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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Die unsichtbaren Repressionen gegen Queers

    Die unsichtbaren Repressionen gegen Queers

    Kurz bevor Alexander Lukaschenko 1994 zum ersten Mal Präsident wurde, war im unabhängigen Belarus Homosexualität legalisiert worden. Nicht-heteronormative Lebensstile konnten langsam öffentlich thematisiert werden, Belarus feierte seine erste Queer-Ikone.

    Doch die Hoffnungen auf mehr Sichtbarkeit und Anerkennung grundlegender Rechte von LGBTQ* Personen währten kurz. Stattdessen forderte strukturelle Diskriminierung von ihnen Selbsrverleugnung, bald folgte systematische Verfolgung. Als das Kulturministerium in Lukaschenkos Diktatur 2024, wenige Monate vor Beginn der Wahlkampagne zur überstürzten Präsidentschaftswahl im Januar 2025, dann Queer-Sein juristisch mit „Pornografie“ gleichsetzte, gerieten alle lesbischen, schwulen, bi- und transsexuellen Menschen ins Fadenkreuz des belarussischen Sicherheitsapparates.

    Die dekoder-Autorin Xenija Tarassewitsch und der Aktivist Oleg Roshkow erläutern, wie Repressionen die Liberalisierung gegenüber der LGBTQ* Community seit der Unabhängigkeit 1991 ersetzten. Wie die belarussische Gesellschaft, die sich für tolerant hält, darauf reagierte. Und warum belarussische Queers benachteiligt werden, wenn es um die internationale Anerkennung ihrer Verfolgung in Belarus geht, beispielsweise bei Asyl-Verfahren im Ausland.

    Lukaschenkos Repressionsapparat macht sich bereit: Queers mit Regenbogenflagge unterstützen am 20. September 2020 den friedlichen Protest gegen die gefälschten Präsidentschaftswahlen in Minsk. / Foto © Depositphotos/Imago

    Allein im September 2024 wurden in Belarus laut der Menschenrechtsorganisation Legal Initiative 15 bis 20 Menschen aus der LGBTQ* Community festgenommen. Bekannt wurde auch die Inhaftierung von acht trans* Personen. Die Silowiki erstellten gegen sie Anzeigen wegen „Rowdytums“. Gegen zwei von ihnen wurden Strafverfahren wegen „Verbreitung pornografischen Materials“ eingeleitet.

    Ein Jahr zuvor, im September 2023, hatte die belarussische Regierung begonnen, einen Gesetzentwurf – analog dem russischen Gesetz – zum Verbot von „Propaganda nichttraditioneller sexueller Beziehungen“ zu erarbeiten. Kurz darauf begannen Razzien auf queeren Partys (ähnlich wie zur gleichen Zeit in Russland und obwohl das Gesetz in Belarus bis heute nicht angenommen ist – dek.), bei denen die Silowiki persönliche Daten der Besucher sammelten.

    Doch das war nicht immer so. Als Belarus in den 1990er Jahren unabhängig wurde und Alexander Lukaschenko erst anfing Richtung Alleinherrschaft zu streben, war die Situation weitaus verheißungsvoller.

    Nur Kultur, keine Menschenrechte

    Homosexuelle Beziehungen wurden in Belarus im Jahr 1994 entkriminalisiert, drei Jahre nach Erlangung der Unabhängigkeit und nur wenige Monate vor Lukaschenkos Machtantritt. Bis dahin hatte das sowjetische Gesetz mit dem Artikel über „Unzucht zwischen Männern“ gegolten.

    Der Machtwechsel, gefolgt vom Wechsel des politischen Regimes, brachte anfangs keine sichtbaren Veränderungen bei einer sich abzeichnenden Liberalisierung. Über Themen wie Sex und Homosexualität wurde nun mehr oder weniger offen gesprochen. In Belarus gab es zu dieser Zeit auch die erste queere Ikone: Edzik Tarlecki alias Madame Zju-Zju.

    „Seit den 1990er Jahren gab es einen Konsens: Man kann sich in der Kultur engagieren, aber nicht in den Menschenrechten, – erst recht nicht über die Rechte und Probleme der Community sprechen“, erklärt Oleg Roshkow, Gründer der Medieninitiative J4T (Journalists For Tolerance).


     

    Madame Zju Zju performt „Ach, kakaja shenschtschina!“ (1995, dt. Ach, was für eine Frau!) der ukrainisch-sowjetischen Gruppe Freestyle  aus Poltawa, begleitet von einem „betrunkenen Chor“. / Quelle: youtube.com/@Norma Pospolita Madame Zju Zju 

    Chronik belarussischer Pride-Märsche

    Das belarussische Online-Magazin Make Out hat vor einigen Jahren, noch vor der jüngsten Verfolgungswelle, eine Chronologie der Pride-Demos veröffentlicht, die halblegal in Minsk stattfanden.

    Im Jahr 1999 fanden dank der Organisatoren der ersten Minsk Pride neben den Wettbewerben Mr. Gay Belarus und Transmission auch ein Bildungsprogramm und eine Konferenz zum Thema Rechte von Schwulen und Lesben statt. In der Nacht stürmte OMON den Club, in dem alles stattfand. Dennoch nahmen an der ersten belarussischen Pride ungefähr 500 Menschen teil.

    Im Jahr 2001 gab es dann den ersten richtig großen Pride-Marsch: Zwischen 500 und 2000 Teilnehmende versammelten sich in der Nähe des Minsker Stadtzentrums unter Regenbogenflaggen. Zwar war die Veranstaltung nicht von den Behörden genehmigt, dennoch verlief alles ohne Zwischenfälle. Indes sah sich aber Tarlecki aka Madame Zju Zju schon Mitte der 2000er Jahre gezwungen, in die Ukraine zu gehen. 

    In den Folgejahren fanden kleinere Aktionen statt, zum Beispiel 2008. 2010 lösten OMON-Einheiten die Pride auf und verprügelten Teilnehmende. Im folgenden Jahr wurde der LGBTQ*-Marsch am Stadtrand von Minsk abgehalten, um Gewalt zu vermeiden. Die letzte öffentliche Aktion fand 2012 statt: Aktivist*innen fuhren mit Plakaten und Regenbogenfahnen in Straßenbahnen durch die Stadt.

    Für die achte Minsk Pride am 2. Oktober 2012 mieteten die Organisator*innen eine eigene Straßenbahn und dekorierten sie mit bunten Ballons und Regenbogenflaggen. Eine Demonstration zu Fuß war zuvor verboten worden. / Foto © Zuma Press/ Imago

    Die „Causa Pi“

    Oleg Roshkow widerspricht einer unter Belarussen verbreiteten Vorstellung von Toleranz und betont, dass queere Menschen in Belarus nur hinter verschlossenen Türen sie selbst sein können. Im öffentlichen Raum seien sie stets gezwungen sich zu verstellen. Roshkow nennt diese Praxis „soziale Kastration“. 

    „Solange man so tut, als sei man heterosexuell, wird man von der Gesellschaft toleriert, obwohl alle alles wissen. Wenn ich mich aber öffentlich zu meiner Homosexualität bekenne, folgen massive negative Reaktionen: ‚Wie kannst du es wagen, deine Homosexualität zur Schau zu stellen‘“, erklärt Roshkow.

    Die vielleicht bekannteste homophobe Straftat in der Geschichte des unabhängigen Belarus war der sogenannte Fall Pi: Am 25. Mai 2014 wurde der Architekt Michail Pischtschewski nach einer privaten Party in Minsk überfallen und verprügelt. Er lag einen Monat lang im Koma, aufgrund großflächiger Hämatome mussten ihm 20 Prozent der Gehirnmasse entfernt werden. 

    Es ist eine Sache, Schwule nicht zu mögen, aber eine andere, einen Menschen zu töten.

    „Michails Geschichte ging mir persönlich sehr nah“, erinnert sich Roshkow. „Ich kannte ihn nicht, aber als ich von seinem Fall erfuhr, half ich seinen Eltern dabei, Geld für die Behandlung zu sammeln. Zunächst waren sie dagegen, die Sache öffentlich zu machen, aber dann arbeiteten sie mit der Presse zusammen, weil es eine Chance gab, ihn zu retten. “

    Auch die Nicht-Queers leisteten in diesem Fall erhebliche Unterstützung, so Roshkow: „Es ist eine Sache, Schwule nicht zu mögen, aber eine ganz andere, einen Menschen zu töten. Viele Belarussen sahen eine Grenze überschritten, als sie diesen Fall sahen.“

    Michail erlangte das Bewusstsein zwar wieder, seine Gehirnfunktionen blieben jedoch eingeschränkt. Am 25. Oktober 2015 starb er an einer Hirnhautentzündung.

    Verstaatlichte Homophobie

    Roshkow bewertet den Angriff auf Pischtschewski als Signal für alle LGBTQ* Menschen, denn jede*r von ihnen hätte an seiner Stelle sein können. Dennoch sei Queerfeindlichkeit lange Zeit nicht institutionalisiert gewesen. So waren in Minsk queere Partys durchaus erlaubt, auch wenn sie oft Razzien erlebten. Doch nach Ansicht des Experten habe es lange keine konkrete politische Entscheidung gegeben, die queere Community systematisch zu verfolgen.  

    Die Trendwende fand Roshkows NGO J4T in zunehmender Hetze gegen LGBTQ* in belarussischen Staatsmedien: in der ersten Hälfte des Jahres 2020 in zehn Prozent der Veröffentlichungen, in der zweiten Hälfte bereits in 20 Prozent. Und im Jahr 2021 enthielt bereits jede vierte Veröffentlichung zum Thema LGBTQ* Hassrede.

    „Es gibt in den staatlichen Medien eine Kampagne gegen die queere Community“, sagt Roshkow. „Nach unseren Maßstäben bedienen sich die Propagandisten der gröbsten Form von Hassrede.“

    Wenn ich ein Foto, auf dem ich meinen Freund auf die Wange küsse, in ein soziales Netzwerk gestellt hätte, könnte ich wegen Pornografie vor Gericht kommen.

    Von indirektem Druck gingen die belarussischen Behörden schließlich zu direkten Maßnahmen über: Im April 2024 verabschiedete das Kulturministerium einen Beschluss, der „nichttraditionelle Beziehungen“ mit Pornografie gleichsetzt. Und nun können die Strafverfolgungsbehörden praktisch jede Darstellung eines homosexuellen Paares oder einer trans* Person nach Artikel 343 des Strafgesetzbuchs verfolgen, der eine Strafe von bis zu vier Jahren Gefängnis vorsieht.

    „Wenn ich vor fünf Jahren ein Foto, auf dem ich meinen Freund auf die Wange küsse, in ein soziales Netzwerk gestellt hätte, könnte das jetzt als Pornografie angesehen werden. Und ich könnte für die Verbreitung des Fotos vor Gericht kommen“, erklärt Roshkow.

    Menschenrechtsaktivisten von Legal Initiative schreiben, dass mittlerweile sämtliche nichtheterosexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen, auch wenn sie in gegenseitigem Einverständnis bestehen, als etwas Illegales interpretiert werden, was die gesellschaftliche Missbilligung und die Rechtfertigung von Gewalt gegen Queers verstärkt. 

    Transition ja, Toleranz nein

    Zwar ist Belarus immer noch eines der wenigen Länder, in denen nach Änderung der entsprechenden Rubrik im Reisepass eine Transition mit kostenloser Hormontherapie und chirurgischer Geschlechtsangleichung möglich ist. Voraussetzung ist allerdings das Einverständnis einer sechs- bis achtköpfigen ärztlichen Kommission. 

    Trans* Personen werden dennoch diskriminiert. Menschenrechtsaktivist*innen berichteten im Jahr 2024 von den Erfahrungen des trans* Mannes Marat. Er machte die Transition und erhielt neue Dokumente. Aber seine Daten in den Geburtsurkunden seiner vier Kinder konnte er nicht ändern lassen – die Standesämter verweigerten ihm das.

    Später gingen bei der Schulverwaltung anonyme Anzeigen wegen angeblicher häuslicher Gewalt ein. Marat bekam Kontrollbesuche. Bald darauf wurde er erneut vor die medizinische Kommission bestellt, wo die Genehmigung zur Transition annulliert und die Rückgabe seiner Dokumente verlangt wurde. Marat floh letztlich mit seinen Kindern nach Frankreich. 

    Europäische Bürokraten sehen „keine Diskriminierung“  

    Abgesehen von all dem gibt es in Belarus noch kein Verbot von „Propaganda [nichttraditioneller Beziehungen – dek.]“ wie in Russland, und die LGBTQ* Gemeinschaft ist auch nicht als „extremistische Bewegung“ eingestuft.

    Aktivist*innen und Expert*innen zufolge verschlechterten sich jedoch die Aussichten für konkrete Personen. Wie Roshkow betont, sind heute alle queeren Menschen in Gefahr, da die Silowiki auch ohne solche Verbote über ein umfangreiches Instrumentarium verfügten, um jede queere Person verhaften zu können. Angesichts der allgemeinen Repression schätzt Roshkow die Situation queerer Menschen in Belarus als noch schwieriger als in Russland ein.

    Dass wir kein Gesetz haben, macht die Situation nur noch schlimmer. Belarussische Queers können international nicht um Hilfe und Schutz bitten.

    Gleichzeitig erregt Belarus weniger Aufmerksamkeit, die dortige LGBTQ* Community erfahre wenig Unterstützung. Auf Hilfe aus dem Ausland könne man nicht zählen.

    Andrej Sawalej, Koordinator der Fall-Pi-Kampagne, sieht das ähnlich: „Die Tatsache, dass wir kein Gesetz haben, das LGBTQ* Menschen (direkt) diskriminiert, macht die Situation nur noch schlimmer. Belarussische Queers können international nicht um Hilfe und Schutz bitten. Aber Russen können das – sie haben das Gesetz über ‚Propaganda für nichttraditionelle Beziehungen‘, sie bekommen Asyl in Europa. Belarussische Queers leben in der gleichen Realität, aber die europäischen Beamten sagen ihnen: ‚Ihr werdet nicht diskriminiert.‘“

    Queere Flüchtlinge bekommen in den meisten Fällen ein humanitäres Visum für Litauen, aber Litauen gibt ihnen nicht immer auch eine Aufenthaltsgenehmigung oder den Flüchtlingsstatus. Dies gilt insbesondere für trans* Personen, da es in Litauen selbst an notwendigen medizinischen Einrichtungen für Geschlechtsangleichung und Hormontherapie fehlt.

    Die meisten queeren Menschen in Belarus haben keine Möglichkeit, das Land zu verlassen. Das ist ein seltenes Privileg.

    Auch in anderen EU-Ländern gibt es Schwierigkeiten, einen legalen Status zu erhalten. Infolgedessen sitzen Belarus*innen in der Falle: ohne Zugang zu lebenswichtigen medizinischen Leistungen und ohne Chancen auf Asyl. „Man muss bedenken, dass die meisten queeren Menschen in Belarus keine Möglichkeit haben, das Land zu verlassen“, erinnert Roshkow. „Das ist ein seltenes Privileg. Darum wollen sie vor allem ein normales Leben führen. Unsere Aufgabe ist es, ihnen in dieser ‚neuen Normalität‘ zu helfen.“

    Trotz aller Schwierigkeiten machen die queeren Aktivist*innen weiter: „Wichtig für die Community sind gemeinsame Erfahrungen, Zusammengehörigkeitsgefühl und Unterstützung. Bis vor Kurzem konnten viele Initiativen noch Offline-Veranstaltungen organisieren, aber jetzt ist das nicht mehr sicher“, sagt Roshkow. „Die Menschen wollen positive Nachrichten, interessieren sich für Lifestyle, Kultur-Events, suchen Beispiele für erfolgreiche belarussische Queers. Und praktische Informationen: Wie man als gleichgeschlechtliches Paar in Belarus eine Wohnung mietet, wie man die Geschlechterrollen in einer Beziehung verteilt, wie man toxische Beziehungen und Fake-Dates vermeidet.“

    Das Schweigen der demokratischen Kräfte

    Roshkow hat keinen Zweifel daran, dass Belarus irgendwann doch auch ein „Propaganda“-Gesetz verabschieden wird. In Anbetracht der bereits bestehenden Gesetze zur „Pornografie“ dürfte es jedoch nicht besonders hart ausfallen, glaubt der Experte.  Was in der Queer-Community auch aufgefallen sei, meint Roshkow, ist, dass die demokratischen Kräfte die LGBTQ* Community während der Diskussion über den „Pornografie“-Gesetzesentwurf, als parallel die mediale Hasskampagne gegen sie gestartet wurde, in keiner Weise unterstützt hätten. Eine der wenigen, die sich negativ dazu äußerten, war Olga Gorbunowa, die – mittlerweile ehemalige – Sprecherin für Sozialpolitik des Vereinigten Übergangskabinetts.

    Wir machen uns keine Illusionen. Uns ist klar, dass wir uns nur auf uns selbst verlassen können.

    Roshkow vermutet, dass in der breiten Wählerschaft von Swetlana Tichanowskaja nicht alle tolerant gegenüber der queeren Community sind. Seit die Unterstützung für Tichanowskaja schwinde, versuche sie, diese zu erhalten, indem sie „sichere Positionen“ vertritt. Es gebe keinen politischen Willen, eine kleine Gruppe zu unterstützen, wenn man riskiert, die breite Zustimmung zu verlieren. 

    „Wir sollten versuchen, uns durchzusetzen und Belarus in den Medien und der Kunst wieder auf die Tagesordnung zu bringen“, sagt Roshkow. Außerdem könne man über diplomatische Kanäle arbeiten, müsse mehr an nicht öffentlichen Treffen und Verhandlungen teilnehmen. „Wir machen uns keine Illusionen, dass uns jemand unterstützen wird. Uns ist klar, dass wir uns nur auf uns selbst verlassen können. Aber wir lassen uns nicht unterkriegen.“

     

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  • Alles weg, was queer wirkt

    Alles weg, was queer wirkt

    Die Zensur ist zurück im russischen Verlagswesen. Ihr größter Feind: vermeintliche LGBTQ-Geschichten. 

    Die staatliche Verfolgung nicht-heteronormativer Ideen, also jeglicher Lebensentwürfe, die nicht der „traditionellen Partnerschaft“ oder Vater-Mutter-Kind-Familie entsprechen, zieht sich seit Langem durch die sowjetisch-russische Geschichte. Unter Putin nehmen die Repressionen seit über zehn Jahren immer strengere Formen an. 

    2013 wurde sogenannte „Propaganda von Homosexualität“ 2013 verboten. Durch den Krieg gegen die Ukraine und die damit einhergehende Militarisierung der Gesellschaft nimmt queerfeindliche Gewalt zu. Seit November 2024 gilt eine angebliche „internationale LGBT-Bewegung“ als „extremistische Organisation“.  

    All diese Verbote betreffen auch die Kulturszene. So hat der Expertenrat beim Russischen Buchverband bereits in Ein Zuhause am Ende der Welt von Michael Cunningham, den letzten Roman Das Erbe aus der Schneesturmtrilogie von Wladimir Sorokin und Giovannis Zimmer von James Baldwin angebliche LGBTQ-Propaganda entdeckt und die Bücher vom Markt verbannt – sowohl die gedruckte wie die digitale Ausgabe. Andere Werke werden aus dem Schulprogramm genommen. Immer wieder tauchen Listen von Büchern auf, von deren Verkauf abgeraten wird. Die Biografie des italienischen Filmemachers und Publizisten Paolo Pasolini ist kürzlich in Russland mit geschwärzten Seiten erschienen – denn diese Passagen handelten vom schwulen Privatleben des Regisseurs. 

    Im Interview mit T-invariant erläutert der Kulturhistoriker und Philologe Michail Edelschtejn, was diese Maßnahmen bewirken wollen, wie sich die Lage heute von der Kriegszensur im 20. Jahrhundert unterscheidet und welche Rolle dabei „beleidigte Literaten“ spielen. 

    Die Pasolini-Biografie von Roberto Carnero erschien im russischen AST-Verlag mit Schwärzungen. © Foto T-Invariant
    Die Pasolini-Biografie von Roberto Carnero erschien im russischen AST-Verlag mit Schwärzungen. © Foto T-Invariant

    T-invariant: Die Verfolgung von LGBTQ begann 2013, als das Gesetz zum Schutz von Kindern vor „homosexueller Propaganda“ verabschiedet wurde. Ab 2022 wurden die Repressionen auf alles ausgeweitet, was „nicht–traditionell“ ist. Höhepunkt war die Einstufung der sogenannten und nicht existierenden „internationalen LGBTQ-Bewegung“ als extremistische Organisation. Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach hierbei der Krieg? Oder ist man einfach vorher nicht dazu gekommen? 

    Michail Edelschtejn: Ich glaube, eine Logik haben alle diese Kampagnen gemein. Ende der 1920er Jahre wurde zunächst nur Trotzkis engster Kreis verhaftet, und es lief auch nur auf Verbannung heraus. 1937 wurde bereits jeder Alt-Bolschewik erschossen und dann auch völlig Unbeteiligte.  

    Jede ideologische Kampagne hat die Tendenz, sich auszuweiten. Erst wird der Boden bereitet, quasi Versuchsballons gestartet, damit die Menschen nicht das Gefühl haben, über Nacht aller Rechte beraubt zu werden. Da fallen der Kampagne weniger bekannte Personen und Bewegungen zum Opfer. Später dann kommen die Repressionen ins Rollen, wie ein Schneeball, der immer größer und schneller wird. So ähnlich war es ja schon bei den „ausländischen Agenten“

    Der Kampf gegen LGBTQ ist zu einer nationalen fixen Idee geworden. 

    Was den Krieg angeht, so spielt hier die inländische Propaganda eine entscheidende Rolle, die auf den sogenannten skrepy (dt: Heftklammern, verbindende Elemente) aufbaut. Und davon haben wir heute genau zwei: den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg und die Homophobie. „Wir haben die Welt von den Faschisten befreit, sie ist uns zu ewigem Dank verpflichtet“ und „Gayropa will uns alle kastrieren“ – um diese beiden Säulen versucht der Staat die Menschen zu vereinen. Der Kampf gegen LGBTQ ist zu einer nationalen fixen Idee geworden. 

     

    Im denkwürdigen Jahr 2022 zählte der Roman Leto w pionerskom galstuke [von Elena Malissowa und Katerina Silwanowa, auf Deutsch als Du und ich und der Sommer erschienen, ebenso Band 2 und 3 – dek] zu den meistverkauften Büchern. Darin geht es um eine Liebesbeziehung zwischen zwei Jungen. Hängt der Erfolg mit dem Thema der „nicht–traditionellen“ Beziehungen zusammen, und inwiefern hat die Hetzjagd gegen den Roman mit seiner Popularität zu tun? 

    Der Erfolg hängt zweifellos mit dem Thema zusammen. Es war ein ziemlich überraschender Blick auf die Kindheit im Pionierlager, an die sich viele voller Nostalgie erinnern. Der Roman ist eine Art „alte Lieder über das Wichtige“, aber in einer transgressiven Verpackung, das hat die Leserschaft abgeholt.  

    Als das Buch verboten wurde, sagten viele: „Das ist falsch, aber andererseits ist der Roman auch nicht von herausragendem literarischen Wert. Die richtig großen Werke werden sie nicht anrühren.“  

    Wie es danach weiterging, wissen wir alle. Jetzt wird deutlich, dass die Hetze gegen den Roman so eine Art Versuchsballon war: Sie wollten nicht gleich an die Klassiker ran, sondern erst mal etwas nehmen, das zwar viral ging, aber literarisch nicht von allzu großer Bedeutung. Und es hat funktioniert, die meisten haben die Pille geschluckt. Jetzt, nachdem sie an diesem Roman geübt und den herausgebenden Verlag Popcorn Books praktisch vernichtet haben, nehmen sie sich größere Fische vor. 

     

    Gibt es in der russischen Literaturgeschichte vergleichbare Beispiele von LGBTQ-Zensur? 

    Soweit ich weiß, nein. Natürlich herrschte in der UdSSR Zensur, und im Strafgesetz gab es den Paragrafen für „Unzucht zwischen Männern“. Die Bücher, über die wir heute reden, hätten damals nicht erscheinen können. Aber es fand kein öffentlicher Diskurs statt, es gab keine großangelegten Hetzkampagnen. Das Thema wurde eher totgeschwiegen. 

    Heute herrscht selbst in muslimischen Ländern, wo z. B. Gayprides unvorstellbar sind, keine solche Massenpsychose wie in Russland. Die Idee, dass wir uns gegen Schwule vereinen, dass das der Zusammenhalt der Nation ist, ist weitgehend Putins Verdienst. 

     

    Die Geschichte mit Pasolinis Biografie erinnerte mich daran, dass auch Fragmente von Michail Kusmins Gedichtband Seti [dt. Netze] in der Ausgabe von 1915 aus demselben Grund geschwärzt wurden. Das war der Kriegszensur zu verdanken. 

    Ja. Vor dem Ersten Weltkrieg wurde Kusmin noch gedruckt, wenn auch nicht ganz problemlos. 1907 wurden Dokumente zum Verbot von Kusmins Komödie Opasnaja predostoroshnost [dt. Gefährliche Vorsicht] veröffentlicht. Sie habe nach Ansicht der zaristischen Zensoren „die homosexuelle Liebe verherrlicht und enthält Argumente, die den Leser davon überzeugen sollen, dass Homosexualität ebenso natürlich sei wie normale sexuelle Beziehungen und dieselben hohen Freuden bereitet“. Aber die meisten von Kusmins Werken erreichten den Leser ungehindert, einschließlich der skandalisierten Erzählung Krylja [dt. Flügel], einem durchaus offenherzigen Manifest der Homoerotik. 

    Das Gleiche gilt für andere Schriftsteller jener Zeit. So wurde die vielleicht erste lesbische Novelle der russischen Literatur, Tridzat tri uroda [dt. 33 Monstren] von Lidija Sinowjewa-Annibal, der Ehefrau des Dichters Wjatscheslaw Iwanow, von der Zensur als Verstoß gegen die öffentliche Moral verboten („Auch wenn die Zärtlichkeiten, die von einer Frau einem Mädchen dargebracht werden, unter sorgfältiger Vermeidung von Schmutz geschildert werden, wirkt das Gift der widernatürlichen Perversität umso subtiler“ – eine hübsche Formulierung, oder?). Aber einen Monat später entschied das Gericht, dass das Buch doch nichts allzu Unsittliches enthielt, und die beschlagnahmte Auflage wurde an die Buchhandlungen verschickt. 

    1915 entschied wiederum die Kriegszensur, dass man sich so etwas in einer Zeit, in der „unsere Jungs“ an der Front sterben, nicht leisten könne. So wurden in der zweiten Auflage von Kusmins Gedichtband die entsprechenden Fragmente gestrichen. Wenn ich mich recht entsinne, wurde bei einer Auktion einmal ein Exemplar versteigert, das Kusmin einem seiner Freunde schenken wollte. Darin hatte er die fehlenden Zeilen anstelle der Aussparungen per Hand ergänzt. 

     

    Wie könnte sich die Situation mit der LGBTQ-Zensur künftig auf den Literaturbetrieb und den Buchmarkt auswirken? Was haben wir zu erwarten? 

    In erster Linie Selbstzensur durch Verlage und Autor*innen. Im Moment ist völlig unklar, wo die Grenzen des Erlaubten liegen. Solche Grenzen sind an sich natürlich schlimm, aber wenigstens ist dann klar, was man darf und was nicht. Wenn es sie nicht gibt, wenn alles im Nebel liegt und die Repressionen jedes Buch und jede*n Autor*in treffen können, ein Erstlingswerk genauso wie einen anerkannten Klassiker, werden sich die Verlage absichern und alles Mögliche aus dem Programm nehmen.  

    James Baldwin, der Autor von Giovannis Zimmer, gilt z. B. seit langem als einer der größten Stilisten der amerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Über seine Werke wurden Dissertationen geschrieben, Monografien verfasst. Sogar im sowjetischen Literaturlexikon der 1970er Jahre wird er als „bedeutender Romancier und Kämpfer für die Rechte der schwarzen Bevölkerung Amerikas und als Mitstreiter Martin Luther Kings“ geführt. In der späten Sowjetzeit hat ihn das gerettet, heute nicht mehr. 

    Je mehr du verbieten kannst, desto mehr Macht hast du. 

    Alles hängt von ungebildeten Zensoren und ihren noch ungebildeteren Helfershelfern ab. Wie soll man nach der Geschichte mit Pasolini Biografien von z. B. Marcel Proust, Oscar Wilde, Thomas Mann, Evelyn Waugh veröffentlichen oder deren Texte erforschen? Und was, wenn jemand herausfindet, dass Zwetajewas Gedicht Pod laskoi pljuschtschewogo pleda … [dt. Unter der Liebkosung der Plüschdecke …] an eine Frau gerichtet ist? Lasst uns dann Zwetajewa verbieten, und [den Film – dek] Schestoki romans [dt. Eine bittere Romanze] gleich dazu! Das ist ein unheimliches Fass ohne Boden. 

    Hinzu kommt ein weiteres Problem: Der russische Staat ist so aufgebaut, dass dein Status weitgehend durch deine Verbieterfunktion bestimmt wird. Je mehr du verbieten kannst, desto mehr Macht hast du. Die „Experten“ in so einem Gremium brauchen das persönlich alles nicht, es ist eine zusätzliche Belastung, das alles zu lesen, sich Begründungen auszudenken usw. Aber sie müssen es tun, weil das ihre Position in der Machthierarchie legitimiert. 

    Weil niemand freiwillig ihren Rat einholt, müssen sie auf Razzien und Expertenräte zurückgreifen. 

    In der jüngeren Geschichte des Kampfs der Behörden gegen die Verleger gibt es eine Episode, die das ganz gut illustriert. Vor genau 20 Jahren führte [die Drogenaufsicht] Gosnarkokontrol eine Reihe von Razzien in Buchläden durch und beschlagnahmte Bücher, die „Drogenkonsum propagieren“. Jemand fragte den stellvertretenden Direktor von Gosnarkokontrol, General Alexander Michailow, wie man Propaganda von bloßer Beschreibung unterscheiden könne. Der antwortete sehr treffend: „Wenn ein Verleger überlegt, ob er ein Buch veröffentlichen will, hat er die Wahl: das Risiko eingehen und erwischt werden oder sich beraten lassen und nicht erwischt werden. Es gibt immer die Möglichkeit, sich beraten zu lassen.“  

    Diese Leute wollen unbedingt, dass man sich mit ihnen „berät“, sie können nicht anders, das ist für sie wie die Luft zum Atmen. Aber weil niemand freiwillig ihren klugen Rat einholt, müssen sie auf Razzien und Expertenräte zurückgreifen. 

     

    Offenbar muss man auch mit Konsequenzen im Bildungssektor rechnen? 

    Das können wir bereits jetzt beobachten. Die Erzählung Kawkaski plenny [dt. Der kaukasische Gefangene] von Wladimir Makanin ist z. B. aus dem Lehrplan geflogen. Obwohl sie verfilmt und Makanin von Putin persönlich mit dem Nationalpreis der Russischen Föderation ausgezeichnet wurde. Aber in der neuen Realität ist das unwichtig. Wichtig ist nur, ob es darin irgendwelche „ungesunden, gleichgeschlechtlichen Neigungen“ gibt. Dabei ist Makanins Erzählung in keinster Weise schwule Literatur, im Gegensatz beispielsweise zu Giovannis Zimmer, das wirklich „davon“ handelt. 

     

    Jedes Verbot erhöht schlagartig das Interesse am Verbotenen. Ist das denjenigen bewusst, die über Beschlagnahmungen entscheiden? Das ist doch auch eine Art Propaganda: Wenn du willst, dass möglichst viele Menschen ein Buch lesen, dann lass es verbieten. 

    Dem bürokratischen System ist die Effektivität in dem Sinne, den Sie meinen, unwichtig. Es ist ihm egal, ob das Buch gelesen wird oder nicht. Wichtig ist, sich in den nationalen Trend einzufügen, Rechenschaft abzulegen und seinen „Patriotismus“ zu zeigen, um den Vorgesetzten Beflissenheit zu demonstrieren usw. Da herrscht eine ganz andere Logik. Die Bücher werden heruntergeladen? Na und?! Vielleicht sperren sie die eine oder andere Seite. Oder richten eine Unterabteilung bei [der Medienaufsicht] Roskomnadsor ein, die dafür sorgt, dass Online-Bibliotheken diese Bücher aus ihrem Sortiment entfernen. Eine weitere gute Gelegenheit, um die eigene Nützlichkeit zu demonstrieren und dem Staat zusätzliche Finanzen aus den Rippen zu leiern. 

    Was das Interesse an Verbotenem angeht, stimmt das durchaus. Ich kenne Leute, die jetzt voller Stolz erzählen, wie sie das letzte Exemplar von Sorokin ergattert haben, obwohl sie seine Bücher früher nie in die Hand genommen hatten. Pasolinis Biografie war bei manchen Onlineshops innerhalb von einem Tag ausverkauft. Übrigens verhalf der Skandal von 1907 auch den 33 Monstren von Sinowjewa-Annibal zum Bestsellerstatus; drei Auflagen hintereinander gingen weg wie warme Semmeln. 

    Die Bibliothekare werden eine kollektive Neurose entwickeln. 

     

    Was sollen jetzt Bibliotheken tun, die dazu verpflichtet sind, ein Exemplar von jedem Buch frei zugänglich zu führen? 

    Ich nehme an, die Mitarbeiter werden ihre Bestände mit allen möglichen Listen abgleichen müssen, Bücher aus den Katalogen streichen, wie es schon mit Werken passiert, die durch die Soros-Stiftung und andere unerwünschte Organisationen finanziert wurden. Wer weiß, vielleicht wird es wie in guten alten Sowjetzeiten Spezialschränke geben, in denen in Erwartung der nächsten Perestroika Michael Cunningham, Hanya Yanagihara usw. liegen werden.  

    Die Bibliothekare werden eine kollektive Neurose entwickeln, was im Grunde auch genau das Ziel der Kampagne ist. Sie sollen zittern wie Espenlaub und vorauseilenden Gehorsam leisten. 

     

    Man könnte sich vorstellen, dass in der gegenwärtigen Realität jemand die Situation ausnutzt – nicht, weil er oder sie so viel Wert auf die skrepy legt, sondern aus Neid auf erfolgreiche Autoren und Verlage, um Rache zu nehmen, die Konkurrenz auszubremsen. 

    Natürlich, das sind sehr starke Motive. Ein Bestseller-Autor hat keinen größeren Neider als den Autor, dessen Bücher keine Bestseller geworden sind. 

    Viele Literaten rechtfertigen ihre Misserfolge damit, dass die „liberale Mafia“ ihnen Steine in den Weg legt und verhindert, dass ihre brillanten Romane die breite Masse erreichen. Und jetzt versuchen sie, so etwas wie eine Verbotslobby zu bilden. 

    Das bedeutet, dass kein*e Autor*in und kein Buch sicher sind. 

     

    Ich würde Sie noch gerne fragen, welche Bücher und Autoren in Zukunft betroffen sein könnten, aber es wäre wohl unklug, unnötig Tipps zu geben? 

    Ja, erstens möchte ich tatsächlich nichts beschreien. Und zweitens hängt alles vom Verdorbenheitsgrad der Fantasie der „Experten“ ab. Ich bin sicher, dass sie in jeden Text etwas hineinlesen können, worauf Psychoanalytiker und Philologen, die sich ihr ganzes Leben damit beschäftigt haben, niemals kommen würden. Das bedeutet, dass kein*e Autor*in und kein Buch sicher sind. 

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    Menschen, deren Liebesleben nicht mit den Vorstellungen der Gesellschaftsmehrheit von „traditioneller Partnerschaft“ übereinstimmt, hatten es nie leicht in Russland. Seit dem Verbot angeblicher „Propaganda von Homosexualität“ 2013 haben die Repressionen stetig zugenommen. Seit Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine dreht sich die Repressionsspirale immer rascher, Queerfeindlichkeit und Gewalt werden weiter normalisiert. 

    Im November 2024 stufte das Oberste Gericht der Russischen Föderation schließlich eine „internationale LGBT-Bewegung“ als „extremistische Organisation“ ein – dass es eine solche Organisation gar nicht gibt, war den Verantwortlichen offenbar einerlei. Der russische Fotograf Sergei Stroitelev porträtiert queere Paare, die in Deutschland Zuflucht gefunden haben. 

    Wladimir und Denis auf der Kölner Pride-Demo im Juli 2024 / Foto © Sergei Stroitelev 

    „Sie nannte das einen heiligen Krieg und verurteilte uns“ – Wladimir und Denis

    Erinnerungen aus vergangenen Tagen in Russland / Foto © Sergei Stroitelev 

    Wladimir (29) und Denis (25) haben sich 2020 in Nowosibirsk über ein Dating-Portal kennengelernt. Wegen des Corona-Shutdowns dauerte es zwei Monate, bis sie sich zum ersten Mal treffen konnten. Denis hielt die Treffen zunächst vor seinen Eltern geheim. Als er sich ihnen schließlich offenbarte, reagierten sie überraschend gefasst. Sein Vater erlaubte sogar, dass Wladimir über Nacht blieb. Wladimir beichtete seinen Eltern schließlich ebenfalls, dass Denis mehr ist als nur ein Freund: „Meine Mutter antwortete, dass Satan endgültig die Oberhand gewonnen habe.“  

    Aufgewachsen ist Wladimir in Usbekistan: „Dort war Homosexualität kriminalisiert. Ich habe schon im Kindergarten gemerkt, dass mir Jungs besser gefallen. Als ich 17 war, zog meine Familie nach Nowosibirsk. Aber auch da war es für mich nicht leicht. Wegen meines asiatischen Äußeren wurde ich oft von Polizisten kontrolliert. Da ich auch noch schwul bin, hatte ich doppelt Angst.“ 

    Als 2021 Alexej Nawalny verhaftet wurde, begann das Paar darüber nachzudenken, Russland zu verlassen. Als Putin den Krieg gegen die Ukraine begann, waren für sie alle roten Linien überschritten und sie reisten im März 2022 aus. „Ich dachte, meine Mutter als religiöser Mensch müsste verstehen, dass es falsch ist, andere Menschen zu töten“, sagt Wladimir. „Aber sie nannte das einen heiligen Krieg und verurteilte uns dafür, dass wir ausgereist sind.“ 

    Wladimir und Denis. Das Bild von Adam und Adam im Paradies haben sie in Russland gemalt und nach Deutschland mitgenommen / Fotos © Sergei Stroitelev 
    Entenfüttern mit Freunden. Das befreundete Paar ist ebenfalls mit humanitären Visa aus Russland nach Deutschland gekommen / Foto © Sergei Stroitelev 
    Tagebuchnotiz von Wladimir und Denis: „Das Imperium wird nicht frei sein“ / Foto © Sergei Stroitelev 

    „Verrecke, Schwuchtel!“ – Alexander und Sascha 

    Erinnerungen aus vergangenen Tagen in Russland / Foto © Sergei Stroitelev 

    Alexander (32) kommt aus einem kleinen Ort in Burjatien, Sascha (47) aus Joschkar-Ola, der Hauptstadt der russischen Teilrepublik Mari El. Mit dem Umzug nach Moskau entflohen beide Mobbing und Scham. Sascha engagierte sich in der Hauptstadt sogar in einer Organisation für LGBTQ-Sportler:innen.  

    Die beiden lernten sich 2018 kennen und zogen schnell in eine gemeinsame Wohnung: „Sofort gingen die Probleme mit den Nachbarn los“, erzählt Alexander: „Sie wollten wissen, warum Sascha auf dem Balkon Blumen pflanzt, sowas machen Männer doch nicht! Und warum wir keinen Besuch von Frauen bekommen.“  

    Alexander unterrichtete an einer Berufsschule. Er sprach mit den Studierenden über queeres Leben und sagte offen seine Meinung über den russischen Angriff auf die Ukraine. „Ab Oktober 2022 bekam ich regelmäßig SMS: ‚Verrecke, Schwuchtel‘. Ein Telegram-Kanal mit den Buchstaben Z und V im Profil veröffentlichte Videos aus meinem Unterricht, wo ich über Butscha und über LGBT sprach. Ich zitterte vor Angst und mir wurde klar, dass ich hier weg muss.“  

    Alexander ging nach Deutschland und beantragte Asyl. Derweil bekam Sascha in Moskau Besuch von Männern in Zivil, die sich nach Alexander erkundigten. Schließlich folgte er seinem Partner. Alexanders Verfahren ist inzwischen abgeschlossen. Sascha wartet noch auf eine Entscheidung. 

    Sascha spielt Akkordeon, Alexander liest. Das Instrument und die Bücher gehören zu den wenigen Dingen, die die beiden aus Russland mitgenommen haben / Fotos © Sergei Stroitelev
    Beim Sport im Hof / Foto © Sergei Stroitelev 
    Tagebuchnotiz von Alexander und Sascha: „Hoffnung“ / Foto © Sergei Stroitelev 

    „Seid ihr etwa lesbisch?!“ –​ Tanja und Alexandra 

    Erinnerungen aus vergangenen Tagen in Russland / Foto © Sergei Stroitelev

    Alexandra (41) und Tanja (40) kommen beide aus einem kleinen Bergarbeiter-Ort in der Oblast Swerdlowsk. „Mein Vater trank, ich wurde oft geschlagen“, erinnert sich Alexandra. „Mit 18 gestand ich meinen Eltern, dass ich Frauen liebe. Die Schläge nahmen zu, sie nannten mich eine Schande für die Familie. Mein Bruder brach mir die Nase und eine Rippe. Er saß immer wieder im Knast.“ 

    Auch Tanja war bereits Mutter, als die beiden sich kennenlernten. „Es war das erste Mal, dass ich mich in eine Frau verliebte. Ich schämte mich“, erinnert sie sich. Als Tanjas Mutter von ihrer Beziehung erfuhr, drohte sie, Tanja in eine psychiatrische Klinik zu stecken und Sascha zu töten.  

    Ihre Asylanträge stellte die Familie in Bochum. „Der Sachbearbeiter war ein Spätaussiedler aus Ufa und, wie sich herausstellte, ziemlich homophob“, erzählt Tanja. „Seid ihr etwa lesbisch?!“, habe er sie gefragt. „Er musterte uns, als seien wir Monster.“ Ihr Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, das Paar und die Kinder seien keine Familie. Ein Gericht gab ihnen schließlich recht und verfügte, dass die Familie nicht getrennt werden dürfe. Aber die Entscheidung über die Asylanträge steht immer noch aus. Zu allem Überfluss muss Tanja jetzt noch gegen eine Krebserkrankung kämpfen. 

    Alexandra und Tanja haben gemeinsam Diskriminierung, Flucht und Kämpfe mit der deutschen Bürokratie durchgestanden. Sie sind entschlossen, auch Tanjas Krebserkrankung zu besiegen. Der kleine Charlie Brown ist ihr Talisman / Foto © Sergei Stroitelev 
    Abendspaziergang am Rhein. Die Familie bewundert den Kölner Dom / Foto © Sergei Stroitelev 
    „Hier sind wir: ein bisschen müde, ein bisschen erschlagen. Aber am Leben“. Tagebuchnotiz von Alexandra und Tanja / Foto © Sergei Stroitelev 

    „Ich merke, dass in mir ein Rest Homophobie sitzt“ – Alexander und Wladimir 

    Erinnerungen aus vergangenen Tagen in Russland / Foto © Sergei Stroitelev

    Alexander (38) und Wladimir (35) kommen aus Nishni Nowgorod. Dort sei die Situation von queeren Menschen nicht viel besser als in Tschetschenien, sagen sie. Die Polizei und queerfeindliche Gruppen machten Jagd auf Schwule, Lesben und trans* Personen. Als Alexander sich einmal über ein Dating-Portal verabredete, erwartete ihn am vereinbarten Treffpunkt eine Gruppe junger Männer: „Mir war sofort klar, was los war, und ich rannte davon. Ich bat Passanten, die Polizei zu rufen, aber niemand reagierte. Die Typen verprügelten mich und drohten mir mit einem Messer.“  

    Wirklich akzeptieren konnte er seine Sexualität erst mit 26 Jahren. Wladimir derweil erinnert sich, wie er immer wieder zu seiner Mutter sagte: „‚Guck mal, der hübsche Mann da!‘ Als sie irgendwann kapiert hat, dass ich keine Witze mache, wurde ihre Einstellung immer ablehnender und sie begann, mich zu verurteilen.“ 

    Bis zum Beginn des vollumfänglichen Krieges gegen die Ukraine sahen Alexander und Wladimir ihre gemeinsame Zukunft in Russland und sparten für eine eigene Wohnung. Nach dem ersten Schock zu Kriegsbeginn sammelten sie die nötigen Dokumente für eine Ausreise. Als im Herbst 2022 dann die Teilmobilmachung verkündet wurde, reisten sie zunächst nach Belarus. Von dort aus bemühten sie sich um ein humanitäres Visum für Deutschland. Den Ausschlag für die Anerkennung habe letztlich wohl Alexanders Engagement für die Wahlbeobachtungsorganisation Golos gegeben, glauben sie. 

    An die Freiheit in Deutschland müssten sie sich erst gewöhnen: „Ich merke, dass tief in mir immer noch ein Rest Homophobie sitzt“, sagt Alexander. „Ich traue mich nicht, öffentlich mit meinem Mann Händchen zu halten. Aber nach und nach ändert sich das. Früher habe ich Gay-Paraden abgelehnt. Ich war der Meinung, dass sie den Hass gegen Schwule nur anfachen. Heute finde ich diese Veranstaltungen gut, weil es wichtig ist, dass alle Menschen sich frei ausdrücken können“.

    Trotz der Queerfeindlichkeit der Russisch-Orthodoxen Kirche hält Wladimir an seinem Glauben fest. Ein Gebetsgürtel gehört zu den Dingen, die ihn mit der Heimat verbinden / Fotos © Sergei Stroitelev 
    Alltag für die Neuankömmlinge in Deutschland: Anstehen bei der Tafel. Danach geht es gleich weiter zum Integrationskurs / Foto © Sergei Stroitelev 
    Tagebuchnotiz von Alexander und Wladimir / Foto © Sergei Stroitelev 

    „Die Depression war das Ergebnis des enormen Drucks“ – Deidara und Lira 

    Erinnerungen aus vergangenen Tagen in Russland / Foto © Sergei Stroitelev

    Als Deidara (42) sich vor vier Jahren zur Transition entschied, waren er und Lira bereits seit mehreren Jahren ein Paar. „Mir war klar geworden, dass die Kosten für die Prozedur doch nicht so schrecklich hoch sind, wenn ich dafür endlich ich selbst sein darf, statt auf eine Reinkarnation als Mann irgendwann in einem nächsten Leben warten zu müssen“, erklärt Deidara. Lira nahm das gelassen auf: „Frauen gefallen mir zwar besser, aber ich liebe doch diesen konkreten Menschen, da ist es mir egal, welches Geschlecht er hat“, sagt sie. 

    Nach Kriegsbeginn wurde ihnen schnell klar, dass die militärische Aggression auch Auswirkungen auf ihr Leben haben wird. „Erst hofften wir, die Situation aussitzen zu können“, sagt Deidara. „Aber bald haben wir verstanden, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis sie uns in die Konversionstherapie schicken.“ Deidara hat eine Tochter – geboren, nachdem Deidara als junger Mensch Opfer einer Vergewaltigung geworden war. Als der russische Staat 2023 Geschlechtsumwandlungen verbot, fürchtete er, dass die Behörden ihm das Sorgerecht entziehen könnten.  

    Bis die Berliner LGBTQ-Organisation Quarteera ihnen Visa besorgt hatte, verhielten sie sich so unauffällig, wie es nur ging. „Bei uns beiden wurde eine klinische Depression diagnostiziert, in Russland waren wir mehrfach zur Behandlung in einer Klinik. Aber hier konnte mein Mann die Antidepressiva absetzen. In der sicheren Umgebung hier geht es ihm besser“, sagt Lira. „Ich habe inzwischen den Eindruck, dass die Depression das Ergebnis des enormen Drucks war, unter dem wir lebten.“  

    Deidara bindet seiner Tochter die Haare. Das Paar im Hof ihrer Unterkunft in Hamburg / Fotos © Sergei Stroitelev 
    Pause beim Spaziergang in einem Hamburger Park / Foto © Sergei Stroitelev 
    „Ein anderes Land, eine andere Sprache, ein anderes Leben. Aller Anfang ist schwer. Aber Russland zu verlassen ist nicht nur die beste Entscheidung, es war die einzig richtige. Das Recht man selbst zu sein wiegt schwerer als alle Probleme.“ Tagebuchnotiz von Deidara und Lira / Foto © Sergei Stroitelev 

    „Eine glückliche Zeit“ bis zum Krieg – Dima und Andrej 

    Erinnerungen aus vergangenen Tagen in Russland / Foto © Sergei Stroitelev 

    Dima (23) und Andrej (36) haben sich erst in Deutschland kennengelernt. Dima kommt aus Gelendschik, einem Urlaubsort an der russischen Schwarzmeerküste. Andrej wurde in der ukrainischen Stadt Isjum in der Oblast Charkiw geboren. Beide haben in ihrer Jugend Diskriminierung erlebt.  

    Erst als er aus Isjum wegging und nach Kyjiw zog, habe er ganz zu seiner Homosexualität stehen können, sagt Andrej. „Als ich mit 20 meinen Eltern gesagt habe, dass ich schwul bin, hatte ich schon seit einem Jahr eine feste Beziehung. Sie haben es gefasst aufgenommen, aber sie hatten Angst um meine Sicherheit – ich habe mich damals ziemlich schrill gekleidet.“ 

    Später ging Andrej als Tänzer an ein Moskauer Theater, lebte mit einem jungen Mann zusammen. „Eine glückliche Zeit“ sei das gewesen – bis Putin den Überfall auf die Ukraine befahl. Russland sei seine zweite Heimat, sagt Andrej. „Meine Großeltern kommen dort her.“ Von Moskau aus organisierte er die Flucht seiner Familie aus Charkiw und Isjum nach Deutschland. Dann reiste er selbst hinterher. In Deutschland engagierte er sich in der Hilfe für Geflüchtete aus der Ukraine und aus Russland. „Ich liebe Russland, obwohl ich Ukrainer bin“, sagt er. „Ich hoffe, ich kann eines Tages dorthin zurückkehren, in ein freies Land ohne den Irren Putin.“

    Ein Stück Himmel hinter dem Fenster von Dimas Zimmer. Rauchpause im Heck von Andrejs Wagen / Fotos © Sergei Stroitelev 
    Dima und Andrej bei der gegenseitigen Maniküre / Fotos © Sergei Stroitelev
    „Es ist schwer.“ Tagebuchnotiz von Dima und Andrej / Foto © Sergei Stroitelev 

    „Am selben Abend gingen wir zu einer Demonstration“ –​ Dmitri und Andrej 

    Ein Bild aus vergangenen Tagen in Russland / Foto © Sergei Stroitelev 

    In Moskau haben Dmitri (26) und Andrej (26) sich einiges getraut: Sie gingen in der Öffentlichkeit Hand in Hand und demonstrierten gegen Russlands Überfall auf die Ukraine. Diskriminierung kennen sie seit ihrer Kindheit: „Als mir klar wurde, dass ich auf Männer stehe, fielen mir die Worte meines Vaters ein, der einmal sagte, dass man Schwule verbrennen sollte“, erinnert sich Dmitri. „In der Schule wurde ich heftig gemobbt, die anderen Kinder schimpften mich eine ‚Schwuchtel‘. In der Folge habe ich lange Zeit gestottert“. 

    Andrej hat seine Kindheit im Nordkaukasus verbracht. „Die Atmosphäre gegenüber LGBT war dort extrem feindlich“, erzählt er. „In der Schule wurde ich gehänselt, weil ich ein künstlerischer Junge war.“ Das änderte sich erst, als Andrej in eine Schule mit musikalischem Schwerpunkt wechselte: „Ich spielte Cello und Klavier und begann, mich zu entfalten. Im ganzen Kaukasus findet man schwerlich einen Ort mit einer größeren Dichte an LGBT-Personen als diese Schule. Wir waren ganze zehn!“  

    In Moskau unterrichtete Andrej an einer Musikschule. „Als ich am 24. Februar 2022 von einer Freundin aus Dnipro erfuhr, dass Russland die Ukraine bombardiert, rauchte ich erst einmal eine ganze Packung Zigaretten weg. Dann bin ich zur Arbeit gegangen und habe den Kindern das Lied ‚Wir wollen keinen Krieg‘ aus Prokofjews Oratorium ‚Auf Friedenswache‘ vorgespielt“.  

    „Am selben Abend gingen wir zu einer Demonstration gegen den Krieg“, erzählt Dmitri. „Da wurde ich zum ersten Mal festgenommen. Bei einem Gedenkmarsch für Boris Nemzow folgte dann die zweite Festnahme. Danach beschlossen wir, auszureisen.“  

    Andrej und Dmitri nahmen einen Kredit auf, angeblich für den Kauf eines Cellos. Dann flogen sie in den Tschad und weiter nach Istanbul. Dort stellten sie einen Antrag auf ein humanitäres Visum für Deutschland.  

    Eine von Andrejs ersten Erinnerungen in Deutschland ereignete sich im Supermarkt: „Im Lidl neben unserem Wohnheim fragte mich die Verkäuferin auf Englisch, aus welchem Land ich käme. Als ich ihr sagte, dass ich leider aus Russland sei, antwortete sie: ‚Wir machen euch keine Vorwürfe, wir machen Putin Vorwürfe.‘ Das war in dem Moment genau, was ich brauchte.“

    Das Armband hat Andrej Dmitri einst in Russland geschenkt. Einander die Hände gehalten haben sie dort auch in der Öffentlichkeit. / Fotos © Sergei Stroitelev 
    Das Paar ist froh, seine Beziehung in Deutschland offen leben zu können. Beim Radfahren kann das trotzdem gefährlich sein – neulich sind sie so gestürzt / Fotos © Sergei Stroitelev  
    Tagebuchnotiz von Dmitri und Andrej / Foto © Sergei Stroitelev 

    Fotos: Sergei Stroitelev, aus der Serie: „Dreamers: Queer Refugees from Russia in Germany“
, 2024 

    Bildredaktion: Andy Heller 

    Das Projekt wurde mit Unterstützung von Quarteera e.V. und dem Auswärtigen Amt im Rahmen des Programms “Civil Society Cooperation” durchgeführt. 

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    Immer mehr Razzien bei privaten LGBT-Treffen

    Im November 2023 hat das Oberste Gericht in Russland die „internationale LGBT-Bewegung“ als „extremistische Organisation“ eingestuft. Abgesehen davon, dass die Bewegung für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bi- und Transpersonen gar keine Organisation ist, warnten Beobachter vor einer neuen Verfolgungswelle. Kaum jemand traut sich noch, offen lesbisch oder schwul zu leben. Inzwischen erhöht die Polizei aber auch den Druck auf private Treffpunkte. Ende Februar wurden in mehreren Regionen Russlands nicht-öffentliche LGBT-Partys kontrolliert. Der Ablauf war überall ähnlich: Maskierte stürmten die Veranstaltungsräume, Partygäste und Personal mussten sich bäuchlings auf den Boden legen, einige wurden festgenommen. Takie dela hat Experten dazu befragt, was das alles bedeutet und was da noch zu erwarten ist.

    Eine Regenbogenfahne würde in Russland schon lange niemand mehr öffentlich zeigen. Die „internationale LGBT-Bewegung“ wurde als „extremistische Organisation“ eingestuft / Foto © IMAGO Pond5 Images

    Am 26. Februar verkündete die Krasnojarsker Queer-Bar Elton ihre Schließung. Zwei Tage zuvor hatte Jekaterina Misulina , die Leiterin der Liga für ein sicheres Internet, das Lokal öffentlich angeschwärzt: Sie hatte eine Drag-Show anlässlich des Tags des Vaterlandsverteidigers eine Provokation genannt und angekündigt, die Sache anzuzeigen. Am nächsten Tag erschien auf dem Telegram-Kanal des Innenministeriums für die Region Krasnojarsk ein Video über die Razzia im Elton, bei der zwölf Personen festgenommen wurden. [Takie dela veröffentlicht Bilder von den Razziendek].

    „Insgesamt wurden bei dem Einsatz 19 Personen kontrolliert, teils Gäste, teils Personal des Etablissements. Zudem wurden Besucher befragt“, teilte die Polizei mit. Begründet wurde die Razzia mit einem Verdacht auf die Verbreitung verbotener Substanzen und illegelen Ausschanks alkoholischer Getränke. Gegen den Clubbesitzer wurde eine Untersuchung eingeleitet. Am 25. Februar tauchte in den Medien die Meldung auf, dass die Bar ihren Social-Media-Auftritten zufolge geschlossen würde.

    Wir können nicht mehr für Eure Sicherheit garantieren

    „Leider können wir unsere Bar nicht weiterbetreiben. Die Schließung des Elton ist hiermit offiziell“, zitierte die Zeitung Prospekt Mira die Geschäftsführung. „In einer Situation, in der nichts als Hass propagiert wird und man nur noch darauf aus ist, die Einen gegen die Anderen aufzuhetzen, können wir eure Sicherheit und die Sicherheit unserer Mitarbeiter nicht mehr garantieren. Das Leben und die Gesundheit von uns allen ist aber das, was am meisten zählt!“

    Der Barbesitzer Dennis Schilow erzählte dem Sender 7-moi Krasnojarsk, wie er nach der Razzia Mitteilungen von den Strafverfolgungsbehörden bekam, in denen sie andeuteten, dass sie den weiteren Betrieb der Bar nicht zulassen würden. „Ich verstehe nicht, wieso einzelne Bevölkerungsgruppen in so ein negatives Licht gerückt werden. Unter solchen Umständen macht die Arbeit keinen Spaß. Wir können keine Partys feiern und daher auch unsere Mitarbeiter und die Steuern nicht bezahlen.“

    Im Dezember 2023 gab es schon einmal Polizeikontrollen im Elton. Damals wurden 20 Personen festgenommen, und gegen den Klub wurde Anzeige wegen „LGBT-Propaganda“ erstattet. Das Verfahren wurde aber eingestellt, weil kein Gesetzesverstoß festgestellt werden konnte.

    „Wir hatten uns schon gefreut, dachten, sie würden uns in Ruhe lassen, weil sie ja doch keine ‚Gay-Propaganda‘ gefunden hatten. Doch da beschloss ein Gast, sich bei Misulina zu beschweren. Was für die Krasnojarsker Polizei offenbar wieder ein Anlass für einen Besuch bei uns war“, sagt Artjom Demtschenko, der Geschäftsführer des Elton. Er kennt zwar das eigentliche Ziel der Razzien nicht, nimmt aber an, dass dahinter politische Interessen stehen. „Wahrscheinlich wollen sie uns und unsere Gäste einschüchtern“, glaubt Demtschenko. 

    Am 25. Februar kamen aggressive Mitglieder der nationalistischen Bewegung Sewerny tschelowek (dt. Nordmensch) in die Bar, was auf dem Telegram-Kanal der Organisation vermeldet wurde: „Mit Toleranz meinte der Präsident, dass wir uns mit eurer Existenz eben abfinden müssen, aber doch nicht, dass ihr auf eure Rechte pochen könnt! Ihr habt nämlich keine, ihr Sodomiten!“, hieß es in dem nationalistischen Telegram-Kanal. 

    Demtschenko erzählt, dass die Nationalisten seine Mitarbeiter bedrohten und in die Bar eindrangen, um die Gäste zu verprügeln. „Einige waren nach draußen gegangen, um zu rauchen, aber als sie diese Meute sahen, rannten sie gleich ohne Jacke davon. Wir wollten den Vorfall zur Anzeige bringen, aber die Polizei wehrte ab – angeblich, weil niemand zu Schaden gekommen war“, sagt Demtschenko. Und fügt hinzu: „Es muss also erst einer umgebracht oder zusammengeschlagen werden, bevor wir Anzeige erstatten können.“

    Die Bar Elton ist nicht das einzige Lokal, das die Polizei in letzter Zeit auf „LGBT-Propaganda“ hin kontrolliert hat. Am 18. Februar stürmten Polizisten in Koltuschi im Gebiet Leningrad eine private LGBT-Party und verprügelten die Gäste.

    Alle, die als Jungs geboren sind – aufstehen!

    Ausschnitte aus dem Video des Polizeieinsatzes wurden auf REN TV ausgestrahlt, unter dem Titel LGBT*-Party gegen die SWO (Militärische Spezialoperation). Auf den Bildern waren Menschen zu sehen, die auf dem Boden lagen, und durch die Räume stürmten maskierte Polizisten. Laut der Menschenrechtsorganisation OWD-Info war die Weitergabe der Aufnahmen an den Fernsehsender illegal. 

    „Hände hinter den Kopf, los, alle! Und jetzt alle, die als Jungs geboren sind, aufstehen und da drüben an die Wand stellen!“, schreit einer der Silowiki in dem Video. In dem Fernsehbeitrag hieß es, die Polizei habe eine Hausdurchsuchung gemacht und Sachen mit LGBT-Symbolik, „verdächtige Dokumente“ und „handgeschriebenes oppositionelles Material“ beschlagnahmt. Ein Partygast erzählte dem Portal Parni + (dt. Jungs +), dass die Polizisten sie vier Stunden lang auf dem kalten Boden liegen ließen und jeden schlugen, der sich rührte. Nicht einmal auf die Toilette durften sie gehen: 

    „Sie machten derbe Witze und beschimpften uns aufs Übelste. Sie gingen zu jedem hin und fragten: Bist du ein Junge oder ein Mädchen? Und wenn sie sich bei jemandem nicht sicher waren, welches Geschlecht er oder sie hat, musste sich diese Person von einer Ermittlungsbeamtin untersuchen lassen. Ein Mädchen musste ihren Rock hochschieben und ihre Leggings straffziehen, mein Freund musste seine Operationsnarben herzeigen. Und ständig diese Fragen: Ja, wo ist denn nur dein Penis geblieben?“, erzählte einer der Betroffenen Mediazona.

    Auch in Tula wurde in der Nacht auf den 18. Februar eine Veranstaltung aufgelöst: die Amore Party – ein Fest der „Liebe, Offenheit und Sexualität“ im Kulturzentrum Tipografija. Uniformierte ohne Dienstabzeichen befahlen den Teilnehmern, sich auf den Boden zu legen, verprügelten einige und zwangen sie, Kniebeugen zu machen und die Hymne von Tula zu singen. Einige Partygäste wurden nach dem Paragrafen zur LGBT-Propaganda angezeigt. OWD-Info zufolge „sagten die Leute ohne Dienstabzeichen von sich, sie hätten am Einmarsch in der Ukraine teilgenommen“.

    In Petrosawodsk platzten am 20. Februar Männer vom FSB und von der Nationalgarde in eine geschlossene Queer-Party im Nachtclub Full House, wie Karelija.News berichtete. „Wie wir unseren Quellen entnehmen konnten, steht eine Einwohnerin von Petrosawodsk unter Verdacht, diese LGBT-Community organisiert zu haben. Als Veranstaltungsraum für einschlägige Themenabende habe sie diesen Gastronomiebetrieb genutzt“, heißt es da.

    Rückzug der LGBT-Community ins Internet

    Solche Razzien wertet der Jurist Maxim Olenitschew als Einschüchterungsmaßnahmen gegen LGBT-Personen: „In der derzeitigen Form sind diese Aktionen rechtlich nicht gedeckt, aber die Staatsmacht setzt die Exekutive dazu ein, alle Arten von Treffpunkten der LGBT-Community zu schließen und ihre Gegenwart in der russischen Gesellschaft zu unterbinden“, sagt er.

    Das passiert vor dem Hintergrund, dass sich nach dem Verbot der „LGBT-Bewegung“ durch das Oberste Gericht fast alle Organisationen, die dieses Thema betrifft, ins Internet zurückgezogen haben. „Die einzigen Offline-Plattformen, die in Russland noch verfügbar sind, sind eben LGBT-Clubs und Bars, weswegen die russischen Strafverfolgungsorgane diese ins Visier nehmen“, sagt Olenitschew. Er geht davon aus, dass die Exekutive den Gerichtsentscheid weiterhin auf diese Art umsetzen wird, weswegen ein Teil der LGBT-Lokale schließen wird: Sie können ihre Tätigkeit so nicht fortsetzen.

    „Manche Lokale versuchen, sich anders zu orientieren, und üben Selbstzensur, um weiterbestehen zu können“, erklärt der Jurist. Manche Clubs verabschieden sich zum Beispiel von ihren Travestie-Shows, andere streichen die Drag-Queens aus dem Programm. „Die Polizei darf nichts zu beanstanden haben.“ 

    Derzeit würden nach den Razzien noch keine Verfahren nach dem neuen „Extremismus“-Paragrafen eingeleitet, sondern wegen „Schwulenpropaganda“, was nur eine Ordnungswidrigkeit darstellt, erklärt Olenitschew. „Das Verbot der LGBT-Propaganda ist seit zehn Jahren in Kraft. Es ist so unklar und vage formuliert, dass die Strafverfolgungsbehörden es praktisch als Vorwand für alle Amtshandlungen benutzen können, die sie für notwendig erachten“, erklärt der Jurist. 

    Derartige Maßnahmen der Silowiki sind die erste Stufe der Einschüchterung, ist der Psychologe Iwan Iwanow überzeugt, der mit LGBT-Personen arbeitet. „Trotz der Razzien werden weiterhin Gäste in die LGBT-Clubs kommen. Einerseits, weil ihnen die Gefahr nicht vollends bewusst ist, andererseits aber auch, weil man Menschen nicht davon abhalten kann, sich miteinander zu treffen. Sie werden sich einfach besser verstecken“, lautet die Schlussfolgerung des Psychologen.

    Diese Übersetzung wurde gefördert durch: 

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    Das Oberste Gericht der Russischen Föderation hat am 30. November die „internationale LGBT-Bewegung“ zur „extremistischen Organisation“ erklärt. Menschen aus der Community sehen sich in Russland schon seit Jahren mit immer restriktiveren Gesetzen konfrontiert. Im Juni etwa wurde – angeblich zum Schutz vor ausländischer Einflussnahme – ein Gesetz beschlossen, das geschlechtsangleichende Operationen verbietet. Zuvor wurde das seit 2013 bestehende Verbot „homosexueller Propaganda“ ein weiteres Mal verschärft

    Der Politikwissenschaftler Sergej Medwedew erinnert auf seiner Facebook-Seite an einen Auftritt des russischen Pop-Duos Tatu vor 20 Jahren, bei dem die beiden Sängerinnen „Fuck War“-Shirts getragen und sich auf der Bühne geküsst haben: „Dafür würden sie heute 20 Jahre bekommen. We’ve come a long way baby“.

    Obwohl das Urteil offiziell erst 2024 in Kraft treten soll, gab es in Moskau bereits einen Tag nach der Verkündigung erste Razzien in Clubs und Saunen. In Sankt Petersburg hat der bekannte Szeneclub Central Station vorsorglich den Betrieb eingestellt. Welche weiteren Folgen von dem Verbot zu befürchten sind, darüber schreibt Kirill Martynow, Chefredakteur der Novaya Gazeta Europe, in einem Kommentar auf Twitter.

    Symbolbild © ITAR-TASS/imago images

    Ich habe den Eindruck, dass nicht allen meinen Landsleuten klar ist, was heute passiert ist. Die Entscheidung des Obersten Gerichts bezüglich LGBTQ-Personen wird für noch mehr Leid und Demütigung queerer Menschen sorgen. Sie ist zudem ein fundamentaler Verstoß gegen die Rechtsgrundlagen des Staates (oder zumindest gegen das, was davon noch übrig war). Und das betrifft uns alle, sogar die Homophoben. Russland schießt sich, wie Dimitri Rogosin [an einem Schießstand 2015 – dek], selbst ins Knie. 

    Das Urteil beraubt die Menschen ihrer Grundrechte, allein dafür, dass sie existieren

    Warum auch Homophobe unter dem „Extremismus“-Urteil leiden werden? Weil es seit dem 30. November 2023 in Russland rechtens ist, Menschen dafür zu verfolgen, wer sie sind. Jetzt muss ein Mensch nicht an politischen Aktionen teilnehmen oder Mitglied einer politischen Organisation sein, um verfolgt zu werden. Wenn Homosexuelle per se zu Mitgliedern einer extremistischen Bewegung erklärt werden, kann es jederzeit auch andere Gruppen treffen. Wie das Apartheidsregime in Südafrika oder die Nürnberger „Rassengesetze“ in Nazi-Deutschland beraubt das Urteil des Obersten Gerichts Menschen ihrer Grundrechte, allein dafür, dass sie existieren. Ramsan Kadyrow behauptete nach zahlreichen Fällen von Folter und Morden an queeren Menschen, in Tschetschenien gebe es keine Schwulen. Jetzt tut das Oberste Gericht das Gleiche für ganz Russland.

    Wie im Fall des „Röhm-Putschs“ in Nazideutschland, hängt auch der gegenwärtige Verstoß gegen die Rechte von Millionen Menschen in Russland mit einem politischen Machtkampf zusammen: Putin droht keine Gefahr von innen, aber gerade vor den Wahlen braucht er „Geschlossenheit“ gegen die „westlichen Agenten“. Der Duma-Abgeordnete Andrej Guruljow schlug einmal vor, 20 Prozent der russischen Bevölkerung, die Putin nicht mögen, zu vernichten. Nun ist seine Idee gar nicht so weit weg von der Wirklichkeit. Sie fangen einfach mit LGBT an.

    Staatlich geförderte Hetze

    Kommen wir zu konkreten Auswirkungen. Was gerade passiert, kann auf zweierlei Weise interpretiert werden. In einem gemäßigten Szenario werden die LGBTQ-Gegner mit Beginn des neuen Jahres, wenn das Urteil des Obersten Gerichts in Kraft tritt, wie schon bei den anderen Kampagnen gegen „Extremismus“ vorgehen: mit Bußgeldern für Symbole, Strafverfahren gegen „Anstifter“ und „böse Gesetzesbrecher“. Das hieße: Wer nicht auffällt, überlebt. 

    Das Problem dieses gemäßigten Szenarios ist, dass queere Menschen eine enorm große „extremistische Organisation“ sind und die staatliche Hetzkampagne gegen sie in einer homophoben Gesellschaft betrieben wird. Das bedeutet, dass das Oberste Gericht – und natürlich auch Putin, es ist ja seine Kampagne – einen gigantischen Raum für Willkür eröffnen. Menschen werden denunziert, bedroht und erpresst werden. Das alles gab es in der Geschichte der Diskriminierung queerer Menschen schon sehr oft. Der Unterschied liegt bloß darin, dass der Hass und die Hetze nun staatlich gefördert werden und in einer Gesellschaft stattfinden, die vor nicht allzu langer Zeit relativ offen war.

    Es entsteht ein regelrechter Markt der Gewalt, der staatlich befördert wird

    Menschen, die sich nie mit der Geschichte des Kampfes von queeren Menschen für ihre Rechte befasst haben, verstehen oft nicht, wozu es Veranstaltungen wie den CSD gibt. Ihre wesentliche Funktion liegt darin, homosexuelle Menschen sichtbar zu machen, damit sie niemand damit erpressen kann „allen zu erzählen, was sie machen“. Ein offener Umgang mit sexueller Orientierung gibt in einer freien Gesellschaft Schutz gegen Gewalt und Erniedrigung.  

    Ich habe große Angst um die Menschen. Sie können wie in Tschetschenien zusammengeschlagen oder vergewaltigt werden, denn die Täter wissen, dass die Opfer die Straftat nicht anzeigen werden, um nicht auf die Liste der „Extremisten und Terroristen“ zu kommen. Es entsteht ein regelrechter Markt der Gewalt, der de facto staatlich befördert wird. 

    Tausende weitere Menschen werden aus Russland fliehen – Menschen, die bis zuletzt auf Veränderungen gehofft hatten und im Land geblieben waren.

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    „Zieh dich aus, dann schauen wir, wer du bist“ – das bekam die trans Frau Elis Femina kürzlich von einer Moskauer Polizistin zu hören, wie sie gegenüber Mediazona berichtet. Auf der Polizeiwache war sie gelandet, nachdem sie ein Türsteher am Wiederbetreten eines Klubs gehindert hatte mit den Worten: „Das ist doch ein Typ im Rock.“ Im Verlauf der Auseinandersetzung rief Femina schließlich „Ruhm der Ukraine!“. Dafür habe man ihr auf der Wache später gedroht, sie in die Ukraine an die Front zu schicken: „Dort kannst du dann unsere Männer ,bedienen‘, du FRAU.“

    Für LGBTQ und speziell für trans Menschen gehören Diskriminierungen in Russland zur alltäglichen Erfahrung – gerade auch von staatlicher Seite. Erst im Dezember unterzeichnete Putin eine Verschärfung des Gesetzes über sogenannte „homosexuelle Propaganda“, das als solche identifizierte Schriften und Medien generell unter Strafe stellt und verbietet.

    Am 14. Juni stimmte die Staatsduma nun in erster Lesung einstimmig für ein neues Transgender-Gesetz. Demnach sollen künftig geschlechtsangleichende Operationen und auch schon Änderungen der Geschlechtsvermerke in offiziellen Dokumenten verboten werden. Menschenrechtsorganisationen kritisierten das Gesetz scharf, selbst das russische Gesundheitsministerium hat sich gegen das Gesetz in der aktuellen Form ausgesprochen und befürchtet, dass es dadurch zu mehr Suiziden kommen kann. Mediazona hat eine Mitschrift der Parlamentssitzung zum Gesetz im Wortlaut veröffentlicht: Dort ist die Rede von einer „westlichen Transgender-Industrie“, es wird gewarnt vor einem „exponentiellen Wachstum“ geschlechtsangleichender Operationen und der Dumavorsitzende Wjatscheslaw Wolodin spricht in diesem Zusammenhang von „reinem Satanismus“. dekoder hat den Eröffnungsbeitrag von Pjotr Tolstoi übersetzt, um zu dokumentieren, mit welcher Rhetorik solche Gesetze in Abkehr von den Normen der WHO in Russland beschlossen werden. 

    Pjotr Tolstoi, stellvertretender Vorsitzender der Staatsduma, Partei Einiges Russland

    „Das ist keine neue Verbotsinitiative der Staatsduma, das ist ein weiterer Schritt für den Schutz nationaler Interessen. Und wir stimmen dem zu, weil sich Russland seit Beginn der militärischen Spezialoperation verändert hat. Die Jungs, die heute mit der Waffe in der Hand unser Land verteidigen, die sollen danach in ein anderes Land zurückkehren, nicht in jenes, was es vor Beginn der militärischen Spezialoperation war. Es ist sehr schade, dass viele das aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht begreifen, und viele erwarten auch einfach, dass sich nichts verändert und dass alles so bleibt, wie es war. Aber nichts wird so bleiben, wie es war.

    Es ist anzumerken, dass die Zahl der Geschlechtsumwandlungen in Russland leider steigt. Zwischen 2016 und 2022 haben nach Angaben des Innenministeriums 3000 Menschen ihr Geschlecht ändern lassen. Es ist tatsächlich so, dass dafür heutzutage als Grundlage ein einfaches ärztliches Attest ausreicht, das nicht offiziell erfasst wird. Man bekommt es in praktisch jeder Privatklinik in Russland. Leider hat das Gesundheitsministerium keinen Überblick, wie viele von diesen Operationen durchgeführt werden. Ein solche Dienstleistung kostet keine 30.000 Rubel [ca. 330 Euro – dek].

    Auf diese Weise kann sich ein Staatsbürger als untauglich zum Militärdienst erklären lassen

    Die Diagnose, von der die verehrten Ärzte sprechen, heißt „Transsexualismus“ und gehört zu den Störungen der Geschlechtsidentität. Unter anderem kann sich ein Staatsbürger auf dieser Grundlage als untauglich zum Militärdienst erklären lassen. Und man darf auch nicht vergessen, dass ein homosexuelles Paar, wenn ein Partner das Geschlecht ändert, das Recht bekommt, ein Kind zu adoptieren. Solche Fälle gibt es in Russland leider auch schon.

    Laut der russischen Verfassung ist die Ehe ein Bündnis zwischen Mann und Frau, irgendwelche unbestimmten, zusätzlichen oder Zwischen-Gender kommen darin einfach nicht vor. Es gibt nicht Elternteil-1 und Elternteil-2. Die Einführung einer solchen Praxis widerspricht einer ganzen Reihe von grundlegenden staatlichen Statuten und Konzepten: So unter anderem der russischen Verfassung, der Strategie der nationalen Sicherheit, den Grundlagen der Staatspolitik zum Schutz von traditionellen russischen geistig-moralischen Werten.

    In dieser Klassifikation gelten Perversionen als Norm. Wenn wir in einer solchen Welt leben wollen, dann muss nichts geändert werden

    Dass es derart rudimentäre Normen gibt, ist das Ergebnis der Arbeit von einigen Beamten im internationalen Bereich, zum Beispiel in der Weltgesundheitsorganisation mit ihrer internationalen Klassifikation von Krankheiten ICD-10 und ICD-11, die aus Gewohnheit immer noch anerkannt und von der russischen Regierung umgesetzt werden. In dieser Klassifikation gelten Perversionen als Norm. Wenn wir in einer solchen Welt leben wollen, dann muss natürlich nichts geändert werden: Es müssen keine Gesetze erlassen werden, und einfach akzeptiert werden muss unter anderem auch die Mitgliedschaft der Russischen Föderation in der Weltgesundheitsorganisation, die uns Geschäftsreisen, Vergünstigungen und eine ganze Reihe von lukrativen Verträgen und so weiter beschert.

    Ich spreche hier nur von der Spitze des Eisbergs. Die westliche Transgender-Industrie versucht auf diese Weise, unser Land zu durchdringen und eine Bresche für ihr millionenschweres Business zu schlagen. In Russland existiert bereits ein etabliertes Netz von Kliniken, die Geschlechtsumwandlungen vornehmen, einschließlich sogenannter trans-friendly Ärzte. Trans-friendly Psychologen arbeiten mit aktiver Unterstützung von LGBT-Organisationen (die vielleicht in den letzten Jahren ihren Namen in einen weniger verfänglichen geändert haben). Bereits heute ist das eine profitable, eine überaus profitable Branche medizinischer Dienstleistungen. Und es ist klar, warum eine ganze Reihe von Ärzten diese Branche so leidenschaftlich verteidigt, unter dem Deckmantel akademischer Kenntnisse, die sie unter anderem im Ausland während der Ausbildung in den USA und anderen Ländern erworben haben. Das ist natürlich gut, wundervoll. Nur scheint mir irgendwie, es ist an der Zeit, in dieser Branche aufzuräumen. Und die Entscheidung heute ist ein Schritt in diese Richtung.“

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    Das „Verbot homosexueller Propaganda“ gegenüber Minderjährigen gilt in Russland bereits seit 2013 – Anfang Dezember hat Wladimir Putin nun eine Verschärfung des Gesetzes unterzeichnet. Demnach steht „homosexuelle Propaganda“ generell unter Strafe, das Verbot soll auch für Medien und Literatur gelten.

    Radio Svoboda hat mit Mikita Franko über diese Gesetzesverschärfung und ihre Konsequenzen für die russische LGBTQ-Szene gesprochen. Der Trans-Autor wurde 1997 in Kasachstan geboren und lebt seit einigen Jahren in Moskau. Sein autobiographisch inspirierter Roman Die Lüge (Original Dni naschei shisni, aus dem Russischen ins Deutsche übersetzt von Maria Rajer) machte ihn auch hierzulande bekannt – in Russland wurde das Buch aus den Geschäften verbannt. Darin erzählt Franko von seinem Alter Ego Mikita, der in Russland mit zwei Vätern aufwächst.

    Warum hat die Regierung gerade jetzt das bereits bestehende LGBTQ-feindliche Gesetz verschärft?

    Die Propaganda hat sich den Kampf gegen den kollektiven Westen und gegen Satanisten auf die Fahnen geschrieben. In ihren Augen steht die LGBTQ-Community stellvertretend für diesen kollektiven Westen. Nicht umsonst rechtfertigt sich Lord Voldemort [Putin] bei seinen Versammlungen vor dem Volk mit Verweis auf „Elternteil 1 und 2“ [im Westen] und demonstriert so, wie er tatkräftig gegen den Westen kämpft.

    Wie haben Sie reagiert, als Sie gehört haben, dass das Gesetz zum Verbot der „Propaganda nicht traditioneller Werte“ verabschiedet wurde?

    Mich überkamen inspirierende Wut und rebellischer Protest. Ich dachte mir, wenn sie es mir verbieten wollen, werde ich doppelt so viel über das Leben queerer Menschen schreiben. Mit so einer Reaktion fühle ich mich besser. Gerade habe ich gute Laune, denn ich glaube, dass alles nur eine Frage der Zeit ist: Die jungen Menschen werden länger leben als die, die sich dieses Gesetz ausgedacht haben. Russland befindet sich derzeit in einer Art Todeskampf. Es tut mir um das Russland leid, dessen Potenzial das Regime zerstört hat. Ich bin damals [aus Kasachstan – dek] in ein Land mit vielen Möglichkeiten gezogen. Jetzt kommt es mir so vor, als wäre es ein anderes Land.

    Wie werden sich diese neuen homosexuellen- und transfeindlichen Gesetze auf das Leben von LGBTQ-Menschen auswirken?

    LGBTQ-Menschen werden nicht verschwinden. Einigen wird es vielleicht gelingen, das Land zu verlassen, anderen wird es schlecht gehen. Das Risiko für Gewalt gegen LGBTQ-Menschen und die Suizidwahrscheinlichkeit unter ihnen werden steigen. 

    Auf Ihrem Telegram-Kanal haben Sie mal geschrieben, Sie hätten mehr für die traditionellen Werte getan als alle russischen Abgeordneten zusammen. War das ein Witz?

    Mir schreiben oft Eltern – meine Leser:innen –, dass sie ihre Kinder dank Dni naschei shisni [Die Lüge, erschienen bei Hoffmann & Campe, in der Übersetzung von Maria Rajer] besser verstehen, dass sie angefangen haben, ihnen zu helfen und sie zu unterstützen. Das stärkt doch die Familie, was könnte traditioneller sein?!

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    „Die Geschichte meiner Held*innen ist nicht die Geschichte des Kampfes einer bestimmten Community, sondern der Kampf für ein grundlegendes Menschenrecht – das Recht zu sein.“

    Zum Tag der Menschenrechte bringt dekoder eine Fotostrecke über Transgendermenschen von Oleg Ponomarev. 
    Der 1988 in Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg, geborene Fotograf widmet sich in seinen Arbeiten vor allem sozialen und ethnologischen Themen. Auf dekoder erschienen von ihm bisher Sumbur – ein heilsames Durcheinander und Beim Volk der Mari.

    Gender-Dysphorie ist ein furchtbarer Zustand, der einen dummes Zeug machen lässt. Zum Beispiel im Internet nach Hormonen suchen und sie sich spritzen, bevor man mit Ärzten gesprochen hat. Ich bin einer von ihnen, aber es war der einzige Ausweg. – IGNAT / Fotos © Oleg Ponomarev

     

    Meine Eltern haben mir, bis ich zwölf war, keine Geschlechterrollen aufgedrängt, keine Kleidchen angezogen. Ich fühlte mich als geschlechtsloses Tröpfchen. Mit 15 bin ich von zu Hause weg. Mit 16 erfuhr ich dann, dass es Transgender gibt, und mir war sofort klar, was mit mir los ist. Ich begann, mir den Kopf zu rasieren, und sprach von mir in der männlichen Form. Das hat mich irrsinnig erleichtert. Ich kam in dieser Zeit aufs College, wo mich die Jungs völlig unerwartet akzeptierten. „Hier haben wir ja noch einen Kerl.“ – TIM

     

    Die soziale Geschlechterangleichung begann bei mir mit zehn. Als die Probleme mit meiner Mutter losgingen, dachte ich mir eigene Welten aus, Geschichten, in denen ich lebte.
    Meine Adoptivmutter hat mich später vor dem Kinderheim gerettet, wofür ich ihr sehr dankbar bin, doch mit der Familie hat es nicht geklappt. 
    Im Endeffekt bin ich von dort weg und habe mir Arbeit gesucht. Da musste ich mit dem Manager sprechen. Als wir sprachen, hörte ich, dass seine Stimme durch eine Hormontherapie beeinflusst ist. Wir haben dann viel miteinander unternommen und sind jetzt richtige Freunde. Er hat mir bei der ganzen Hormonsache geholfen. – JURA

     

    Die Beziehung zu meinen Eltern wurde nach der Geschlechtsangleichung noch besser, wir haben gelernt, miteinander zu reden, und verstanden uns dann auch besser. Das haben auch alle damit verbundenen Schwierigkeiten möglich gemacht. Ich denke, ich hatte großes Glück. Sowohl von meiner Seite als auch von Seiten meiner Eltern bestand ein riesiges Bedürfnis in Kontakt zu bleiben. – ALEXEJ

     

    Es war dann irgendwann klar, dass ich in Chabarowsk nichts mehr verloren hatte. Ich zog zu meinem Freund nach Petersburg. Ich bin ihm sehr dankbar, möchte mich bedanken, dass er immer für mich da war und mich unterstützt hat. Er ist Künstler. So begann meine Webcam-Laufbahn und Karriere als Porno-Bloggerin. – ALISA

     

    Kürzlich hatte ich ein Gespräch mit meiner Mutter und sie sagte, sie würde weiter Kontakt zu mir haben wollen, würde aber ihrem zukünftigen Mann oder sonstwem in ihrem privaten Umfeld nicht erklären wollen, warum sie einen Kerl mit Bart ihre Tochter nennt. Das ist zwar traurig, aber ich bin froh, dass sie nicht aufhört mich zu lieben. Ja, ich werde nicht bei ihr wohnen, aber sie hat nicht mit mir gebrochen. Ich kenne Leute, denen die Eltern gesagt haben: „Tschüss, ruf uns bitte nie mehr an.“ – MAXIM (Name geändert)

     

    Mit 19 stieß ich auf das Wort Transgender. Es war eine merkwürdige Situation, denn ich war in dieser Zeit verheiratet. Ich war bei Freunden auf einer Feier, und es stellte sich heraus, dass einer der Gäste ein Transmann war. Ich sah ihn – da zog sich etwas in mir zusammen. Er bemerkte meine Reaktion, wir kamen ins Gespräch, ich stellte Fragen, und er sagte, das sei Transgeschlechtlichkeit. Einige Monate später haben mein Mann und ich uns im Frieden getrennt. – NIKITA 

     

    Seit meiner Kindheit habe ich mich für alle möglichen Protagonisten von Computerspielen, Filmen und Animationsfilmen interessiert und bin in diese Rollen geschlüpft. Ich habe sie vollständig imitiert, alle Details bis hin zu Mimik und Gestik übernommen, aber es waren immer nur männliche Rollen. – OLEG

     

    Sobald ich mir erlaubte, mich so zu entwickeln, wie es mir angenehm war, begann ich mich wie auf einen Fingerschnips hin zu feminisieren. Ich erlaubte mir, ich zu sein, und dann kam der Moment, wo ich merkte, was ich tat, doch da hatte ich schon keine Angst mehr. Das ist nicht gut oder schlecht – es ist einfach so. Wenn das dann Feminisierung oder Geschlechtsangleichung heißt, okay. Ich wollte mir einfach nur gefallen und nicht das Bedürfnis haben, mein Spiegelbild anzuspucken. Und ich will leben, ohne zusammengeschlagen zu werden. Das war’s. – MARINA

     

    Mit 25 wurde mir klar: Transsexualität geht mich an. Ich weiß nicht, was meine Orientierung ist. Obwohl mir zu Beginn der Geschlechtsangleichung meine lesbische Identität sehr wichtig war, wichtiger als die Identität als Transfrau. Lesbische Transfrau, das kam sogar in Transkreisen nicht so richtig gut an. Warum eine Geschlechtsangleichung vornehmen, wenn dir Frauen gefallen? Was soll ich machen, soll ich mich zerreißen? Was bin ich nur für eine Tscheburaschka! Ich verstehe das bis heute nicht und stelle mich auf meinen Seminaren oft vor mit den Worten: „Guten Tag. Ich heiße Katja. Ich bin eine Tscheburaschka.“ – KATHARINA, Aktivistin bei T-Deistwije (dt. T-Action)

     

    Ich bin jetzt freier und fröhlicher. Und muss vor meinen Eltern nichts mehr geheimhalten oder Brustbinder verstecken. An die einzelnen Schritte der Geschlechtsangleichung denke ich voller Freude und kann es kaum erwarten. In sozialer Hinsicht habe ich keine Probleme: Alle, mit denen ich zu tun habe, nehmen mich so, wie ich bin, nur Körper und Stimme müssen noch in Ordnung kommen. Das Finale der Angleichung wird für mich das Ausbleiben von Fragen, die mir gestellt werden. – SASCHA

     

    Meine Gender-Dysphorie begann, als ich eine Brust bekam. Ich schaute in den Spiegel und mir war klar, dass da was nicht stimmt, wenn ich so aussehe. Wie wenn jemand geschwollene Beine kriegt und merkt, dass da was nicht stimmt und zum Arzt geht, damit der was dagegen tut. Durch die Angleichung kann ich ich sein. Es fällt mir jetzt leichter mit Menschen zu kommunizieren, ich werde nicht mehr als Frau angesprochen und bin dadurch glücklicher. Ich fühle mich jetzt sicherer. – DAMIAN

    Fotograf: Oleg Ponomarev
    Bildredaktion: Andy Heller
    Original: Takie Dela
    Veröffentlicht am 10.12.2020

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  • „Liquidierung“ von Abweichlern?

    „Liquidierung“ von Abweichlern?

    Der Begriff soziale Distanz ist heute in aller Munde. In den Sozialwissenschaften beschreibt er unter anderem den Abstand zwischen sozialen Gruppen: zwischen Ethnien zum Beispiel, Milieus oder sexuellen Orientierungen.

    In einem ähnlichen Sinn verwendet auch das Lewada-Zentrum den Distanz-Begriff: In einer langjährigen Studie untersucht das unabhängige Meinungs­forschungs­institut unter anderem, was die Gesellschaft über die Menschen denkt, deren Verhalten von der gesellschaftlichen Norm abweicht. Schon in vergangenen Jahren haben einzelne Stimmen diese Untersuchungsreihe kritisiert, die Ausgabe vom April 2020 provozierte aber einen regelrechten Eklat, mit massiven Vorwürfen aus dem liberalen Lager.

    Während sogar einzelne Mitarbeiter des Umfrageinstituts Kritik an der Studie äußern, bricht der russische Poet Dimitri Kusmin eine Lanze für Lewada. Auf Colta argumentiert der bekannte Akteur der LGBT-Bewegung gegen die „nicht totzukriegende hysterische Kampagne gegen das Lewada-Zentrum“.

    Sie denken wahrscheinlich, ich will das unabhängige russische Umfrageinstitut Lewada gegenüber dem Kreml verteidigen. Der hatte der Zeitung Vedomosti offenbar verboten, weiterhin Umfragen dieses Instituts zu veröffentlichen.

    Aber nein, zu dem Thema habe ich nichts beizutragen. Stattdessen verfolge ich mit Interesse die nicht totzukriegende hysterische Kampagne gegen das Lewada-Zentrum aus einer Ecke, die allem Anschein nach dem Kreml ideologisch exakt entgegensteht. Es handelt sich um eine progressiv eingestellte Öffentlichkeit, die buchstäblich dasselbe Problem mit dem Lewada-Zentrum hat wie die Präsidialverwaltung: Dass die Soziologen das Volk so zeigen, wie diese Öffentlichkeit es nicht sehen will.

    Es geht um eine kürzlich durchgeführte Umfrage. In dieser sollten sich die Befragten dazu äußern, ob sie Menschen, die in irgendeiner Weise anders sind, nicht gerne ausrotten oder in die Verbannung schicken würden – wobei unter „anders“ alles Mögliche zusammengefasst war: von Sektenanhängern über Homosexuelle bis hin zu Feministinnen.


    „Das Schlimmste dabei ist, dass mit solchen Untersuchungen die öffentliche Meinung nicht nur erfasst, sondern auch geformt wird“, schreibt der Aktivist Karen Schainjan auf Facebook. Der Soziologe Wardan Barsegjan stimmt ein: „Terroristen und Pädophile werden da leichtfertig mit ganz normalen Menschen wie Feministinnen, Schwulen, Menschen mit HIV und Obdachlosen in eine Reihe gestellt.“

    Die Öffentlichkeit kritisiert nun einerseits, dass bereits die Fragestellung Homosexuelle und Terroristen unter einem Label vereint – als „Menschen, deren Verhalten von der gesellschaftlichen Norm abweicht“. Andererseits würden die in den Antwortoptionen vorgeschlagenen radikalen Maßnahmen die Befragten dazu provozieren, eben diese Maßnahmen zu wählen. 


    Diese Überlegung ist ein hübsches Beispiel für das abstruse Selbstverständnis der Intelligenzija: Würden wir dem Volk nicht einflüstern, dass es den Wunsch haben könnte, jemanden zu strangulieren, der ihnen nicht gefällt, würde es da nie von selbst drauf kommen.

    Umfrageergebnisse widerlegen alle Vorwürfe

    Man sollte meinen, dass die jüdischen Pogrome zu Zeiten des Russischen Reichs ausreichen sollten, die glühenden Vertreter dieser Theorie etwas herunterzukühlen. Doch viel entscheidender ist die Tatsache, dass bei genauer Betrachtung die Umfrageergebnisse die vorgebrachten Vorwürfe sofort widerlegen.

    Erstens: Bei weitem nicht alle „Menschen, deren Verhalten von der gesellschaftlichen Norm abweicht“, lösen bei den Befragten den Wunsch nach radikalen Maßnahmen aus. Obdachlose und HIV-Infizierte wollten beispielsweise nur zwei Prozent der Befragten gerne „liquidieren“, was nur knapp über dem Bereich einer normalen Messunsicherheit von eineinhalb Prozent liegt. Das Nebeneinander von Obdachlosen und Terroristen in ein- und derselben Frage führt also nicht dazu, dass die Menschen eher bereit sind, Obdachlose zu erschießen.

    Während 15 Prozent angeben, Drogenabhängige „liquidieren“ zu wollen, sind es bei Alkoholikern nur fünf Prozent. Es liegt nahe, diesen Umstand darauf zurückzuführen, dass Alkoholismus für die meisten Befragten ein „bekanntes Übel“ ist, mit dem sie schon lange und alltäglich zu tun haben, während Drogenabhängigkeit etwas ist, das sie nur aus dem Fernsehen kennen. Es fällt deshalb leichter, diesem Übel die vollständige Liquidation zu wünschen als dem dauerblauen Onkel Wassja von nebenan.

    Terroristen und Extremisten dürften wohl die wenigsten Befragten zu ihrem Bekanntenkreis zählen; aber auch was Vorhandensein von Feministinnen unter persönlichen Bekannten angeht, regen sich leise Zweifel. Und zu Schwulen und Lesben existiert eine Statistik, die ebenfalls vom Lewada-Zentrum stammt: In einer Umfrage von 2019 glaubten 89 Prozent der Befragten, weder Schwule noch Lesben persönlich zu kennen.


    Zweitens liegt bei dieser Frage eine statistische Tendenz vor: Das Lewada-Zentrum führt diese Umfrage bereits seit 1989 durch. In diesem mich persönlich betreffenden Abschnitt über Schwule und Lesben ist Folgendes wichtig: In der ersten Umfrage von 1989 ist die negative Einstellung [Schwulen und Lesben] gegenüber auf ihrem historischen Maximum. Ein historisches Minimum zeigt die Umfrage von 1999. Danach gibt es einen Rollback, bis sich das Bild zum Jahr 2008 hin insgesamt stabilisiert: Die Zahlen von 2008 und 2020 unterscheiden sich nur minimal, eine leichte Verschlechterung sehen wir jeweils 2012 und 2015 (am deutlichsten ausgeprägt war die Tendenz zur Menschenfeindlichkeit im Jahr 2015, was [der Politikwissenschaftler] Iwan Preobrashenski zurecht auf die Welle aggressiver Propaganda im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg zurückführt).

    Was sagt uns das? Vor allem: dass eine negative Formulierung eine Umfrage nicht daran hindert, eine positive Tendenz aufzuzeigen, wenn es eine gibt. Bedeutsam ist außerdem, dass die signifikante Verbesserung der Einstellung zu Schwulen und Lesben in die liberale Zeit unter Jelzin fällt und mit dem Beginn der Putinschen Stabilität im Jahr 2000 endet – und nicht etwa mit dem Aufkommen der Propaganda gegen Homosexuelle 2012 und 2013, deren Auswirkung den Umfragewerten zufolge kurzfristig minimal war und langfristig bei Null liegt.

    Positive Tendenz – trotz negativer Formulierung

    Natürlich müssen wir alle besser arbeiten, auch die Soziologen. Die Meinung von Aktivisten und Vertretern der Zivilgesellschaft zu berücksichtigen, auch bei der Formulierung von Fragen, ist keine schlechte Idee – aber kein Selbstzweck. 2019 wurde eine Umfrage zur Einstellung gegenüber Schwulen und Lesben durchgeführt, und zwar unter Mitwirkung einer der führenden russischen LGBT-Organisationen, der Gruppe „Wychod“ [„Coming out“]. Was meinen Sie, was dabei herauskam? Negativ äußerten sich immer noch die etwa gleichen 56 Prozent der Befragten. Nur, dass die liberal gesinnten Journalisten nicht darauf abzielten, sondern lieber titelten: „47 Prozent der Russen sprechen sich für die Gleichberechtigung der LGBT-Gemeinschaft aus“ – eine perfekte Täuschung. Die Frage lautete, ob Schwule und Lesben „die gleichen Rechte wie andere Bürger“ haben sollen. (Es ist natürlich lobenswert, dass 47 Prozent dafür waren, aber hier fehlte die nächste Frage: „Dürfen Schwule und Lesben als Lehrer arbeiten?“ Erst damit hätte man ein Bild davon bekommen, welche „gleichen Rechte“ die Befragten im Sinn haben.)

    Stockholm-Syndrom der russischen Gesellschaft

    Was sagt uns dieses ganze Zahlen-Kaleidoskop? Das, was wir auch ohne die Zahlen bereits wissen: Die Konzentration des Hasses ist in Putins Russland extrem hoch. Dieses Regime ist quasi auf Hass erbaut. Gegen wen er sich richtet, ist dabei fast nebensächlich: In der Umfrage von 2015 waren unter den Personen mit „abweichendem Verhalten“ auch Punks und Goths aufgeführt – welche Punks im Jahre 2015, fragt man sich? Die muss man doch in den Archiven suchen! Aber der Hass hat ein gutes Gedächtnis: Elf Prozent der Befragten wollten sogar die Punks „liquidieren“ („isolieren“ wollten sie weitere 19 Prozent).

    Ständig daran zu denken, dass die Aggression der stabile emotionale Hintergrund der Gesellschaft ist, in der man lebt, das ist psychologisch schwer. Wenn man die Menschen daran erinnert, legen sie allmählich Elemente des Stockholm-Syndroms an den Tag: Schuld sind dann nicht mehr die, die hassen oder den Hass als Administrative Ressource benutzen, sondern diejenigen, die dafür sorgen, dass wir den Hass nicht vergessen.

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    Am 17. Mai 1990 hat die Weltgesundheitsorganisation WHO beschlossen, Homosexualität von der Liste psychischer Krankheiten zu streichen. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Lewada glaubten 2015 jedoch 37 Prozent der Befragten in Russland, dass Homosexualität eine Krankheit sei. 

    Fast 30 Jahre nach dem WHO-Beschluss werden LGBT in Russland noch immer diskriminiert, auch vor dem Gesetz: So wurde 2013 sogenannte „homosexuelle Propaganda“ verboten. Immer wieder gibt es auch Gewalt gegen LGBT, im April 2017 hatte die Novaya Gazeta auf Massenfestnahmen und Folter von Homosexuellen in der Teilrepublik Tschetschenien aufmerksam gemacht.

    Der russische Fotograf Stanislaw Dolshnizki wollte Stereotype und Vorurteile abbauen – und hat von 2015 bis 2018 die Geschlechtsanpassung von Jan begleitet. Auf Meduza erzählt Jan seine Geschichte aus der Zeit der Transition, wie er sie nennt.

    Jan vor der Geschlechtsanpassung im Sommer 2015 / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Jan vor der Geschlechtsanpassung im Sommer 2015 / Foto © Stanislaw Dolshnizki

    Ich heiße Jan und bin 31 Jahre alt. Geboren bin ich in der Bergbaustadt Beresniki in der Region Perm. Ich arbeite als Regisseur, mache Werbung und Videoclips; im Moment lebe ich im Moskauer Umland. Die letzten vier Jahre meines Lebens habe ich meiner Geschlechtsanpassung gewidmet.

    Ein elastischer Verband hilft Jan, die Brüste unter der Kleidung zu verstecken / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Ein elastischer Verband hilft Jan, die Brüste unter der Kleidung zu verstecken / Foto © Stanislaw Dolshnizki

    Solange ich denken kann, hat sich etwas in mir gesträubt, wenn man mich als Mädchen behandelt hat und nicht als Junge. Ich verstand nicht, warum ich Schleifen und rosa Hosen tragen sollte. Als ich drei war, kam ich mit Gelbsucht ins Krankenhaus. Ich lag in einem großen gemischten Mehrbettzimmer mit Mädchen und Jungs. Dort freundete ich mich mit einem gleichaltrigen Jungen an, wir spielten zusammen mit Autos. Und mir hat zum ersten Mal ein Mädchen gefallen, sie war etwas älter. Ich dachte: „Wenn ich groß bin, werde ich sie heiraten, wenn sie noch nicht zu alt ist.“ Ich glaube, damals fing das an.

    Jan wuchs bei seiner Großmutter auf, seine Mutter verstarb, als er neun war / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Jan wuchs bei seiner Großmutter auf, seine Mutter verstarb, als er neun war / Foto © Stanislaw Dolshnizki

    Ich hatte kein Problem, mich anzunehmen wie ich bin, wie das sonst bei vielen der Fall ist. Ich musste mich nicht verbiegen. Es ging alles relativ leicht, gerade weil ich es schon seit der Kindheit wusste. Wenn du 12, 13 bist und mit den Jungs rumrennst, bist du einer von ihnen. Du kümmerst dich nicht darum, wer dich wie anspricht, weil du siehst, dass man dich gleich behandelt. Aber sobald die Pubertät losgeht und sich alle äußerlich verändern, fangen die richtigen Probleme an. Es gab Momente, da wurde ich zum Beispiel als Lesbe bezeichnet, ich war tierisch gekränkt, denn ich habe mich nie so gesehen. Manche Transmänner leben tatsächlich zunächst als Lesben, bevor sie sich irgendwann festlegen. So war es bei mir nie – ich war bereit, mich deswegen zu prügeln.

    Zum ersten Mal bewusst darüber gesprochen habe ich mit ungefähr 13. Das war im Sommerferienlager, wo ich nur mit Jungs herumhing und der Anführer war. Da habe ich der Gruppenleiterin gesagt, dass ich als Junge angesprochen werden will. Sie sagte, das sei das Alter und würde wieder vorbeigehen. Als am Besuchstag meine Oma kam, habe ich das Gleiche zu ihr gesagt. Sie fragte: „Was redest du da für ein dummes Zeug?“, und sprach mit der Gruppenleiterin, die ihr dann erzählte: „Das ist bloß die Pubertät, nehmen Sie das nicht so ernst, in dem Alter ging’s mir auch so.“ Damit war das Thema erst mal gegessen.

    Wenn ich heute mit meiner Oma darüber spreche, sage ich zu ihr: „So, dieses Alter ist vorbei, aber bei mir ändert sich irgendwie nichts.“ Ich glaube, viele haben als Kind dieses Problem: Die Erwachsenen hören nicht auf sie, sondern auf irgendwelche Leute, die sie nicht kennen und die noch weniger wissen, was in dir vorgeht.

    „Gegen Ende der Schulzeit habe ich erfahren, dass das, was mit mir ist, Transgender bzw. Transsexualität heißt.“ / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    „Gegen Ende der Schulzeit habe ich erfahren, dass das, was mit mir ist, Transgender bzw. Transsexualität heißt.“ / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Am Zenit-Stadion im Sommer 2015 / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Am Zenit-Stadion im Sommer 2015 / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Streifzug durch die Stadt im Sommer 2015 / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Streifzug durch die Stadt im Sommer 2015 / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    „Mir wurde klar, dass es die Möglichkeit gibt, sich operieren zu lassen – und dass ich danach vielleicht normal sein würde.“ / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    „Mir wurde klar, dass es die Möglichkeit gibt, sich operieren zu lassen – und dass ich danach vielleicht normal sein würde.“ / Foto © Stanislaw Dolshnizki

    Gegen Ende der Schulzeit habe ich dann erfahren, dass das, was mit mir ist, Transgender beziehungsweise Transsexualität heißt. In einer Zeitschrift hatte ich von einem neuen Film gelesen, über eine junge Frau, die sich als Mann fühlt. Der Film hieß Boys Don‘t Cry. Ich wünschte ihn mir von meinem Bruder zum Geburtstag. Dann sah ich ihn mir zusammen mit Freunden an. Die lachten sich kaputt, aber ich verstand, worum es ging. Und da wurde mir auch klar, dass es die Möglichkeit gibt, sich operieren zu lassen – und dass ich danach vielleicht normal sein würde.

    In der Uni hatte ich weder das Geld noch die Info, dass man vor eine Kommission muss. Ich wusste nicht, wo man hingeht, an wen man sich wendet, ob es wirklich stimmt, dass man nicht in die Klapse kommt – dahin wollte ich als Letztes. Nach und nach fand ich alles heraus und sparte etwas Geld an.

    Dann musste ich das Problem in der Familie lösen: Ich bin bei meiner Großmutter aufgewachsen, meine Mutter ist gestorben, als ich neun war. Ich wusste, dass meine Oma nicht einverstanden wäre – ich hatte mit ihr schon öfter über mich und eine OP gesprochen. Ich hatte Angst, dass sie der Schlag trifft, ich wollte nicht der Grund für ihren Tod sein. Sie hatte früh ihren Mann verloren, dann ihre Tochter, und dann komme auch noch ich. Aber es kam, wie es kam.

    2015 war es dann soweit, ich hatte einen Termin für die Kommission. Das Gespräch in der Fakultät für klinische Psychologie der Hochschule für Kinderheilkunde in Sankt Petersburg führte damals Dimitri Issajew. Er ist einer der wenigen Fachleute für Transgender in Russland, die wirklich helfen können. Ich bestand alle Tests, aber nach der Hetzjagd auf Issajew und seiner Entlassung stellte die Kommission mir das Gutachten nicht aus, auf dessen Grundlage die Hormontherapie und die chirurgischen Eingriffe erst eingeleitet werden.

    Das Gutachten der neuen Untersuchung bekam ich erst ein Jahr später. Das habe ich zu einem großen Teil meiner Freundin Dascha zu verdanken. Sie hat darauf bestanden, dass ich einen zweiten Versuch wage. Im Mai 2016 hatte ich endlich die Bescheinigung und konnte mich auf die OP vorbereiten.

    „Das Gutachten habe ich zum Großteil Dascha zu verdanken. Sie bestand darauf, dass ich einen zweiten Versuch wage.“ / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    „Das Gutachten habe ich zum Großteil Dascha zu verdanken. Sie bestand darauf, dass ich einen zweiten Versuch wage.“ / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Jan und Dascha in Sankt Petersburg, Frühling 2016 / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Jan und Dascha in Sankt Petersburg, Frühling 2016 / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Jan und Dascha in einer Bar in Sankt Petersburg, Frühling 2016 / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Jan und Dascha in einer Bar in Sankt Petersburg, Frühling 2016 / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    „Dascha hat mich während dieser ganzen Zeit sehr unterstützt. Ich habe im Gegenzug so gut es geht versucht, den Haushalt zu schmeißen.“ / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    „Dascha hat mich während dieser ganzen Zeit sehr unterstützt. Ich habe im Gegenzug so gut es geht versucht, den Haushalt zu schmeißen.“ / Foto © Stanislaw Dolshnizki

    Die häufigste Operation bei Transmännern ist die Mastektomie, die Entfernung des Milchdrüsengewebes. Nur wenige gehen einen Schritt weiter, denn die Phalloplastik [die plastische Operation zur Anpassung der Geschlechtsorgane] ist erstens sehr teuer und zweitens nicht unbedingt notwendig: eine maskulinisierende Mammaplastik [der plastische Eingriff an der Brust] und eine gut eingestellte Hormontherapie lassen keinen Zweifel an der Geschlechtszugehörigkeit. Der Sinn der Transition besteht darin, Harmonie mit sich selbst und der Sozialisierung in der entsprechenden Genderrolle zu erlangen, nicht in der Imitation der äußeren Geschlechtsmerkmale. Als ich noch im Körper einer Frau war, konnte ich schlicht keinen Haarschnitt in einem anständigen Barbershop bekommen – man wollte mich nicht bedienen, unter Verweis auf die Geschäftspolitik.

    Jan im Herbst 2017, bis zur OP bleiben nur noch wenige Tage / Foto  © Stanislaw Dolshnizki
    Jan im Herbst 2017, bis zur OP bleiben nur noch wenige Tage / Foto © Stanislaw Dolshnizki

    2017 hatte ich endlich die nötige Summe zusammen. Das war nicht leicht, weil ich meinen Job in Perm wegen des Umzugs nach Moskau und der bevorstehenden Transition aufgeben musste. Es war schwer, eine neue Arbeit zu finden, ich musste ja alle Papiere ändern lassen, und dann standen die ganzen äußeren Veränderungen bevor … Dascha hat mich während dieser ganzen Zeit sehr unterstützt. Ich habe im Gegenzug so gut es geht versucht, den Haushalt zu schmeißen.

    Im Herbst 2017 ließ ich in einer Moskauer Privatklinik die Mastektomie vornehmen. Die OP gilt allgemein als unkompliziert, aber es war nicht so leicht: Im Grunde ist das eine Amputation. Aber nach wenigen Wochen war ich wieder auf den Beinen, nur die Bandage musste ich noch ständig tragen.

    Jan und Dascha im Krankenzimmer / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Jan und Dascha im Krankenzimmer / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Vorbereitung auf die OP / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Vorbereitung auf die OP / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Auf dem Weg in den OP / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Auf dem Weg in den OP / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Die ersten Stunden nach der OP / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Die ersten Stunden nach der OP / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    „Der Sinn der Transition besteht darin, Harmonie mit sich selbst und der Sozialisierung in der entsprechenden Genderrolle zu erlangen.“ / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    „Der Sinn der Transition besteht darin, Harmonie mit sich selbst und der Sozialisierung in der entsprechenden Genderrolle zu erlangen.“ / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Nach wenigen Wochen war Jan wieder auf den Beinen, nur die Bandage musste er noch ständig tragen / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Nach wenigen Wochen war Jan wieder auf den Beinen, nur die Bandage musste er noch ständig tragen / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Jan und Dascha nach der OP im Herbst 2017 / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Jan und Dascha nach der OP im Herbst 2017 / Foto © Stanislaw Dolshnizki

    Die Kategorien werden heute immer breiter: Begriffe wie Transgender, Transsexualität, queer sind mittlerweile so weit gefasst, dass auch die Transition bei jedem anders aussieht. Manche wollen einfach nur neue Dokumente und brauchen sonst keine Veränderungen. Aber für mich war die Geschlechtsanpassung erst vollzogen, als ich die Kommission und dann die OP hinter mir hatte, die neuen Papiere bekommen und mit der Hormonersatztherapie (HET) begonnen hatte. Ohne diese Schritte wäre meine Transition, so wie ich sie verstehe, nicht vollständig gewesen. Wenn das jemand für sich anders sieht, ist das seine Sache. Ich werde deswegen niemanden schlechter behandeln oder ihn anders nennen, als er sich vorgestellt hat.

    Letztens habe ich meine Oma besucht und ihr meinen Pass gezeigt. Als sie den sah, fing sie plötzlich an, mich als Mann anzusprechen. Für jemanden, der in der Sowjetunion aufgewachsen ist, ist der Pass immer noch ein schwerwiegendes Argument. Aber sie hat nicht lange durchgehalten: Seit ich zurück in Moskau bin, nennt sie mich am Telefon wieder Janotschka.

    2018 haben Dascha und ich geheiratet.

    „Als meine Oma meinen neuen Pass sah, fing sie plötzlich an, mich als Mann anzusprechen.“ / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    „Als meine Oma meinen neuen Pass sah, fing sie plötzlich an, mich als Mann anzusprechen.“ / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    „Als ich noch im Körper einer Frau war, konnte ich keinen Haarschnitt in einem Barbershop bekommen – man wollte mich nicht bedienen, unter Verweis auf die Geschäftspolitik.“ / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    „Als ich noch im Körper einer Frau war, konnte ich keinen Haarschnitt in einem Barbershop bekommen – man wollte mich nicht bedienen, unter Verweis auf die Geschäftspolitik.“ / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Jan zu Besuch bei seiner Großmutter / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Jan zu Besuch bei seiner Großmutter / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Jan 2018 in seiner Heimatstadt Beresniki / Foto © Stanislaw Dolshnizki
    Jan 2018 in seiner Heimatstadt Beresniki / Foto © Stanislaw Dolshnizki

    Fotos und Aufzeichnung: Stanislaw Dolshnizki
    Bildredaktion: Andy Heller
    Übersetzung: Jennie Seitz
    Veröffentlicht am 16.05.2019

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