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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Wörterbuch des Krieges

    Wörterbuch des Krieges

    Folgt man der Berichterstattung in russischen Staatsmedien, so führt Russland keinen Krieg in der Ukraine, sondern setzt eine „militärische Spezialoperation“ um, um die Zivilbevölkerung zu beschützen. Die Ukraine würde demnach zum „Hauptzentrum des ultrarechten Extremismus“ und in Kyjiw regiert eine „Marionettenregierung“, die von „Angelsachsen“ gelenkt wird. Das Ziel der „Angelsachsen“ bestehe darin, „das einige und unteilbare Volk der Russen und Ukrainer“ zu spalten, was an sich jedoch nur der erste Schritt für die volle Ausrottung der russischen Nation sei. Russische Soldaten kämpfen demzufolge in der Ukraine gegen Nazis und Terrormilizen und falls es für die russische Armee schlecht laufen sollte, zieht sie als „Geste des guten Willens“ die Truppen zurück. 

    Das Online-Medium Mediazona hat die wichtigsten Wörter und Begriffe gesammelt und eingeordnet, mit denen russische Beamte und Staatsmedien den russischen Angriffskrieg erklären. dekoder hat einen Auszug aus diesem Wörterbuch übersetzt: von A wie „Angelsachsen“ bis Z wie „Zwangsumregistrierung“.

    Illustration © Boris Chmelny/Mediazona
    Illustration © Boris Chmelny/Mediazona

    A

    Angelsachsen (anglosaksy). Laut der russischen Propaganda ein bestehender Zusammenschluss von diversen englischsprachigen Ländern. Historisch gesehen: zwei Stämme im Süden der Britischen Inseln, die nach der Invasion von 1066 von den Normannen erobert und assimiliert wurden.  

    Anti-Russland (anti-Rossija). Auch „Projekt Anti-Russland“. Herkunft vermutlich: Anpassung des Begriffs „antisowjetisch“ an die neuen Realia. Etwa ein halbes Jahr vor dem 24. Februar 2022 räsonierte Putin ausführlich über die Ukraine als „Anti-Russland“.

    Antirussische Enklave (antirossiiski anklaw). Eine territoriale Einheit, die Wladimir Putin am 1. September 2022 im Rahmen der öffentlichen Unterrichtsstunde „Gespräche über das Wichtige“ ↓ in Kaliningrad erwähnte. Die Liquidation dieser Enklave, so die damals erstmals verkündete Version, sei das Ziel der sogenannten „Spezialoperation“, obwohl Putin in seiner Rede am 24. Februar gesagt hatte, dass „die Volksrepubliken im Donbass Russland um Hilfe gebeten“ hätten und das Ziel der Offensive der Schutz ihrer Bewohner sei.

    Atomterror (jaderny terror). Häufige Formulierung in den gegenseitigen Beschuldigungen der russischen und ukrainischen Seite, wenn es um den Beschuss des Kernkraftwerks Saporishshja geht.

    Aufträge ausführen (wypolnjat sadatschi). Kämpfen; an Kriegshandlungen teilnehmen. Der Begriff wird häufig in den Zusammenfassungen des Verteidigungsministeriums und in Nachrufen auf die in der Ukraine gefallenen Soldaten verwendet.

    Ausländischer Agent (inostranny agent). Eine Person bzw. Organisation, deren Tätigkeit der Regierung extrem missfällt oder die sich gegen den Krieg ausspricht.

    Illustration © Boris Chmelny/Mediazona
    Illustration © Boris Chmelny/Mediazona

    B

    Banderowzy/Benderowzy/Binderowzy. Ukrainische Nationalisten, die Stepan Bandera als ihren Held verehren. Meistens als „Benderowzy“ oder „Binderowzy“ ausgesprochen. Vermutlich ein Erbe der sowjetischen Leitfäden des KGB, verstärkt durch den Einfluss der bekannten Film-Komödie Solotoi teljonok.

    Befreiung (oswoboshdenije). Besetzung von Ortschaften in der Ukraine.

    Bunker-Opa (bunkerny ded). Spitzname, der Putin seit der Hochphase der Corona-Pandemie in Russland anhängt. Der Begriff erlebte nach Beginn des Angriffskrieges eine Renaissance angesichts von Spekulationen über Putins geheime Bunker, in denen er sich versteckt halten soll. Bedeutung: inkompetent, durch vorsätzliche Isolation problemlösungsvermeidend. Die russische Propaganda benutzt den Begriff wiederum für den ukrainischen Präsidenten Selensky, weil er sich angeblich entweder in einem Keller versteckt oder seine Videos von Polen aus aufnimmt.

    C

    Canceln der russischen Kultur (otmena russkoi kultury). Absage von Konzerten russischer Kulturschaffender im Ausland, die den Krieg öffentlich befürworten. Achtung: Das Absagen von Konzerten von Künstlern, die in Russland gegen den Krieg auftreten, gilt nicht als „Canceln der russischen Kultur“.

    D

    Demilitarisierung. Gleichbedeutend mit „Denazifizierung“ ↓. Eines der Ziele der „Spezialoperation“ ↓.

    Denazifizierung. Gleichbedeutend mit „Demilitarisierung“ ↑. Eines der Ziele der „Spezialoperation“ ↓.

    Desatanisierung. Eine spontane Wortbildung, mit der man die „Denazifizierung“ ↑ und „Demilitarisierung“ ↑ ersetzen wollte. Hat sich nicht eingebürgert.

    Deukrainisierung. Die Weiterentwicklung von „Denazifizierung“ ↑ und „Demilitarisierung“ ↑.

    E

    Entscheidungszentren (zentry prinjatija reschenii). Tatsächlich weiß niemand wirklich, was das ist. Nach zig Ankündigungen von „Angriffen auf Entscheidungszentren“ entpuppen sich die Ziele der Raketenschläge meist als Transformatoren. Eine Zeitlang kursierte der Ausdruck „Angriffe auf Entscheidungszentren auf der Bankowa“, aber das verleiht der Ukraine eine Subjekthaftigkeit, die der Botschaft der Propaganda widerspricht, Kyjiw sei nichts als eine Marionette in den Händen des „kollektiven Westens“ ↓. Möglicherweise ist der „Washington-Obkom“ ↓ gemeint, aber das ist unsicher.

    Exaltierte, blutrünstige Clowns (eksaltirowannyje, krowawyje klouny). Russlands Feinde, die eines Tages „schlagartig vom Jüngsten Gericht ereilt“ werden, so der stellvertretende Vorsitzende des Sicherheitsrates Dimitri Medwedew.

    F

    Fakes über die russische Armee (feiki o rossiiskoi armii). Syn. „das öffentliche Verbreiten von Falschinformationen über die Streitkräfte der Russischen Föderation“ ↓.

    Faschismus (faschism). Ein Wort, das in der russischen Propaganda alles Mögliche bezeichet, außer den tatsächlichen Faschismus – ein antiliberales Regime, das auf Revanchismus, Führerkult und der uneingeschränkten Macht des Staates aufgebaut ist.

    Filtration (filtrazija). Durchsuchung und Verhör ukrainischer Staatsbürger beim Verlassen der besetzten Gebiete. Häufig unter Folter.

    Fünfhunderter (ptjatisotyje). Soldaten, die den Kampf in der Ukraine verweigern. Viele von ihnen werden wegen Dienstverweigerung verurteilt. Der Begriff vervollständigt die Liste der „Zweihunderter“ (Tote) und „Dreihunderter“ (Verwundete).

    G

    Gespräche über das Wichtige (rasgowory o washnom). Unterrichtsfach an russischen Schulen, in dem Kinder über den Krieg in der Ukraine erzählt bekommen. Bei Nichterscheinen droht Schulverweis.

    Geste des guten Willens (shest dobroi woli). Rückzug der russischen Truppen von der Schlangeninsel (Insel Smeiny) Anfang des Sommers nach dem Untergang des Kreuzers Moskwa und regelmäßigen erfolgreichen Beschüssen der Insel sowie Schiffen der Schwarzmeerflotte durch die ukrainische Armee. Siehe „peregruppirowka“ ↓, Umgruppierung.

    Goida-a-a-a-a! In der Version von Iwan Ochlobystin handelt es sich um einen „altrussischen Ausruf“. Der Schauspieler verwendete ihn in seiner schillernden Rede anlässlich des Konzerts zu Ehren der Angliederung der DNR, LNR und der Oblaste Cherson und Saporishshja. Vermutlich ist die Wiederentdeckung dieses Schlachtrufs inspiriert durch Vladimir Sorokins Roman Der Tag des Opritschniks.

    Illustration © Boris Chmelny/Mediazona
    Illustration © Boris Chmelny/Mediazona

    H

    Helden-Schultisch (parta geroja). Schultische mit Porträts von russischen Helden, die die Partei Einiges Russland in den Schulen gefallener Soldaten installiert.

    Hybrider Konflikt (gibridny konflikt). Das Zusammenspiel von verschiedenen Formen der militärischen Konfrontation, von Kampfhandlungen bis hin zu verdeckter Sabotage und psychologischer Beeinflussung des Gegners. In russischen Schulen und Strafkolonien wird ein Fach mit diesem Namen unterrichtet.

    I

    Importsubstitution (importosameschtschenije). Der Versuch, aus dem Westen importierte Waren durch einheimische Produkte zu ersetzen. Oft werden chinesische Markenzeichen durch eigene überklebt oder sogar Waren von AliExpress mit Stoff getarnt [gemeint ist ein chinesischer Roboterhund, der mit einem schwarzen Stoff überzogen auf der Rüstungsmesse Armija-2022 als russische Innovation präsentiert wurde – dek].

    J

    Jugendarmee (junarmija). Der private Komsomol des Verteidigungsministers Sergej Schoigu, der im vergangenen Jahr endlich seine Bestimmung gefunden hat: Kinder und Jugendliche halten Ehrenwache bei den Beisetzungen der „auf dem Territorium der Spezialoperation ↓“ Gefallenen.

    Junta (chunta). Begriff, der die ukrainische Regierung charakterisieren soll. Von offiziellen russischen Vertretern und der Propaganda verwendet seit der Flucht von Ex-Präsident Wiktor Janukowytsch aus Kyjiw.

    K

    Knall (chlopok). Euphemismus für Explosion. Der Begriff existierte auch vor dem 24. Februar 2022, erlebte jedoch dank der zunehmenden Häufigkeit der „chlopki“ einen Aufschwung.

    Kollektiver Westen (kollektiwny sapad). In der russischen Elite gebräuchlicher Ausdruck, der eine bösartige Koalition europäischer Länder bezeichnet, „die zunehmend bemüht ist, Russland einzudämmen“. In der Lesart von Außenminister Sergej Lawrow gehören zu diesen Ländern „die USA und ihre Satelliten“.

    Kriegskorries (wojenkory). Korrespondenten staatlicher Fernsehkanäle, deren Beruf nach Ansicht der russischen Propaganda „nicht minder gefährlich ist als der der Soldaten“ und deren Ziel es ist, „den Hass auf den Feind zu schüren“.

    M

    Militärische Spezialoperation (spezialnaja wojennaja operazija). Krieg.

    N

    Nicht freundschaftlich gesinnte Länder (nedrushestwennyje strany). Alle Länder, die den russischen Überfall auf die Ukraine nicht unterstützen.

    O

    Öffentliche Verbreitung von Falschinformationen über die Streitkräfte der Russischen Föderation (publitschnoje rasprostranenije loshnoi informazii o Woorushonnych silach Rossiiskoi Federazii). Paragraph im Strafgesetzbuch; bis zu 15 Jahre Freiheitsentzug. Betrifft jede Äußerung, die den Berichten des Verteidigungsministeriums widerspricht. Das sensibelste Beispiel für „Falschinformation“ sind Äußerungen zu den Massenmorden in Butscha [siehe Verurteilung von Ilja Jaschin – dek].

    P

    Planmäßige Umgruppierung der Truppen (planowaja peregruppirowka woisk). Rückzug. Diese Formulierung wurde von den Chefs der russischen Besatzungsbehörden und vom Verteidigungsministerium beim Abzug der russischen Truppen aus den Oblasten Charkiw und Cherson verwendet. Beim Rückzug aus der Oblast Kyjiw und Tschernihiw Ende März verwendete das Verteidigungsministerium die Formulierung „Reduzierung der Kampfaktivitäten“. Siehe auch „Geste des guten Willens“ ↑.

    Präzisionsschläge (wyssokototschnyje udary). Das, womit die russische Armee in der Version des Verteidigungsministeriums Militärobjekte in der Ukraine zerstört (Wohnhäuser und zivile Opfer ausgeschlossen).

    Provokation (provokazija). Alles Mögliche.

    Illustration © Boris Chmelny/Mediazona
    Illustration © Boris Chmelny/Mediazona

    R

    Rauchentwicklung (sadymlenije). Euphemismus für Feuer. Der Begriff existierte lange vor dem Angriffskrieg, erlebte mit seinem Ausbruch jedoch eine Renaissance.

    Russophobie (russofobija). Mit diesem Begriff wird erklärt, warum die „nicht freundlich gesinnten Länder“ ↑ die „militärische Spezialoperation“ ↑ nicht unterstützen.

    S

    Schmutzige Bombe (grjasnaja bomba). Verteidigungsminister Sergej Schoigu erwähnte sie im November in Telefongesprächen mit seinen westlichen Amtskollegen. Er sagte, die Ukraine habe den Einsatz einer „schmutzigen Bombe“ vorbereitet, um Russland für den Einsatz von Atomwaffen verantwortlich zu machen. Später verschwand der Begriff wieder aus der offiziellen Rhetorik.

    T

    Teilmobilmachung (tschastitschnaja mobilisazija). Massenhafte Einberufung von Männern im arbeitsfähigen Alter in den Krieg, die am 21. September von Putin ausgerufen und formell bis heute nicht beendet ist.

    Territoriale Unversehrtheit. Das, was in Russland per Gesetz nicht angefochten werden darf, und zum Schutz dessen Putin droht, „alle zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen“.

    U

    Ukrainische Nationalisten (ukrainskije nazionalisty). Menschen, die sich gegen die russische Invasion mit der Waffe in der Hand wehren, aber auch Zivilisten, die mit der Okkupation unzufrieden sind. Meist in den Zusammenfassungen des Verteidigungsministeriums zu finden – selbst nach fast einem Jahr seit Beginn des Angriffskriegs kann Russland nicht zugeben, dass es mit einem Land und einer Armee kämpft und nicht mit einer „Junta“ ↑ oder „Bandentruppen“.

    Umbau der Wirtschaft (perestroika ekonomiki). Das fortdauernde Existieren Russlands unter den westlichen Sanktionen.

    V

    Verehrte Partner (uwashajemyje partnjory). Euphemismus für „nicht freundschaftlich gesinnte Länder“ ↑ und den „kollektiven Westen“ ↑. Vor dem 24. Februar 2022 oft von Putin verwendet, jetzt ironisch von seinen Befürwortern.

    Vereinfachte Automobilmodelle (uproschtschennyje modeli awtomobilei). Autos mit „reduzierter Ausstattung“, deren Produktion der Hersteller AwtoWAS im August angekündigt hat. Zuvor hatte die russische Regierung erlaubt, Autos ohne ABS, ESP und Airbags auf den Markt zu bringen.

    Verweigerer (uklonist). Jemand, der den Einzug in die Armee konsequent vermeidet. Seit dem 24. September gelten Änderungen im Gesetzbuch, die die Strafen wegen Dienstverweigerung, Fahnenflucht und der Beschädigung oder Vernichtung von Waffen verschärfen.

    Vorfall, der nicht mit der militärischen Spezialoperation  zusammenhängt (inzident, ne swjasanny so spezialnoi wojennoi operazijei). Eine Phrase, die man noch im Frühjahr verwendete, um die russische Bevölkerung in den an die Ukraine grenzenden Gebieten im Falle eines Ausnahmezustands zu beruhigen. Veraltet.

    W

    Washington-Obkom. Scherzhafter Ausdruck aus den späten 1980er Jahren, der heute ernsthaft verwendet wird. Damit gemeint ist ein Entscheidungszentrum ↑, das hinter den Kulissen die Welt regiert, von dem aber niemand weiß. Das Pendant zum Deep State in amerikanischen Verschwörungstheorien.

    Wirtschaftskrieg gegen Russland (ekonomitscheskaja woina protiw Rossii). Sanktionen.

    Illustration © Boris Chmelny/Mediazona
    Illustration © Boris Chmelny/Mediazona

    Z

    Zuversicht in den morgigen Tag (uwerennost w sawtraschnem dne). Das, was den staatlichen Medien zufolge die Einwohner der besetzten Gebiete in der Ukraine erlangen sollen.

    Zwangsumregistrierung (prinuditelnaja pereregistrazija). De facto der Diebstahl von Passagierflugzeugen ausländischer Leasingunternehmen, die sich zu Beginn des großflächigen Angriffkriegs in Russland befanden.

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  • „Putin will das Imperium wiedererrichten – das steht außer Frage“

    „Putin will das Imperium wiedererrichten – das steht außer Frage“

    Der russische Krieg gegen die Ukraine gilt unter vielen Wissenschaftlern, Journalisten und Aktivisten als ein imperialer Krieg: Wladimir Putin spricht der Ukraine das Daseinsrecht ab, will das Land offensichtlich unterwerfen, in der russischen Propaganda wird von „Entukrainisierung“ der Ukraine fantasiert, manche fordern eine „Russifizierung“ – all das erinnert an das Imperiale des Russischen Reiches und/oder der Sowjetunion.

    Auch die russische Historikerin Tamara Eidelman sagt, dass die Idee eines russischen Imperiums bei Putin fortlebe, allerdings in einer „verqueren Weise“: „Ich glaube nicht, dass er von Moskau als dem Dritten Rom träumt – oder besser gesagt, tun es die nicht, die seine Reden schreiben. Aber dass er das Imperium wiedererrichten will, das steht außer Frage.“

    Eidelman ist eine sehr bekannte Historikerin mit einem erfolgreichen YouTube-Kanal zur russischen Geschichte: Der 62-Jährigen, die inzwischen nicht mehr in Russland lebt, folgen dort eine Million Abonnenten. Mit der Novaya Gazeta Europe spricht sie über die Geschichte des russischen Imperiums seit den Anfängen im 16. Jahrhundert und darüber, was das mit der Gegenwart des Krieges unter Putin zu tun hat.

    Nikita Pegow: Was ist der russische Imperialismus, wo sind seine Wurzeln? Was hat Putins Russland vom ursprünglichen russischen Imperialismus geerbt?

    Tamara Eidelman: Ich denke, der Imperialismus war in Russland im Keim schon da, bevor es das Wort Imperium überhaupt gab. Peter der Große war der Erste, der offiziell zum Imperator ernannt wurde, aber eigentlich hat das Imperium schon vorher Gestalt angenommen: Als das Moskauer Zarenreich begann, sich auszudehnen und neue Gebiete einzunehmen – die Wolgaregion unter Iwan dem Schrecklichen im 16. Jahrhundert, Sibirien im 17. Jahrhundert –, war der Grundstein für das Russische Imperium bereits gelegt.

    Parallel dazu bildete sich die Ideologie heraus. Schon Anfang des 17. Jahrhunderts verfasste der Mönch Filofej von Pskow sein berühmtes Schreiben an Wassili III., in dem er den Gedanken formulierte, Moskau sei das Dritte Rom. Filofej wäre wohl sehr überrascht gewesen, hätte er erfahren, wie viele Jahrhunderte seine Idee überdauern würde und wie sie transformiert wurde. Rom stellten sich die Menschen im 16. Jahrhundert als Zentrum eines Weltreichs vor – für Filofej war es ein orthodoxes. Diese Idee wurde unter Katharina der Großen wieder lebendig. Sie wollte Konstantinopel erobern und dort einen orthodoxen Staat errichten. Diese Idee lebte im 19. Jahrhundert weiter, als Russland in den Balkan vordrang und ebenfalls von Konstantinopel träumte. Auf die gleiche verquere Weise lebt die Idee auch bei Putin fort. Er träumt wohl nicht von Moskau als dem Dritten Rom – oder besser gesagt, tun es die nicht, die seine Reden schreiben. Aber er will das Imperium wiedererrichten, das steht außer Frage.

    Was konkret Putins Kenntnisse angeht, habe ich große Zweifel. […] Er verwechselt den Nordischen Krieg mit dem Siebenjährigen Krieg. Das ist eine Fünf minus!

    Inwiefern stützt er sich auf die Erfahrung seiner Vorgänger? Lässt Putin sich von einem historischen Gedächtnis leiten, oder ist es etwas Impulsives, Irrationales?

    Was konkret Putins Kenntnisse angeht, habe ich große Zweifel. Erstens weiß ich nicht, woher er die haben sollte – sicher nicht von der KGB-Schule und auch nicht aus Dresden, wo er als Außenagent im Einsatz war. Der Mann hat in Deutschland gelebt, aber macht Fehler, die jeder Schüler korrigieren kann. Er verwechselt den Nordischen Krieg mit dem Siebenjährigen Krieg. Das ist eine Fünf minus! Er ist von Leuten umgeben, die für ihn vom Russki Mir inspirierte Reden schreiben. Diese Ideologie wurzelt tief in der imperialistischen Idee in ihrem übelsten Sinne – Imperialismus ist ja nicht gleich Imperialismus, genauso wie Imperien ganz unterschiedlich sein können.

    Meines Erachtens sind für Putin die letzten Regierungsjahre Stalins sehr wichtig, denn in der Nachkriegsepoche formierte sich auch bei Stalin eine imperiale Ideologie.

    Die Bolschewiki hatten in den ersten Jahrzehnten ihrer Herrschaft vom Internationalismus gesprochen, von der Weltrevolution, sie erschufen nationale Kader in den verschiedenen Republiken. Natürlich gab es damals keine Freiheit im eigentlichen Sinne, aber sie operierten jedenfalls mit diesen Begriffen; der Internationalismus war für viele Menschen sehr wichtig.

    Und dann erhebt Stalin 1945 auf einem Bankett zur Feier des Sieges sein Glas auf das russische Volk, das plötzlich die größten Opfer im Krieg davongetragen haben soll. Von diesem Moment an festigt sich der Gedanke, das russische Volk sei der große Bruder aller anderen Völker. Das lässt sich an der gesamten Politik des Spätstalinismus gut beobachten. Zum Beispiel an den Deportationen der nordkaukasischen Völker. Oder an der antisemitischen Kampagne, am Kampf gegen den Kosmopolitismus, an der sogenannten Ärzteverschwörung. Überall herrschte ein großrussischer Chauvinismus in aggressiver Form.

    Überall herrschte ein großrussischer Chauvinismus in aggressiver Form

    Es ist bezeichnend, dass sich dieser Chauvinismus unter Chruschtschow und Breshnew mäßigte. Natürlich war er auch da noch präsent, aber Breshnew wäre nie in den Sinn gekommen zu sagen, das russische Volk sei der große Bruder. Im Gegenteil, es wurde wieder von Internationalismus und Völkerfreundschaft gesprochen – vielleicht war es gelogen, aber immerhin.

    Eine andere Sache, die für Putin von großer Bedeutung ist: Ende der 1940er Jahre ließ Stalin das Russische Reich wiederauferstehen. Natürlich blieb es der Form nach der Kommunismus. Aber es ist kein Zufall, dass während des Krieges das Amt des Patriarchen wiedereingeführt wurde. Sämtliche Geistliche sitzen im Lager, doch plötzlich bandelt man wieder mit der Kirche an. Die Schulterklappen kehrten zurück, die Offiziersgrade – alles Symbole des Russischen Reichs. Es wurden Loblieder auf Peter I. und Iwan den Schrecklichen gesungen. So hatte das Reich zuletzt Ende des 19. Jahrhunderts unter Alexander III. ausgesehen.

    Wie gesagt, Imperium ist nicht gleich Imperium. Im Russischen Reich war das Leben nicht für alle Völker gleich. Juden und Polen lebten schlechter, die Bewohner der Wolgaregion oder Zentralasiens besser: Sie wurden zwar de facto erobert, aber man ließ sie mehr oder weniger in Ruhe. Selbst die Khane und Emire ließ man in ihren Ämtern, sie durften sich um ihre Angelegenheiten kümmern – Hauptsache, sie gehorchten dem russischen Zaren.

    Unter Alexander III. wurde das Imperium immer russischer, immer orthodoxer. Es ist kein Zufall, dass man ihn auch jetzt überhöht – alle sollen sehen, wie toll er war. Das ist genau die chauvinistische Linie, die Putin gefällt.

    Unter Alexander III. wurde das Imperium immer russischer, immer orthodoxer

    Gibt es so etwas wie Alltagsimperialismus? Wie kann es sein, dass ein durchschnittlicher Moskauer gegen den Krieg und die Wiedererweckung des Imperiums ist und nach seiner Auswanderung in die baltischen Länder anfängt, sie aus eben dieser imperialistischen Perspektive zu kritisieren?

    Ich würde dieses Phänomen nicht überbewerten. Einerseits ja, es gibt diesen Alltagsimperialismus. Er besteht darin, dass wir uns noch nie wirklich Gedanken über die Geschichte und Kultur der Republiken gemacht haben, die Teil der Sowjetunion waren, oder der Regionen, die zu Russland gehören. Es gibt die Vorstellung, dass die russische Kultur die wahre ist, die russische Sprache die wichtigste – davon wird man sich befreien müssen.

    Wie tötet man das Imperium in sich selbst?

    Indem man sich mehr für andere Kulturen und Ethnien interessiert. Auf meinem YouTube-Kanal gibt es jetzt zum Beispiel eine neue Serie zur Geschichte der Ukraine, es folgt eine zur Geschichte der Wolgaregion, dann kommt Belarus. Ich glaube, das Problem sind hier nicht nur die Beziehungen zwischen den verschiedenen Völkern. Das Problem ist die allgemeine Aggressivität. 

    Ich sehe eine große Verantwortung bei den Historikern und dem Lehrplan, nach dem an den Schulen unterrichtet wird. Bei uns herrscht die Vorstellung, dass die Geschichte Russlands die Geschichte des russischen Staates sei. Oder nicht einmal des Staates – es ist die Geschichte Moskaus und Sankt Petersburgs, und alles andere ist nur so da. Für den Bau von Sankt Petersburg darf man Tausende von Menschen vernichten, und für das Wohlergehen des Staates massenhaft Werte opfern. Das wird uns auf verschiedenen Ebenen eingehämmert, in der Schule, durch die Propaganda. Damit hängt auch zusammen, wie den Menschen der Zweite Weltkrieg präsentiert wird. 

    Ich glaube, die Überwindung des imperialistischen Denkens ist ein sehr komplexer Prozess. Er beschränkt sich nicht darauf, zu sagen: „Lasst uns alle die Ukraine liebhaben!“ Das ist zwar schön und gut, aber wir müssen anderen Ethnien mit Respekt und auf Augenhöhe begegnen. Da muss eine Veränderung auf psychologischer Ebene passieren, in den Familien, in der Bildung und in internationalen Beziehungen. Es kann nämlich nicht sein, dass an einer Stelle alles gut ist, aber auf allen anderen Ebenen bleibt alles beim Alten. Alles muss sich verändern. 

    Bei uns herrscht die Vorstellung, dass die Geschichte Russlands die Geschichte des russischen Staates sei. Oder nicht einmal des Staates – es ist die Geschichte Moskaus und Sankt Petersburgs

    Sie haben gesagt, die imperialistische Ideologie fordert im Namen von etwas Höherem das Opfer des einzelnen Menschen. Am 21. September hat Putin die Mobilmachung verkündet, doch die Reaktionen in der Bevölkerung, sogar von etlichen Z-Propagandisten, waren alles andere als hurrapatriotisch. Wie erklären Sie sich das? 

    Niemand will kämpfen. So mancher Propagandist wird natürlich sagen, er sei bereit, sein Leben zu geben, aber seine Kinder schickt dann doch keiner in den Krieg. Das ist logisch, weil das menschliche Leben mehr wert ist als diese idiotischen Klischees. 

    Es ist klar, dass Russland nach diesem Krieg nicht mehr sein wird wie früher. Bestehen Aussichten, dass der Imperialismus auf staatlicher Ebene entthront wird? Werden die Republiken wie Burjatien, Jakutien, Tschetschenien heftig danach streben, sich abzuspalten?

    Ich vermute, dass sie aktiv werden, aber genau kann ich das nicht sagen. Daran, dass Russland auseinanderfallen wird, glaube ich nicht so recht, rein geografisch ist das unrealistisch. Höchstens, dass sich irgendwelche Gebiete im Kaukasus abtrennen.

    Ich sehe innerhalb Russlands kein Streben nach einem Auseinanderfallen. Eher nach neuen Beziehungen. In welchem Maße es Russland gelingen wird, die Beziehungen innerhalb der Föderation umzugestalten, wird davon abhängen, wer an der Macht ist, aber auch der politische Wille ist hier nicht alles. Natürlich kann man die Verfassung ändern, den Republiken mehr Rechte geben. Die Frage ist, wer sich um den Alltagsrassismus kümmern wird, wie man den wegkriegt. Dafür braucht es eine Umstrukturierung des Bildungssystems und freie Medien. Das kann nicht nur von oben kommen. Entscheidend ist, ob vor Ort Menschen gefunden werden, die damit arbeiten. Dann könnte es gelingen, aber wenn nicht, dann geht wieder alles schief.

    Kann man Sibirien als Kolonie Russlands bezeichnen? In gewisser Weise ja, aber da hat sich alles so sehr vermischt, dass etwas ganz anderes entstanden ist 

    Noch einmal zum Baltikum: Flächendeckend haben die Regierungen der drei baltischen Republiken seit Beginn des Krieges eine massive Entsowjetisierung betrieben, die den Sturz von Denkmälern und Monumenten zum Thema der sowjetischen Besatzung umfasst. Wie schätzen Sie diese Prozesse ein?

    Ich verstehe schon, warum diese Denkmäler entfernt werden, ganz abgesehen von ihrer Hässlichkeit. Es steht mir auch nicht zu, über die Regierungen anderer Länder zu urteilen. Aber vielleicht wäre es richtiger gewesen, neben dem Denkmal für die Sowjetarmee ein Denkmal für die Opfer des kommunistischen Regimes aufzustellen. Das hätte die ganze Komplexität dieser Situation zum Ausdruck gebracht. Unter den gegenwärtigen schrecklichen Umständen kann man eine solche Ausgewogenheit und Mäßigung aber kaum erwarten.

    Inwiefern kann man die Erfahrung anderer kolonialer Imperien überhaupt mit der Erfahrung des heutigen Russland vergleichen?

    Jeder Vergleich hinkt natürlich. Die Geschichte des British Empire beispielsweise ist ganz anders als die des Russischen Reiches. Die Besonderheit der kontinentalen Imperien bestand immer darin, dass eine große Vermischung der Völker stattfand. Kann man Sibirien als Kolonie Russlands bezeichnen? In gewisser Weise ja, aber da hat sich alles so sehr vermischt, dass etwas ganz anderes entstanden ist. Bis zu einem bestimmten Grad können wir die Erfahrung anderer Imperien wiederholen. Aber sogar zwischen dem sowjetischen und dem russischen Imperium gibt es gravierende Unterschiede. 

    Dostojewski, Tolstoi, Bulgakow – das sind große Schriftsteller, und ich bin mir nicht sicher, ob Wladimir Wladimirowitsch ihre Texte gelesen hat

    Wie imperialistisch ist die russische Kultur? Muss sie sich verändern, und was kann man ihr vorwerfen?

    Die Kultur ist niemandem etwas schuldig. Dostojewski, Tolstoi, Bulgakow – das sind große Schriftsteller, und ich bin mir nicht sicher, ob Wladimir Wladimirowitsch ihre Texte gelesen hat. Die englische Kultur ist ebenfalls imperialistisch. Eine Erhebung der eigenen Macht und Nation über andere Völker hat es zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Ländern gegeben. Gerade bei Dostojewski finden wir eine gewaltige humanistische Botschaft, die niemand außer Kraft setzen kann. Wie weit die russische Kultur den jetzigen Krieg aufgreifen wird, ist eine interessante Frage. Wird sie ganz bestimmt, tut sie ja jetzt schon. Momentan herrscht eine fürchterliche Krise. Sie ist eine Herausforderung für den gesamten Humanismus, und die Kultur wird sich damit befassen müssen.

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    „Ihr seid keinen Deut besser“ – Whataboutism in der Kreml-Rhetorik

    Wer Geld aus dem Ausland bezieht oder bei wem nur der Verdacht besteht, mit ausländischen Geldgebern im Zusammenhang zu stehen, dem droht in Russland der Status des „ausländischen Agenten“. Die Gesetzgebung dazu gibt es bereits seit zehn Jahren, sie wurde immer mehr ausgeweitet und erfährt willkürliche Anwendung auf unliebsame Stimmen. Das russische Justizministerium gibt üblicherweise freitags bekannt, wer diesmal mit dem Label „ausländischer Agent“ als Spion im eigenen Land gebrandmarkt wird – seien es NGOs, Medien(schaffende), Forschende oder Künstler. Der Status bringt Einschränkungen und Schikanen für die Betroffenen mit sich. Viele von ihnen sind nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine ins Ausland geflohen. Denn der Status zeigt an: Man ist im Visier der Sicherheitsorgane. 

    Zum 1. Dezember 2022 tritt nun eine Gesetzesänderung in Kraft, wonach nun allein die Feststellung eines „ausländischen Einflusses“ für diese Einstufung ausreichen kann. Auf der Webseite der Staatsduma verkündet deren Vorsitzender Wjatscheslaw Wolodin dazu: „Einem, der mit fremder Stimme singt und dafür Geld bekommt, muss klar sein, dass [eine Einstufung als] ‚ausländischer Agent‘ noch das Demokratischste ist, was andere Länder in solchen Fällen unternehmen. Überall gibt es Haftstrafen dafür, Freiheitsentzug und anderes mehr […]“. Der russische Präsident Putin argumentierte ähnlich, als er das Vorhaben im Sommer unterschrieben hat. 

    „Die anderen machen es genauso, sogar noch schlimmer“ – das Magazin Holod fragt, was sich hinter einer solchen Rhetorik verbirgt, die sich sinngemäß durch viele offizielle Verlautbarungen in Russland zieht, in allen möglichen Bereichen. Gemeinsam mit der russischen Politologin Ekaterina Schulmann analysiert Holod diese Taktik, die aus dem Repertoire sowjetischer Propaganda schöpft. Längst ist sie auch aus sozialen Medien bekannt: als Whataboutism.

    Am 14. Juli unterzeichnete Wladimir Putin ein Gesetz zur „Kontrolle der Tätigkeit von Personen, die unter ausländischem Einfluss stehen“. Darunter fallen alle in Bezug auf „ausländische Agenten“ existierenden Normen. Die wichtigste Neuerung ist, dass der Staat ab jetzt jeden zum „ausländischen Agenten“ erklären kann, der „unter ausländischem Einfluss steht“ (eine Erläuterung dieser schwammigen Formulierung bleibt das Justizministerium bislang schuldig).

    Bei der Debatte zum Gesetzentwurf verwies der Vorsitzende der Staatsduma Wjatscheslaw Wolodin auf die Erfahrung anderer Länder und betonte die „Liberalität“ des russischen Gesetzes: „Einem, der mit fremder Stimme singt und dafür Geld bekommt, muss klar sein, dass [eine Einstufung als] ‚ausländischer Agent‘ noch das Demokratischste ist, was andere Länder in solchen Fällen unternehmen.“

    Damit setzt er die Rhetorik von Wladimir Putin fort: Der russische Präsident erzählt seit 2012 von der „ausländischen Erfahrung“ in Bezug auf „ausländische Agenten“. Damals hatte die Staatsduma Änderungen des Gesetzes „Über Non-Profit-Organisationen“ verabschiedet, woraufhin die ersten russischen Non-Profit-Organisationen den Status von „ausländischen Agenten“ erhielten. Und damals hatte er erstmals auf das in den USA geltende Gesetz zur Registrierung von ausländischen Agenten FARA verwiesen: „Ich finde, wir können in Russland auch ein Gesetz haben, das in den USA bereits 1938 verabschiedet wurde und immer noch in Kraft ist. Damit schützen sie sich gegen Einfluss aus dem Ausland und wenden das Gesetz schon seit Jahrzehnten an, warum soll Russland das nicht auch tun?“

    Offizielle Repräsentanten der USA hatten Putin daraufhin mehrfach widersprochen, dass nämlich FARA vornehmlich auf Lobbyisten abziele, die für ausländische Regierungen arbeiten; auch russische Journalisten und Politologen kritisierten den Vergleich mit FARA.

    Ekaterina Schulmann, Politologin und Stipendiatin der Berliner Robert-Bosch-Academy erklärt: „Der wichtigste Unterschied ist, dass es in der russischen Gesetzgebung zu ‚ausländischen Agenten‘ keinen Auftraggeber gibt, das heißt jemanden, in dessen Interesse der ‚Agent‘ letztlich tätig ist. Wenn das Justizministerium eine Organisation oder eine Einzelperson zum ‚ausländischen Agenten‘ erklärt, muss es zum Beispiel keinen Zusammenhang nachweisen zwischen dem Erhalt eines Honorars für einen Artikel und der öffentlichen Tätigkeit, die das Justizministerium für politisch hält. Zudem betrifft das FARA-Gesetz im Wesentlichen kommerzielle Strukturen wie Lobby- oder Consulting-Unternehmen sowie Medien, die von Regierungen und politischen Parteien finanziert werden, aber nicht Personen des öffentlichen Lebens, Wissenschaftler oder regionale Abgeordnete“, sagt Schulmann.

    Putin erklärte 2013, das russische Gesetz sei liberaler als das amerikanische 

    Die russische Gesetzgebung ist seither immer repressiver geworden: Zu ausländischen Agenten können nun auch Medien und Privatpersonen erklärt werden. Dabei verweist der Präsident ständig auf die Erfahrungen der USA. 2013 erklärte er – genau wie später Wolodin –, das russische Gesetz sei liberaler als das amerikanische. 

    Unter zahlreichen Meldungen der staatlichen Nachrichtenagentur RIA Nowosti zum Gesetz über ausländische Agenten findet sich der Hinweis, das russische Gesetz sei eine „notgedrungene Reaktion auf die Unterdrückung der russischen Medien in den USA“.

    Wolodin erzählt natürlich nicht deshalb von der Ähnlichkeit der russischen Gesetzgebung und dem amerikanischen FARA, weil man sich die besten juristischen Entscheidungen der USA abgucken will. „Etwa seit 2012 beobachten wir Aussagen eines neuen Typs – eine Reaktion auf Kritik. Wenn man etwa fragt, warum sie schon wieder den nächsten kannibalischen Gesetzesentwurf durchwinken, kriegt man zu hören, im Westen würde man dafür gehängt, das Gesetz sei dort knallhart, und überhaupt sei alles viel schlimmer. Das heißt, es werden nicht die Vorteile des Gesetzes benannt, sondern seine Mängel gerechtfertigt – dass es woanders genauso oder noch viel schlimmer sei, dass niemand besser ist, sondern alle gleich“, erklärt Schulmann.

    Die Ursprünge des Whataboutism

    1974 schrieb der irische Geschichtslehrer Sean O’Connell eine Kolumne für The Irish Times, in der er die Unterstützer der IRA kritisierte, die in ihrem Kampf für die Unabhängigkeit Nordirlands unter anderem Terroranschläge verübte. Seine Gegner nannte er Whatabouts (vom englischen „What about …?“ – „Und was ist mit …?“), denn auf jede Kritik an der IRA antworteten sie genau mit diesem Argument und verwiesen auf ein noch größeres moralisches Vergehen des Feindes.

    Später benutzten auch andere Journalisten diesen Terminus. Breit gefasst bedeutet er die Rechtfertigung einer historischen Ungerechtigkeit durch eine andere Ungerechtigkeit.

    1978 verwendete der australische Journalist Michael Bernard in einem Artikel für [die australische Zeitung] The Age den Begriff Whataboutism zum ersten Mal im Zusammenhang mit der Sowjetunion. Seine Kritik richtete sich gegen jene, die behaupteten, dass man dem Kreml nichts vorwerfen könne, weil andere Länder die Menschenrechte ja genauso verletzen würden.

    Die Sowjetunion war in der Anwendung dieser Methode, die russische Diplomaten nachgewiesenermaßen bereits seit 1880er Jahren des Russischen Reiches beherrschen, bemerkenswert erfolgreich. Die sowjetischen Journalisten berichteten fleißig über Rassendiskriminierung, Finanzkrisen und die Arbeitslosigkeit in den Vereinigten Staaten.

    Die Renaissance der Whataboutismen im heutigen Russland 

    Während des Kalten Krieges fanden die Whataboutismen immer häufiger und aktiver Verwendung – und verloren vielleicht auch deshalb an Überzeugungskraft, wurden zu Memes. Das bekannteste ist wahrscheinlich dieser Radio-Jerewan-Witz: Auf die Frage nach dem Durchschnittslohn eines sowjetischen Ingenieurs denken sie beim armenischen Radio Jerewan drei Tage lang nach und antworten dann: „Bei euch werden dafür Schwarze gelyncht!“

    Laut Ekaterina Schulmann war diese Art von Argumenten zwar häufiger in der Presse zu finden, aber sie war nicht Teil des offiziellen Diskurses – wenn man offizielle Vertreter der UdSSR etwa für die Erschießung von Arbeitern in Nowotscherkassk verantwortlich machte, verwiesen sie nicht auf das Lynchen von Schwarzen.

    „Der Westen wurde als aggressiv, verlogen und verfault dargestellt, aber niemand behauptete, dass man bei uns hinter Gitter kommt, wenn man was Falsches sagt, während man im Westen sofort erschossen wird. Das ist ein neues Phänomen, ein eigentümlicher Charakterzug der informationellen Autokratie, die unter den Bedingungen einer relativen Informationsfreiheit arbeitet“, sagt Ekaterina Schulmann. „Heute ist die Welt transparenter als zur Zeit der Sowjetherrschaft, die Menschen sehen und erleben zum Teil selbst, wie das Leben woanders ist. Außerdem ist es schwieriger geworden, die eigenen Sünden zu vertuschen: Es ist günstiger, sie einzugestehen und im gleichen Atemzug zu erklären, dass alle anderen noch viel schlimmer sind. Das weckt mehr Vertrauen. Ich finde es wichtig, auf diesen Unterschied zwischen der Sowjetrhetorik und der heutigen Angewohnheit hinzuweisen, herbeifantasierte westliche Gesetze mit den tatsächlich existierenden russischen zu vergleichen.“

    Während der Perestroika und nach dem Zerfall der UdSSR nahmen die Whataboutismen in der hiesigen Politik merklich ab. Ihre Renaissance im heutigen Russland datieren Forscher spätestens auf Wladimir Putins Münchner Rede, in der er den Westen mit Anschuldigungen überhäuft – einschließlich der Kritik bezüglich der NATO-Osterweiterung und den Versuchen der USA, anderen Ländern das Konzept einer „unipolaren Welt aufzuzwingen“.

    ein eigentümlicher Charakterzug der informationellen Autokratie

    Im Weiteren benutzte die russische Propaganda solche Bemerkungen als Reaktion auf jegliche Kritik am Vorgehen der russischen Regierung – angefangen bei der Annexion der Krim bis hin zur Kriegserklärung an die Ukraine. Dabei knüpfte man aber durchaus an die Erfahrung aus der Sowjetzeit an: So berichteten die staatstreuen Medien 2014 aktiv über die Ausschreitungen in Ferguson nach dem Mord an einem unbewaffneten schwarzen Jugendlichen durch einen Polizeibeamten. Die Zeitung The Moscow Times sah in diesem Interesse am Thema einen Versuch, die Aufmerksamkeit von den Ereignissen abzulenken, die zur selben Zeit in der Ukraine ihren Lauf nahmen. 2015 warf Igor Korotchenko, Mitglied des Öffentlichen Rates des russischen Verteidigungsministeriums, dem amerikanischen Journalisten Michael Bohm auf Twitter vor, Leute wie er würden „Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki abwerfen und Schwarze lynchen“. 2017 schlug der russische UNO-Botschafter als Antwort auf die britische Kritik an der Annexion der Krim vor, Großbritannien solle doch erstmal die Falkland Islands und Gibraltar zurückgeben.

    „Der moderne russische Whataboutism ist ein Triumph der Emotionen über das logische Denken, des Irrationalen über das Rationale. Dasselbe lässt sich übrigens auch von der russischen Außenpolitik sagen. Schließlich ist Russland, wie es die Entscheidungsträger frei heraus erklären, aktuell damit beschäftigt, die Amerika-zentrische Weltordnung zu zerstören, allerdings ohne sich dabei allzu viele Gedanken darüber zu machen, was an ihre Stelle treten könnte. Aber um etwas zu zerstören, eignen sich primitive Waffen ohnehin viel besser als Hochpräzisionsinstrumente“, schreibt [der Historiker] Iwan Zwetkow.

    Ekaterina Schulmann ist der Ansicht, das Ziel der Whataboutism-Rhetoriker sei es, das Verständnis von Tugend und Recht zu verwischen: „Der Gedanke, der auf diese Weise in die Hirne des Publikums eingepflanzt werden soll, ist der, dass alle gleich und wir nicht schlechter sind als die anderen. Es gibt kein Vorbild, an dem man sich orientieren könnte, folglich gibt es auch niemanden, der uns unsere Fehler zum Vorwurf machen könnte. ‚Wer seid ihr überhaupt, dass ihr uns etwas erzählen wollt?‘, ‚Ihr seid keinen Deut besser. Niemand ist besser.‘ Die Politiker wollen zeigen, dass die Tugenden von Recht und Demokratie an sich nicht existieren – es gibt nur diejenigen, die so tun, als würden sie sie besitzen, und die, die gar nicht erst so tun.“

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  • Leitfäden der Propaganda

    Leitfäden der Propaganda

    Der großflächige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine galt von Anfang an offiziell als eine „militärische Spezialoperation“, an der nur Berufs- und Zeitsoldaten teilnahmen. Der Pressesprecher des russischen Verteidigungsministeriums meldete seit dem 24. Februar einen Erfolg nach dem anderen. Anfang Oktober standen die staatlich kontrollierten Medien jedoch vor einer schwierigen Aufgabe: Wie kann man nach mehr als sechs angeblich erfolgreichen Monaten der „Spezialoperation“ die Notwendigkeit einer Mobilmachung erklären und zwar so, dass die einzelnen Medien sich nicht gegenseitig widersprechen? Für solche Fälle werden in der Präsidialadministration sogenannte metoditschki – Leitfäden – verfasst, die die Stoßrichtung der Berichterstattung vorgeben. 

    Russland kämpfe nicht gegen die Ukraine, sondern gegen die NATO – heißt es etwa in einem Leitfaden, der die Mobilmachung erklären soll. Gleichzeitig sollen die Medien laut dem Leitfaden betonen, Russland mache nur ein Prozent der Reservisten mobil, es gebe also keinen Grund zur Panik. Diese und andere Texte tauchen regelmäßig auf und werden von unabhängigen Journalistinnen und Journalisten analysiert und mit der tatsächlichen Berichterstattung verglichen. Andrej Perzew hat die Leitfäden des letzten halben Jahres angeschaut und erklärt in einem Text für Meduza, wie die Manipulation der Berichterstattung über den Krieg funktioniert.

    Wie Meduza bereits berichtete, erstellt die Präsidialadministration der Russischen Föderation für staatlich kontrollierte Medien regelmäßig spezielle Leitfäden, die vorgeben, wie diese Medien über den Krieg und die damit verbundenen Ereignisse berichten sollen. Solche „Empfehlungen“ bekommen die Propagandamacher fast täglich. Es wird darin im Detail beschrieben, wie diese oder jene Nachricht zu beleuchten ist und welche Emotionen bei den Zuschauern, Lesern oder Zuhörern erzeugt werden sollen.

    Fast täglich bekommen die Propagandamacher Empfehlungen aus dem Kreml

    Anfang Oktober erhielt Meduza Zugang zu mehr als zehn solcher Dokumente, die der Kreml zwischen April und Oktober 2022 erstellt hat. Die Echtheit der Texte bestätigte eine der Präsidialadministration nahestehende Quelle sowie ein Mitarbeiter der staatlichen Medien, dem die Leitfäden von seiner Arbeit her bekannt sind.

    Die Anweisungen sind klar strukturiert: Alle Texte enthalten ein „Hauptereignis“, über das berichtet werden soll. Im Leitfaden von Anfang Oktober war das beispielsweise eine Umfrage des WZIOM, wonach 75 Prozent der Befragten die Annexion der ukrainischen Gebiete angeblich „positiv“ bewerten und 83 Prozent finden, Russland müsse „die Interessen der Bevölkerung verteidigen, auch wenn sich das negativ auf die Beziehungen zu anderen Staaten auswirkt“.

    Das Fazit, das die Propagandisten verbreiten sollen, lautet folgendermaßen: „Die Bürger Russlands sind überzeugt von der Rechtmäßigkeit und Legitimität der Entscheidung der Bürger in der [annektierten] DNR, LNR sowie den Regionen Cherson und Saporishshja.“

    Darüber hinaus enthalten die Leitfäden zentrale Propaganda-„Linien“, die der russischen Bevölkerung vermittelt werden sollen. Im Dokument vom 4. Oktober lauten diese „Linien“: „Stärkung Russlands“, „Spezialoperation. Bild des Sieges“ und „Neue Weltordnung“.

    Die Linie „Stärkung Russlands“ besagt, das Land sei „offiziell um vier Regionen angewachsen“. Außerdem wird dort genau beschrieben, wie die Propagandisten über die Mobilmachung zu berichten haben: Der Bevölkerung soll vermittelt werden, dass „die Mehrheit der mobilisierten Soldaten ihre Aufgaben und Ziele bei der Verteidigung der Heimat verstehen“. Der Mobilisierungsprozess in Russland sieht demnach angeblich so aus:

    „Es entstehen kameradschaftliche Kollektive mit festem Zusammenhalt, die Männer sind bereit, sich untereinander zu helfen, sie erinnern sich gut an ihre militärischen Fertigkeiten und lernen schnell Neues. Es werden neue effektive Mechanismen entwickelt, um sicherzustellen, dass die, die ihre Pflicht gegenüber der Heimat erfüllen wollen, das ohne Schwierigkeiten können. Auf dem Portal für staatliche Dienstleitungen Gosuslugi sind seit der Freischaltung für die Registrierung von Freiwilligen bereits mehr als 70.000 Anfragen eingegangen. In einigen Regionen ist der Plan der Teilmobilmachung bereits erfüllt – unter anderem dank dem Einsatz der Freiwilligen.“

    Das Kapitel „Spezialoperation. Bild des Sieges“ kennt keinen Rückzug

    Das Kapitel „Spezialoperation. Bild des Sieges“ ist der Situation an der Front gewidmet. Obwohl sich die russischen Truppen seit Wochen in Wirklichkeit stetig auf dem Rückzug befinden, schlagen die Leitfäden des Kreml vor, über ihre „Siege“ zu sprechen – zum Beispiel zu unterstreichen, wie viel ukrainische Militärtechnik „die russische Armee bereits vernichtet“ habe.

    Dabei wird den Propagandisten „empfohlen“, darauf hinzuweisen, dass jeder Widerstand seitens der ukrainischen Armee nur zur „Selbstzerstörung der Ukraine“ führt (weiter wird diese These nicht ausgeführt).

    Laut dem Abschnitt „Neue Weltordnung“ sollen die Medien dem Publikum einen einfachen Gedanken vermitteln: Die Staaten der ehemaligen UdSSR sollten „eine Lehre aus dem Schicksal der Ukraine ziehen“ und nicht die Beziehungen zu Russland belasten. Als Negativbeispiel wird Moldau und die amtierende Präsidentin Maia Sandu angeführt (die moldauische Landesregierung hat den russischen Angriffskrieg wiederholt verurteilt und angekündigt, die Grenzkontrollen zu verschärfen; zuletzt gab es Berichte von russischen Staatsbürgern, dass man ihnen die Einreise verweigere).

    Ferner wird empfohlen, die These von der „Neuen Weltordnung“, für die Russland angeblich kämpft, mit der Information zu untermalen, dass der Export von russischem Öl nach Indien im September 2022 im Vergleich zum August desselben Jahres um 18 Prozent gestiegen sei. Diese Zahlen sollen die Entwicklung der Zusammenarbeit mit Staaten illustrieren, „die an einer gerechten und auf Gleichheit basierenden Weltordnung interessiert“ seien.

    „Zusammenstehen“ und „Vereinigung“ hervorrufen sollen die tragenden Gefühle sein

    Neben konkreten Propaganda-„Linien“ ist in den Leitfäden von „Gefühlen, Emotionen und Empfindungen“ die Rede, die nach Ansicht des Kreml bei der russischen Bevölkerung erzeugt werden sollen. Dieser Abschnitt trägt in den Dokumenten die Überschrift „Emotionale Basis“. So soll beispielsweise die Annexion der ukrainischen Gebiete bei den Russen das Gefühl von „Zusammenstehen“ und „Vereinigung“ hervorrufen. Ein Gefühl von „Zusammenstehen“ soll den Autoren zufolge auch die Explosion auf der Krim-Brücke erzeugt haben. Dabei ist an die Stelle von „Überzeugung“ und „Stolz“, von denen in den Monaten zuvor in diesem Abschnitt oft die Rede war, Anfang Oktober die „Hoffnung“ getreten – offenbar vor dem Hintergrund der erfolgreichen Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte.

    Laut Meduzas Quelle, die dem Kreml nahesteht, stammen diese Texte aus der Direktion für gesellschaftliche Projekte der Präsidialadministration, die auch Telegram-Kanäle, Blogger und diverse Massenmedien kuratiert. Unmittelbar verantwortlich für die Zusammenstellung der Leitfäden soll der Vizechef der Direktion Alexej Sharitsch sein, der Anfang der 2010er Jahre stellvertretender Direktor des Rüstungskonzerns Uralwagonsawod war (auf Anfragen von Meduza antwortete er nicht).

    „Deshalb erinnert die ganze Propaganda im Grunde an Uralwagonsawod“, kommentiert Meduzas Gesprächspartner ironisch, der für ein staatliches Medium arbeitet, das seine Instruktionen aus dem Kreml bekommt.

    Seit dem Einmarsch in die Ukraine hat man es nicht geschafft, sich etwas Neues für die mediale ,Bearbeitung‘ einfallen zu lassen 

    Er fügt hinzu, dass die Mitarbeiter der Präsidialadministration seit dem Einmarsch in die Ukraine es nicht geschafft hätten, sich etwas Neues für die mediale „Bearbeitung“ der Invasion einfallen zu lassen und sich deshalb auf die Erfahrung aus der Berichterstattung bei den Wahlen und anderen politischen Ereignissen in Russland stützen. So würden sie unter anderem für staatliche und loyale Medien immer noch diese Leitfäden verwenden.

    „Jetzt, während des Krieges, haben es die Jungs [aus dem Kreml] natürlich schwer. Wir können den ukrainischen Medien nichts entgegensetzen. Die entstellten Leichen russischer Soldaten lassen sich schwer schönreden“, meint Meduzas Interviewpartner.

    Auch andere Gesprächspartner von Meduza bezweifeln die Wirksamkeit dieser Methoden. Ein Politikberater, der für die Präsidialadministration tätig war, erklärte zum Beispiel, die Thesen aus den Leitfäden könnten nur das „loyale Publikum“ überzeugen, das sich nicht für alternative Informationsquellen interessiert.

    Wir können den ukrainischen Medien nichts entgegensetzen

    „Die Journalisten bei den Medien [die ihre Anweisungen aus dem Kreml bekommen] sind ohne die Leitfäden oft gar nicht in der Lage, selbst etwas zu schreiben, und wenn, dann nur völligen Unsinn … Und dann muss man auch noch die Konsequenzen ausbaden“, sagt er. „Im Internet gibt es auch eine loyale Leserschaft, und die anderen kann man sowieso nicht mehr überzeugen, erst recht nicht mit solchen Methoden.“

    Ein Interviewpartner, der der Parteispitze von Einiges Russland nahesteht, ist der Meinung, dass die Erstellung von Leitfäden generell „keine Methode ist, um die Stimmungen der Massen zu lenken, sondern lediglich das Tagesgeschäft“:

    „Die Medien, die Pressestellen, die Blogger – das ist ein riesiger, täglich rotierender Mechanismus, geschmiert von millionenschweren Budgets. Dieser Mechanismus muss allein aufgrund seiner Existenz funktionieren und ein Produkt erzeugen, denn das sichert den Beteiligten ihre Einkünfte. Die Kosten einer Unterbrechung, selbst eines längeren Stillstands sind viel zu hoch.“

     

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