Googelt man „Putins Krieg“, dann bekommt man zehntausende Ergebnisse. Dabei sagen rund 70 Prozent der Menschen in Russland bei Meinungsumfragen, dass sie die „Spezialoperation“ unterstützen. Demnach ist die russische Aggression gegen die Ukraine also nicht das Werk eines einzelnen Mannes, auch der überwiegende Großteil der Russen trägt ihn mit. „Das einfache Volk ist dumm“ heißt es da nicht selten in staatlichen und auch in unabhängigen russischen Diskursen: Von der Propaganda gehirngewaschen, obrigkeitshörig, kollektivistisch, konformistisch – die Liste der Zuschreibungen ist lang, oft kommt man überein, dass der sogenannte Sowjetmensch einfach nie überwunden wurde, und dieser sei nunmal kaum ohne den Krieg denkbar. Dies bildet für viele die gesellschaftliche Stütze des Kriegs.
Die russische Propagandamaschinerie läuft tatsächlich auf Hochtouren. Was sie in den Köpfen ihrer Adressaten anstellt, ist ein intensiv diskutiertes Thema. Für einen Moskauer Soziologen, der aus Sicherheitserwägungen anonym bleiben will, verdeckt diese Intensität aber ein anderes Problem: Auf Meduza argumentiert er, dass nicht so sehr der „einfache Russe“ den Krieg unterstützt, sondern die informierten und globalisierten Eliten – reiche Russen, deren Aufstieg noch während der Sowjetunion begann.
„Wie kann das verfickt nochmal sein?“, wiederholt Rapper Vladi immer wieder in seinem gleichnamigen Song, geschrieben 2022, nach Kriegsbeginn. Und der Fußball-Shootingstar Alexander Kershakow sagt in einem Interview: „Ich verstehe nicht, wie das sein kann. Wie so etwas in einer modernen und progressiven Gesellschaft möglich ist. Es will mir einfach nicht in den Kopf. Ich habe versucht, mir das alles irgendwie zu erklären, aber ich finde keine Antworten.“ Selbst anderthalb Jahre nach dem 24. Februar [2022] entziehen sich die Ereignisse unserem Begreifen, wirken surreal wie ein schlimmer Traum. Aber was genau begreifen wir nicht, und woher kommt das Gefühl, als würden wir träumen?
Auch wenn der blutige Krieg gegen die Ukraine weder Grund noch Ziel hat, folgt er einer eigenen historischen und sozialen Logik. Erstens lässt sich der Krieg aus dem Weltbild Wladimir Putins und seiner Umgebung heraus erklären – diesem eigentümlichen historischen Messianismus der politischen Diktatur, die auf dem Nährboden von Geopolitik und Verschwörungen gewachsen ist. Weitere Erklärungen finden sich in den gesellschaftlichen Vorstellungen und Praktiken der russischen Bevölkerung, die, wie wir landläufig annehmen, in Ressentiment, Imperialismus und antiwestlichen Stimmungen gefangen ist und zu Gewalt neigt. Genau diese Einheit von Staatsmacht und „Volk“ wirkt über die Köpfe der prowestlichen Minderheit hinweg und lässt die irrationale russische Aggression in der Ukraine möglich (manche denken sogar folgerichtig) erscheinen. Mit diesen oder jenen Ausflüchten oder Details erklären wir uns diesen Krieg.
Aber irgendetwas passt hier nicht zusammen. Der unaufgeregt alltägliche Grundton des gesellschaftlichen Lebens in Russland nach dem 24. Februar entspricht so gar nicht jenem Bild von Mobilisierung und Einheit, das wir mit einer Nation assoziieren, die einen totalen Krieg wie Mitte des letzten Jahrhunderts führt. Die Diskussion über die Faschisierung der russischen Gesellschaft, mit der im Frühjahr 2022 die Einordnung des russischen Einmarsches in die Ukraine begonnen hatte, ist schnell und unbemerkt verebbt. Wenn man nicht gerade in Frontnähe lebt, findet man auf den Straßen Russlands – von den Werbebannern für den Eintritt in die Armee abgesehen – kaum Spuren des Krieges.
Das Z ist vor allem ein Symbol für sozialen Revanchismus
Wenn Sie jemanden mit einem Z auf dem T-Shirt oder der Heckscheibe seines Autos sehen – also einen aktiven Unterstützer des Einmarsches in die Ukraine und des Kampfs gegen den Westen – und es handelt sich dabei nicht um einen hohen Beamten, einen Mitarbeiter der Propagandaorgane oder den Schauspieler Wladimir Maschkow, dann haben Sie es aller Wahrscheinlichkeit nach mit einem gesellschaftlichen Verlierer zu tun. Einem Nationalgardisten, der einen LADA Granta fährt, einem Z-Poeten, der über die mangelnde Unterstützung des Staates und den fehlenden Zugang zum Druckwesen und Fernsehen klagt, oder einem patriotischen Blogger beziehungsweise seinem Follower, die sich gegenseitig bemitleiden, dass der Staat von ihrem Patriotismus nicht endlich Gebrauch machen will. Das Z ist vor allem ein Symbol für sozialen Revanchismus.
Die breite russische Gesellschaft zeigt keine klare Unterstützung für den Krieg, sondern versteht ihn als Teil einer natürlichen sozialen Ordnung. Soziologen sprechen von einer „Mehrheit der Nicht-Ablehnung des Kriegs“.
Aber wer steht für diese Ordnung, ihre Reproduktion und ihre Legitimierung? Das sind die Eliten, die Schicht der gesellschaftlich Erfolgreichen. Und was sind die Eliten? Diese Schicht ist besser ins System integriert als der Durchschnitt. Ihr Kapital, sei es sozial, finanziell, administrativ oder ein Kapital von Symbolen, besitzt einen hohen Grad an Liquidität, ist also frei konvertierbar.
Nach dem 24. Februar hat ein Teil der russischen Elite das Land verlassen, aber der Großteil ist geblieben. Mittlere und kleinere Beamte, die die politisch-militärische Maschine des Kreml am Laufen halten; staatsnahe Unternehmen, die jetzt mit Importsubstitution und dem Umgehen von Sanktionen beschäftigt sind; die obere Mittelschicht und die Leitungsebene der aus dem Staatshaushalt bezahlten Institutionen, die der Staatsmacht gegenüber auf die eine oder andere Weise Loyalität demonstrieren müssen – das sind mehrere Millionen Menschen, die sich ohne erkennbaren Willen, aber auch ohne erkennbaren Widerstand in die moralische Ökonomie der militärischen Aggression einfügen. Das Leben ist nicht stehen geblieben, es gab kaum Rücktritte von Vorstandsposten, der Optimismus der Unternehmer ist ungebrochen.
Aber wie kann das verfickt noch mal sein? Die Leichtigkeit, mit der der Großteil der russischen Eliten den Krieg akzeptiert hat – eben darin scheint das Rätsel zu liegen, von dem Rapper Vladi und Fußballer Kershakow sprechen.
Die unsichtbaren Eliten und die Ethik der Bereicherung
Über die postsowjetischen Eliten wissen wir erstaunlich wenig – aus unserem soziologischen Blickfeld wurden sie völlig verdrängt durch die Gestalt des einfachen Bürgers, jenes „Volks“, mit dessen Hilfe sich die russische gebildete Klasse seit Jahrhunderten das Auf und Ab der Geschichte erklärt. Die Tendenz zu solch groben soziologischen Verallgemeinerungen wird heute auch durch Umfrageergebnisse genährt. So scheint beispielsweise die Feststellung, die Mehrheit der Russen (70 bis 80 Prozent) würde den Krieg unterstützen, die Frage nach den Gründen dafür zu erübrigen. Man nimmt einfach als gegeben hin, dass es sich wohl um eine Manifestation des nationalen Charakters handeln muss.
Doch die Fixierung auf das große Ganze verstellt den Blick auf die Details. So weisen die Ergebnisse derselben Umfragen darauf hin, dass in der Gruppe der Unterstützer die Hauptrolle nicht, wie man vielleicht vermuten würde, die Armen spielen, sondern die Reichen. Laut dem unabhängigen soziologischen Projekt Russian Field, das die Ergebnisse seiner Umfragen systematisch in Bezug auf die finanzielle Situation der Befragten veröffentlicht, korrelieren die erklärte Unterstützung für Wladimir Putin, die „militärische Spezialoperation“ und die „Teilmobilmachung“, das Vertrauen in offizielle Erklärungen und sogar die Bereitschaft, persönlich in den Krieg zu ziehen, direkt mit dem Wohlstand der Befragten: Die Loyalität derjenigen, die ihre finanzielle Situation als „gut“ einschätzen, liegt seit Kriegsbeginn unverändert im Durchschnitt 15 bis 25 Prozentpunkte höher als die derjenigen, die ihre finanzielle Situation als „schlecht“ oder „sehr schlecht“ einschätzen.
Wir können insgesamt annehmen, dass das Einkommensniveau, unabhängig von den politischen Einstellungen, mehr oder weniger dem Grad an sozialer Integration und dem Eingebundensein ins große Ganze entspricht. Und obwohl die Wohlhabenden besser vor wirtschaftlichen Erschütterungen geschützt sind als die, die weniger besitzen, sollte man annehmen, dass sie die Ereignisse gleichzeitig pragmatischer betrachten und die Auswirkungen der allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Situation auf die eigenen Perspektiven deutlicher spüren. Doch den Umfrageergebnissen nach zu urteilen, scheint genau dies nicht der Fall zu sein. Die wichtigsten Befürworter und Förderer des Kriegs in Wort und Tat sind nicht, wie es sich die gebildete Klasse gewöhnlich ausmalt, die von der Propaganda korrumpierten Vertreter des „gemeines Volkes“, die nie einen Reisepass besessen haben – sondern die informierten und globalisierten Eliten.
Wer sind die Wohlhabenden in der postsowjetischen Gesellschaft?
Aber was für Menschen sind das? Wie gestaltet sich ihr Erfolg in der postsowjetischen Gesellschaft? Paradoxerweise ist die markanteste Eigenschaft der postsowjetischen Eliten gerade ihre Unsichtbarkeit, ihre Unterrepräsentiertheit im öffentlichen Leben (abgesehen von der obersten Führung). Die russischen Eliten sind zunächst einmal keine verdienstvollen, keine gesellschaftlich anerkannten Eliten – sie sind Eliten der Korruption, also der heimlichen Errungenschaften, der Vermögen unklarer Herkunft und der hohen Zäune, die sie vor der Öffentlichkeit abschirmen. Diese Eliten existieren in einer patronal-bürokratischen Logik, selbst wenn sie nicht unmittelbar in die Staatsbürokratie eingebunden sind: Die obere Spitze der russischen Gesellschaft ist von einem dichten Netz des Bürokratie- und Silowiki-Klientel durchzogen, wobei sich die bürokratischen Muster längst über den eigentlichen Bürokratieapparat hinaus verbreitet haben. Die russischen Eliten erhalten ihren Status in der Regel von einem Gönner oder einem Vorgesetzten, und daher ist ihr Ruf nicht öffentlich; es existiert schlichtweg keine soziale Mythologie, die ihre Erfolge in den Augen der Gesellschaft, ja sogar in den eigenen Augen legitimieren würde. Die postsowjetischen Eliten sind eine Klasse der Unsichtbaren.
Ein weiteres Merkmal dieser Eliten ist ihre totale ideelle Prinzipienlosigkeit, die ausschließlich das Recht des Stärkeren und die Macht des Geldes akzeptiert. Die russischen Eliten sind Eliten der Bereicherung und des Konsumismus, die zu einer Weltanschauung wurden. Der persönliche materielle Wohlstand ist hier der Idee des Gemeinwohls und jeglichem Idealismus demonstrativ entgegengesetzt. Dass solche Werte für die russischen Eliten absolut keine Rolle spielen, erkennt man leicht an der Qualität der sozialen Infrastruktur in Russland, angefangen bei Wohnungs- und Kommunaldienstleistungen bis hin zu den Bestattungen.
Das Fehlen von Idealen kombinieren sie mit Hyperloyalität: Die russischen Eliten bestehen aus überzeugten Anhängern des Regimes. Nur dass sie nicht etwa deshalb loyal sind, weil sie den ideologischen Pathos des bestehenden Regimes teilen, sondern weil es die Stabilität der sozialen Ordnung gewährleistet, deren Nutznießer sie sind. Die unverhüllte und kulturell legitimierte Praxis dieser Eliten besteht in ihrer Heuchelei, die an das Orwellsche Doppeldenk erinnert: Erklärte Antiwestler investieren in die Ausbildung ihrer Sprösslinge im Ausland und Immobilien in eben jenem Westen, das Rechtswesen ist mit Schutzgelderpressung und Terror beschäftigt, und die Zahlen in den Steuererklärungen bilden nur einen Bruchteil des realen Kapitals ab. Worte und Taten klaffen radikal auseinander, und das ist die soziale Norm.
In gleichem Maße trifft [die Heuchelei] auch auf die Staatsideologie selbst zu. Wie auch immer die Ideologie lautet, ihr Inhalt tritt für die Eliten hinter ihre soziale Funktion zurück: Der Eid auf die „offiziellen Werte“ ist lediglich ein Loyalitätsritual, der Preis für den Wohlstand.
Die unzivile Gesellschaft und der nicht-einfache sowjetische Mensch
Der Gedanke liegt nahe, dass diese „unsichtbaren Eliten der Bereicherung und Heuchelei“ aus den sogenannten wilden Neunzigern emporgekommen sind – der Epoche des frühen russischen Kapitalismus, der seinerzeit den sozialistischen Idealismus von der Bildfläche verdrängt hat. So sieht es zum Beispiel der vielleicht beste Kenner der postsowjetischen Bürokratie, Alexej Nawalny („Putin ist die Neunziger“). Und die heutigen Linken würden diese Eliten als Eliten des globalen Neoliberalismus bezeichnen (so beschrieb es unlängst der Soziologe Grigori Judin in einem Beitrag für Meduza). Beide Hypothesen sind jedoch falsch: Die postsowjetischen Eliten sind das spezifische Erbe einer spätsowjetischen Gesellschaftsordnung.
Vor zehn Jahren haben der US-Historiker Stephen Kotkin und der berühmte polnisch-amerikanische Holocaust-Forscher Jan Gross das Buch Uncivil Society: 1989 and the Implosion of the Communist Establishment über den Zusammenbruch des Sozialismus in Osteuropa geschrieben. Die „uncivil society“ – das ist die sowjetische Nomenklatura: der obere Teil des Staatsapparats, die Partei- und Militärspitze und das offiziöse Kulturestablishment, die einen geschlossenen sozialen Organismus mit gemeinsamen Werten und sozialen Strategien herausgebildet hatten. Die plötzliche Abkehr der „uncivil society“ von der Loyalität gegenüber der sowjetischen Ideologie Ende der 1980er Jahre habe die kommunistischen Regime in Osteuropa genauso zerstört, wie die Bankenpanik, der „bank run“, das Bankensystem zerstört, schreiben Kotkin und Gross. Sie stellen den Opportunismus der sozialistischen Eliten 1989 dem gewohnten Bild des Triumphs der antikommunistischen Opposition auf den Überresten der Berliner Mauer gegenüber.
Die postsowjetischen Eliten als spezifisches Erbe einer spätsowjetischen Gesellschaftsordnung.
Wir sollten den so treffenden Terminus „unzivile Gesellschaft“ weiter fassen und nicht nur auf die sowjetische Nomenklatura beziehen, sondern auch auf die Eliten der spätsowjetischen Gesellschaft insgesamt: die sozial fortgeschrittene urbane Klasse, die großen und kleinen Manager, die in den Kreislauf des administrativen, finanziellen und des Austauschs von Symbolen eingebunden sind. Diese Eliten formieren sich quasi in der Gegenphase zum erlöschenden sowjetischen Projekt, ihr Auftreten selbst ist eine Form des Erlöschens: Die Abneigung gegen die rhetorische Exaltiertheit und ideologische Ritualisiertheit des Sowjetischen brachte in den 1970er Jahren eine neue, anti-idealistische soziale Ethik hervor, einen eigentümlichen sowjetischen Utilitarismus. Befeuert wurde er durch den Erdöl-Boom, der Geld in die sowjetische Wirtschaft pumpte, sowie die Entspannungspolitik, die den Eisernen Vorhang, der das rasante Wachstum der Konsumwirtschaft im Westen vor den Augen der Bevölkerung der UdSSR verborgen hatte, durchlässig machte. In der Folge wurde dieser Utilitarismus zu einer Art Parallel- beziehungsweise Schattenethik der spätsowjetischen Gesellschaft und ihrer Eliten – eine Ethik des Konsumismus, die in der Welt des sozialistischen Defizits eine besondere symbolische Aufladung erfuhr.
Aber die öffentliche Bühne der UdSSR war komplett von der sowjetischen Ideologie und dem Kampf gegen sie besetzt, weshalb es nie zu einer sozialen Mythologisierung des Kults um den persönlichen sozialen und wirtschaftlichen Erfolg kam, die ihn legitimiert hätte. Während sie nach außen hin weiter brav die Rituale der Sowjetideologie ausführte, erlebte die „uncivil society“ des späten Sozialismus im Schatten des öffentlich sanktionierten sozialen Handelns ihre Evolution.
Eliten des spätsowjetischen Konsumismus und die postsowjetischen „Eliten der Bereicherung“ sind so ähnlich, weil sie ein und dasselbe sind
Dass sich die Eliten des spätsowjetischen Konsumismus und die postsowjetischen „Eliten der Bereicherung“ bis zur Ununterscheidbarkeit ähneln, hat eine einfache Erklärung: Es handelt sich um dieselben Eliten und dieselbe Ethik. Ihre Apostel sind die Emporkömmlinge der 1970er Jahre, die mit dem Aufblühen der Ethik der Bereicherung groß geworden sind und in den 2000er Jahren auf die historische Bühne traten, als sie die idealistische Generation der Tauwetterperiode endgültig verlassen hatte. Einer Studie von Maria Snegowaja und Kirill Petrow zufolge sind etwa 60 Prozent der heutigen politischen Elite in Russland unmittelbar aus der spätsowjetischen Nomenklatura hervorgegangen, und einer ihrer typischen Vertreter ist ihr Präsident geworden.
Einer ihrer typischen Vertreter ist Präsident geworden
Dabei dominiert in unserer Gesellschaft eine ganz andere Vorstellung vom sowjetischen Erbe. Diese Vorstellung hängt mit der vorherrschenden und längst zum Allgemeinplatz gewordenen soziologischen Hypothese von der Existenz eines speziellen und dominierenden Homo sovieticus zusammen. Sie wurde ausführlich in dem Buch Die Sowjetmenschen 1989–1991. Soziogramm eines Zerfalls (der russische Titel lautet wörtlich: Der einfache sowjetische Mensch) beschrieben, das 1993 von Juri Lewada und seinen Kollegen aus dem damals gerade gegründeten WZIOM, dem Vorgänger des heutigen Lewada-Zentrums, herausgegeben wurde.
„Der einfache sowjetische Mensch“, wie ihn die Soziologen Anfang der 1990er Jahre sahen, ist ein beschränkter, infantiler und neidischer Mensch, der sein Schicksal dem Staat überlassen hat, nicht auffallen will, biegsam und hinterlistig ist, Angst vor Verantwortung hat und allzeit damit beschäftigt ist, irgendwie zu überleben. 1993 schien es, als würde er die gesellschaftliche Bühne verlassen, aber die weiteren Beobachtungen zwangen Lewada und seine Ko-Autoren dazu, diesen Schluss radikal zu überdenken: Sie kamen zu der Erkenntnis, dass die Anpassungsfähigkeit und Zähigkeit des Homo sovieticus sich als so hoch erwiesen hatten, dass sie ihn ins Zentrum nun auch der postsowjetischen Gesellschaftsordnung stellten. Dies wiederum habe den Weg geebnet für die Hemmung des Demokratisierungsimpulses während der Perestroika und das spätere Abgleiten Russlands in den Autoritarismus.
Später fügten die Soziologen den Hauptmerkmalen des „einfachen sowjetischen Menschen“ das einst von Nietzsche erfundene Ressentiment hinzu – eine Art sozialer Minderwertigkeitskomplex, der sich selbst kompensiert, indem er erfolgreichere Gesellschaftsmodelle (den „Westen“) aktiv ablehnt oder ihnen gegenüber sogar aggressiv auftritt. Das ist es, woraus die berüchtigte „Putin-Mehrheit“ besteht, die zu dem Meme „86 %“ wurde.
Die Frage nach der realen Existenz des Homo sovieticus ist, wie man in solchen Fällen zu sagen pflegt, eine Geschichte für sich, die längst zum Thema einer wissenschaftlichen und publizistischen Diskussion geworden ist. Und dennoch, es ist erstaunlich, wie unähnlich sie sich sind: dieser „einfache sowjetische Mensch“ der russischen Soziologie, eine Geisel des Paternalismus und Ressentiments, und der „nicht-einfache sowjetische Mensch“ der spät- und postsowjetischen Eliten. Anstelle des Paternalismus steht bei diesem das administrative Unternehmertum, Geschäfte mit Hilfe und im Umfeld des Staates, und anstelle des Ressentiments die Defizite von Symbolen, das heißt die fehlende Möglichkeit, die eigenen sozialen Erfolge zu legalisieren (hieraus erklärt sich auch die Neigung der Führungsspitzen zu wissenschaftlichen Titeln, die ebenfalls auf die spätsowjetischen sozialen Moden und ihre Denkmalwut zurückgeht).
Man muss jedenfalls klar sehen, dass hinter den heutigen Eliten Russlands eine starke, tief verwurzelte spät- und postsowjetische soziale Moral steht, die eine beständige soziale Ordnung formiert hat, welche sich seit nunmehr einem halben Jahrhundert erfolgreich evolutioniert. Im Grunde ist die postsowjetische Epoche die Epoche des „nicht-einfachen sowjetischen Menschen“: Die Korruption wurde zur faktisch legitimierten Basis des polit-ökonomischen Systems, während die Ethik der Bereicherung die Werte des sozialen und politischen Idealismus verdrängt hat, den die Generation der 1960er gepredigt hat (und dessen Sternstunde die Perestroika war).
Trotz aller Probleme um die Anerkennung und die Öffentlichkeit besetzen heute der „nicht-einfache sowjetische Mensch“ und die „unzivile Gesellschaft“ praktisch die komplette soziale Bühne in Russland. Folglich ist das Wichtigste, das die postsowjetische Gesellschaft von der sowjetischen geerbt hat, nicht Ressentiment und Paternalismus, ja nicht einmal das imperiale Denken, sondern die spezifische Verbindung von einem sozial-bürokratischen Unternehmertum mit politischem Konformismus, also mit einer Depolitisierung.
Die Folgen der Depolitisierung und die moralische Katastrophe
Das Weltbild des „nicht-einfachen sowjetischen Menschen“ negiert den Wert der politischen Teilhabe. Die demokratische Maschinerie ist für ihn kein Mechanismus, sondern reine Dekoration. Die fehlende Nachfrage der postsowjetischen Eliten nach Demokratie hat dazu geführt, dass die demokratischen Institutionen im neuen Russland schnell zu einer Imitation verkommen sind und die Fälschung der Wahlergebnisse zu einer sozialen Massenpraxis, in der die Hauptrolle wiederum jene „unzivile Gesellschaft“ spielt: kleinere Führungskräfte, Schuldirektoren und Leiter anderer staatlicher Unternehmen und so weiter. So kam es, dass die Basis der postsowjetischen sozialen Ordnung nicht die öffentliche, sondern eine bürokratische Konkurrenz wurde und der zentrale Hebel nicht die öffentliche Anerkennung, sondern die Loyalität gegenüber der Obrigkeit.
Die apolitischen Einstellungen der spät- und postsowjetischen Eliten sind das Misstrauen in die Politik als solche oder ihre Verwandlung in ein Mittel der Bereicherung. Diese Einstellungen haben das politische Regime in Russland von den Systemen der Kontrolle und Gegengewichte befreit. Das Vakuum an Symbolen, in dem diese Eliten existieren, wurde gefüllt mit Verschwörungen und antiwestlichen Stimmungen, die so ungehindert zur Staatsideologie werden konnten.
Die Abkehr der „Eliten der Bereicherung“ von jeglichen politischen und intellektuellen Ansprüchen machte es möglich, dass sich das politische Regime in Russland in eine personalisierte Diktatur verwandeln konnte, die sich schließlich von der Realität lossagte und einen blutigen Krieg gegen die Ukraine entfesselte. Genau das ist die Formel, die die Kontinuität zwischen der postsowjetischen Welt und unserem tragischen Heute erklärt – das Bindeglied ist die gemeinsame soziale Moral: die Moral der Bereicherung und der Teilnahmslosigkeit. Der Begriff „moralische Katastrophe“ scheint auf den ersten Blick eine ausgelutschte publizistische Plattitüde, aber im Fall Russlands im Jahr 2023 besitzt sie einen konkreten soziologischen Inhalt: Die Gründe für den Krieg in der Ukraine liegen in der sozialen Ethik.
Die Grenzen der Loyalität und die Stabilität des Regimes
Die Loyalität der „unzivilen Gesellschaft“ gegenüber dem Regime ist begrenzt: Genau wie in der postsowjetischen Zeit ist der „nicht-einfache sowjetische Mensch“ und die aus solchen wie ihm bestehende „unzivile Gesellschaft“ völlig befreit von jedem ideologischen Pathos; hinter vorgefertigten Formeln verbirgt sie ihre Korruptions- und Bürokratie-Erfolge. Zehntausende große und kleine Führungskräfte, Beamte, Manager, Staatsunternehmer, die in das bürokratische Milieu eingebunden sind, ökonomisch erfolgreiche, „respektable“ Leute, die ihre Erfolge nicht legalisieren und der Öffentlichkeit präsentieren können – sie alle sind bereit, ihren Eid auf einen noch so menschenfressenden „nationalen Führer“, jede „militärische Spezialoperation“ und weiß der Teufel was zu schwören, solange diese ihre gesellschaftliche Stellung sicherstellen und sie mit immer neuen administrativen und wirtschaftlichen Möglichkeiten ausstatten.
Es wird zu einer Abwendung kommen von dem radikalisierten Regime, das den Wohlstand in Gefahr bringt
Das bedeutet wiederum, dass hinter dem hohen Grad der Unterstützung des Krieges unter den russischen Eliten, von dem die Umfragen zeugen, keine ideologische Mobilisierung steht, sondern ein Loyalitätsreflex. Noch ist sich der „nicht-einfache sowjetische Mensch“ sicher, dass die Macht Wladimir Putins seine „unzivile Gesellschaft“ schützt und als Garant für seine Prosperität fungiert. Aber irgendwann kommt es zu einem Umbruchmoment, in dem er sich, wie immer schweigend, von dem radikalisierten Regime abwendet, das seinen Wohlstand in Gefahr bringt, und dann bringt ein neuer Anfall von „Bankenpanik“ das scheinbar unerschütterliche politische System zu Fall.
Das Regime scheint allerdings selbst sehr wohl zu verstehen, worauf seine Unterstützung beruht, und versucht, seine wahnwitzigen Ambitionen mit den Interessen des „nicht-einfachen sowjetischen Menschen“ ins Gleichgewicht zu bringen. Die Metropolen und Großstädte, die seinen hauptsächlichen Lebensraum darstellen, bleiben von der „Teilmobilmachung“ (und der Kriegspropaganda insgesamt) weitgehend verschont. Seit Kriegsbeginn werden verstärkt Antikorruptionsgesetze abgeschafft, sogar eine Aufhebung des Vergaberechts wird diskutiert. Eine Umweltschutzorganisation nach der anderen wird kriminalisiert, weil sie Unternehmern und Beamten ein Dorn im Auge sind.
Die Frage, ob Putin in der Lage sein wird, dieses Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, ist nicht leichter zu beantworten als jede andere Frage bezüglich unserer Zukunft. Noch schwieriger ist es jedoch, sich vorzustellen, wie das Schicksal der russischen Gesellschaftsordnung und ihres Herrschers, eines „nicht-einfachen Sowjetmenschen“, auf der nächsten Windung der Geschichte aussehen wird, der wir uns im Eiltempo nähern.
Leseempfehlungen
Projekt: Die Hunde des Krieges. Russische Oligarchen der Kriegszeit.
Die russischen Geldeliten unterstützen den Krieg nicht nur, sie verdienen auch daran, wie eine Recherche des gemeinnützigen Investigativ-Onlineportals Projekt zeigt.
„Mindestens 83 Personen aus dem letzten Forbes-Vorkriegs-Ranking der 200 reichsten Russen waren offen an der Versorgung der russischen Armee und der Rüstungsindustrie beteiligt.
Gegen 82 von ihnen sind Sanktionen verhängt worden, aber nur 14 dieser 82 sind in allen Gerichtsbarkeiten der pro-ukrainischen Koalition sanktioniert. Und 34 überhaupt nur in der Ukraine. Die Gesamtsumme der offen zugänglichen Verträge, die die Unternehmen dieser Geschäftsleute während des Kriegs in der Ukraine (seit 2014) mit der russischen Rüstungsindustrie abgeschlossen haben, ist riesig – nicht weniger als 220 Milliarden Rubel, also fast drei Milliarden US-Dollar (im Durchschnittskurs von 2021).“
iStories: Wie russische Milliardäre die Armee mit Söldnern versorgen
Die russischen Oligarchen gehören zu den größten Unterstützern des Angriffskriegs gegen die Ukraine. Laut einer Recherche des gemeinnützigen Investigativ-Onlineportals Projekt gehören sie auch zu den größten Profiteuren. iStories hat zudem herausgefunden, dass viele ihrer Unternehmen auch ziemlich direkt an dem Krieg teilnehmen: Die Firmen von Oleg Deripaska, Leonid Mikhelson und anderen Geschäftsleuten heuern Söldner an, setzen sie auf ihre Gehaltslisten – und entgehen trotzdem teilweise den westlichen Sanktionen.
Dramatische Musik, effektvolle Übergänge, Fadenkreuze, die über das Bild huschen: Die Berichterstattung über die neuesten Kriegsentwicklungen auf dem Propagandasender RT sehen aus wie Trailer zu einem Videospiel. Zu sehen sind vermeintliche Heldentaten russischer Soldaten, die bei der „Spezialoperation“ Russland gegen den Westen „verteidigen“.
Fernsehen genießt laut Umfragen1 das größte Medienvertrauen in Russland, es ist auch bei weitem die zahlenmäßig wichtigste Informationsquelle der Menschen im Land … beziehungsweise Desinformationsquelle – denn alle Kanäle obliegen der direkten staatlichen Regie. Die Fäden laufen bei einem Mann zusammen: Alexej Gromow, Erster stellvertretender Leiter der Präsidialadministration, dem die volle Kontrolle über alle analogen Medien in Russland nachgesagt wird. Er gilt außerdem als der Herr über die sogenannten metoditschki: Leitfäden, die den Fokus der Berichterstattung festlegen.
Die modernen Autokratien legitimieren sich zumeist über eine Mischung von personalisierten und meritokratischen Elementen: Im Vordergrund stehen dabei also Arbeit am Charisma und an besonderen Verdiensten des Herrschers. Mit dem Boom des Populismus im 21. Jahrhundert geht diese Legitimierungsarbeit an professionelle Polittechnologen, Ghostwriter und Spin-Doktoren über.2 Ihre Konzepte zum Machterhalt bezeichnen manche Forscher als Smart Authoritarianism. Jüngst schlug der oppositionelle russische Ökonom Sergej Gurijew auch den Begriff Spin Dictatorship vor.3
Das Konzept der Spin Dictators postuliert, dass populistische Diktaturen des 21. Jahrhunderts weniger auf Unterdrückung und Massenmobilisierung setzen, sondern auf eine Imitation demokratischer Strukturen und Prozesse, die den Logiken der Popindustrie folgt.4 Das erfordert einen gut vernetzten, effektiven, lernfähigen und vor allem loyalen bürokratischen Machtsicherungsapparat. In Russland erfüllt diese Funktion die Präsidialadministration (PA). Seinerzeit von Wladislaw Surkow maßgeblich geprägt, bildet die PA einen zentralen Grundpfeiler der sogenannten Machtvertikale. Eine Schlüsselrolle für die Sicherung des Informationsmonopols nimmt der Erste stellvertretende Leiter der Präsidialadministration Alexej Gromow ein – Putins persönlicher Spin-Doktor und oberster Imagemaker.
Der Dienstälteste
Nach seinem Studium an der historischen Fakultät der Moskauer Staatlichen Universität (MGU) begann Gromows diplomatische Karriere in der Tschechoslowakei. Als Attaché der sowjetischen Botschaft in Prag lernte er Ende der 1980er Jahre Wladimir Putin kennen. 1996 übernahm Gromow die Leitung der Pressestelle des Präsidenten Boris Jelzin. Zwei Jahre später folgte seine Ernennung zum Leiter der Presseabteilung der Präsidialadministration. Viele kamen und gingen, nach einem Vierteljahrhundert blieb einer: Unter den bekannteren Gesichtern gilt Gromow heute als der dienstälteste Mitarbeiter der Behörde.
Mit dem Rücktritt Boris Jelzins stieg Gromow zum persönlichen Pressesprecher des neuen Präsidenten auf. Seit seiner Ablösung durch Dimitri Peskow 2012 begleitet der Kommunikationsstratege Wladimir Putin weiterhin als Erster stellvertretender Stabsschef der Präsidialverwaltung. Er gilt als einer von Putins engsten Vertrauten.
Vereinheitlichung der Medienlandschaft
Am Anfang stand NTW. Die Zerschlagung des Fernsehsenders gilt heute für viele rückblickend als ein Startschuss der Gleichschaltung, für Gromow war sie die erste Bewährungsprobe auf dem neuen Posten. NTW war um die Jahrtausendwende der einflussreichste Fernsehsender des Landes und gehörte zum Medienimperium Media-Most des Oligarchen Wladimir Gussinski. Dieser gab sich Putin-kritisch und zeigte politische Ambitionen. Mit NTW hatte er ein Sprachrohr, das nicht selten als das anspruchsvollste und innovativste Medium des Landes bezeichnet wurde.
Rückblickend erscheint es kaum verwunderlich: Als die Sondereinheiten der Polizei und des FSB nur wenige Tage nach der ersten Inauguration Putins die Räumlichkeiten von Media-Most durchsuchten, war aber noch nicht klar, dass Putin tatsächlich den autoritären Kurs einschlägt, vor dem Gussinski zuvor gewarnt hatte. Kurz danach kam er in Haft und musste seinen Medienkonzern an die Holding Gazprom-Media verkaufen.5 Bald darauf ereilte das Schicksal auch den größten Konkurrenz-Fernsehsender ORT, der zum Medienimperium von Boris Beresowski gehörte. Beresowski wurde damals genauso wie Gussinski zu Oligarchen im eigentlichen Sinne gezählt: Beide sollen immensen Einfluss auf Boris Jelzin ausgeübt haben. Untereinander führten sie jedoch zeitweise einen erbitterten Konkurrenzkampf. Beresowski hatte Putin auf dem Weg zur Macht zunächst unterstützt, hatte sich im Konkurrenzkampf mit Gussinski aber verspekuliert. Auch seine politischen Ambitionen haben wohl dazu geführt, dass er seinen Anteil an ORT 2001 an Roman Abramowitsch abtreten musste – ein Putin-loyaler Oligarch. Dieser verkaufte seine Anteile später als Perwy Kanal unter anderem an die Nationale Mediengruppe. Gesteuert von Juri Kowaltschuk – den Korruptionsermittler als eine von Putins Brieftaschen bezeichnen – soll die Mediengruppe laut Hinweisen eigentlich Putin gehören.6 Propaganda ist in der russischen Kleptokratie demnach nicht nur Legitimierungsinstrument, sondern auch Business.
Aufstieg zum Propagandaminister
Alexej Gromow spielte bei der de facto Verstaatlichung (resp. Privatisierung) dieser zwei einflussreichen Fernsehsender den Unterhändler. Er steuerte die komplexen Umstrukturierungsprozesse und brachte die Medien auf Linie. Dazu engagierte er unter anderem renommierte Medienmacher und ernannte seinen Studienfreund Oleg Dobrodejew – ein Gründungsmitglied von Media-Most und NTW – zum Leiter des staatlichen Medienunternehmens WGTRK, dessen Flaggschiffsender Rossija-1 ist. Auf diese Weise hat Alexej Gromow in kürzester Zeit die größten Akteure auf dem Medienmarkt unter seine Kontrolle gebracht. Mit der vorangeschrittenen Monopolisierung der Medienlandschaft konnte er 2004 auch die anstehenden Präsidentschaftswahlen bestimmen, bei denen Putin schließlich erneut als Sieger hervorging.
Seitdem dirigiert Gromow eigenhändig die analoge (Des-)Informationsagenda sowie die Medien- bzw. Propagandapolitik Russlands. Das Digitale soll entsprechend sein Kollege Sergej Kirijenko verantworten. Zum Handwerkszeug gehören regelmäßige Treffen mit Medienmachern, Akkreditierung der zum Presse-Pool des Kreml zugelassenen Journalisten und das „Kuratieren“ der Pressestellen von staatlichen Behörden. Erstellung der Leitfäden für die Propagandaorgane gehört zum Stellenprofil, genauso wie Medientraining und Kommunikationsbegleitung von Gouverneuren, Manipulation von Umfrageergebnissen sowie direkte Interventionen bei unerwünschter Berichterstattung. Diese Instrumente tragen schon seit 2000 die Signatur des Mannes, dessen Departement galgenhumorig als Propagandaministerium bezeichnet wird.7
Mit der Kontrolle über das (Des-)Informationsmonopol ist Gromow ein zentraler Akteur des russischen Medienmarkts. Dass er auch ein Teil der Kleptokratie ist, zeigt das Beispiel RT: 2005 aus Gromows Feder entsprungen, hat sich der international agierende Fernsehsender schnell zu einer Propagandamaschine entwickelt, die staatliche Fördergelder durch ein obskures Netzwerk von Subunternehmen und kurzlebigen Projekten an Privatpersonen verteilt. Dazu gehören auch die beiden Söhne von Alexej Gromow.8 Der Ältere leitet die Internetplattform Kub – ein Ableger von RT. Schon mit 24 trat er als „Geschäftspartner“ der Putin-nahen Oligarchen Oleg Deripaska und Roman Abramowitsch in Erscheinung.9
Für das unabhängige Medium Projekt ist Gromow der „Herr der Puppen“. In der Tat kann man ihn heute wohl als den wichtigsten Puppenspieler Russlands bezeichnen, ähnlich wie seinerzeit auch seinen Vorvorgänger Wladislaw Surkow. Gromow hält die Propaganda-Fäden in der Hand, sichert das Informationsmonopol des Kreml und lenkt Geldflüsse auf dem Medienmarkt in ein weitverzweigtes kleptokratisches Netzwerk um Putin. Als einer der engsten Vertrauten des Präsidenten entscheidet Gromow, welche Informationen Putin bekommt – und wie. Als oberster Spin-Doktor ist er für Putins Imagepflege zuständig. Dies kreiert möglicherweise eine eigentümliche Tautologie: Gromow schafft mit Desinformation und Propaganda eine fiktive Realität, formt mit Versatzstücken daraus das Weltbild von Wladimir Putin, das wiederum die Grundlage seines Handelns in der wirklichen Welt bildet.
Koschorke, Albrecht/Kaminskij, Konstantin (2017): Tyrants Writing Poetry, S. 11 ↩︎
Guriev, Sergei/Treisman, Daniel (2022): Spin Dictators: The Changing Face of Tyranny in the 21. Century, Princeton ↩︎
In einem Interview vom Juli 2023 sagte Sergej Guriev, dass Putins Regime sich in jüngster Zeit zunehmend in Richtung Repressionen bewege und damit mehr auf Angst stütze. ↩︎
Entschlossen schreitet Jaroslaw Dronow in Lederstiefeln über den Roten Platz, auf der Brust prangt ein Holzkreuz, den linken Arm ziert eine Armbinde mit der russischen Trikolore. „Wahrheit und Stärke sind auf unserer Seite, stolz wird unsere Nation alles überleben“, singt der als Shaman bekannte Popstar dazu in seinem Lied My (dt. Wir). Neben der offenkundigen Nähe zur NS-Ästhetik sorgte in den Sozialen Netzwerken für Diskussionen, dass die Veröffentlichung des Songs ausgerechnet mit dem Geburtstag Adolf Hitlers zusammenfiel.
Der 31-jährige Dronow hat die Gnessin-Musikhochschule in Moskau abgeschlossen und gilt als Shootingstar der patriotischen Popmusik in Russland. Seine Karriere erlebte einen steilen Aufschwung mit dem Song Wstanem (dt. Wir erheben uns). Das Lied ist Gefallenen im Großen Vaterländischen Krieg gewidmet, erschien einen Tag vor Beginn des russischen Großangriffs auf die Ukraine und wurde oft darauf bezogen interpretiert – entsprechend der russischen Propaganda, die schon seit 2014 versucht, die russische Aggression gegen die unabhängige Ukraine in Bezug zum sowjetischen Kampf gegen Hitlerdeutschland zu setzen.
Shamans neuester Song heißt Moi boi, was sich mit „Mein Kampf“ (russ. Moja borba) übersetzen lässt und auch so in den deutschen Untertiteln auf YouTube angezeigt wird, wie Social-Media-User sogleich bemerkten. Der Politikanalyst Alexander Baunow hat sich den Clip dazu angeschaut und seine Gedanken zu den Propaganda-Mechanismen dahinter auf Facebook notiert.
Der Sänger Shaman Dronow hat einen neuen Clip aufgenommen – Mein („Kampf“durchgestrichen) Gefecht –, bei dem der empfindsame Betrachter eine Träne vergießen soll, angesichts eines Sammelsuriums von Bildern unrasierter, schießender Männer in Tarnuniform und zerstörter Gebäude und Straßen. Und die Zuschauer tun das auch folgsam.
Betroffenheit angesichts der Zerstörung – und Mitgefühl für die Verursacher
Dass die zerstörten Gebäude und Straßen zu eben jenen Städten gehören, die von den Männern in Tarnuniform beschossen werden, und dass die tränenvergießenden Zuschauer sowohl mit dem einen wie mit dem anderen mitfühlen sollen, verstört diese nicht im Geringsten. Hauptsache, die Melodie ist anrührend, die Stimme mitreißend und unser Junge auf der Bühne hübsch. Und mit den „Helden“ mitzufühlen und sich den Anblick der Leiden zu Herzen zu nehmen, das ist für den Zuschauer erhebend: Es belegt, dass er ein guter Mensch ist, und dass auch die Sache, die ihm am Herzen liegt, gut und gerecht ist.
Die Bilder der Ruinen in dem Clip ließen sich durch Aufnahmen von der Kathedrale und dem Haus der Wissenschaftler in Odessa ergänzen [die Russland am Tag der Veröffentlichung des Posts mit Raketen beschossen hat – dek]. Letzteres war ein Anwesen der Grafen Tolstoi, und seine Räumlichkeiten haben als Kulisse gedient: Sie waren die Räume des Schlosses von Versailles in Die drei Musketiere, dem vom feinfühligen Zuschauer geliebten, guten alten sowjetischen Film. Man könnte den Clip mit einem offenen Ende versehen, das allmonatlich mit neuen Bildern von Ruinen bestückt wird. Das dürfte für den aufmerksamen Betrachter zu keinerlei kognitiven Dissonanzen führen, und es wird ihn auch nicht in eine geistige Sackgasse manövrieren. Schließlich wird hier alles vom Herzen entschieden.
„Wir sind hier Helden wie auch Opfer“
Bei der ästhetischen Verarbeitung dieses Krieges durch das Massenpublikum gibt es die Besonderheit, dass positive Bilder (etwa unrasierte Helden) sich mit der eigenen emotionalen Welt verbinden, einer positiven, guten Welt. Negative Bilder hingegen (zerstörte Gebäude etwa) gehören zu einer fremden Welt, einer Welt des Schlechten und Bösen. Was soll da unklar sein? Die Helden sind positiv, die Ruinen negativ. Wir fühlen mit den Guten mit, sind stolz auf sie. Und wir haben Mitgefühl mit den Opfern des Bösen, der Anblick der Trümmer schmerzt uns – alles logisch.
Das funktioniert wie eines der [propagandistischen – dek] Erklärungsmuster, dessen Logik genauso aufgebaut ist wie in dem Clip: Wir Slawen haben unter einem Krieg zu leiden, der in unsere russischen, slawischen Lande ein weiteres Mal durch fremde, feindliche Mächte getragen wurde – durch die Amerikaner und Europäer. Wir sind hier sowohl Helden wie auch Opfer. Wir schießen, und wir beklagen die Zerstörungen, die bei uns allen ferne, fremdländische Feinde angerichtet haben. Die Kathedrale ist also durch diese zerstört worden, wird aber unweigerlich zur nächsten Strophe wiederauferstehen.
Seit September 2022 beginnt die russische Schulwoche mit den sogenannten Gesprächen über das Wichtige – verpflichtende Unterrichtseinheiten, bei denen es um die „militärische Spezialoperation“, den „kollektiven Westen“ und generell eine „patriotische Erziehung“ geht. Doch die beschränkt sich nicht nur auf den Schulbereich: Tarnanzüge, Gewehre und Schmetterlingsminen zum Ausmalen – Irina Nowik berichtet für 7×7 über eine fortschreitende Militarisierung an russischen Kindergärten.
In einem Raum mit großen Fenstern tanzen 15 Kinder. Sie schwenken bunte Tücher in drei Farben: weiß, blau und rot. An einem der Fenster hängt die russische Trikolore. Es spielt ein munteres Kinderlied der Band Wolschebniki dwora (dt. Die Zauberer vom Hof):
„Lass über der Welt wehen deine Fahnen Wir tragen alle deinen stolzen Namen, Russland, wir sind alle deine Kinder, Und das heißt, wir werden siegen!“
Und der Refrain: „Russland, deine Kinder sind wir. Russland, deine Stimmen brauchen wir.“
Dieses Video hat die Redaktion von Olga bekommen. Ihre Tochter Polina (beide Namen auf Wunsch der Mutter geändert) ist fünf und lebt mit ihren Eltern und ihrem großen Bruder in Sankt Petersburg, wo sie die Vorschulgruppe eines staatlichen Kindergartens besucht.
Auf einem anderen Video, das Olga uns schickt, sieht man die Väter in Trainingsanzügen marschieren. Im Hintergrund läuft das Armeelied U soldata wychodnoi (dt. Der Soldat hat heute frei) in der Interpretation des sowjetischen Vokal- und Instrumentalensembles Plamja.
Beide Videos hat die Petersburgerin während einer Feier aufgenommen, die anlässlich des 23. Februars, zum Tag des Vaterlandsverteidigers, im Kindergarten ihrer Tochter stattfand. Nach den Neujahrsferien hatte die Erzieherin in den Elternchat geschrieben, dass es an diesem Tag eine offene Unterrichtsstunde im sportlich-patriotischen Stil geben würde und alle Kinder mit Fliegermütze und tarnfarbenem T-Shirt kommen müssten.
Papa muss in der Armee dienen – und der Sohn auch
Olga war geschockt von dieser Ankündigung und antwortete im Chat, dass sie dagegen sei. Ausnahmslos alle anderen Eltern waren aber dafür und überwiesen dem Elternkomitee Geld für die Mützen.
Polina wollte gerne an der Feier teilnehmen. Um ihre Tochter nicht zu enttäuschen, besorgte Olga eine weiße Mütze und ein blaues T-Shirt und flocht ihr weiß-blaue Bänder in die Zöpfe. „Ich zog sie extra in den Farben der weiß-blauen Flagge an. Ich weiß nicht, ob das irgendwem von den Eltern oder Erziehern aufgefallen ist.“
Die Väter nahmen an den Spielen teil, die Mütter schauten zu und machten Fotos. Alle Aktivitäten drehten sich um das Motto, dass Papa in der Armee dienen muss – und der Sohn auch. Eine der Aufgaben für die Väter bestand darin, anstelle eines Gewehrs einen Fleischwolf auf Zeit zusammenzubauen.
Im Kindergarten Planeta detstwa (dt. Planet der Kindheit) in Ujar bei Krasnojarsk feierte die jüngste Gruppe Karamelki (dt. Bonbons) ebenfalls den 23. Februar. „Die Kinder sagten mit Liebe, Hingabe und Stolz Gedichte über Vaterlandsverteidiger auf, sangen das Lied My soldaty, brawyje rebjata (dt. Wir Soldaten, tapfere Burschen) und spielten mit den Vätern die Spiele Maskirowka (dt. Tarnung), Saminirui pole (dt. Miniere das Feld) und Soberi bojepripassy (dt. Sammle die Munition ein)“, schrieb die Kindergartenleitung in die Gruppe im sozialen Netzwerk VKontakte.
Auch in den älteren Gruppen des Kindergartens fanden solche Veranstaltungen statt. Die Vorschulklasse Zwetnyje ladoschki (dt. Bunte Händchen) bekam Besuch von einem Veteranen des Afghanistan-Kriegs, Juri Prichodkin. „Sowohl die Teilnehmer als auch die Fans (die Mütter) waren ergriffen, und die Jungen wurden motiviert, in den Reihen der russischen Armee zu dienen“, kann man in derselben Gruppe nachlesen.
Lernen, wie man eine Kalaschnikow zerlegt
An einem anderen Tag bekamen die Kindergartenkinder von Angehörigen der Junarmija, der Jugendarmee, gezeigt, wie man eine Kalaschnikow zerlegt.
„Unser Kindergarten will seine Vorschulkinder für die Junarmija begeistern. Den Kindern hat es gut gefallen, wir haben die Vorschulgruppen ausgewählt, weil sie damit schon was anfangen können. Das war eine Vorbereitung auf den Tag des Vaterlandverteidigers. Es war ein Erfolg auf ganzer Linie, die Kinder haben so etwas zum ersten Mal gesehen. Natürlich möchten sie den strammen, tapferen Soldaten nacheifern“, berichtet die Leiterin des Kindergartens, Irina Kossuchowa.
Es gibt da so einen Buchstaben
In den Kindergärten gab es schon Kriegspropaganda bevor in den Schulen die patriotischen Unterrichtsstunden Gespräche über das Wichtige eingeführt wurden. Bereits am 17. März 2022, knapp einen Monat nach Kriegsbeginn, wurden im Dorf Kurtamysch, Oblast Kurgan, erstmals Kindergartenkinder in Z-Form aufgestellt. Im Autonomen Kreis der Chanten und Mansen und in den Oblasten Omsk und Samara mussten die Kinder Bilder von Panzern und Soldaten malen. In Chakassien mussten sich die Kinder allen Ernstes hinknien und Z-Bilder hochhalten. Das Symbol trug die Farben des Georgsbands, daneben stand: „Wir lassen die Unseren nicht im Stich.“
Die Eltern sind oft nicht einverstanden mit solchen Veranstaltungen, aber nicht alle haben den Mut, sich gegen das System zu stellen, besonders nach der Geschichte mit Mascha Moskaljowa, einer Fünftklässlerin, deren Vater wegen einer Antikriegszeichnung seiner Tochter zu zwei Jahren Strafkolonie verurteilt wurde. Eine Lehrerin hatte sich über die Schülerin beschwert. Eine weitere Fünftklässlerin aus Moskau, Warwara Galkina, wurde vom Schuldirektor persönlich denunziert, weil sie die Heilige Javelin vor dem Hintergrund einer blau-gelben Flagge als Profilbild hatte. Warwaras Mutter musste zur Polizei und die Wohnung der Familie wurde einer Hausdurchsuchung unterzogen. Über Denunziationsfälle bei Vorschulkindern ist bisher nichts bekannt, aber das bedeutet nicht, dass man in der Zukunft davor gefeit ist.
Anfang April 2022 beschloss offenbar die Leitung eines Kindergartens in Tscheboksary, dass es mit Bildern und Liedern nicht getan ist, und trug den Kindern und deren Eltern auf, für die russischen Soldaten Geschenke zu sammeln. Auf der Liste standen Schokolade, Kekse und andere Süßigkeiten, außerdem Konserven, Zahnpasta, Zahnbürsten, T-Shirts und Socken.
Diese Kinder werden in dem Glauben aufwachsen, dass sie von Feinden umgeben sind, die sie oder ihre Eltern umbringen wollen
Der Pädagoge und Gründer des Instituts für informelle Bildung Dima Sizer ist überzeugt, dass derartige Propaganda-Veranstaltungen den Kindern einen ungesunden Patriotismus einimpfen können: „Was wir den Kindern im Alter von fünf oder sechs Jahren vorlegen, begleitet sie in der Regel ihr Leben lang. Leider ist es so, dass man Kindern eine bestimmte Einstellung zu Menschen, zu ihrem Land, ihrer Familie einpflanzen kann. Diese Kinder werden in dem Glauben aufwachsen, dass sie von Feinden umgeben sind, die sie oder ihre Eltern umbringen wollen“, sagt Sizer gegenüber der 7×7.
Seit Beginn des Ukraine-Kriegs nimmt die Militarisierung der patriotischen Veranstaltungen und Aktivitäten immer weiter zu. Im Kindergarten Oduwantschik (dt. Pusteblume) in dem burjatischen Dorf Syrjansk gab es eine feierliche Einweihung einer Gedenkecke mit Fotos von im Ukraine-Krieg gefallenen Vätern. An der Eröffnung nahmen Ehefrauen und Verwandte der Soldaten teil.
In der Region Perm zeigten Veteranen, die in Afghanistan und Tschetschenien gekämpft haben, den Kindern, wie man mit Gewehren schießt. In gleich mehreren Kindergärten der Oblast Belgorod bekamen die Kinder Ausmalbilder, auf denen sie Schmetterlingsminen und Gegenstände erkennen sollten, in denen man diese Minen nicht verstecken kann. Das war Teil eines speziellen Leitfadens für Vorschulkinder zum Verhalten bei einem Artilleriebeschuss.
Schmetterlingsminen beziehungsweise PFM-1 sind hochexplosive Minen, die gegen Infanteristen eingesetzt werden. Wer auf eine solche Mine tritt, wird sofort in die Luft gesprengt. Einem Bericht von Human Rights Watch zufolge sollen im ukrainischen Isjum solche Minen sowohl von den russischen als auch von den ukrainischen Streitkräften gelegt worden sein, obwohl ihr Einsatz gegen das völkerrechtlich verankerte Verbot von Antipersonenminen verstößt.
Anstatt den Kindern von alldem zu erzählen, präsentierte man es ihnen in spielerischer Form. In dem Ausmalbuch waren außerdem Übungen zu den verschiedenen Sprengstofftypen und Merkverse wie dieser zu finden:
„Hörst du’s knallen, renne schneller mit den Großen in den Keller“
Diese Leitfäden wurden offenbar erstellt, um die Kinder auf die Lebensrealität im Grenzgebiet vorzubereiten. Die Eltern beschwerten sich, dass man auf diese Weise ihren Töchtern und Söhnen die Kindheit wegnehmen würde.
Glorifizierung von Helden
Die Forschung kennt keine vergleichbaren Beispiele der Militarisierung aus der Zeit des Großen Vaterländischen Krieges. Was jedoch nicht bedeutet, dass die sowjetische Propaganda nicht auch mit Kindern gearbeitet hat, sie ist bloß anders vorgegangen.
In erster Linie erzählte man Kindern, dass alle Kapazitäten an die Front gehen müssten. Stalin sagte: „Das Land muss seine Helden kennen“, und so wurden während des Kriegs Helden glorifiziert – tatsächliche und ausgedachte, wie zum Beispiel die 28 Panfilowzy. Der Historikerin Tamara Eidelman zufolge war der Grundgedanke, dass ein Held jemand ist, der sein Leben „für die Heimat, für Stalin“ hergibt, und zwar ohne mit der Wimper zu zucken, während Stalin als der große Beschützer vor den Faschisten gezeichnet wurde. Zwischen Faschisten und Deutschen wurde ein Gleichheitszeichen gemacht; das wichtigste Gefühl des Sowjetmenschen war der Hass auf sie. Wladimir Putin spricht heute von einer „übermäßigen Dämonisierung Stalins“ und vermittelt die gleiche Idee: Er beschütze Russland vor den „ukrainischen Faschisten“.
So wie sowjetische Kinder Briefe an Veteranen des Zweiten Weltkriegs geschrieben haben, sollen jetzt im Rahmen der Aktion Brief an den Soldaten russische Kinder Briefe an Soldaten verfassen, die in der Ukraine kämpfen. In einem Kindergarten in Ufa wurden dafür Bilder und Grußkarten gebastelt. Von manchen Kindern dort ist der eigene Vater an der Front. In den sozialen Netzwerken beschwerten sich Eltern, dass ihre Kinder gezwungen würden, an der Aktion teilzunehmen.
Die verschiedenen Institutionen des Bildungssystems wählen dabei das Format, das sie für ihre Schützlinge als am besten geeignet und am interessantesten erachten. Ein offizielles Programm, das im ganzen Land einheitlich für den Patriotismus-Unterricht gelten würde, gibt es nicht.
Vor dem 23. Februar 2023 hat es in Polinas Kindergartengruppe keine Militärveranstaltungen gegeben. Die offene Stunde, zu der alle in Fliegermützen kommen mussten, war das erste derartige Ereignis seit Beginn des Krieges. Als Polinas Mutter Olga die Erzieherinnen fragte, warum sie diese Feier überhaupt veranstalten würden, antwortete man ihr, die Kinder der Vorschulgruppe seien jetzt alt genug, „das alles zu wissen“. Olga hält die offene Stunde für eine persönliche Initiative von einer Erzieherin, der sich dann das Elternkomitee angeschlossen habe mit dem Vorschlag, eine Sammelbestellung für die Fliegermützen aufzugeben.
„Ich sagte, meine Tochter braucht keine Mütze, und gab kein Geld dazu“, erzählt Olga.
Ihren Standpunkt hat Olga nicht nur im Elternchat klargemacht, sondern auch direkt gegenüber der Erzieherin. Die reagierte gelassen, aber je näher der 23. Februar rückte, desto öfter fragte sie nach, ob Olga nicht vielleicht doch eine Mütze kaufen wolle. Sie argumentierte, dass die Kinder ohne sie nicht am Wettlauf teilnehmen könnten: Die Jungen und Mädchen sollten bis zu ihrer Fliegermütze rennen, sie aufsetzen und wieder zurückrennen.
Amulettpuppen für die Soldaten an der Front
Solche Veranstaltungen werden immer mehr, und sie nehmen immer kreativere Formen an. Während die Mobilisierten teure Ausrüstung, Visiere, Wärmebildkameras, Quadrocopter, Nachtsichtgeräte und Ferngläser aus eigener Tasche kaufen müssen, beschlossen die Erzieherinnen des Kindergartens Nr. 50 in Sennaja, Oblast Saratow, das Sicherheitsproblem auf ihre Weise zu lösen: Sie ließen die Kinder Amulettpuppen für die Soldaten basteln. „Diese Püppchen sollen den Soldaten positive Energie, Wärme und Schutz vermitteln. Damit alles gut ausgeht und unsere Jungs gesund und munter wieder nach Hause zurückkehren“, liest man in der Ankündigung.
Dima Sizer zweifelt nicht an der Entscheidungsautonomie des Vorschulpersonals: „Eine einheitliche Doktrin wäre zumindest nachvollziehbar, man könnte sie meiden und sich nach anderen Formen der Erziehung umsehen, die es immer noch gibt und die auch im Gesetz verankert sind“, sagt Sizer. „Aber wenn ein Kind aus dem Kindergarten kommt und erzählt, dass eine Erzieherin sich etwas ausgedacht hat, nur weil sie der ganzen Welt vorauseilt in Sie-wissen-schon-was, dann sind wir, verzeihen Sie den Ausdruck, wirklich am Arsch.“
Seit 2012 gab es für das Vorschulalter 21 verschiedene Lehrpläne. Ein Kindergarten konnte selbstständig ein oder mehrere fertige Programme auswählen oder nach dem Muster eines staatlichen Modells sogar selbst eines schreiben. Am 28. Dezember 2022 verabschiedete das Bildungsministerium der Russischen Föderation einen Erlass über das „einheitliche föderale Programm für Vorschulerziehung“. Die Ausarbeitung hat gerade mal einen Monat gedauert. Das Ziel des Dokuments sei „die Schaffung einer einheitlichen Vorschulbildung in Russland“. Der Fokus der Beamten liegt dabei vor allem auf der patriotischen Erziehung, auch vom traditionellen Flaggenhissen ist die Rede. Das Programm soll den Verfassern zufolge den Grundstein für „Staatsbürgerschaft und Patriotismus“ legen.
Noch ist das neue Programm nicht landesweit in Kraft, aber in Nowosibirsk hat man die Eltern bereits vorgewarnt, dass sich ab September 2023 alle staatlichen Kindergärten danach richten werden.
Die Urenkel der großen Sieger
Der gemeinsame Lehrplan wird als Doktrin dargestellt, was eigentlich nicht stimmt. Das Dokument schreibt zum Beispiel nicht ausdrücklich vor, dass die Kinder Z-förmig aufzustellen sind. Laut Dima Sizer ein wichtiges Detail: „Kindergärten und Schulen haben noch immer einen großen Handlungsspielraum. Erziehung funktioniert generell so, dass sie sehr von den Akteuren abhängt. Was im Klassenzimmer passiert, ist immer noch das, was der Lehrer macht, und nicht das, was das Ministerium vorschreibt. Nicht unbedingt der Widerstand des Lehrers, sondern seine Haltung, die Art und Weise, wie er dieses Programm umsetzt.“
Wo die Einen eine Möglichkeit zum Manövrieren sehen, führen die Anderen Befehle von oben aus. So fand Ende April in der Region Krasnodar eine Militärparade statt, an der mehrere Kindergärten aus Jeisk teilnahmen. Die Veranstaltung stand unter dem Motto Wir sind die Urenkel der großen Sieger. Zusätzlich zu den russischen Trikoloren wehte eine rote Flagge mit Hammer und Sichel. Zur Blasmusik marschierten Kinder und Erzieher in den Uniformen der verschiedenen Truppen: Land-, Luft- und Seestreitkräfte. Alle Kinder trugen Uniformen. Bürgermeister Roman Bublik verkündete „den Beginn einer glorreichen Tradition“ – die Parade soll nun jährlich stattfinden.
Julia Galjamina, Politikerin, Bürgerrechtsaktivistin und Mitbegründerin der Bewegung Mjagkaja sila (dt. Soft Power), glaubt, dass auf das Denken in der frühen Kindheit weniger die Propaganda als die Atmosphäre wirkt. Wenn beispielsweise im Kindergarten ein Kult des Sterbens und Tötens propagiert wird, dann beeinflusst das die moralische Entwicklung des Kindes negativ.
Im September 2022 hat die Leitung des Kindergartens Mosaika (dt. Mosaik) in der Region Perm 98.600 Rubel in die Ausarbeitung, Herstellung und Installation von Plakaten und sogenannten patriotischen Ecken im öffentlichen Raum gesteckt. In diesen Ecken kann man die russische Symbolik kennenlernen oder Postkarten aus seiner Heimatregion bewundern.
„Etwas von der Propaganda wird ganz sicher bei den Kindern hängenbleiben“, meint Psychologin Anastassija Rubzowa. „Was genau, können wir nicht vorhersehen. Wir wissen nur, dass Kinder noch mehr als Erwachsene zu Fragmentierung, Polarisierung oder Schwarzweißdenken neigen. Für sie existiert nur der gute Held oder der schlechte Bösewicht, da gibt es keine Grautöne. Die Propaganda festigt diese Polarisierung. Kinder, die damit aufwachsen, neigen auch später dazu, die Realität stark zu vereinfachen, sie künstlich in Schwarz und Weiß aufzuteilen.“
Patriotismus ist für sie unmittelbar mit Militarismus verbunden
Jewgeni Roisman, ehemals Bürgermeister von Jekaterinburg und nun politischer Häftling, sagte bereits 2017 zum Thema patriotische Erziehung: „Plötzlich meinen alle, uns Patriotismus beibringen zu müssen … Sie laufen rum und erklären: Wir sorgen für die militär-patriotische Erziehung der Jugend. Meine Guten, wollt ihr nicht lieber für eine pazifistisch-patriotische Erziehung der Jugend sorgen? Nein, wollen sie nicht, denn Patriotismus ist für sie unmittelbar mit Militarismus verbunden. Das ist eine totale Verdrehung: Sie reden von Heimatliebe, dabei wollen sie in Wirklichkeit kämpfen.“
Nach Ansicht der Psychologin Anastassija Rubzowa wirkt sich Krieg auf Kinder wie auf Erwachsene immer destruktiv aus. Seit Kriegsbeginn in der Ukraine merkt Rubzowa einen sprunghaften Anstieg der Angst. Man wisse nicht, welche Gefahren wann und wo lauern. Die Eltern würden dieses Gefühl auf die Kinder übertragen, die unruhiger werden, schlechter schlafen, schlechter lernen und öfter krank werden, was wiederum den Eltern noch mehr Kummer bereite. Das sei eine Endlos-Spirale.
Die Situation bedrohe nicht nur die Sicherheit der Eltern, sondern auch den psychisch-emotionalen Zustand des Kindes, bei dem die Botschaft ankommt, seine Familie wäre von mehreren feindlichen Ringen umzingelt. Rubzowa erklärt: „Der innere Kreis besteht aus Bekannten, Lehrern, Klassenkameraden, Arbeitskollegen der Eltern, es gibt aber auch einen äußeren Kreis – das ist wohl der furchterregende Westen, das böse Amerika, von dem alle im Fernsehen reden. Das Kind wächst mit dem Weltbild auf: ‚Die Welt ist ein furchteinflößender Ort, an dem man keine Freunde hat.‘ So wird es kaum zu einem kooperativen Erwachsenen werden.“
„Wir Erwachsenen haben unser Land zu dem gemacht, was es jetzt ist. Und wenn wir unsere Kinder auf tickenden Zeitbomben aufwachsen lassen, werden sie traumatisiert sein. Deshalb müssen wir als Erwachsene die Verantwortung dafür übernehmen und die Tragödie, die in der Zukunft passieren kann, minimieren“, sagt Julia Galjamina.
Wir Erwachsenen haben unser Land zu dem gemacht, was es jetzt ist
Was können Eltern tun, um ihre Kinder bestmöglich von der Propaganda abzuschirmen? Auf diese Frage hat 7×7 unterschiedliche Antworten bekommen.
„In den letzten Monaten habe ich öfter ein Beispiel angeführt: Eine Frau kommt von der Arbeit nach Hause und sagt zu ihrem Mann: ‚Mein Chef belästigt mich sexuell. Er hat mir unter den Rock gefasst, aber nur ein paar Mal. Sonst ist er ein netter Chef, und das Büro ist gleich über die Straße.‘ Ich würde mich wundern, wenn der Mann erwidert: ‚Bleib da, sag nichts, es ist doch so praktisch.‘ Warum sagen wir über unsere Kinder: ‚Es wurde ja nur einmal vergewaltigt, ist doch nicht so schlimm, dafür ist der Kindergarten gleich um die Ecke.‘ So kann das doch nicht funktionieren“, sagt Dima Sizer.
Julja Galjamina äußert sich weniger kategorisch. Sie meint, Eltern können und sollen ihren Kindern erklären, dass Menschen eben verschiedene Meinungen haben und sie nicht einverstanden sind mit dem, was im Kindergarten gesagt wird.
Zum 9. Mai bereitet Polinas Kindergartengruppe ein Konzert vor. Diesmal hat die Erzieherin Olga gefragt, ob Polina daran teilnehmen will, und Olga auf ihren Wunsch hin das Programm gezeigt. Die Kostüme sind diesmal keine Tarnanzüge und Fliegermützen, dafür ist ein „Georgsbändchen am Revers (links)“ obligatorisch.
„Das geht halbwegs in Ordnung, keine Zetts und kein Moshem powtorit (dt. Wir können das wiederholen). Ich habe zugestimmt“, sagt Olga.
In Polinas Kindergarten hängen wenigstens keine Zetts, meint Olga. Im Kindergarten ihres Sohnes, den er bis letztes Jahr besuchte, hingen ausgedruckte Plakate mit Schriftzügen wie Sa swoich (dt. Für die Unseren) oder Swoich ne brossajem (dt. Wir lassen die Unseren nicht im Stich). Olga vermutet, dass es eine Initiative der Kindergartenleitung war – die Plakate hingen nicht nur im Gruppenraum, sondern auch am Eingang und im ganzen Gebäude.
Unterstützen die Leute in Russland den Krieg gegen die Ukraine? Das scheint eine zentrale Frage sowohl für Forschende, als auch für Journalistinnen und Journalisten zu sein, die sich mit dem Land beschäftigen. Die renommierte Journalistin Jelena Kosjutschenko gibt eine Antwort darauf: Die Menschen wollen keinen Krieg. Warum? Weil es unmöglich ist, Krieg zu wollen, zum Mörder werden oder selbst sterben zu wollen. Doch Umfragedaten belegen, dass Putin weiterhin über eine hohe Unterstützung unter Russinen und Russen verfügt, was wiederum die Folge einer massiven „medialen Strahlung“ der Propaganda ist. Wie funktioniert die Propaganda und wie trifft sie auch die Menschen, die für sich glauben, gegen Propaganda immun zu sein? Was hat das heutige Russland mit Faschismus zu tun? Und welche Verantwortung tragen die Journalisten der unabhängigen Medien? Darüber hat das russische Projekt Otschewidzy (dt. Augenzeugen) von TV2media mit Jelena Kostjutschenko gesprochen.
TV2.media: Wie hat der Krieg Ihr Leben verändert?
Jelena Kostjutschenko: Ich war 17 Jahre lang bei der Novaya Gazeta. Unsere Zeitung gibt es nicht mehr, ihr wurde die Lizenz entzogen. Ich denke, unter anderem wegen meiner Reportagen aus der Ukraine. Ich kann nicht nach Russland zurückkehren. Ich kann nicht zu meiner Mutter, zu meiner Schwester, meiner Katze. Die wichtigste Veränderung ist jedoch, dass mein Land Menschen tötet, Ukrainer. Ich weiß nicht, ob es irgendein Volk gibt, irgendein Land, das mir näher wäre als die Ukraine. Alle meine russischen Bekannten haben Verwandte in der Ukraine, und alle meine ukrainischen Bekannten haben Verwandte in Russland. Das ist ein so dermaßen unfassbares … ich wollte Verbrechen sagen, aber es ist schlimmer als das. Es gibt keine Worte dafür … Es gibt das Wort Krieg, aber das beschreibt eigentlich nichts. Es werden einfach tagtäglich in meinem Namen Menschen ermordet. Damit zu leben ist sehr schwer.
Spüren Sie eine persönliche Schuld oder Verantwortung für diesen Krieg?
Natürlich. Ich war Journalistin, bin sehr viel gereist, habe sehr viel gesehen. Ich wusste um den Faschismus in Russland. Endgültig klar wurde mir das wahrscheinlich 2015, als das Gesetz gegen „LGBT-Propaganda“ beschlossen wurde und LGBT zum ersten Mal als sozial minderwertig bezeichnet wurde, als sozial minderwertige Bevölkerungsgruppe. Das ist bereits eine faschistische Kategorie, wenn wir die Bevölkerung in Gruppen einteilen und bestimmen, wer einen Platz in der Gesellschaft hat und wer nicht. Dann habe ich in einem psychoneurologischen Internat (PNI) gearbeitet. Das ist ein System von Internierungslagern, in denen Menschen mit psychischen und neurologischen Diagnosen eingesperrt werden. Ihnen werden alle Rechte entzogen, sie werden dort ihr Leben lang festgehalten, bis zum Tod. Ich wusste, dass es bei uns im Land Faschismus gibt, gleichzeitig dachte ich, es genügt, wenn ich meine journalistische Arbeit mache. Tja, ich habe mich wirklich sehr bemüht, aber ein Text kann gegen Faschismus nichts ausrichten, kann keinen Regimewechsel herbeiführen.
Ich habe mich wirklich bemüht, aber ein Text kann gegen Faschismus nichts ausrichten
Irgendwie hatte ich diese illusorische Vorstellung, dass man als Journalist nirgendwo [aktiv] teilnehmen dürfe … Natürlich habe ich an Protestaktionen teilgenommen, das schon, aber erstens nicht so oft, wie ich gekonnt hätte, und zweitens … Ich glaube, es ist mittlerweile für jeden offensichtlich, oder? 2022 mit hübschen Plakaten auf die Straße zu gehen — damit ändert man nichts am Regime.
Ja, natürlich fühle ich mich verantwortlich, und natürlich weiß ich, dass ich sehr viel mehr hätte tun können, aber irgendwie war mir mein Komfort wichtiger, oder vielmehr habe ich keine Katastrophe erwartet. Einen solchen Krieg habe ich nicht für möglich gehalten. Nicht einmal 2014, nicht einmal, als Russland am 24. Februar in der Ukraine einmarschiert ist. Als ich meine Tasche packte, um für Recherchen in die Ukraine zu fahren, da nahm ich einen Pullover mit, Unterwäsche, Socken, Reservejeans, einen Schutzhelm, einen Vorrat an Medikamenten für eine Woche und sagte zu meiner Freundin: „Das kann höchstens ein paar Tage dauern“.
Natürlich fühle ich mich verantwortlich, und natürlich weiß ich, dass ich sehr viel mehr hätte tun können, aber irgendwie war mir mein Komfort wichtiger, oder vielmehr habe ich keine Katastrophe erwartet
Warum unterstützen in Russland so viele den Krieg?
Ich kenne in Russland niemanden, der den Krieg unterstützt. Ich kenne Leute, die diesen Krieg für gerecht und unvermeidlich halten. Aber nicht einmal die wollen Krieg. Worauf beruht unser Optimismus, abgesehen von dem biologischen Gefühl, dass alles vorbeigeht, alles gut wird? Niemand wollte Krieg, die Menschen wollten keinen Krieg. Es ist ja eigentlich unmöglich, Krieg zu wollen, zum Mörder werden oder sterben zu wollen. Manche Leute glauben einfach, dass wir nicht die ganze Wahrheit wissen, dass unsere Regierung einen sehr triftigen Grund haben muss, solche entsetzlichen Verbrechen zu begehen. Manche wiederum fühlen sich einfach nicht in der Lage, dem Krieg etwas entgegenzusetzen. In Russland zu leben bedeutet sehr oft, sich machtlos zu fühlen.
Warum glauben die Leute Putin?
Dafür wird ja sehr viel Aufwand getrieben, von sehr klugen, begabten, zielstrebigen Menschen mit einem gigantischen Budget. Unsere Propaganda ist ein Phänomen, ich weiß gar nicht, womit man das vergleichen könnte. Während meines Studiums schrieb ich eine wissenschaftliche Arbeit über Propaganda im Dritten Reich und dachte, das sei ein historisches Thema. Ich fand das alles schrecklich interessant, aber ich hätte nie gedacht, dass ich dieses Wissen tatsächlich einmal brauchen könnte. Aber unsere Propaganda stellt selbst Goebbels in den Schatten. Goebbels hatte nur den Rundfunk und die Zeitungen. Wir haben Radio, Zeitungen, Internet, Soziale Netzwerke, Fernsehen – ein gigantisches, enorm mächtiges Rüstzeug zur Einflussnahme. Ganz neue Technologien, ganz neue Narrative.
Unsere Propaganda stellt selbst Goebbels in den Schatten
Mich amüsiert es, wenn Leute, vor allem aus der Bildungsschicht, sagen: „Wir lassen uns nicht von der Propaganda beeinflussen“. Die Propaganda erwischt alle. Sie verfolgt einfach mehrere Ziele. Das Hauptziel der Propaganda ist natürlich, alle davon zu überzeugen, dass Putin recht hat. Aber wenn das zum Beispiel nicht gelingt, dann versucht sie eben zu überzeugen, dass alles nicht so eindeutig ist, nach dem Motto: „In manchen Punkten hat er recht, in manchen nicht. Wir kennen ja nicht die ganze Wahrheit.“ Wenn auch das nicht funktioniert, will sie dich überzeugen, dass dein Leben zerstört wird, wenn du dich widersetzt. Hier schaltet sich der Repressionsapparat ein, der mit jedem Tag brutaler wird. Gerade erst wurde jemand wegen zwei Kommentaren im Internet zu sieben Jahren Haft verurteilt. Wenn auch diese Strategie nicht aufgeht, dann reden sie dir ein, dass du allein bist, dass nur du so denkst. Sonst niemand. Und wenn das nicht gelingt, dann machen sie dir klar, dass du nichts dagegen tun kannst. Zusammengenommen funktioniert das. Es wirkt einfach alles auf unterschiedlichen Ebenen.
Kann man die Leute umstimmen, die vom Fernsehen „verstrahlt“ sind?
Man muss. Meine Mutter sieht zum Beispiel fern. Soll ich etwa meine Mama Putin überlassen? Das wird nie passieren. Ich hab sie gern, sie hat mich gern, und wir reden jeden Tag miteinander. Nicht immer erfolgreich. Manchmal unterhalten wir uns fünf Minuten, dann sagt sie: „Ich kann nicht mehr weiterreden“. Dann reden wir zwei Tage nicht über den Krieg, bis sie sagt: „Lass uns reden“ und wir wieder fünf Minuten reden. So bewegen wir uns ganz langsam aufeinander zu.
Meine Mutter ist 75 Jahre alt. Sie liebt ihr Land, und ich liebe es auch. Aber ich möchte, dass sie begreift, dass ihr geliebtes Land ein Mörder ist
Wir müssen außerdem verstehen, dass das Angst macht. Wir verlangen von den Leuten eine schreckliche Erkenntnis. Meine Mutter ist 75 Jahre alt, sie war eigentlich Chemikerin, aber in den Neunzigern, als für die Wissenschaft kein Geld da war, wurde sie Lehrerin, sie unterrichtete Kinder. Sie ist wirklich ein sehr guter, kluger Mensch. Sie liebt ihr Land, und ich liebe es auch. Aber ich möchte, dass sie begreift, dass ihr geliebtes Land ein Mörder ist. Dass in ihrem Land Faschismus herrscht. Derselbe Faschismus, den ihr Vater im Krieg besiegt hat. Dass sie jahrzehntelang Lügen aufgesessen ist. Sie wurde belogen und hat alles geglaubt. Und in ihrem Namen werden Menschen getötet. Das mit 75 Jahren zu begreifen – wie soll das gehen? Aber jede noch so entsetzliche Wahrheit ist besser als die Lüge. Weil mit Lügen Morde vertuscht werden. Wir alle sind Mittäter dieser Morde. Ob stillschweigend oder nicht, Mittäter sind wir. Dieses Lügenkonstrukt müssen wir um jeden Preis durchbrechen, auch wenn es sehr schmerzhaft ist.
Wir alle sind Mittäter dieser Morde
Oft wird Putins Regime mit einer Sekte verglichen, von der man nicht mehr loskommt. Wie gerechtfertigt ist dieser Vergleich?
Es gibt durchaus Gemeinsamkeiten. Vor allem das sogenannte Prinzip der narzisstischen Verführung. Damit locken totalitäre Sekten Menschen an. Das funktioniert so, dass sie einem sagen: „Eigentlich bist du gut. Sogar sehr gut, du bist kein Versager. Du bist nicht schwach, nicht willenlos, nicht dumm. Aber du hast es schwer, stimmt’s? Stimmt, ja. Und weißt du, warum du es so schwer hast? Weil die Menschen um dich herum dir schaden, sie sind deine Feinde. Aber wie gut, dass du zu uns gefunden hast, wir werden dich lieben, dich unterstützen, uns um dich kümmern. Wir werden dir sagen, was du tun und wie du leben sollst.“ Genau das macht die Propaganda: „Russland ist frei von Sünde. Russland kann überhaupt keinen Schaden anrichten.“
Bei meiner Arbeit in der Ukraine war ich in der Abteilung für Gerichtsmedizin in Mykolajiw, wo die Leichen hingebracht werden. Dort habe ich viel Zeit verbracht. Die Leichen lagen einfach übereinandergestapelt, weil die ukrainischen Leichenschauhäuser nicht auf solche Mengen ausgerichtet sind. Sie lagen auf dem Boden, in der Garage, die dafür geräumt wurde, sie lagen in den Kühlräumen aufgeschichtet übereinander. In einem lagen auf einem Haufen die Leichen von zwei Mädchen, zwei Schwestern von siebzehn und drei Jahren. Arina Butym und Veronika … Sie wurden durch Splitter getötet, als Mykolajiw beschossen wurde.
Meine Mutter rief mich täglich an und versuchte mir zu erklären, was passiert, was ich da eigentlich sehe. Ich sagte immer: „Lass es einfach“, aber sie versuchte es immer wieder. Und ich sage: „Mama, ich habe heute tote Kinder gesehen. Tote Kinder, sie wurden getötet.“ Und sie sagt: „Das können keine russischen Soldaten gewesen sein. Das kann nicht sein. Na hör mal! Wie denn?“ Als Butscha geschah, schrie sie mich einfach am Telefon an: „Nein! Nein, unmöglich! Unmöglich!“ Es ist entsetzlich zu akzeptieren, sich einzugestehen, dass russische Soldaten so etwas tun können. Und auch früher schon getan haben. In Tschetschenien, in Syrien. Sie haben es getan. Viele, viele Jahre lang wurde die Idee des unschuldigen Russlands, die Idee, dass wir immer im Recht waren, dass wir keine historische Schuld tragen, dass unser Land niemals einen Fehler begangen hat, die wurde so richtig in die Köpfe eingehämmert.
Ich sage: ,Mama, ich habe heute tote Kinder gesehen. Tote Kinder, sie wurden getötet.‘ Und sie sagt: ,Das können keine russischen Soldaten gewesen sein‘
Das ist ja auch wirklich ein schöner Gedanke. Stellen Sie sich mal vor: Man lebt so vor sich hin und hat das Gefühl, einem absolut gerechten Staat anzugehören, der in seiner ganzen Geschichte niemals etwas Böses getan hat. Das ist einfach toll! Manche Behauptungen der Propaganda widersprechen ja sogar dem offiziellen Geschichtsunterricht, das wundert mich schon. Zum Beispiel die Behauptung, Russland beginne keine Kriege, sondern beende sie. Das stimmt ja nicht. Wir haben sehr viele Kriege begonnen. Genau wie viele andere Länder auch. Aber nein, da ist auf der einen Seite das trockene Geschichtsbuch, das übrigens momentan umgeschrieben wird, und auf der anderen Seite haben wir großartig konzipierte Sendungen mit Analysen, ganz bunte, kitschige Filme darüber, was für ein makelloses Land und was für ein unglaubliches Volk wir sind, ganz anders als die anderen. Das wurde alles sehr, sehr lange vorbereitet, man kann nicht sagen, dass alles ganz plötzlich am 24. Februar passiert ist. Es geschah für uns plötzlich, weil wir … Ich spreche mal für mich: weil ich eine dumme, faule Optimistin war.
Wovor haben Sie am meisten Angst?
Dass Russland diesen Krieg gewinnt. Das würde den Tod für mein Land bedeuten. Es gibt nichts Ungeheuerlicheres als einen Sieg in einem ungerechten Krieg. Wenn Russland diesen Krieg gewinnt, wird das die absolute Zerstörung. Damit meine ich nicht die vielen Menschen, die noch sterben werden, bis Russland siegt. Das wird die absolute Zerstörung unserer nationalen Identität. Das lässt den Faschismus erst recht erblühen. Auf diesen Krieg wird der nächste Krieg folgen, weil Faschismus immer expansiv ist. Es werden noch mehr Menschen sterben, das wird ein Schrecken ohne Ende. Das ist es, wovor ich am meisten Angst habe.
Es gibt nichts Ungeheuerlicheres als einen Sieg in einem ungerechten Krieg. Wenn Russland diesen Krieg gewinnt, wird das die absolute Zerstörung
Wie sehen Sie die Zukunft Russlands?
Ich glaube, dass es eine Zukunft gibt, dass wir nicht verschwinden werden. Aber was passiert ist, kann man nicht mehr rückgängig machen. Es gibt keine Wiedergutmachung, nichts kann die Toten wiedererwecken. Aber ich glaube, wir werden die Möglichkeit haben, zu begreifen, was wir angerichtet haben, und irgendwie damit weiterzuleben. Und natürlich werden wir schon andere sein, wenn wir das begreifen, und das Leben wird ein anderes sein, sonst gibt es einfach nur … Auslöschung. Ich glaube, wir werden alle sehr viel arbeiten müssen, sowohl jetzt als auch später. Für Selbstmitleid ist da keine Zeit. Ich bin 35 Jahre alt, und ich frage mich, ob mein Leben ausreichen wird. Womöglich nicht. Aber ich glaube, wir müssen jetzt alle sehr viel arbeiten und sehr lange leben. Das wird kein einfaches Leben sein, aber immerhin ein Leben.
„YouTube ist die Informationspest unserer Zeit“ – postete Jewgeni Prigoshin Mitte Januar 2023 auf seinem Telegram-Kanal. Der Chef der berüchtigten Söldnergruppe Wagner behauptete, dass 40 Prozent der Videos auf dieser Plattform gegen Russland gerichtet seien.1 Jeder, so Prigoshin, der sich gegen die Schließung von YouTube stelle, sei ein „Volks- und Landesverräter“. Derartige Drohungen einer baldigen Blockierung von YouTube in Russland sind nicht neu, wurden bisher allerdings nie wahrgemacht. Seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine ist es jedoch wahrscheinlicher geworden, dass Russland die populäre Videoplattform – analog zu westlichen sozialen Medien wie Instagram, Twitter und Facebook – blockieren könnte.
Das Noch-Offenhalten der Plattform wird häufig mit ihrer Popularität begründet:2 Mit über 90 Millionen Nutzerinnen und Nutzern monatlich ist YouTube in Russland überaus beliebt und liegt klar auf Platz eins der Video- und Streamingplattformen.3 Im Unterschied zur Online-Filmdatenbank kino.poisk und zum Online-Fernsehkanal rus-tv.su zeichnet sich YouTube durch seine Breite aus, da es neben privatem Content auch journalistische Beiträge zulässt. Dieses Alleinstellungsmerkmal sowie die Beliebtheit sind jedoch nur zwei der zahlreichen Gründe, warum YouTube bis heute in Russland noch frei zugänglich ist. Tatsächlich spielt die Videoplattform in der russischen Medienwelt eine komplexe Rolle bei der Informationsvermittlung – auch für die russische Staatsführung selbst.
Im gesamten Jahr 2022 hat die russische Medienaufsichtsbehörde mehr als 300 Medien blockiert und über 150 Journalistinnen und Journalisten zu „ausländischen Agenten“erklärt.4 Mit einem Paket an Gesetzen hat die russische Regierung zudem dafür gesorgt, dass die Zensur in den staatlich kontrollierten Medien de facto verankert wurde, obwohl diese in Russland laut Verfassung verboten ist. Angesichts der Repressionen gegen die letzten unabhängigen russischen Medien kann YouTube gegenwärtig als eine der wenigen noch zugänglichen Bastionen der freien Meinungsäußerung in Russland bezeichnet werden. Sofern sie nicht aufgegeben haben, wechselten die verbliebenen liberalen und oppositionellen Medien mit ihren Formaten auf die Videoplattform und bauten ihre Kanäle zum Teil ganz neu auf. Dazu gehört der bekannte Radiosender Echo Moskwy, der seit Mitte März 2022 mit dem YouTube-Kanal Shiwoi gwosd (dt. Lebender Nagel) in reduzierter Form weiter existiert. Der Sender war zuvor über Nacht geschlossen worden.
Spätestens seit dem Jahr 2014, in dem das Staatsfernsehen in Russland immer mehr zu einem reinen Sprachrohr der Propaganda mutiert ist, wurde YouTube zu einer alternativen Informationsressource. Der Angriffskrieg gegen die Ukraine hat diese Tendenz verstärkt. Dies gilt insbesondere für die jüngere Generation, die kaum noch Fernsehen guckt5 und die Plattform gleichermaßen zur Information und Unterhaltung nutzt. Auf YouTube findet beispielsweise der oppositionelle Online-Fernsehsender Doshd Platz, der dort bereits seit 2010 einen Kanal besitzt. Nach Beginn des Krieges hatte die Redaktion zwischenzeitlich ihre Kanäle auf allen Plattformen deaktiviert. Der Sender sah sich durch die neue Zensurgesetzgebung gezwungen, die Arbeit einzustellen. Erst seitdem die Medienschaffenden im Exil sind, streamt Doshd sein Programm wieder über YouTube. Dies geschieht unter erschwerten Bedingungen, weil sich das Team auf verschiedene Fluchtländer aufteilt und es Probleme mit der Sendelizenz gab.
„Neues Fernsehen“
YouTube wird in Russland bereits seit längerer Zeit als „neues Fernsehen“6 charakterisiert, da es Programme zeigt, die im Staatsfernsehen nicht mehr geduldet werden. Alexej Piwowarow, ein ehemaliger Journalist des früheren russischen Staatssenders NTW, beschrieb die Besonderheit von YouTube 2019 folgendermaßen: „Hier gibt es das, worin wir gut sind – Qualitätsjournalismus.“7
Auf seinem YouTube-KanalRedakzija widmet sich Piwowarow in analytischen Sendungen oder Spezialreportagen aktuellen Themen, die im Staatsfernsehen entweder verschwiegen oder falsch dargestellt werden. Neben diesen zwei Formaten gibt es auf seinem Kanal auch Dokumentarfilme, die auf YouTube allgemein ein beliebtes Genre sind. Zu den am weitesten verbreiteten und populärsten Genres zählt das Interview, für das neben Piwowarow auch zahlreiche weitere YouTuber und YouTuberinnen aus Russland bekannt sind, darunter Katerina Gordejewa (Skashi Gordejewoi), Irina Schichman (A pogoworit?), Xenia Sobtschak (Ostoroshno: Sobtschak!) und Ilya Varlamov (varlamov). Letzterer hat Russland noch 2021 verlassen – alle anderen sind nach Beginn des russischen Angriffskriegs ebenso ins Exil gegangen.
Das bekannteste und erfolgreichste Interview-Projekt des russischen YouTube ist mit über zehn Millionen Abonnenten jedoch vDud, das der ehemalige Sportjournalist Juri Dud im Februar 2017 gestartet hat. An seinem Beispiel wird deutlich, warum YouTube auch als „Territorium der Freiheit“ bezeichnet wird: Juri Dud hält sich nicht an sprachliche Konventionen, lädt Gäste mit verschiedenen Ansichten und Einstellungen ein und spricht über „politisch brisante und gesellschaftlich tabuisierte Themen“8. Der Kanal vDud sowie die genannten anderen YouTube-Kanäle bieten somit Orte der Vielfalt und Meinungspluralität. Damit bilden sie einen krassen Gegenpol zum alles dominierenden und seit Kriegsbeginn von Propaganda überfluteten Staatsfernsehen.
Plattform des Protests
Obwohl YouTube bereits 2005 gegründet wurde, etablierten sich russische oppositionelle Politikerinnen und Politiker sowie Aktivistinnen und Aktivisten dort erst relativ spät. Seit den Massenprotesten 2011 bis 2013 wurde YouTube jedoch immer wichtiger für kritische Stimmen. Wie schnell pikante Informationen dort ein breites Publikum erreichen können, zeigte sich besonders deutlich im Jahr 2017 an dem 50-minütigen Dokumentarfilm On wam ne Dimon. Das Video hatte am dritten Tag nach Erscheinen bereits über 5,5 Millionen Aufrufe (46 Millionen bis heute). Als direkte Reaktion brachen in Russland landesweit Proteste gegen die Korruption der Eliten aus und die Demonstrierenden forderten unter dem Slogan „Dimon otwetit“ den Rücktritt des damaligen Ministerpräsidenten Dimitri Medwedew. In dem Film zeichneten der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny und sein Team nach, dass Medwedew der eigentliche Eigentümer verschiedener Immobilien in Milliardenhöhe sei, die auf dem Papier jedoch angeblich gemeinnützigen Stiftungen gehören.
On wam ne Dimon war jedoch nicht das einzige Enthüllungsvideo, das Nawalnys Antikorruptionsfonds FBK über Missstände in Regierungskreisen veröffentlicht hat. Die Plattform wurde zu Nawalnys wichtigstem Kanal, um seine Botschaften an ein Millionenpublikum zu bringen. Bis zu seiner Verhaftung im Januar 2021 nutzte der inzwischen weltweit bekannte Aktivist YouTube zugleich für den öffentlichen Schlagabtausch mit Vertretern der Staatsmacht. Im Staatsfernsehen waren ihm unterdessen Auftritte verwehrt; Wladimir Putin sprach öffentlich nicht einmal seinen Namen aus.
Ideologisches Kampfmittel
Für staatliche Medien, linientreue Journalistinnen und Journalisten sowie staatsnahe Portale ist das Verhältnis zu YouTube ambivalent. Seit vielen Jahren sind sie auf die Plattform angewiesen, auch wenn alles Westliche in zahlreichen Statements der staatlichen Propagandamaschinerie verteufelt wird. Um sich davon abzusetzen, wurde bereits 2006 ein Videoportal in russischer Sprache ins Leben gerufen, das sogenannte RuTube. Allerdings kann die russische Plattform, die Gazprom-Media gehört, mit seinen rund 16 bis 21 Millionen monatlichen Nutzerinnen und Nutzern nicht mit seinem US-amerikanischen Pendant mithalten: YouTube hat rund fünf Mal so viele Userinnen und User pro Monat. Deshalb hatten die wichtigsten staatlichen Fernsehkanäle Russlands sowie einzelne Shows und Moderatoren lange Zeit eigene Kanäle auf YouTube. Damit konnten sie ihre Reichweite vergrößern und die Videoplattform als „ideologisches Kampfmittel“9nutzen. Bestes Beispiel dafür ist RT, das seit 2007 auf der Plattform aktiv war und in verschiedenen Sprachen – darunter Englisch, Arabisch, Spanisch, Deutsch, Französisch, Chinesisch und Russisch – ein breites Publikum erreichte.
Mit der großflächigen Invasion in die Ukraine vervielfachte sich die russische staatliche Propaganda und Desinformation auf YouTube. Kurz nach Kriegsbeginn, am 11. März 2022, blockierte YouTube daher europaweit vom russischen Staat finanzierte Kanäle, darunter RT, Sputnik sowie die Kanäle der Informationsagentur Rossija segodnja10. Damit reagierte das Unternehmen auf das in der EU verhängte Verbot russischer Staatsmedien. Im Mai 2022 löschte YouTube mehr als 9.000 Kanäle und 70.000 Videos, die in Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine standen, darunter auch Videos, in denen der Krieg als „Befreiungsmission“ beschönigt wurde. Außerdem entfernte YouTube die Accounts von Einpeitschern des Kreml wie jenen von Wladimir Solowjow.
Auch wenn die russischen Propagandisten und Staatsmedien nun vermehrt auf anderen Kanälen aktiv sind und beispielsweise über Telegram ein Millionenpublikum erreichen, finden sie auf YouTube nach wie vor einen Weg, um ihre Videos zu verbreiten. So hat RT einfach sein Logo in den Videos entfernt und verteilt seinen Content nunmehr auf mehr als 100 andere Kanäle, die immer wieder wechseln.11
Russlands breit angelegte Desinformationskampagne geht somit nach wie vor auch auf YouTube weiter. In diesem Sinne ist auch die Antwort des Ministers für Digitale Entwicklung, Maksut Schadajew, auf die eingangs zitierte Forderung des Wagner-Chefs Prigoshin nach einer Schließung von YouTube in Russland zu verstehen: Schadajew entgegnete im Januar 2023 zum wiederholten Mal, dass YouTube „ohne ernsthafte Gründe“ nicht blockiert werde, da es keine konkurrenzfähige vergleichbare Plattform gebe.12 Neben dem Fehlen einer ernsthaften Alternative wäre vermutlich der Aufschrei bei einem Verbot der Plattform groß – ist YouTube doch viel populärer und weit stärker frequentiert als beispielsweise Instagram oder Twitter. Zudem wird die westliche Videoplattform in Russland in erster Linie zur Unterhaltung genutzt.13YouTube stellt somit kaum eine politische Gefahr für die russische Staatsmacht dar – im Gegenteil: Die russische Propaganda findet trotz Verboten und Sperren weiterhin Möglichkeiten, um die westliche Plattform erfolgreich für ihre Zwecke zu nutzen.
Binder, Eva (2019): Kremlnah vs. kremlkritisch: Mediendiversität trotz Lenkung in Russland, in: Holzmann, K.; Hug, T. & Pallaver, G. (Hg.): Das Ende der Vielfalt? Zur Diversität der Medien. Innsbruck, 115–129. Hier S. 125 ↩︎
Fuchs, C. (2019): Öffentlichkeit im Digitalen Kapitalismus, in: Holzmann, K.; Hug, T. & Pallaver, G. (Hg.): Das Ende der Vielfalt? Zur Diversität der Medien. Innsbruck, 49–66. Hier S. 59 ↩︎
Seit einem Jahr versucht Russland, die Ukraine in einem offenen Angriffskrieg zu unterwerfen. Nach einem massiven Truppenaufgebot entlang der ukrainischen Grenze hatte man im Kreml offenbar mit einem eingeschüchterten Gegner und einem schnellen Durchmarsch bis Kyjiw gerechnet. Doch es kam alles anders: Bereits im März 2022 musste sich die russische Armee aus den Gebieten um die ukrainische Hauptstadt zurückziehen, im Herbst konnte die Ukraine – insbesondere mit Hilfe von Waffenlieferungen der westlichen Verbündeten – große Teile der Oblaste Charkiw und Cherson zurückerobern und leistet weiter massiven Widerstand.
Auf Meduza blickt Maxim Trudoljubow zurück auf dieses Jahr des Schreckens und bilanziert, dass sich die Angst als eine außenpolitische Ressource für Moskau weitgehend erschöpft habe, im Inland jedoch nach wie vor die gewünschte Wirkung zeige.
Zu Beginn des Krieges erwarteten Präsident Putin und seine Berater einen schnellen Erfolg mit wenig Krafteinsatz – Widerstand der Ukraine war jedenfalls nicht eingeplant. Die ukrainische Gesellschaft und vor allem die politische Führung der Ukraine, so hoffte man im Kreml, würde sich von der Truppenzusammenziehung an der Grenze einschüchtern lassen – und später dann vom Einmarsch, der gleich aus mehreren Richtungen erfolgte. Immer wieder erklären Militärexperten, die russische Armee sei nicht stark genug, ukrainisches Territorium zu erobern und zu halten. Mittlerweile belegen nicht nur Hinweise, sondern handfeste Fakten, dass Russland keinen langwierigen Krieg geplant und gehofft hatte, die Ukraine in Schockstarre einzunehmen. Der Sieg in der Ukraine hätte ein „moralischer“ werden sollen, errungen nicht durch Gewalt, sondern durch Demonstration von Stärke.
Putin konnte den Widerstandswillen der Ukraine nicht brechen – trotz Tod und Zerstörung
Trotzdem ist die russische Armee fähig, der Ukraine in enormem Ausmaß Tod und Zerstörung beizubringen. Da es Putin nicht gelungen ist, den Widerstandswillen der Ukraine zu brechen, nachdem er also eine moralische Niederlage davongetragen hat, setzt er auf materielle Zerstörung und auf Zermürbung. Daten der UNO zufolge gibt es bereits 18.000 zivile Todesopfer, bis zu 50 Prozent der Energie-Infrastruktur sind zerstört oder beschädigt. An die 40 Prozent der Gesamtbevölkerung sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Vor dem Hintergrund dieser von Russland verursachten humanitären Katastrophe ist die Furchtlosigkeit der Ukrainer erstaunlich.
Das vergangene Jahr hat gezeigt, wie wichtig es für Russland in seinen internationalen Beziehungen war, einen starken Eindruck zu machen. Russlands Potenzial brachte andere Länder dazu, Russland zumindest in Fragen der Sicherheit und Energieversorgung ernst zu nehmen, ja sogar auf Russland zu zählen. Indem es diesen Eindruck erweckte, verfügte Russland über eine Wirkmacht, die mehr auf einer Erwartung denn auf Tatsachen beruhte. Das ist jene Art von Macht, die nur so lange wirkt, bis sie vor der Wirklichkeit standhalten muss.
Auch in seinem Energiekrieg gegen Europa setzt der Kreml auf Einschüchterung. Die Europäer hätten sich vor dem Zudrehen des Gashahns fürchten, ihre Abhängigkeit einräumen und um Wiederaufnahme der Gaslieferungen bitten sollen. Den Export von Gas nach Europa hat Russland nicht beschränkt, weil es unter Druck stand, nicht wegen der Sanktionen, sondern freiwillig, um etwas in der Hand zu haben, womit es seinerseits eine Aufhebung der Sanktionen erzwingen kann. Ende September wurde der zu diesem Zeitpunkt bereits minimierte Export über die Pipeline Nord Stream 1 aufgrund einer Sprengung der Rohre vollends eingestellt. Der Kreml schiebt den Anschlag auf die Rohre England und Amerika in die Schuhe, die USA – dem Kreml. Europäische Beamte sprechen von einer möglichen Sabotage, mit unausgesprochenem Verweis auf Russland. Bisher konnte keine der Versionen bewiesen werden.
Europa hat nicht gefroren – trotz 88 Prozent weniger Gas aus Russland
Jedenfalls wurde der Export russischen Gases im ersten Kriegsjahr um 45 Prozent verringert, der nach Europa sogar deutlich mehr, nämlich um 88 Prozent. Dabei hat Europa nicht gefroren, sondern hat es geschafft, in Rekordzeit einen Teil durch Flüssiggas zu ersetzen und das, was bereits eingelagert war, effizienter zu nutzen. Begünstigt wurde das durch volle Speicher (unter anderem mit schon früher aus Russland bezogenem Gas) und einen milden Winter. Anfang Januar kehrte der Gaspreis am europäischen Handelspunkt TTF auf Vorkriegsniveau zurück. Außerdem hat Deutschland sich schleunigst in Wilhelmshaven ein eigenes Flüssiggas-Terminal zugelegt, das auch bereits in Betrieb ist. Vor dem Krieg gab es kein solches Terminal, weil Politik und Industrie in Deutschland jahrzehntelang von langfristigen, verlässlichen Lieferungen aus Russland ausgingen.
Eine Rückkehr zum früheren gegenseitigen Vertrauen und einer dementsprechenden Kooperation mit Europa und dem Westen wird es in der Energieversorgung nicht mehr geben, auch nicht, wenn die gesprengten Leitungsrohre repariert werden. Der Energiekrieg ist natürlich noch lange nicht beendet, und der nächste Winter kann für Europa schwieriger werden als der aktuelle, allein schon deswegen, weil die Auffüllung der Speicher mit unvorhersehbar teurem Flüssiggas mehr kosten wird als das billige Erdgas. Aber in welche Richtung es geht, ist entschieden: Laut dem Jahresbericht der Internationalen Energieagentur hat der Krieg den Übergang der größten Länder zu erneuerbaren Energien immens beschleunigt. Obwohl sie noch nicht vorherrschen, werden sie größtenteils den wachsenden Energieverbrauch tragen. Der Anteil Russlands am weltweiten Erdöl- und Erdgasmarkt wird diesen Berechnungen zufolge bis zum Jahr 2030 um 50 Prozent zurückgehen und kaum jemals wieder auf das Vorkriegsniveau zurückkehren. Infolge des eigenen Handelns wird Russland langfristig keine Energie-Supermacht mehr sein.
Drohung mit Atomwaffen – als einseitiger Angriff von seiten Putins
Der Faktor Angst hätte auch nach Russlands Drohung mit Atomwaffen Wirkung zeigen sollen. Die vielen zuweilen mehr, zuweilen weniger kreativen Äußerungen zu diesem Thema lassen sich so zusammenfassen: Einerseits kann Russland gemäß seiner Militärdoktrin Atomwaffen nur einsetzen wenn es als Staat von außen mit einer Aggression und Bedrohung konfrontiert ist; andererseits kann Russland auch selbst damit anfangen. Bei einem Treffen mit dem UN-Menschenrechtsrat erklärte Putin, im Grunde könne auch von Seiten Russlands die nukleare Bedrohung eskalieren:
„Zum Thema, dass Russland auf keinen Fall als erstes [Atomwaffen] einsetzen wird. Wenn es sie tatsächlich unter keinen Umständen als erstes einsetzt, dann wird es sie auch nicht als zweites einsetzen. Denn nach einem nuklearen Angriff auf unser Staatsgebiet werden unsere Einsatzmöglichkeiten stark begrenzt sein.“
Stark verkürzt ist das Putins „Philosophie“, mithilfe derer er sich und anderen erklärt: Wäre Russland nicht in die Ukraine (den Westen) einmarschiert, so hätte der Westen, vertreten durch die Ukraine, Russland angegriffen. Indem Russland den Krieg begonnen hat, versuche es ja nur, ihn zu beenden.
Behalten wir diese Formulierungen im Hinterkopf und sehen uns an, inwieweit sich die jetzige Situation von gefährlichen Scheidewegen in der Geschichte unterscheidet. Das heutige Russland ist in einer anderen Position als die USA 1945, als sie die Atombombe auf Japan warfen. Das Aggressor-Land Japan war am Verlieren, während die USA eine führende Rolle in der siegreichen Anti-Hitler-Koalition innehatten. Später veröffentlichte Dokumente haben gezeigt, dass die Bomben, die über Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurden, den Ausgang des Krieges kaum beeinflussten und vielmehr eine Machtdemonstration waren, die über 200.000 Zivilisten das Leben kostete.
Auch mit der atomaren Konfrontation des Kalten Krieges hat die heutige Situation keine Ähnlichkeit. Die Nervenduelle während der Kubakrise 1962 und während des Able-Archer-Manövers 1983 entstanden durch die Intransparenz der Handlungen beider Parteien und durch Befürchtungen, das Gleichgewicht des Schreckens zwischen den beiden Supermächten könnte aus dem Lot geraten. In beiden Fällen hatten die Parteien Angst, der Gegner könnte Oberhand gewinnen oder sogar den „finalen“ Krieg beginnen. 1962 hegte die US-Regierung den Verdacht, die UdSSR bereite von Kuba aus einen Atomschlag gegen Amerika vor. 1983 wiederum glaubte die Sowjetunion, dass die westlichen Staaten unter dem Deckmantel von Militärübungen von westeuropäischem Territorium aus einen Atomschlag gegen die UdSSR vorbereiten.
„2022 versucht Putin nicht, ein ins Wanken geratenes Gleichgewicht des Schreckens mit den USA auszugleichen, denn dieses Gleichgewicht war ja jetzt nicht in Gefahr“, schreibt Fiona Hill, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Brookings Institution und ehemalige Beraterin mehrerer US-Präsidenten. „Stattdessen droht Putin mit einem einseitigen Angriff, weil er einen Krieg verliert, den er selbst begonnen hat.“
Heutzutage sind dank hochentwickelter Technologien, darunter nachrichtendienstlichen, alle Pläne und Truppenbewegungen transparent. Der Versuch der Manipulation mit Ängsten aus der Vergangenheit ist so durchschaubar, dass sie weniger erschaudern lässt als in früheren Situationen. Die westlichen Gegner in Schockstarre zu versetzen, ist dem Kreml nicht gelungen.
Die russische Gesellschaft wird in Angst versetzt – bereits die gesamten Putinjahre hindurch
Die russische Gesellschaft in Angst zu versetzen – das betreibt der Staat bereits die gesamten Putinjahre hindurch, und im vergangenen Jahr hat er seinen Aufwand verdreifacht. OWD-Info nennt die Repressionen, die die russischen Behörden im letzten Jahr angestrengt haben, „präzedenzlos“. Die Zahl der Strafverfahren, die allein im letzten Jahr als Folge von Anti-Kriegs-Aktionen eingeleitet wurden (378), ist vergleichbar mit der Zahl aller Verfahren, die in den zehn Jahren davor im Zusammenhang mit repressiven Maßnahmen eingeleitet wurden, angefangen mit den Bolotnaja-Prozessen.
Diese Verfolgungen wurden durch einen kurzfristig ausgearbeiteten Rechtsrahmen ermöglicht. Im vergangenen Jahr wurde das Strafgesetzbuch der Russischen Föderation (RF) um Paragrafen zur „Verbreitung wissentlicher Falschinformationen über den Einsatz der Streitkräfte der RF“ und zu „öffentlichen Handlungen, die den Einsatz der Streitkräfte der RF diskreditieren sollen“ erweitert. Strafbar sind nun auch die „vertrauliche“ Zusammenarbeit mit ausländischen Staaten und Organisationen, öffentliche Aufrufe zu Handlungen, die gegen die Staatssicherheit gerichtet sind, und die Verletzung der Vorschriften zum Schutz des Staatsgeheimnisses.
Verabschiedet wurden allgemeine Gesetze zur „Kontrolle der Aktivitäten von Personen, die unter ausländischem Einfluss stehen“ (also von allen „ausländischen Agenten“) und Gesetze, die die sogenannte Propaganda „nichttraditioneller sexueller Beziehungen“ gänzlich verbieten.
Ein wichtiges Instrument, um Druck auf die Gesellschaft auszuüben, war auch – zweifellos mit Putins Segen – der Aufstieg des Unternehmers Jewgeni Prigoshin. Wobei Prigoshins Höhenflug kein Beweis dafür ist, dass der Staat sein Gewaltmonopol eingebüßt hat, auch wenn es so aussehen mag. Es deutet eher auf den Versuch hin, dieses Monopol auf offenkundig kriminelle Gewalt auszuweiten und sich Verbrecher dienstbar zu machen. Offensichtlich strebt der russische Staat nicht nach Legitimität, wofür das Gewaltmonopol wichtig wäre, sondern nach einer Unterwerfung der Gesellschaft durch Gewalt, materielle Interessen und – offenbar bereits in geringerem Ausmaß – durch Propaganda.
Die Bemühungen des Kreml haben zu einer Polarisierung der Gesellschaft geführt, zu ihrer Unterteilung in ungleiche Gruppen. Ein Großteil unterstützt den Krieg vielleicht nicht, nimmt ihn aber zumindest als unausweichlich hin und sucht nach Möglichkeiten, unter den neuen Gegebenheiten zu überleben oder sogar daran zu verdienen. Wie der Finanzanalyst Alexander Koljandr bemerkte, ist der Kreml damit beschäftigt, eine ganze Schicht von Staatsbürgern zu erzeugen, die an der Fortsetzung des Krieges interessiert ist.
Der Kreml ist damit beschäftigt, eine Schicht von Staatsbürgern zu erzeugen, die an der Fortsetzung des Krieges interessiert ist
Für hunderttausende Vertragssoldaten und Einberufene ist der Sold höher als jegliche Einkünfte, die sie in Friedenszeiten erzielen konnten. Profitieren können auch die, die auf die eine oder andere Art an den Rüstungssektor, an Industrien zur Importsubstitution und an neue Importnetze zur Umgehung der Sanktionen angebunden sind. Diese Schichten machen vielleicht gerade mal die Hälfte der Bevölkerung aus, sind aber zahlenmäßig größer als jene Gruppen, die im letzten Jahr emigriert sind – und hier bleibt unberücksichtigt, dass die bereits erfolgte Mobilmachungswelle mit ziemlicher Sicherheit nicht die letzte sein wird. Den mangelnden Kampfgeist ersetzt der Kreml konsequent durch materielle Stimuli und indem es keine Alternativen zu dem neuen Wirtschaftsprogramm gibt.
Mit Einschüchterung und Repressionen ist es dem Kreml gelungen, den Widerstand gegen den Krieg zu unterdrücken und einen Teil der Kriegsgegner aus dem Land zu drängen. Bei sinkenden Einkünften aus Energie- und sonstigen Exporten geht es in erster Linie um die Aufteilung des Staatshaushalts, der zunehmend danach ausgerichtet wird, den Krieg weiterzuführen. Dazu müssen die Menschen entweder ihre Ansichten verbergen oder wetteifern, wer die meiste Loyalität bekundet. Die russische Gesellschaft war offenbar leichter mit Angst in den Griff zu kriegen als die Ukraine, Europa und die USA. Die Angst hat sie gelähmt.
Hört man den russischen Leadern zu, dann haben sie diesen seit 80 Jahren größten Krieg auf europäischem Boden angezettelt, um Sicherheit zu gewährleisten. In der russischen Rhetorik, die auf die Rechtfertigung der Invasion abzielt, sind die Begriffe „Sicherheit“ und „Sicherheitsgarantien“ ständig zu hören. Fiona Hill nennt das ein systemimmanentes Paradoxon der russischen Politik: Indem der Staat die Priorität der Sicherheit in allen Sphären betont, ist er in Wirklichkeit permanent damit beschäftigt, die Angst hochzupeitschen.
Es war leichter, die russische Gesellschaft mit Angst in den Griff zu kriegen als die Ukraine, Europa und die USA. Die Angst hat sie gelähmt
Vor unseren Augen haben Millionen Ukrainer, EU-Bürger und Amerikaner demonstriert, wie man auf solche Manipulationen richtig reagiert. Russlands militärische, energetische und ökonomische Aggression gegen seine Nachbarn und langjährigen Handelspartner bringt unvergleichliche Not und Verluste – momentan natürlich vor allem in der Ukraine. Trotzdem schüren Russlands Handlungen heute weniger Angst als in etlichen früheren brenzligen Situationen.
Offensichtlich bleibt Russland unter der jetzigen Regierung einer der gefährlichsten Staaten der Welt. Das weiß heute jeder – aber niemand weiß, ob das im Fall eines Machtwechsels anders wird. Sich von Moskaus Handlungen auf vielfältige Weise abzusichern, wird daher für die Politik sämtlicher Staaten, die mit Russland zu tun haben, auf Jahrzehnte hinaus Pflichtprogramm sein.
„Gibt es jemanden, der euch trotz zehnjähriger Haftstrafe aus der Zone holen kann? Es gibt genau zwei, die das können: Allah und Gott – und zwar in einer Holzkiste. Aber ich hole euch lebendig hier raus.“ Allem Anschein nach sagt diese Worte auf einem Videomitschnitt Jewgeni Prigoshin, Chef der berüchtigten Söldnergruppe Wagner, dem die ukrainische Generalstaatsawaltschaft Kriegsverbrechen vorwirft.
Das Begnadigungsrecht übt in Russland der Präsident aus. Anfang Januar haben Journalisten den Präsidentensprecher gefragt, ob Prigoshin recht hat, dass einige Häftlinge-Söldner begnadigt wurden: Peskow wich einer Antwort aus, indem er zweimal wiederholte, dass eine Begnadigung nur im strikten Einklang mit dem Gesetz erfolgen könne.
Es ist nicht bekannt, wie viele Gefängnisinsassen in den russischen Krieg gegen die Ukraine gezogen sind und wie viele begnadigt wurden. Die Journalistin Nina Abrossimowa hat für Holod und Nowaja Wkladka mit einem von ihnen gesprochen: Stanislaw Bogdanow aus Weliki Nowgorod wurde wegen brutalen Mordes zu 23 Jahren Haft verurteilt. 2022 zog er in den russischen Krieg und kehrte ohne Bein aus der Ukraine zurück.
Achtung, dieser Text enthält drastische Darstellungen von Gewalttaten.
Im Oktober 2022 bekam die Rentnerin Olga Pawlowa von mehreren Bekannten denselben Link geschickt zu einem zweiminütigen Video. Fünf Männer sitzen abends auf dem Dach eines Hotels und unterhalten sich. Zwei von ihnen fehlt ein Bein, einem ein Fuß, einem ein Arm. Der einzige unversehrte Gesprächsteilnehmer ist der Gründer der Söldnergruppe Wagner Jewgeni Prigoshin.
„Aus der TschWK Wagner entkommt man nur als Rentner oder im Zinksarg”, sagt Prigoshin und lacht. „Alles klar, was soll schon sein, alles in Ordnung, oder?” „Ja, alles in Ordnung”, antwortet der junge Mann ohne Bein im grauen Hoodie. „Von so etwas hier hätte ich in meiner Situation nur träumen können. Im Fernsehen sehen und träumen.” „Wie lange hättest du noch sitzen müssen?”, fragt Prigoshin interessiert nach. „Zehn hatte ich schon, 13 musste ich noch. Viel.” „Du warst – so nennt man das – ein Gesetzesbrecher, jetzt bist du ein Kriegsheld.”
Du warst ein Gesetzesbrecher, jetzt bist du ein Kriegsheld
Pawlowa wird übel. Der „Gesetzesbrecher” – Stanislaw Bogdanow – hat vor zehn Jahren ihren Bruder totgeschlagen. Sie hatte die Leiche gefunden und danach das Haus von den Blutspuren befreit. Das Gericht hatte den Mörder zu 23 Jahren Strafkolonie mit strengem Regime verurteilt. Nun sitzt er auf einem Rattansofa, im Hintergrund die nächtliche Stadt, auf seinem Hoodie prangen Orden.
Am nächsten Tag veröffentlicht die Nachrichtenagentur RIA FAN, die Prigoshin gehört, ein weiteres Video: dieselben vier verletzten Männer bekommen der Reihe nach rote Samtkästchen mit Tapferkeitsorden und Gedenkanstecker der Söldnergruppe Wagner für ihre Verwundungen, Urkunden vom Chef des Nationalen Zentrums für Verteidigungsverwaltung, Pässe und Begnadigungsbescheinigungen; das alles findet, wie die Nachrichtenagentur mitteilt, im Krankenhaus von Luhansk statt. In einem kurzen Interview nach Überreichung der Auszeichnungen teilt Bogdanow mit, dass er das Bein während eines nächtlichen Beschusses verloren habe: „Ein Geschoss traf meinen Kumpel, das zweite mein Bein.”
Gibt es jemanden, der euch aus der Zone holen kann?
Mit der Anwerbung von Strafgefangenen für den Krieg gegen die Ukraine hatte die Söldnergruppe Wagner im Sommer 2022 begonnen. Auf dem Video aus Joschkar-Ola, das Mitstreiter von Alexej Nawalny veröffentlichten, kam Prigoshin persönlich und versprach den Verurteilten, dass man sie nach einem halben Jahr Vertragsdienst begnadigen würde. „Zur Frage nach den Garantien und dem Vertrauen: Gibt es jemanden, der euch trotz zehnjähriger Haftstrafe aus der Zone holen kann? Was meint ihr?“, sagt der Geschäftsmann auf dem Videomitschnitt. „Es gibt genau zwei, die das können: Allah und Gott – und zwar in einer Holzkiste. Aber ich hole euch lebendig hier raus. Nur bringe ich euch nicht unbedingt lebendig zurück.“ Neben dem Versprechen auf Freiheit gab es das auf Entlohnung: Die Häftlinge sollten genauso viel bekommen wie die regulären Wagner-Kämpfer und eine „Sargprämie“ in Höhe von fünf Millionen Rubel [gut 60.000 Euro – dek] im Falle des Todes an der Front. Laut Olga Romanowa von der Organisation Rus sidjaschtschaja meldete sich in verschiedenen Kolonien im Durchschnitt jeder Fünfte für den Dienst in der Wagner-Gruppe.
Auch Stanislaw Bogdanow, der wegen Mordes in der Strafkolonie IK-7 Pankowka in seiner Heimatstadt Nowgorod einsaß, unterzeichnete den Vertrag. Schon Anfang August fand er sich in den Schützengräben bei Luhansk wieder, wurde jedoch bald verwundet – und traf sich einige Wochen später mit Prigoshin in Gelendshik.
Hallo Nina. Warum wühlen Sie in der Vergangenheit herum?
Mitte November bekam ich eine Nachricht von Bogdanow im sozialen Netzwerk VKontakte: „Hallo Nina. Warum wühlen Sie in der Vergangenheit herum? Ich bin keine bekannte Persönlichkeit, meine Vergangenheit interessiert niemanden. Jetzt werden sie Dreck über mich verbreiten. Egal, was ich sage oder schreibe, es wird sowieso alles verdreht. So viele Jahre sind vergangen und alles umsonst. Ich werde mich nicht bemitleiden. Was war, das war, man kann die Zeit nicht zurückdrehen. Ja, ich habe lange gesessen, und das hat mich geprägt, ich bin geduldiger geworden und kann gut mit der Traurigkeit umgehen. Es war meine Entscheidung, mich der Wagner-Gruppe anzuschließen, niemand hat mich dazu gezwungen.“
Eine halbe Stunde später folgte noch eine Nachricht: „Ich habe nicht vor, in mein altes Leben zurückzukehren. Ich werde nur nach vorne sehen, so wie man es mir beigebracht hat, und ich werde die Jungs nicht vergessen. Sie bleiben in meiner Erinnerung, sie waren bis zum Ende bei mir, und ich werde an sie denken, solange mein Herz schlägt. … Hören Sie auf zu urteilen. Ich habe das gemacht, um mein Land zu verteidigen, um etwas zu ändern, ich habe nichts zu verlieren, ich würde auch mein Leben hergeben, wenn es sein muss. Aber nur für den Sieg unseres Landes …“
Ich schlug Bogdanow vor zu telefonieren. Er schickte mir seine Nummer.
Bogdanow verkehrte in Kreisen, wo „fast jeder kriminell war”
Bogdanow und sein Opfer Sergej Shiganow lebten in Nowgorod ganz in der Nähe voneinander, aber sie kannten sich nicht und wären wahrscheinlich auch keine Freunde geworden. Der 32-jährige Sergej war junger Richter, trug eine Taschenuhr mit Kettchen, wünschte sich die Wiedereinführung der Monarchie und las Fantasyromane. Eines der Zimmer in seiner Wohnung hatte er im viktorianischen Stil dekoriert: dunkle Möbel, Seidentapete, an den Wänden Deko-Schilde und -Schwerter. „Es sah nicht unbedingt aus wie ein Rittersaal aus dem 14. Jahrhundert, aber sehr interessant“, sagte ein Zeuge, der einmal dort zu Besuch war.
Der 25-jährige Bogdanow verkehrte in Kreisen, in denen laut seiner Aussage „fast jeder kriminell war: manche hatten gesessen, andere waren auf Bewährung draußen, wegen Raubüberfällen, Vandalismus“. Er selbst hatte Anfang der 2010er Jahre bereits viereinhalb Jahre Haft wegen vorsätzlicher schwerer Körperverletzung, Vandalismus, Raubes und Autodiebstahls abgesessen. Er fuhr ohne Führerschein Auto: „Wenn sie mir [das Auto] wegnehmen – auch egal.“ Arbeitete auf dem Bau. Trank billiges Bier. Weil er nuschelte, nannten ihn seine Bekannten Mjamja.
Am Sonntag, den 23. September 2012, fuhr Bogdanow in die Ortschaft Krestzy, eine Autostunde entfernt von Nowgorod: Er sollte Freunden auf einer Baustelle aushelfen. „Als ich hinkam, hingen sie gerade mit ein paar Mädels rum. Ich hab mitgemacht. Natürlich hab ich auch ein paar Bier getrunken.“
Shiganow hat eine Bestie in mir geweckt
Auch Richter Shiganow fuhr an dem Abend nach Krestzy: Er lebte und arbeitete dort, Familie hatte er keine. Die Wochenenden verbrachte er lieber in seiner Wohnung in Nowgorod und kehrte zum Anfang der Arbeitswoche zurück in das Haus, das er von seiner Großtante geerbt hatte.
Gegen 23 Uhr kam Shiganow bei seinem Haus an. Der betrunkene Bogdanow und sein Freund saßen gerade ganz in der Nähe im Auto. Als Shiganow versuchte, das Tor aufzuschließen, klemmte es, und er fragte die beiden Männer nach Hilfe. Bogdanow sprang über den Zaun und schob den Riegel nach oben. Shiganow bat seine neuen Bekannten rein. Dann, erzählt Bogdanow, habe ihn der Richter gefragt, ob er schon mal gesessen hätte und warum – und daraufhin wohl gesagt, er möge doch bitte nichts aus seinem Haus klauen. Das brachte Bogdanow laut eigener Aussage auf die Palme. „Er hat noch so dumm gegrinst, dachte wohl, er geht aufs Klo und ich räum in der Zeit seine Bude leer“, erinnert er sich. „Da hab ich diesen Schürhaken genommen und ihm den Schädel eingeschlagen. Er stand natürlich wieder auf: Er war 1,95, einen Kopf größer als ich, und 40 Kilo schwerer. Was sollte ich mit ihm machen? Den Rest erledigte ich von Hand.“
Bogdanow quälte sein Opfer bis fünf Uhr morgens
„Shiganow hat eine Bestie in mir geweckt. Ich war selbst überrascht. Als hätte mir der Teufel auf die Schulter geklopft und gesagt: ‚Komm, Stas, mach jetzt, schlag ihn tot, niemand braucht den Typen auf dieser Erde!‘, erzählt Bogdanow weiter. „Sie wissen doch, wie der sich aufgeführt hat, oder? Wie diese Richter durch die Gegend fahren? Rasen besoffen, fahren die Leute tot – und kommen davon. Das wissen Sie doch, oder? Haben Sie diese Videos gesehen? Wie die in diesen schicken Bars sitzen? Und dann mit einer Knarre rausgehen und einfach jemanden abknallen?“ Als ich erwiderte, dass von Shiganow nichts dergleichen bekannt sei, antwortete Bogdanow, dass er „ja grad erst so einer geworden“ sei: „Außerdem, wer weiß, vielleicht hat er kleine Mädchen vergewaltigt.“
Bogdanow quälte sein Opfer bis fünf Uhr morgens, indem er seine Versuche aufzustehen oder sich irgendwie zu einigen, mit dem Schürhaken unterband. Bogdanow fand weder Geld noch Schmuck, zwang Shiganow aber unter Folter dazu, die PIN-Codes zu seinen Bankkarten rauszugeben. Den tödlichen Schlag versetzte Bogdanow ihm mit einer Hantel: Ließ sie dreimal aus der Höhe seiner Körpergröße auf dessen Kopf fallen.
„Erst wollte ich das Bügeleisen nehmen, aber das hat scharfe Kanten, und die Hanteln waren rund“, erklärt Bogdanow ungerührt. „Ich dachte, ich sollte lieber nicht alles mit Blut vollspritzen, und schlug ihn mit der Hantel. Naja, um sein Gehirn nicht überall zu verteilen.“
In der Strafkolonie IK-7 verbrachte Stanislaw Bogdanow zehn Jahre: Das Gericht verurteilte ihn zu 23 – selbst für Mörder ein hartes Strafmaß –, weil er Wiederholungstäter war und die Tat mit einem Raubüberfall einherging.
Ich sagte, dass ich was in meinem Leben verändern will, ausprobieren will, wozu ich noch fähig bin
Vom Beginn des *** (der „Spezialoperation“) erfuhren sie in der Strafkolonie über den Fernsehsender REN-TV. Bogdanow war den Nachrichten gegenüber skeptisch. „[Dort wurde gesagt, dass] das Verteidigungsministerium vorrückt, jeden Tag um zwei, drei Kilometer. Ich zählte das zusammen und da kam für mich raus, dass wir schon bis Polen gekommen sein müssten, bis Warschau“. Als dann Jewgeni Prigoshin in die Strafkolonie kam und den Häftlingen vorschlug, in den Krieg zu ziehen, meldete sich Bogdanow sofort. „[Ich wurde gefragt,] warum ich das will“, erinnert er sich an das Gespräch, das nach seinen Worten mit Prigoshin selbst stattfand. „Ich sagte, dass ich was in meinem Leben verändern will, ausprobieren will, wozu ich noch fähig bin, außer zu diesem Leben hier.“
Die Kolonieverwaltung erlaubte den Häftlingen nicht, persönliche Sachen mit in den *** (die „Spezialoperation“) mitzunehmen. „Die Leute vom FSIN [dem Föderalen Strafvollzugsdienst – dek] sagten: ‚Ihr dürft nichts mitnehmen, nur ein paar Schachteln Zigaretten‘,“ erzählt Bogdanow. „Und als wir [auf der Wagner-Basis] ankamen, bekamen wir zu hören: ‚Warum habt ihr nichts dabei? Sind die denn dort völlig verrückt geworden?‘ Sie mussten dann natürlich alles für uns kaufen. Handtücher, Seife und Zahnpasta. Socken und Unterhosen. Wir bekamen gute Kleidung. Zwei Paar Stiefel, Jacken, drei Anzüge. Und Sportschuhe. Da gab es überhaupt keine Probleme. Die Jungs fingen an zu streiten: „Scheiße, wir geh’n da als Kanonenfutter hin, oder?“ Ein anderer sagte: „Was laberst du denn von Kanonenfutter, die haben viele Millionen in uns reingesteckt, schau mal unsere krasse Ausrüstung!“
Während der einwöchigen Ausbildung hatte er zum ersten Mal ein Sturmgewehr in der Hand
Während der Ausbildung bei Wagner lernte Bogdanow, mit einem Sturmgewehr zu schießen; er hatte da zum ersten Mal eines in der Hand – er war nicht bei der Armee gewesen. Auch war er noch nie einen ganzen Tag bei Hitze mit einer Schutzweste herumgelaufen. Erholung gab es keine. Wo genau er ausgebildet wurde, erzählt Bogdanow nicht. Seinen Angaben zufolge dauerte die Ausbildung eine Woche; ein anderer Häftling, der zusammen mit Bogdanow ausgezeichnet wurde, sagte gegenüber der RIA FAN, dass sie „praktisch einen Monat lang“ trainiert wurden.
Am 31. Juli wurde Bogdanow zusammen mit anderen Häftlingen aus seiner Strafkolonie (rund 200, sagt er) in die Ukraine geschickt. Dort wurden sie im Gebiet Luhansk eingesetzt. Bogdanow sagt, seine „Arbeit“ bestand darin, „etwas zu schlafen, sich aufzurappeln und vorzurücken“.
„Wir waren vorbereitet, aber nicht darauf, dass derart auf uns eingedroschen wird“, erzählt er. „Wenn da was aus dem Nichts angeflogen kommt, heilige Scheiße! Da ist es schwer, auch nur einen Tag zu überleben. Es gab da Leute, die kamen an und waren einen Tag später schon nicht mehr am Leben. Da muss man sich jeden Schritt überlegen.“
Bogdanow selbst hielt sich acht Tage an der Front. Am Abend des 7. August, sagt er, habe die ukrainische Seite seine Gruppe mit Panzern beschossen: In der Dunkelheit sah er etwas grell aufblitzen, dann riss ihm ein Granatsplitter die Wade ab – sie hing nur noch an einer Sehne. Bogdanow schrie laut auf: „Dreihunderter!“ (das bedeutet „Verletzter“). Er wurde verbunden und man rief die Rettungsgruppe. Er machte sich Sorgen, dass man ihn nicht herausholen würde. Er sagt, dass seine Einheit am Morgen des selben Tages erst dort Position bezogen hatte und der Weg dorthin noch nicht gesichert war: Überall lagen schwer zu erkennende Schmetterlingsminen. Ihm kam der Gedanke, ob er sich nicht besser erschießen sollte, um nicht mehr die Schmerzen ertragen zu müssen. Er hielt es aber aus, bis dann seine Leute mit der Trage kamen.
Sein Leben nach der Verwundung bezeichnet Bogdanow als „Märchen“
Im Krankenhaus in Luhansk wurde Bogdanow das Bein unterhalb des Knies amputiert. Sein Leben nach der Verwundung beschreibt Bogdanow als „unvorstellbar” und „wie im Märchen“. Im November war er mit anderen verwundeten Wagner-Söldnern in der Reha, nämlich in einem Sanatorium im Dorf Witjasewo bei Anapa. Sie waren in Zweibettzimmern untergebracht, lebten auf einem umzäunten Gelände, durften aber zum Einkaufen (solange es nicht um Alkohol oder Energiedrinks ging) oder zum Strand gehen.
Irgendwann wurde für die verwundeten Söldner ein Ausflug organisiert. Sie gingen im Alten Park in Kabardinka zusammen mit anderen Touristen spazieren. Das hat Bogdanow gefallen: „Wir sind ja solche Jungs, wir sitzen unser ganzes Leben im Knast, keiner hat je was anderes gesehen.“ Für alle Fälle fügt er hinzu, dass die Gruppe „niemanden angefallen hat“.
Die Reha-Ärzte haben Bogdanow auf eine Prothese vorbereitet. Seit dem 24. November hat er sich nicht mehr gemeldet; ob die Operation stattgefunden hat, ist nicht bekannt. Sein verhärteter Stumpf mit tiefen Narben wurde mit Elektroschocks gelockert, ihm wurden Videos mit Übungen gezeigt, die er im Sportstudio beim Sanatorium machen konnte. Die ganze Zeit über erhielt der ehemalige Häftling von der privaten Militärfirma Sold ausgezahlt: 200.000 Rubel im Monat [rund 3000 Euro – dek].
„Ich bau mir ein Leben auf, was denkst denn du!“, sagte Bogdanow, als ich ihn fragte, was er mit dem Geld vorhat. „Jetzt ist Schluss mit dem Klauen, jetzt muss ich Geld verdienen, ein Haus bauen und von vorn anfangen. Ich geh‘ auf den Friedhof, zum Grab von diesem Richter, werde nicht mal trinken, sondern einfach eine Weile sitzen und mich bei ihm entschuldigen. Wir hatten zusammengesessen, getrunken, es kam zum Streit und ich habe ihn umgebracht. ‚Verzeih, Bruder‘, das werde ich ihm sagen!“
„Und bei seiner Mutter oder seiner Schwester wollen Sie sich nicht entschuldigen?“
Bogdanows Antwort war, dass das nichts ändern würde. „Das würde alles wieder aufreißen, damit würde ich es nur verschlimmern. Vielleicht würde sie [die Mutter] sterben? Das Herz [macht es vielleicht nicht mit]. Dann bringen sie mich wieder hinter Gitter und beschuldigen mich, dass ich sie vergiftet oder erschlagen habe.“
Der Alptraum wiederholt sich in klein
Olga Pawlowa erzählt, dass Sergej Shiganows 83-jährige Mutter nach dem Tod ihres Sohnes in dessen Wohnung gezogen ist. Alle Sachen, die dem ermordeten Richter gehörten, lässt sie an ihrem Platz; ihre eigenen Mäntel hängt sie auf den Balkon. „Sie rührt nichts an und lässt auch mich nicht“, sagt Shiganows Schwester. „Sie bringt es nicht übers Herz, etwas wegzugeben. Ich frage nicht nach. Immer heißt es sofort: ‚Das gehört Serjosha.‘ Am Anfang hat sie mich sogar [gerufen]: ‚Serjosha! … Ach Gottchen, Olga!‘ Hat uns verwechselt.“
„Als das jetzt wieder hochkam – und dass er [Bogdanow] zurück ist, da hatte ich wieder dieses Bild im Kopf mit dem Blut auf dem Boden und der Leiche“, setzt Pawlowa fort. „Als ob sich der Albtraum in klein wiederholte.“
Der Mutter hat sie die Neuigkeit nicht erzählt, sie hat auch alle Bekannten um Verschwiegenheit gebeten. Trotzdem fanden sich solche „Wohlmeinenden“, die es erzählten. „Zuerst war sie noch so na ja, aber am nächsten Tag war sie fix und fertig“, sagt Pawlowa. „Nach dem Motto: Was soll das, mein Sohn ist tot, und der sitzt da mit seinen Medaillen und Ehrungen. Und die Strafe ist erlassen.“ (Zu Shiganows Mutter konnte ich keinen Kontakt herstellen.)
Begnadigt werden kann ein Häftling nur per Erlass des russischen Präsidenten. Bisher wurde kein einziger solcher Erlass veröffentlicht. Anfang Januar berichteten jedoch RIA Nowosti und RIA FAN von zwei weiteren Dutzend begnadigten Häftlingen, die angeblich ein halbes Jahr an der Front verbracht hatten (zusätzlich zu Bogdanow und den anderen drei Männern, die Prigoshin im Oktober ausgezeichnet hat). Auf die Frage von Journalisten, ob der Präsident entsprechende Amnestien unterzeichnet habe, wich Putins Pressesprecher Dimitri Peskow einer Antwort aus, indem er zweimal wiederholte, dass eine Begnadigung nur im strikten Einklang mit dem Gesetz erfolgen könne.
Wenn ich nicht diesen Weg eingeschlagen hätte, wären diese Nazis durchmarschiert. Die wären bis nach Russland gekommen, Mannomann, und hätten es plattgemacht
Ich erzählte Bogdanow, wie Shiganows Familie auf seine Freilassung reagiert hat. „Das hat nichts mehr mit mir zu tun. Es heißt ja, die Zeit heilt“, sagte er. „Die Mutter hat die Zeit irgendwie nicht geheilt.“ „Dann ist es nicht meine Schuld.“ „Sie haben ihrem Sohn das Leben genommen – für sie sind Sie schuldig, und dabei sind Sie in Freiheit und haben einen Orden.“ „Vielleicht habe ich ja jemand anderem das Leben gerettet, indem ich mein Leben, meine Gesundheit riskiert habe.“ „Wem denn?“ „Na ja, das wissen wir noch nicht, wem ich das Leben gerettet habe, womöglich. Werden wir auch nie erfahren. Weil, wenn ich nicht diesen Weg eingeschlagen hätte, wenn niemand diesen Weg gegangen wäre, dann wären diese Nazis durchmarschiert und hätten dort die Leute umgebracht. Die wären bis nach Russland gekommen, Mannomann, und hätten es plattgemacht. Was dann?“
Ich hab jetzt ein neues Leben. Ich hab neue Kumpel, neue Freunde, eine neue Familie. Denen bleibe ich treu
Bogdanow sieht seine Zukunft in den Wagner-Strukturen. „Ich finde, sie haben mir eine Tür geöffnet“, erklärt er. „Wozu behandeln sie uns denn jetzt? Ja wohl nicht, um uns zu entlassen, wenn wir gesund sind. Dieses Unternehmen wächst, und es lässt seine Leute nicht im Stich. Wir werden immer Geld haben. Wir werden Arbeit haben, auch wenn dieser Krieg vorbei ist. An anderen Orten wird er weitergehen.“
In seiner Heimatstadt Nowgorod verspricht Bogdanow nicht mehr aufzutauchen. „Ich habe da niemanden. Wenn ich hinfahre, seh ich wieder diese Saufköpfe, meine Kumpel, Freundinnen. Wo waren sie die ganzen zehn Jahre? Ich hab Scheiße gebaut, ja, hab jemanden umgebracht. Na, und vorher war ich brav, oder was? Jetzt rufen sie mich an, schreiben: ‚Wieso antwortest du nicht?‘ Mir reicht’s, ich blockiere sie alle! Ich hab jetzt ein neues Leben. Ich hab neue Kumpel, neue Freunde, eine neue Familie. Denen bleibe ich treu.“
Das Video mit Bogdanows Auszeichnung ging durch Dutzende öffentliche Kanäle auf VKontakte und rief unterschiedliche Reaktionen hervor. Die einen nennen den Ex-Häftling einen „Vampir und Menschenfresser“ und haben Angst vor seiner Rückkehr in die Stadt, für die anderen ist er ein Held, der [das Verbrechen] „mit Blut abgewaschen hat“. Letztere schlugen vor, Bogdanow in den Patriotismus-Unterricht „Gespräche über das Wichtige“ an Schulen einzuladen.
Im Häuserblock, der einst hunderte Menschen beheimatete, klafft eine gewaltige Lücke voller Trümmer: Die russische Armee hat am 14. Januar mit einem Marschflugkörper vom Typ Ch-22 einen Wohnblock im ostukrainischen Dnipro zerstört und dabei laut ukrainischen Angaben 46 Menschen getötet und Dutzende verletzt.
Woher kommt die Gleichgültigkeit oder gar Zustimmung, mit der viele Menschen in Russland auf die Zerstörung von Wohnhäusern und ziviler Infrastruktur in der Ukraine blicken? Das fragt der politische Analyst Alexander Baunow auf Carnegie politika und sieht imperiale Denkmuster am Werk.
Wladimir Putin hat wiederholt zu verstehen gegeben, dass er die Sowjetunion nicht wiedererrichten, sondern übertreffen will beziehungsweise sie bereits übertroffen hat. Er verkündete stolz, Russland sei flächenmäßig zwar kleiner als die UdSSR, überhole sie dafür jedoch bei der Produktion und Ausfuhr von Getreide sowie beim Seegüterumschlag (gemeint ist selbstverständlich vor dem Krieg). Die russische Armee sei nicht dank sowjetischer Technik stark, wie viele selbst patriotisch gestimmte Bürger glauben, sondern dank moderner Waffen, die ihren westlichen Pendants überlegen seien.
Die Krim-Brücke, die Stalin (für viele Russen der größte Herrscher Russlands) anlässlich der Jalta-Konferenz hat bauen lassen, hielt nicht lange, bevor sie im Winter 1945 vom Packeis fortgerissen wurde. Putins Brücke ist für Jahrhunderte gedacht. Und genauso soll auch Putins Russland ein stabileres, moderneres Gebilde sein als die UdSSR und das Reich der Romanows, die beide zerfielen. Auf der Suche nach diesem neuen, auf Jahrhunderte angelegten Gebilde und nach neuen stabilen Grenzen wurde auch der jetzige Krieg begonnen.
Auf der Suche nach einer neuen Stabilität kommt es zu einer Abkehr von sowjetischen Konstrukten, wie der Freundschaft zwischen dem russischen und dem ukrainischen Volk, die jeweils eine eigene Republik bewohnen (für deren Gründung Putin das sowjetische Projekt unermüdlich kritisiert), und das zu Sowjetzeiten als ur-ukrainisch geltende Saporishshja wird nach einem hastigen „Referendum“ zu einer normalen russischen Region erklärt, ohne den geringsten Unterschied zu anderen zentralrussischen Regionen.
Wo sollen die Grenzen von Putins Russlandprojekt verlaufen?
Wo sollen nach Ansicht derer, die die Bombardierung von Kraftwerken rechtfertigen, die Grenzen von Putins Russlandprojekt verlaufen, das stabiler werden soll als das sowjetische und zaristische Imperium?
Zur Beantwortung dieser Frage wird gewöhnlich die russische Sprache herangezogen: Dort, wo Russisch gesprochen wird oder wurde. Und zweitens: Dort, wo wir „unsere Siege“ errungen haben, in erster Linie während des Großen Vaterländischen Krieges. Dieses Prinzip könnte man folgendermaßen formulieren: Vom Faschismus befreite Gebiete können nicht feindlich sein. In den letzten Monaten verweist Putin vermehrt auf die Siege unter Peter I. und Katharina II., allerdings nicht nur auf die Siege, sondern auch auf die Aneignung dieser Gebiete, als hätte dort erst mit der Ankunft der Russen die Zivilisation Einzug gehalten.
Daraus ergibt sich das dritte Kriterium, womit definiert werden soll, was uns gehört und was nicht: die sowjetische Industrialisierung und ganz allgemein die industrielle Erschließung von Gebieten. Also dort, wo die UdSSR aktiv die Industrie förderte und Staudämme, Kraftwerke, U-Bahnen, Eisenbahnstrecken und Fabriken baute. All das betrachtet die heutige Führung und der überwiegende Teil der russischen Bevölkerung als ihr Eigentum: Wir haben diese Gebiete gestaltet, deshalb gehören sie uns und dürfen nicht gegen uns verwendet werden.
Kraftwerke und Fabriken gab es vor der Sowjetzeit nicht: ‚Wir haben die für euch gebaut‘
Die russischen Normalbürger nehmen es leichtfertig, ja fast freudig hin, dass die russische Armee ukrainische Fabriken und Kraftwerke zerstört, die die Städte mit Strom und Wärme versorgen, weil sie sie als ihr Eigentum betrachten, frei nach dem Motto: „Wir haben die für euch gebaut.“ In ihren Augen handelt Russland rechtmäßig, wenn es sie vernichtet.
Die von Putin verkündete „Entsowjetisierung“ der Ukraine bedeutet paradoxerweise gleichzeitig den Wiederaufbau von Lenin-Denkmälern als Teil des gemeinsamen Erbes (sie stehen in allen russischen Städten, warum sollen sie nicht auch bei euch stehen?) und die Zerstörung von Fabriken, Kraftwerken, Brücken und Straßen (ihr wolltet ohne uns leben, also lebt in der Steinzeit, ohne das, was Russland für euch gebaut hat). Das ist übrigens auch der Grund, warum sich Kasachstan, eines der Zentren der sowjetischen Industrialisierung, akut bedroht fühlt.
Eine solche Haltung wie gegenüber der Ukraine findet eine Entsprechung innerhalb Russlands: Genauso behandelt die politische Führung (mit Unterstützung des Volkes) die russische Wirtschaft. Fabriken, Staudämme, Bergwerke – alles, was der sowjetische Staat aufgebaut hat und das später privatisiert, modernisiert und an das Leben in der Marktwirtschaft angepasst wurde, hat niemals wirklich aufgehört, Staatseigentum zu sein, das heißt einer Führungsclique zu gehören, die im Namen des Staates und des Volkes auftritt.
Eine Haltung wie der Ukraine gegenüber findet sich auch innerhalb Russlands
Seit der Privatisierung sind fast drei Jahrzehnte vergangen, aber in den Augen der Staatsführung sowie der meisten Russen sind die Großunternehmen nicht die Eigentümer, sondern lediglich „Halter“ der Vermögenswerte: Sie benutzen sie, solange man es ihnen erlaubt. Doch sobald der Kreml einen Unternehmer als Feind einschätzt, wird sein Unternehmen genauso vernichtet wie die Kraftwerke in der Ukraine: Was uns gehört, darf nur für uns sein.
In Russland wird die industrielle und infrastrukturelle Entwicklung der ehemaligen Sowjetrepubliken zunehmend als Geschenk an die weniger entwickelten Peripherien betrachtet. Das ist ein weiterer Bruch mit der sowjetischen Identität, die darauf beruhte, dass die Fabriken, Brücken und Straßen im ganzen Land das Ergebnis einer multinationalen Anstrengung aller Völker der Union waren. Die russischen Bürger befürworten die Bombardierung der zivilen Infrastruktur in der Ukraine, weil sie diese als ihr Geschenk an die undankbaren Ukrainer betrachten, die es nicht zu Russlands Wohl verwenden.
Die Russen betrachten die Ukraine, als wäre die Zeit angehalten worden: ‚Ohne uns und nach uns wird es hier nichts geben‘
Die Sowjetregierung manipulierte auf eine ganz ähnliche Weise: In den 70 Jahren ihres Bestehens hat sie ihre Wirtschaftsindikatoren stets mit dem Höhepunkt der wirtschaftlichen Entwicklung im zaristischen Russland im Jahre 1913 verglichen – als ob es ohne die Sowjetunion keine wirtschaftliche Entwicklung gegeben hätte und andere Kennzahlen wie die Alphabetisierungsrate der Bevölkerung nicht gestiegen wären.
Ebenso neigen der Kreml und die russischen Bürger dazu, im Hinblick auf die Ukraine und andere Teile des ehemaligen Imperiums zu vergessen, dass die Entwicklung dort mit oder ohne sie stattgefunden hätte, und dass es unmöglich ist, sich ein europäisches Land wie die Ukraine mit einer Bevölkerung von mehreren zehn Millionen Menschen ohne Kraftwerke, Schulen und Fabriken vorzustellen. In dem Teil der Welt, in dem sich die Ukraine befindet, hätte es Ende des 20. Jahrhunderts in jedem Fall Strom, fließendes warmes und kaltes Wasser in den Häusern der Städte und öffentliche Verkehrsmittel auf den Straßen gegeben.
Die Russen betrachten die Ukraine, als wäre die Zeit angehalten worden – „ohne uns und nach uns würde und wird es hier nichts geben“ –, und begründen damit ihr Recht auf Erbeutung und Zerstörung. Der Übergang vom gemeinsamen sowjetischen „wir“ zu einem neuen „wir und sie“ wird vor unseren Augen vollzogen. Putins Krieg gegen die Ukraine stärkt nicht nur die nationale Identität der Ukrainer, indem er sie von ihren sowjetischen Merkmalen befreit, sondern er verändert auch die postsowjetische Identität einer riesigen Zahl von Bürgern im eigenen Land.
Die Chefs der NATO-Staaten schauen eine Videoansprache von Wladimir Putin an, auch der ukrainische Präsident Selensky ist dabei, am Arm eine rote Hakenkreuzbinde. Alle scheinen von Putins Rede derart beeindruckt zu sein, dass sie sich in die Hose machen. Die Urinspuren zu ihren Füßen formen die Abkürzung für die Nordatlantische Allianz. So soll angeblich eine Titelseite des spanischen Satire-Magazins El Jueves aussehen. Jedoch: Das Magazin mit diesem Cover hat es nie gegeben, es ging von einem russischsprachigen Telegram-Kanal aus viral.
Diese gefälschte Titelseite eines bekannten Satire-Magazins ist kein Einzelfall. Aus der Tiefe des russischen Internets tauchen regelmäßig solche Fake-Bilder auf, die Titelseiten von Charlie Hebdo, Mad oder Titanic darstellen sollen. Im russischen Exil-Medium iStories geht Ilja Ber, Gründer und Chefredakteur des Faktchecking-Portals Provereno(dt. Geprüft), diesem relativ neuen Trend der Desinformation nach.
Je länger der Krieg andauert, desto erfinderischer wird die russische Propaganda: Sie wird zunehmend nicht mehr von den traditionellen Massenmedien produziert, sondern von Bloggern (vor allem auf dem Messengerdienst Telegram). Darunter finden sich „Kriegsreporter“, bekannte Fernsehmoderatoren, „Experten“ mit zweifelhafter Qualifikation oder anonyme „Analytiker“, die Hunderttausende von Followern haben. Seit ein paar Monaten greifen die kremltreuen Telegram-Kanäle zu einer Methode, die die Propaganda früher eher selten benutzt hatte: Sie posten von vorne bis hinten erfundene Berichte, die angeblich aus ausländischen Medien stammen. Faktenchecker aus verschiedenen Ländern haben mehr als zwanzig Beispiele für solche Beiträge entdeckt, die zuerst bei Telegram viral gingen und dann auch von den traditionellen Medien aufgegriffen wurden.
Propaganda kommt zunehmend von Bloggern – vor allem auf dem Messengerdienst Telegram
Am 7. Juli erklärte Boris Johnson seinen Rücktritt vom Posten des britischen Premierministers. Eine Woche später twitterte der Fraktionsvorsitzende der Partei Gerechtes Russland im Unterhaus des russischen Parlaments und Ex-Vorsitzender des Oberhauses Sergej Mironow ein angebliches Cover der Satirezeitschrift Charlie Hebdo, auf dem ein Kobold abgebildet ist, dessen Kopf und Hut zusammen die Umrisse Großbritanniens ergeben und der den Ex-Premierminister auskotzt. Rechts unten in der Ecke ist ein Hund mit dem Gesicht von Wolodymyr Selensky abgebildet, der den abgerissenen Arm eines Asow-Kämpfers im Maul hält. Das Bild wurde sowohl von großen russischen Telegram-Kanälen mit Hunderttausenden Abonnenten als auch von privaten Nutzern in den sozialen Netzwerken geteilt.
Von Charlie Hebdo würde man provokante Karikaturen zu praktisch jedem Thema erwarten, aber …
Von Charlie Hebdo würde man provokante Karikaturen zu praktisch jedem Thema erwarten, doch das Cover mit Johnson und Selensky als Hund findet sich nicht in ihrem Archiv. Es wurde weder in den sozialen Netzwerken diskutiert, wie das sonst mit den Neuerscheinungen der französischen Zeitschrift passiert, noch haben die großen Medien darüber berichtet; alle fremdsprachlichen Erwähnungen sind Übersetzungen oder Reposts von russischsprachigen Seiten. Zum ersten Mal tauchte das Titelblatt, wie die Mitarbeiter des Faktchecking-Projekts Provereno [dt. Geprüft] recherchierten, am 12. Juli auf dem Telegram-Kanal Neboshena mit einer halben Million Followern auf.
Vor dem Hintergrund der Berichte von angeblich „inszenierten“ Bildern des Raketenschlags auf ein Geburtskrankenhaus in Mariupol und der Massenmorde im okkupierten Butscha erscheint dieses Fake aus dem russischen Telegram-Segment relativ harmlos. Doch die Charlie Hebdo-Ausgabe, deren Titelblatt angeblich eine Karikatur von Johnson und Selensky geziert haben soll, war die erste aus einer ganzen Reihe von Publikationen, mit deren Hilfe man den Lesern im Internet offenbar beweisen will: In Europa und anderen Teilen der Welt habe man die Ukraine-Hilfe satt und unterstütze das Vorgehen des Kreml auf jede erdenkliche Weise.
Fake Cover propagieren Putins Sicht auf die Welt
Nach dem Johnson-Cover gingen im Internet mindestens fünfzehn weitere Fake-Cover von Charlie Hebdo und anderen weniger bekannten Magazinen aus den USA, der Türkei, Spanien und Deutschland viral. Sie wurden von Internet-Usern in diversen Ländern aufgegriffen und propagierten alle auf die eine oder andere Weise Putins Sicht auf die Welt. Hier sind einige Beispiele:
Ende August/Anfang September 2022 tauchte im Netz ein angebliches Charlie Hebdo-Cover auf, auf dem der französische Präsident Emmanuel Macron mit dem Wasserwerfer auf französische Demonstranten schießt, links unten in der Ecke war wieder der Hund mit dem Selensky-Gesicht abgebildet (zwei Wochen später war der ukrainische Präsident in derselben Gestalt auf einer weiteren Fake-Titelseite mit dem neuen britischen König Charles III. zu sehen.)
Gegen Ende September wird die geografische Reichweite größer – diesmal verbreiten die Telegram-Kanäle ein angebliches Cover des spanischen Magazins El Jueves. Es zeigt die Leader der NATO-Länder, wie sie eine Videoansprache von Wladimir Putin sehen, die sie offenbar derart beeindruckt, dass sie sich in die Hose machen – die Urinspuren zu ihren Füßen ergeben die Buchstaben OTAN, die spanische Abkürzung für die Nordatlantische Allianz.
Anfang Oktober taucht die erste Titelseite aus den USA auf – angeblich soll die Zeitschrift Mad eine Karikatur veröffentlicht haben, die Joe Biden als Laokoon mit der berühmten antiken Skulpturengruppe zeigt. Als Schlangen fungieren die unlängst gesprengten Rohre der Gasleitung Nord Stream, daneben wieder die schon bekannte Gestalt des ukrainischen Präsidenten. „Natürlich war es Biden, er hat es bloß vergessen“, lautet die Bildunterschrift.
Ende November erschien ein Interview mit Papst Franziskus, in dem er sagte, Tschetschenen und Burjaten hätten sich als „die grausamsten“ Kriegsteilnehmer hervorgetan. Die russischen Machthaber reagierten umgehend auf seine Worte, indem sie den Pontifex an die Kreuzzüge erinnerten und ihm vorwarfen, er würde der LGBT-Gemeinschaft nahestehen; auf den Telegram-Kanälen tauchten wieder gefälschte Titelseiten auf. Eine – wieder angeblich von Charlie Hebdo – zeigt Franziskus, wie er einem Jugendlichen an den Hintern fasst, auf einer anderen – angeblich von der türkischen LeMan – sagt der Papst, neben einem Mann in Nazi-Uniform stehend: „Die Tschetschenen sind die eigentlichen Menschenquäler – nicht wir!“
Fakes mit veralteten Strichcodes
Weder Charlie Hebdo noch die Kollegen aus den anderen Ländern haben Ausgaben mit diesen Titelseiten herausgebracht, wie das Faktencheck-Projekt Provereno und andere zeigten. Diese Karikaturen finden sich nicht auf den Seiten der entsprechenden Satire-Blätter, und unter den Nummern sind ganz andere Ausgaben erschienen. Zudem wurden auf den Fakes veraltete Strichcodes verwendet und Grammatikfehler gemacht. Die Zeitschrift Charlie Hebdo, die bei den russischen Telegram-Kanälen besonders beliebt ist, hat sogar eine Erklärung veröffentlicht, in der sie abstreitet, irgendetwas mit den in Umlauf gebrachten Karikaturen zu tun zu haben.
Fake-Cover wenden sich an die Russen, die überzeugt werden sollen, dass ein Teil der westlichen Gesellschaft die Position des Kreml teilt
Sämtliche Cover waren zunächst im russischsprachigen Segment des Messengers Telegram aufgetaucht und nicht in den sozialen Netzwerken oder auf den Seiten der Satiremagazine. Die beiden Cover mit Charles III. und der Pipeline Nord Stream wurden als erstes von Kristina Potuptschik gepostet, Medienmanagerin und ehemalige Kommissarin der kremltreuen Jugendbewegung Naschi[dt. die Unsrigen]. Die Karikatur von Macron und Selensky erschien erstmalig auf dem Telegram-Kanal Pul N3 – dahinter steht Dimitri Smirnow, der mit der Komsomolskaja Prawda eine der größten russischen Zeitungen im Journalistenpool des Präsidenten vertritt. Andere Cover erschienen auf Kanälen mit so sprechenden Namen wie Ukrainski Fresh, Putin TG Team und Putin bei Telegram.
Vermutlich richten sich die Fake-Cover an die Russen, die auf diese Weise davon überzeugt werden sollen, dass ein Teil der westlichen Gesellschaft die Position des Kreml teilt, wobei die Regierungen der westlichen Länder das ignorieren und, besessen von dem Wunsch, das große Russland zu bezwingen, ihr Spiel spielen. Viele dieser Publikationen wurden auch außerhalb der russischen Föderation populär, was offenbar ein netter Bonus für ihre Erschaffer ist. Die Befürworter von Putins Krieg in Europa und anderen Teilen der Welt brauchen eine ähnliche Message wie die in Russland – und die bekommen sie.
Die meisten der Karikaturen – von einem oder mehreren anonymen Autoren für kremltreue Telegram-Kanäle gezeichnet – wurden als Titelseiten von Charlie Hebdo ausgegeben, einer Zeitschrift, die weder in Russland noch international einer Erklärung bedarf. Die Fälschung von Titelblättern einiger anderer Magazine war offenbar situationsbedingt, zum Beispiel ein Fake-Cover der Oktoberausgabe der deutschen Satirezeitschrift Titanic, auf dem Selensky als schwarzes Loch dargestellt ist, das militärische und finanzielle Hilfe anderer Staaten verschlingt. Diese Karikatur ist ein Beispiel für ein weiteres Narrativ, das auf Telegram aktiv vorangetrieben wird: Man vermittelt den Lesern, in den verschiedensten Ländern hätte die Bevölkerung vom ukrainischen Präsidenten die Nase voll.
Glaubt man den kremltreuen Telegram-Kanälen, dann sind Vergleiche Wolodymyr Selenskys mit einem schwarzen Loch von Oktober bis Dezember 2022 auch als Graffiti in europäischen Hauptstädten und im Fernsehen vorgekommen, und engagierte Studenten aus Serbien hätten sogar dafür plädiert, ein echtes schwarzes Loch im Weltall nach dem ukrainischen Präsidenten zu benennen. Hier ein paar dieser Falschmeldungen:
Geräusche aus dem schwarzen Loch
Mitte Oktober meldeten russische Telegram-Kanäle gefolgt von mehreren reichweitenstarken Medien einen Fauxpas im regionalen US-amerikanischen TV-Sender Local 4 News: Die Moderatoren hätten davon berichtet, dass es der NASA gelungen sei, die Geräusche eines schwarzen Lochs aufzuzeichnen, doch beim Abspielen des Videos sei ein Ausschnitt aus einer Videobotschaft von Wolodymyr Selensky auf dem Bildschirm erschienen. In Wirklichkeit war die Sendung bereits Ende August ausgestrahlt worden und der ukrainische Präsident kam nicht darin vor.
Graffitis mit schwarzem Loch
Anfang November berichteten Medien und zahlreiche Internet-User, dass Graffiti-Künstler Selensky in Warschau als schwarzes Loch verewigt hätten. Diese Meldungen stützten sich auf einen Instagram-Account, der zu diesem Zeitpunkt 35 Follower hatte und nur einen einzigen Post – aus dem Zentrum der polnischen Hauptstadt. Dabei gab es in den Sozialen Netzwerken keine anderen Fotos dieses Werks, das sich an einer der belebtesten Kreuzungen Warschaus befunden haben soll. Die lokalen Behörden dementierten seine Existenz und Street-Art-Kenner hatten Zweifel daran – es sei unmöglich, unbemerkt und so schnell eine derart aufwändige Arbeit zu vollbringen. Zum Ende des Monats wurden Publikationen zu einem identischen (und ebenfalls nie existenten) Graffiti in Paris beliebt.
Banner mit schwarzem Loch
Mitte November wurde auf Telegram die angebliche Reportage eines deutschen Mediums verbreitet (der Fernsehsender blieb ungenannt), zu sehen war da ein Bus mit der Aufschrift „Selensky ist ein schwarzes Loch“. Wie sich herausstellte, hatten die Produzenten des Fakes einen Ausschnitt aus einem sechs Wochen alten Interview mit einer Bundestagsabgeordneten für Die Welt manipuliert: Bei dem war im Hintergrund ein Bus mit dem Logo eines Transportunternehmens und nicht mit einer Diffamierung des ukrainischen Präsidenten vorbeigefahren.
Benennung eines schwarzen Lochs nach Selensky
Ende November tauchte in den Sozialen Netzwerken ein Video auf, das angeblich von der Deutschen Welle (DW) publiziert worden war. Es ging darin darum, dass Studenten der Universität Belgrad vorgeschlagen hätten, ein schwarzes Loch nach dem ukrainischen Präsidenten zu benennen. In offiziellen Social-Media-Accounts der DW fehlt dieses Video allerdings, die englischen Untertitel zur Erklärung weisen massenhaft grammatikalische und stilistische Fehler auf, und die „serbischen Studenten“ sind in Wirklichkeit Cottbuser Schüler aus einem Beitrag der DW von 2017.
Wie auch im Fall der Cover war das erste Beispiel dieses Narrativs – Selensky als schwarzes Loch – erstmals in Kristina Potuptschiks Telegram-Kanal zu sehen. Auch sonstige erfundene Beweise dafür, dass die Bevölkerung westlicher Länder von der Unterstützung der Ukraine genug hätte, postete die Medienmanagerin, aber nicht als Erste. Verbreitet wurden diese Fakes unter anderem von wichtigen russischen Medien wie Argumenty i fakty, Life und Rossiskaja Gaseta, sowie von Wladimir Solowjow und anderen Größen des russischen Fernsehens.
Crossover goes Propaganda
In der Pop-Kultur nennt man es „Crossover“, wenn in einem Film oder Buch Figuren aus anderen Werken vorkommen, die ursprünglich nichts miteinander zu tun hatten. Diesen Kniff wenden allem Anschein nach jetzt auch die Propagandisten an. Uns sind mindestens zwei solcher Fälle bekannt.
Bei einem davon geht es ebenfalls um den Vergleich Selenskys mit einem schwarzen Loch – Anfang November meldeten russische Medien, etwa Izvestia oder Ren TV, dass auf einem Bildschirm auf dem New Yorker Time Square ein Video mit den Worten „black hole“ und einer Porträtaufnahme des ukrainischen Präsidenten gelaufen sei. Von diesem Zwischenfall berichteten übrigens weder amerikanische Medien noch die zigtausend New Yorker, die jeden Tag über diesen betriebsamen Platz laufen.
Mitte des Monats teilten dann Telegram-Blogger, allen voran Potuptschik, fleißig eine Karikatur – angeblich vom Cover der spanischen Zeitschrift El Jueves. Sie zeigte den Time Square mit Selensky auf einem Bildschirm, während einfache New Yorker kotzen. „So aufdringlich wie ein Dickpic“, lautet die Bildunterschrift. Und selbstverständlich hat genau wie bei unseren bisherigen Beispielen die angeblich zitierte Satirezeitschrift nie ein solches Cover herausgebracht.
Neonazis bei der Fußball WM
Das andere Crossover wurde rund um das propagandistische Klischee über die flächendeckende Verbreitung des Neonazismus in der Ukraine konstruiert. Am 22. November, kurz nach Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft, berichteten regierungstreue russische Blogger und einige Medien, ukrainische Fans hätten in Katar ein Banner beschmiert, dem darauf abgebildeten Turnier-Maskottchen ein Hitlerbärtchen aufgemalt und „Sieg Heil“ dazugeschrieben. Die Autoren der Meldung beriefen sich auf ein angeblich von Al Jazeera gemachtes Video, das, wie Faktenchecker herausfanden, erstmals im russischen Telegram aufgetaucht ist. Das Video war aus YouTube-Filmen montiert worden (eines davon neun Jahre alt), und das einzige Foto vom angeblichen Ort des Vandalismus wurde mit einem Bildbearbeitungsprogramm verändert.
Telegram wird zu einer Karikatur seiner selbst
Trotzdem kursierte in den sozialen Netzwerken bereits zwei Tage später ein angebliches Charlie-Hebdo-Cover, auf dem das Banner gerade beschmiert wird und Einheimische von Katar dazu meinen, das sei „etwas auf Ukrainisch“. Natürlich hat es so ein Titelblatt nie wirklich gegeben. In einem Kommentar zu diesen Fake-Covers erklärte die Redaktion der berühmten französischen Zeitschrift: „Die App Telegram … ursprünglich erfunden, um den russischen Geheimdiensten auszuweichen, wird zu einer Karikatur ihrer selbst.“