sich um einen homophob motivierten Übergriff gehandelt hat. Mit der Polizei sprach ich am Tag des Überfalls allerdings lediglich am Telefon. Persönlich konnte ich die Ermittlerin erst eine Woche später treffen. Sie hieß Olga. Bei ihr machte ich im Beisein meiner Anwältin auch eine ausführliche schriftliche Aussage.
Mir ist generell nicht wohl, wenn ich mit der Polizei zu tun habe. Ich bin ja ein sowjetischer Mensch, ich weiß nur zu gut, was die von LGBT halten
Als ich bei der Polizei eintraf, war die Atmosphäre unangenehm. Ich hatte lauter Verletzungen, fühlte mich unbehaglich. Mir ist generell nicht wohl, wenn ich mit der Polizei zu tun habe. Ich bin ja ein sowjetischer Mensch, 50 Jahre alt bin ich jetzt, und ich weiß nur zu gut, was die bei der Polizei von LGBT halten.
Die Polizisten sahen mich argwöhnisch und später geradezu feindselig an. Olga unterhielt sich kurz mit mir, gab mir drei Blätter, auf denen ich die Geschehnisse beschrieb. Sie nahmen meine Anzeige auf, doch die Täter wurden praktisch nicht gesucht. Selbst ein Strafverfahren leiteten sie erst auf Antrag meiner Anwältin ein, und zwar wegen „leichter Körperverletzung“ und ohne Hinweis auf den strafverschärfenden Umstand, dass es sich um ein Hassverbrechen handelte.
Nach einiger Zeit wurde das Verfahren eingestellt, da die Identität der Täter „letztlich nicht festgestellt werden konnte“. Meine Anwältin legte bei der Staatsanwaltschaft Berufung ein, der Fall wurde anhand desselben Paragraphen noch einmal wiederaufgenommen, später aber auch wieder eingestellt.
Zu Sowjetzeiten war die Miliz Homosexuellen gegenüber feindlich eingestellt, Homosexualität galt als Verbrechen. In den 90ern wurde das etwas besser, aber in den 2000er Jahren war alles wieder beim Alten.
Maria Koslowskaja, Juristin der Petersburger Menschenrechtsorganisation LGBT-Netz
In Petersburg setzte etwa 2012 eine Welle der Gewalt gegen Homosexuelle ein, die Situation hat sich deutlich verschärft. Vorher kamen Übergriffe wesentlich seltener vor, und selbst wenn es welche gab, sprang einem daraus nicht unverhohlene Homophobie entgegen. Die Täter sagten nicht: „Ich schlage dich, weil du schwul bist.“ Jetzt verteidigen sie das Anti-Propagandagesetz, und der Zusammenhang zwischen diesem Gesetz und der Zunahme an Gewalt gegen LGBT liegt auf der Hand. Das Gesetz wird als Zeichen aufgefasst, dass solche Gewalt zulässig ist.
Der Zusammenhang zwischen dem Anti-Propagandagesetz und der Zunahme der Gewalt gegen LGBT liegt auf der Hand
Häufig handelt es sich um organisierte Kriminalität, um Erpressung. Oftmals gehen die Täter so vor wie früher die Bewegung Occupy Pedofiljaj („Occupy Pädophilie“): Auf Online-Kontaktseiten (der letzte Fall, mit dem wir befasst waren, lief über die Mobile Dating–App Grindr), manchmal auch in sozialen Netzwerken wie VKontakte, wird ein Fake-Profil eines – meist zwischen 18 und 20 Jahre alten – jungen Mannes erstellt. Dann wird das Opfer zu einem Date eingeladen, wobei darauf bestanden wird, dass es irgendwohin zu Besuch kommt. Dann lotsen sie es in eine Wohnung.
Nach einer Weile kommt eine Gruppe junger Männer herein, manchmal mit Kamera, und sie fangen an, den Betroffenen zu beleidigen, Geld von ihm zu erpressen, sie nehmen ihm sein Telefon ab, schüchtern ihn ein, drohen, ihn in der Verwandtschaft und vor Kollegen anzuschwärzen, wenden physische Gewalt an.
Oft nehmen sie ihm seine Sachen ab: Handtasche, Handy, Pass, elektronische Geräte. Wenn derjenige eine Bankkarte hat, wird er zum Geldautomaten eskortiert.
Es gab Fälle, in denen die Täter dem Opfer den Pass abgenommen haben und später für die Rückgabe Geld forderten. Die extreme Form dieser Praxis sieht so aus, dass die Treffen von vornherein einzig mit dem Ziel der Gewalt und Misshandlung organisiert werden.
Nicht nur, dass die Polizei in Fällen, die sie als „ausgedacht“ betrachtet, oft keine Anzeige aufnehmen will, sie beleidigt die Opfer auch noch
In den meisten Fällen wollen die Opfer nicht zur Polizei gehen. Sie sind eingeschüchtert, haben Angst ihre sexuelle Orientierung zu offenbaren, darum wenden sie sich an uns.
Ich selbst habe einmal jemanden begleitet, dem sie den Pass abgenommen hatten, wir gingen zur Polizei, um Anzeige zu erstatten. Der Ermittler saß da und hielt sich an irgendwelchen nebensächlichen Details auf, dann schlug er vor, den Täter anzurufen, der natürlich nicht abnahm.
Sein Kollege kam aus dem Dienstzimmer und ich hörte, wie er im Flur laut lachte und zu jemandem sagte: „Jetzt kommen hier die Schwuchteln zu uns – das fehlte noch, dass wir die schützen …“ Der Mann, der der Misshandlung und Erpressung ausgesetzt gewesen war, hörte alles mit.
Nicht nur, dass die Polizei in Fällen, die sie als ausgedacht betrachtet, oft keine Anzeige aufnehmen will, sie beleidigt die Opfer auch noch. Von allen von uns zur Anzeige gebrachten Fällen wurde nicht in einem einzigen ordnungsgemäß ermittelt.
2015 hat unsere Organisation LGBT-Netz 284 Fälle von Gewalt und Diskriminierung dokumentiert. Insgesamt haben im vergangenen halben Jahr 107 Menschen uns um Rechtsbeistand ersucht.
Ein Unterleutnant der Polizei, Abschnittsbevollmächtigter im Nordöstlichen Verwaltungsbezirk von Moskau (auf eigenen Wunsch anonym)
In meiner Dienstpraxis gab es das nicht, Hilfsgesuche von Homosexuellen. Aber ich habe auch nie gehört, dass man ihre Anzeigen einfach unter den Tisch fallen lässt. Weder von meinen Kollegen noch im Fernsehen habe ich so etwas gehört.
Wir haben unsere Arbeit, und die erledigen wir, egal, welchem Glauben ein Mensch anhängt, welchen Lebensprinzipien oder welcher sexuellen Orientierung, das macht im Prinzip keinen Unterschied.
Ich finde Homosexualität nicht gut. Aber es ist nicht so, dass ich sagen würde: Man muss die alle kaltmachen oder so
Wenn hier zwei Schwule ankommen, die man verprügelt hat, dann nehme ich ihre Anzeige auf. Schließlich sind sie genauso Bürger wie alle anderen. Meine Meinung habe ich dabei sicher im Hinterkopf, aber meine Arbeit, die erledige ich. Wir haben ja auch noch Instanzen über uns, die uns auf die Finger schauen.
Generell habe ich allerdings meine eigene Position, was das angeht. Ich finde Homosexualität nicht gut. Aber es ist nicht so, dass ich sagen würde: Man muss die alle kaltmachen oder so. Ich weiß, dass diese Leute existieren, so in ihren eigenen Kreisen. Bitte, da sollen sie leben, wie es ihnen passt. Hauptsache, sie tragen das nicht in die breite Gesellschaft.
Solange sie sich in meiner Gegenwart genauso benehmen wie ganz normale Menschen, sich nicht mehr herausnehmen als jeder normale Mensch – solange ist mir das egal. Aber irgendwelche Zärtlichkeiten, oder wenn sie sich gegenseitig anfassen und ich bin dabei – das lasse ich nicht zu.
Wenn sie sich küssen – das ist echt abstoßend und unanständig, das will ich nicht, in meinen Augen ist das pervers, und dafür muss man sich irgendeinen Paragraphen ausdenken. Das Gesetz gegen die Homo-Propaganda unterstütze ich voll und ganz.
Ich sehe mich als russischen Menschen, unsere russische Kultur war immer gegen so etwas. Und auch unser Land ist dagegen
Um ehrlich zu sein, hab ich in den 26 Jahren meines Lebens noch nie Schwule getroffen. Hab nie welche gesehen, hab nur irgendwie davon gehört, dass es so was gibt. Gesehen habe ich das nur auf YouTube, wie sie da ihre Paraden veranstalten, aber so hatte ich nie damit zu tun.
Wenn jetzt zum Beispiel ein Freund von mir so einer wäre und ich das mitkriegen würde, würde sich meine Einstellung zu ihm ändern. Ich würde ein bisschen vorsichtig sein mit ihm. Nicht dass ich ihn verprügeln würde oder so … Aber wir hätten weniger Kontakt, ich würde nicht mit ihm durch den Park spazieren oder Eis essen gehen. Ich würde den Umgang auf das Nötigste beschränken.
Ich sehe mich als russischen Menschen, unsere russische Kultur war immer gegen so etwas. Und auch unser Land ist dagegen. Meine Kollegen bei der Polizei – das sind auch Menschen und die stehen dem auch ablehnend gegenüber.
Sie sind nun mal da, keiner kann sie leiden, was gibt’s da groß zu reden
Über solche Themen unterhalte ich mich mit meinen Kollegen natürlich nicht, da gibt es nichts zu unterhalten. Kann sein, dass mal ein Wort das andere gab und ein bisschen über diese Leute gekichert wurde. Sie sind nun mal da, keiner kann sie leiden, was gibt’s da groß zu reden.
Wenn, sagen wir, zwei Schwule sich zur Wehr setzen und mit jemandem aneinandergeraten würden, dann würde ich das vom Standpunkt des Gesetzes aus betrachten. Aber innerlich wäre ich natürlich auf der Seite des normalen Menschen und nicht auf der des Schwulen. Ich würde ihm zu verstehen geben, wie er es anstellen muss, damit er das Gesetz nicht verletzt. Ich meine, wie er es klug anstellt, um aus der Sache als Sieger hervorzugehen.
Alexander Smirnow, ehemaliger Assistent des Pressesprechers der Vizebürgermeisterin von Moskau im Bereich Bauwesen und Stadtentwicklung
Das erste Mal, dass ich mit einem Mord an einem Schwulen unmittelbar zu tun hatte, war noch in Blagoweschtschensk. Das war 2003. Viktor war 39. Er war Leiter einer bedeutenden Immobilienagentur. Damals hatte ich Angst, dass die polizeilichen Ermittler anfangen, alle Leute zu überprüfen, mit denen der Ermordete am Tag zuvor telefoniert hatte. Meine Angst war nicht, dass man mich der Tat verdächtigen könnte, sondern dass meine sexuelle Orientierung öffentlich gemacht werden würde.
Den Freund einer Freundin von mir haben sie auch umgebracht, das war im Sommer 2010, der Junge war 26 Jahre alt
Dann kam die Serie von Journalistenmorden in Moskau. Einzelne Hauptstadtmedien schrieben bereits offen über die Homosexualität der Opfer, zu denen Journalisten der Sender Erster Kanal, NTW, TV-Zentr und Expert-TV gehörten. Einige der Ermordeten hatte ich persönlich gekannt, und ich bekam das Gefühl, dass eine gezielte Jagd im Gange war. Im Grunde kam dieses Gefühl lediglich daher, dass der Mord an einem Journalisten für die Medien interessanter ist als der Mord an einem Verkäufer oder einem Buchhalter.
Die Zahl der getöteten schwulen Journalisten ist auch deshalb so erschreckend, weil man sich automatisch fragt, wie hoch wohl die realen Homophobieopfer-Zahlen sein mögen.
Den Freund einer Freundin von mir haben sie auch umgebracht, das war im Sommer 2010, der Junge war 26 Jahre alt, Dimitri Okkert. Er arbeitete beim Fernsehen. Als er einmal zwei Tage lang nicht aufgetaucht war, ging sie in seine Wohnung, die Tür stand offen, der Freund war tot, an seinen Stichverletzungen gestorben.
Ich kochte was, deckte den Tisch, der Fernseher lief auf voller Lautstärke. Das nächste, woran ich mich erinnere, ist ein Schlag auf den Kopf.
Ich weiß noch, wie sie damals zu mir sagte: „Man darf keine Zufallsbekanntschaften mit nach Hause nehmen.“ Aber wie oft muss man sich mit jemandem treffen, bevor man ihn zu sich nach Hause einlädt? In meinem Fall kam es zu einem Übergriff, nachdem der Mensch vorher schon einmal bei mir gewesen war.
2012 hatten wir uns kennengelernt, auf neutralem Boden, in Moskau, dann fuhren wir zu mir, hatten Sex. Nach einiger Zeit rief der Typ an und sagte, er wolle sich noch einmal mit mir treffen. Ich wohnte damals in Koroljow, wir fuhren mit der Elektritschka zu mir. Sein Komplize saß im selben Zug.
Wir schlossen die Haustür auf, alles okay, ich kochte was, deckte den Tisch, der Fernseher lief auf voller Lautstärke. Das nächste, woran ich mich erinnere, ist ein Schlag auf den Kopf, ich verlor aber nicht das Bewusstsein und erkannte am Geruch, dass sie mir eine Bierflasche über den Kopf gezogen hatten. Ich drehte mich um und sah, dass der Typ einen abgeschlagenen Flaschenhals in der Hand hielt. Neben ihm stand der andere, den er unbemerkt hereingelassen hatte. Ganz normale Jungs, slawisches Aussehen, nichts Auffälliges. Der eine hielt mir die abgebrochene Flasche an den Hals, der andere setzte mir das Messer an die Kehle.
Ich hatte eine Wahnsinnsangst. In diesen Sekunden wurde mir klar, dass das das Ende war
Ich war barfuß, trat auf die Glasscherben, doch ich fühlte keinen Schmerz. Ich blutete am Kopf. Ich hatte eine Wahnsinnsangst. In diesen Sekunden wurde mir klar, dass das das Ende war. Ich konnte absolut nichts tun. Zwei Typen, bewaffnet, Fliehen war vollkommen sinnlos. Meine Kehle war knochentrocken. Ich konnte gerade noch denken, Scheiße, ich hab keine Angst zu sterben, aber zu so einem Tod bin ich nicht bereit. Das erste, was ich sagte, war: „Nehmt alles, den Computer, das Geld, aber lasst mich am Leben.“ Erniedrigend, aber so war es. Etwa eine Stunde lang quälten sie mich. Und dabei sagte der Typ, mit dem ich mich vorher schon getroffen hatte, allen Ernstes: „Wegen solchen wir dir ist mein Bruder jetzt auch schwul geworden.“ Sich selbst betrachtete er also nicht als schwul.
Dann verlangten sie Beweise, dass ich niemandem etwas erzählen würde. Ich hatte einen coolen Job damals, wenn die dort erführen, was Sache ist, würden die mich entlassen, erklärte ich, und darum würde ich nicht zur Polizei gehen. Schließlich zwangen sie mich noch, mich auszuziehen, machten pornografische Fotos, nahmen mein Notebook, mein Handy und mein Bargeld.
Nach der ganzen Sache setzte ich mich aufs Sofa und versuchte einfach nur meine Atmung wieder in den Griff zu kriegen
Erst wollten sie, dass ich mit meiner Karte Geld am Automaten abhebe, während sie danebenstehen, aber dann überlegten sie sich wohl, dass das nicht ungefährlich wäre, durchwühlten noch die ganze Wohnung und zogen ab. Als sie gingen, sagten sie, sie würden unten im Hausflur warten, sie wollten sichergehen, dass ich nicht um Hilfe rufe.
Nach der ganzen Sache setzte ich mich aufs Sofa und versuchte einfach nur meine Atmung wieder in den Griff zu kriegen. Dann holte ich mein altes Notebook heraus, schrieb einem Freund, er solle meine Chefin, die stellvertretende Bürgermeisterin, anrufen und sie informieren, dass ich nicht zur Arbeit kommen würde, ich sei auf der Straße überfallen worden und liege im Krankenhaus. Meine Kollegen wollten mich besuchen kommen, aber ich lehnte ab. Ich war nicht imstande, jemanden zu sehen.
Als ich mit der besagten Freundin von mir sprach, meinte die nur: „Ich habe dich ja gewarnt.“ Doch ich brauchte etwas anderes, ich brauchte unterstützende Worte, und ich war enorm verletzt damals. Heute verstehe ich, dass es einfach zu schlimm für sie gewesen wäre, noch einen Freund zu begraben.
Was ich in der Zeit danach durchgemacht habe, wünsche ich niemandem. Ständig dachte ich, ich begegne diesen Typen wieder
Was ich in der Zeit danach durchgemacht habe, wünsche ich niemandem. Es hat mich extrem belastet, weiter in der Wohnung zu wohnen, auch in der Metro hatte ich Angst, ständig dachte ich, ich begegne diesen Typen noch einmal wieder.
Oft sind die Leute erstaunt, dass ich niemanden über die Sache informiert habe, mich nicht einmal um psychologische Unterstützung bemüht habe. Für mich war das so: Ich habe überlebt, aus und gut. Aber so ist das für russische Homosexuelle, wir müssen mit solchen Übergriffen selbst fertig werden. Denn nach der physischen Gewalt machst du ja noch die psychische Vergewaltigung in der Notfallambulanz durch, und bei der Polizei. Dabei sollte nicht das Opfer sich schämen, sondern der Täter. Unsere falsche Scham führt dazu, dass die Täter ungestraft bleiben.
Mittlerweile bin ich seit 15 Monaten in den USA, ich habe einen Job als Lagerarbeiter. Ich mache Therapie … Also ich denke, ich bin wahrscheinlich so weit okay … Ich hab einen Dreizehnstundentag. Aber ich habe kein einziges Mal bereut, dass ich Russland verlassen habe.