Andere Ufer – so nannte der wohl bekannteste russische Exilschriftsteller Vladimir Nabokov (1899–1977) seinen autobiografischen Roman, der 1954 in New York erstmals erschien. Am Ende des Romans bricht der Autor nach Jahren der Emigration in Berlin und Paris in Richtung USA auf, eben zu jenen anderen Ufern, die in der russischen literarischen Tradition nie nur geografisch gemeint waren, sondern auch metaphysisch: Das Überqueren des Ozeans stand symbolisch für das Überqueren des mythischen Totenflusses Styx.
Die Fotoausstellung Unerforschte Ufer, die 2023 in der armenischen Hauptstadt Jerewan gezeigt wurde, ist ein Blick aus dem Exil auf die nähere Vergangenheit. Sie konzentriert sich jedoch auf die Erkundung der Ufer, die nicht weit weg, sondern ganz nah liegen und die postsowjetischen Kulturen trennen. Eine Erkundung, die lange vernachlässigt wurde und deren Notwendigkeit mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine noch einmal deutlich geworden ist.
Die beiden Kuratoren – der Armenier Wigen Galustjan und die Russin Victoria Muswik – haben Fotos russischer und armenischer Fotografen aus den vergangenen 15 Jahren ausgewählt. Sie analysieren und dokumentieren künstlerisch die Transformationsprozesse und den „postsowjetischen Zustand“. dekoder zeigt einige Bilder, die im Fotojournal von Republic.ruveröffentlicht wurden.
„Wir wollten Fotografie als eine Methode der archäologischen Forschung nutzen. Mit dem Unterschied, dass wir statt physischer Denkmäler Bildwelten ausgraben“ – so formuliert die Kuratorin Victoria Muswik ihre Herangehensweise. Im Fokus dieser Forschung befinden sich Übergangsidentitäten und Räume, die in der postsowjetischen Wirklichkeit entstanden sind. Aber auch die Fragen nach Hierarchie und Macht, „Unausgewogenheit zwischen Zentrum und Peripherie“, „zerstörerischen Kräfte des neokolonialen Despotismus“ und „Gleichgültigkeit der Marktwirtschaft“. Diese Themen werden aus zwei Perspektiven betrachtet – aus der russischen und aus der armenischen.
Dabei stellen die Kuratoren in einem auf Republic.ruveröffentlichten Dialog fest, dass die russische und die armenische Fotografie unterschiedliche Wurzeln haben: Die Entwicklung der russischen Fotografie ist von imperialen und – später – revolutionären Imperativen nicht zu trennen. So spielten etwa die Fotos von Sergej Prokudin-Gorski im 19. Jahrhundert eine entscheidende Rolle in der „Kartografie“ des Russischen Imperiums, in der Bestimmung von dessen Grenzen, dessen Zentrum und Randgebieten. Die armenische Fotografie dagegen war ursprünglich ein Mittel der interkulturellen Beziehungen zwischen Armenien und dem Nahen Osten, Europa und Russland.
Die modernen Fotografen erben diese Besonderheiten, weisen aber gleichzeitig viele weitere Unterschiede auf. Etwa im Hinblick auf die fotografische Analyse von ähnlichen Themen, wie zum Beispiel die (gemeinsame) sowjetische Vergangenheit. Ein wiederkehrendes Motiv vieler Fotografen ist der „postsowjetische Zustand“ – Ruinen und Symbole der vergangenen Epoche. Während russische Fotografen meistens versuchen, die Größe und Mehrschichtigkeit des untergegangenen sowjetischen Projekts an sich zu verstehen, sehen die armenischen Fotografen nicht nur das Sowjetische oder die Splitter des Sowjetischen, sondern auch das Persönliche und Lokale. Während die russischen Fotografen sich analytisch und verfremdet auf die Landschaften konzentrieren, treten in der armenischen Fotografie die Menschen, deren Beziehungen, Gefühle und persönliche Geschichten deutlicher hervor.
Wie es in der Fotografie oft der Fall ist, sagen die Bilder nicht nur etwas über die Objekte aus, die sie zeigen, sondern auch etwas über die Fotografen, die sie aufgenommen haben. Alle Fotos wurden vor dem Beginn des großflächigen Angriffskrieges gegen die Ukraine gemacht.
Arman Harutyunyan, „Einige Minuten vor dem Angriff der Hunde“, 2020
Max Sher, „Theater der Ordnungshüter: Glaube in den herrschenden Umständen“, aus dem Projekt Infrastructures, 2016–2019
Nelly Shishmanian, „Bewohner des Grenzdorfs Tsopi in Georgien feiern den armenischen Feiertag Wardawar“, aus dem Projekt „Vielleicht zusammen“, 2018
Quelle: republic.ru Fotoauswahl: Victoria Muswik und Wigen Galustjan Veröffentlicht am 25. April 2024 Wir danken Max Sher für seine Unterstützung in der Vorbereitung dieser Publikaton.
Im November 2023 hat das Oberste Gericht in Russland die „internationale LGBT-Bewegung“ als „extremistische Organisation“ eingestuft. Abgesehen davon, dass die Bewegung für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bi- und Transpersonen gar keine Organisation ist, warnten Beobachter vor einer neuen Verfolgungswelle. Kaum jemand traut sich noch, offen lesbisch oder schwul zu leben. Inzwischen erhöht die Polizei aber auch den Druck auf private Treffpunkte. Ende Februar wurden in mehreren Regionen Russlands nicht-öffentliche LGBT-Partys kontrolliert. Der Ablauf war überall ähnlich: Maskierte stürmten die Veranstaltungsräume, Partygäste und Personal mussten sich bäuchlings auf den Boden legen, einige wurden festgenommen. Takie dela hat Experten dazu befragt, was das alles bedeutet und was da noch zu erwarten ist.
Am 26. Februar verkündete die Krasnojarsker Queer-Bar Elton ihre Schließung. Zwei Tage zuvor hatte Jekaterina Misulina , die Leiterin der Liga für ein sicheres Internet, das Lokal öffentlich angeschwärzt: Sie hatte eine Drag-Show anlässlich des Tags des Vaterlandsverteidigers eine Provokation genannt und angekündigt, die Sache anzuzeigen. Am nächsten Tag erschien auf dem Telegram-Kanal des Innenministeriums für die Region Krasnojarsk ein Video über die Razzia im Elton, bei der zwölf Personen festgenommen wurden. [Takie dela veröffentlicht Bilder von den Razzien –dek].
„Insgesamt wurden bei dem Einsatz 19 Personen kontrolliert, teils Gäste, teils Personal des Etablissements. Zudem wurden Besucher befragt“, teilte die Polizei mit. Begründet wurde die Razzia mit einem Verdacht auf die Verbreitung verbotener Substanzen und illegelen Ausschanks alkoholischer Getränke. Gegen den Clubbesitzer wurde eine Untersuchung eingeleitet. Am 25. Februar tauchte in den Medien die Meldung auf, dass die Bar ihren Social-Media-Auftritten zufolge geschlossen würde.
Wir können nicht mehr für Eure Sicherheit garantieren
„Leider können wir unsere Bar nicht weiterbetreiben. Die Schließung des Elton ist hiermit offiziell“, zitierte die Zeitung Prospekt Mira die Geschäftsführung. „In einer Situation, in der nichts als Hass propagiert wird und man nur noch darauf aus ist, die Einen gegen die Anderen aufzuhetzen, können wir eure Sicherheit und die Sicherheit unserer Mitarbeiter nicht mehr garantieren. Das Leben und die Gesundheit von uns allen ist aber das, was am meisten zählt!“
Der Barbesitzer Dennis Schilow erzählte dem Sender 7-moi Krasnojarsk, wie er nach der Razzia Mitteilungen von den Strafverfolgungsbehörden bekam, in denen sie andeuteten, dass sie den weiteren Betrieb der Bar nicht zulassen würden. „Ich verstehe nicht, wieso einzelne Bevölkerungsgruppen in so ein negatives Licht gerückt werden. Unter solchen Umständen macht die Arbeit keinen Spaß. Wir können keine Partys feiern und daher auch unsere Mitarbeiter und die Steuern nicht bezahlen.“
Im Dezember 2023 gab es schon einmal Polizeikontrollen im Elton. Damals wurden 20 Personen festgenommen, und gegen den Klub wurde Anzeige wegen „LGBT-Propaganda“ erstattet. Das Verfahren wurde aber eingestellt, weil kein Gesetzesverstoß festgestellt werden konnte.
„Wir hatten uns schon gefreut, dachten, sie würden uns in Ruhe lassen, weil sie ja doch keine ‚Gay-Propaganda‘ gefunden hatten. Doch da beschloss ein Gast, sich bei Misulina zu beschweren. Was für die Krasnojarsker Polizei offenbar wieder ein Anlass für einen Besuch bei uns war“, sagt Artjom Demtschenko, der Geschäftsführer des Elton. Er kennt zwar das eigentliche Ziel der Razzien nicht, nimmt aber an, dass dahinter politische Interessen stehen. „Wahrscheinlich wollen sie uns und unsere Gäste einschüchtern“, glaubt Demtschenko.
Am 25. Februar kamen aggressive Mitglieder der nationalistischen Bewegung Sewerny tschelowek (dt. Nordmensch) in die Bar, was auf dem Telegram-Kanal der Organisation vermeldet wurde: „Mit Toleranz meinte der Präsident, dass wir uns mit eurer Existenz eben abfinden müssen, aber doch nicht, dass ihr auf eure Rechte pochen könnt! Ihr habt nämlich keine, ihr Sodomiten!“, hieß es in dem nationalistischen Telegram-Kanal.
Demtschenko erzählt, dass die Nationalisten seine Mitarbeiter bedrohten und in die Bar eindrangen, um die Gäste zu verprügeln. „Einige waren nach draußen gegangen, um zu rauchen, aber als sie diese Meute sahen, rannten sie gleich ohne Jacke davon. Wir wollten den Vorfall zur Anzeige bringen, aber die Polizei wehrte ab – angeblich, weil niemand zu Schaden gekommen war“, sagt Demtschenko. Und fügt hinzu: „Es muss also erst einer umgebracht oder zusammengeschlagen werden, bevor wir Anzeige erstatten können.“
Die Bar Elton ist nicht das einzige Lokal, das die Polizei in letzter Zeit auf „LGBT-Propaganda“ hin kontrolliert hat. Am 18. Februar stürmten Polizisten in Koltuschi im Gebiet Leningrad eine private LGBT-Party und verprügelten die Gäste.
Alle, die als Jungs geboren sind – aufstehen!
Ausschnitte aus dem Video des Polizeieinsatzes wurden auf REN TV ausgestrahlt, unter dem Titel LGBT*-Party gegen die SWO(Militärische Spezialoperation). Auf den Bildern waren Menschen zu sehen, die auf dem Boden lagen, und durch die Räume stürmten maskierte Polizisten. Laut der Menschenrechtsorganisation OWD-Info war die Weitergabe der Aufnahmen an den Fernsehsender illegal.
„Hände hinter den Kopf, los, alle! Und jetzt alle, die als Jungs geboren sind, aufstehen und da drüben an die Wand stellen!“, schreit einer der Silowiki in dem Video. In dem Fernsehbeitrag hieß es, die Polizei habe eine Hausdurchsuchung gemacht und Sachen mit LGBT-Symbolik, „verdächtige Dokumente“ und „handgeschriebenes oppositionelles Material“ beschlagnahmt. Ein Partygast erzählte dem Portal Parni + (dt. Jungs +), dass die Polizisten sie vier Stunden lang auf dem kalten Boden liegen ließen und jeden schlugen, der sich rührte. Nicht einmal auf die Toilette durften sie gehen:
„Sie machten derbe Witze und beschimpften uns aufs Übelste. Sie gingen zu jedem hin und fragten: Bist du ein Junge oder ein Mädchen? Und wenn sie sich bei jemandem nicht sicher waren, welches Geschlecht er oder sie hat, musste sich diese Person von einer Ermittlungsbeamtin untersuchen lassen. Ein Mädchen musste ihren Rock hochschieben und ihre Leggings straffziehen, mein Freund musste seine Operationsnarben herzeigen. Und ständig diese Fragen: Ja, wo ist denn nur dein Penis geblieben?“, erzählte einer der Betroffenen Mediazona.
Auch in Tula wurde in der Nacht auf den 18. Februar eine Veranstaltung aufgelöst: die Amore Party – ein Fest der „Liebe, Offenheit und Sexualität“ im Kulturzentrum Tipografija. Uniformierte ohne Dienstabzeichen befahlen den Teilnehmern, sich auf den Boden zu legen, verprügelten einige und zwangen sie, Kniebeugen zu machen und die Hymne von Tula zu singen. Einige Partygäste wurden nach dem Paragrafen zur LGBT-Propaganda angezeigt. OWD-Info zufolge „sagten die Leute ohne Dienstabzeichen von sich, sie hätten am Einmarsch in der Ukraine teilgenommen“.
In Petrosawodsk platzten am 20. Februar Männer vom FSB und von der Nationalgarde in eine geschlossene Queer-Party im Nachtclub Full House, wie Karelija.News berichtete. „Wie wir unseren Quellen entnehmen konnten, steht eine Einwohnerin von Petrosawodsk unter Verdacht, diese LGBT-Community organisiert zu haben. Als Veranstaltungsraum für einschlägige Themenabende habe sie diesen Gastronomiebetrieb genutzt“, heißt es da.
Rückzug der LGBT-Community ins Internet
Solche Razzien wertet der Jurist Maxim Olenitschew als Einschüchterungsmaßnahmen gegen LGBT-Personen: „In der derzeitigen Form sind diese Aktionen rechtlich nicht gedeckt, aber die Staatsmacht setzt die Exekutive dazu ein, alle Arten von Treffpunkten der LGBT-Community zu schließen und ihre Gegenwart in der russischen Gesellschaft zu unterbinden“, sagt er.
Das passiert vor dem Hintergrund, dass sich nach dem Verbot der „LGBT-Bewegung“ durch das Oberste Gericht fast alle Organisationen, die dieses Thema betrifft, ins Internet zurückgezogen haben. „Die einzigen Offline-Plattformen, die in Russland noch verfügbar sind, sind eben LGBT-Clubs und Bars, weswegen die russischen Strafverfolgungsorgane diese ins Visier nehmen“, sagt Olenitschew. Er geht davon aus, dass die Exekutive den Gerichtsentscheid weiterhin auf diese Art umsetzen wird, weswegen ein Teil der LGBT-Lokale schließen wird: Sie können ihre Tätigkeit so nicht fortsetzen.
„Manche Lokale versuchen, sich anders zu orientieren, und üben Selbstzensur, um weiterbestehen zu können“, erklärt der Jurist. Manche Clubs verabschieden sich zum Beispiel von ihren Travestie-Shows, andere streichen die Drag-Queens aus dem Programm. „Die Polizei darf nichts zu beanstanden haben.“
Derzeit würden nach den Razzien noch keine Verfahren nach dem neuen „Extremismus“-Paragrafen eingeleitet, sondern wegen „Schwulenpropaganda“, was nur eine Ordnungswidrigkeit darstellt, erklärt Olenitschew. „Das Verbot der LGBT-Propaganda ist seit zehn Jahren in Kraft. Es ist so unklar und vage formuliert, dass die Strafverfolgungsbehörden es praktisch als Vorwand für alle Amtshandlungen benutzen können, die sie für notwendig erachten“, erklärt der Jurist.
Derartige Maßnahmen der Silowiki sind die erste Stufe der Einschüchterung, ist der Psychologe Iwan Iwanow überzeugt, der mit LGBT-Personen arbeitet. „Trotz der Razzien werden weiterhin Gäste in die LGBT-Clubs kommen. Einerseits, weil ihnen die Gefahr nicht vollends bewusst ist, andererseits aber auch, weil man Menschen nicht davon abhalten kann, sich miteinander zu treffen. Sie werden sich einfach besser verstecken“, lautet die Schlussfolgerung des Psychologen.
Das Oberste Gericht der Russischen Föderation hat am 30. November die „internationale LGBT-Bewegung“ zur „extremistischen Organisation“ erklärt. Menschen aus der Community sehen sich in Russland schon seit Jahren mit immer restriktiveren Gesetzen konfrontiert. Im Juni etwa wurde – angeblich zum Schutz vor ausländischer Einflussnahme – ein Gesetz beschlossen, das geschlechtsangleichende Operationen verbietet. Zuvor wurde das seit 2013 bestehende Verbot „homosexueller Propaganda“ ein weiteres Mal verschärft.
Der Politikwissenschaftler Sergej Medwedew erinnert auf seiner Facebook-Seite an einen Auftritt des russischen Pop-Duos Tatu vor 20 Jahren, bei dem die beiden Sängerinnen „Fuck War“-Shirts getragen und sich auf der Bühne geküsst haben: „Dafür würden sie heute 20 Jahre bekommen. We’ve come a long way baby“.
Obwohl das Urteil offiziell erst 2024 in Kraft treten soll, gab es in Moskau bereits einen Tag nach der Verkündigung erste Razzien in Clubs und Saunen. In Sankt Petersburg hat der bekannte Szeneclub Central Station vorsorglich den Betrieb eingestellt. Welche weiteren Folgen von dem Verbot zu befürchten sind, darüber schreibt Kirill Martynow, Chefredakteur der Novaya Gazeta Europe, in einem Kommentar auf Twitter.
Ich habe den Eindruck, dass nicht allen meinen Landsleuten klar ist, was heute passiert ist. Die Entscheidung des Obersten Gerichts bezüglich LGBTQ-Personen wird für noch mehr Leid und Demütigung queerer Menschen sorgen. Sie ist zudem ein fundamentaler Verstoß gegen die Rechtsgrundlagen des Staates (oder zumindest gegen das, was davon noch übrig war). Und das betrifft uns alle, sogar die Homophoben. Russland schießt sich, wie Dimitri Rogosin [an einem Schießstand 2015 – dek], selbst ins Knie.
Das Urteil beraubt die Menschen ihrer Grundrechte, allein dafür, dass sie existieren
Warum auch Homophobe unter dem „Extremismus“-Urteil leiden werden? Weil es seit dem 30. November 2023 in Russland rechtens ist, Menschen dafür zu verfolgen, wer sie sind. Jetzt muss ein Mensch nicht an politischen Aktionen teilnehmen oder Mitglied einer politischen Organisation sein, um verfolgt zu werden. Wenn Homosexuelle per se zu Mitgliedern einer extremistischen Bewegung erklärt werden, kann es jederzeit auch andere Gruppen treffen. Wie das Apartheidsregime in Südafrika oder die Nürnberger „Rassengesetze“ in Nazi-Deutschland beraubt das Urteil des Obersten Gerichts Menschen ihrer Grundrechte, allein dafür, dass sie existieren. Ramsan Kadyrow behauptete nach zahlreichen Fällen von Folter und Morden an queeren Menschen, in Tschetschenien gebe es keine Schwulen. Jetzt tut das Oberste Gericht das Gleiche für ganz Russland.
Wie im Fall des „Röhm-Putschs“ in Nazideutschland, hängt auch der gegenwärtige Verstoß gegen die Rechte von Millionen Menschen in Russland mit einem politischen Machtkampf zusammen: Putin droht keine Gefahr von innen, aber gerade vor den Wahlen braucht er „Geschlossenheit“ gegen die „westlichen Agenten“. Der Duma-Abgeordnete Andrej Guruljow schlug einmal vor, 20 Prozent der russischen Bevölkerung, die Putin nicht mögen, zu vernichten. Nun ist seine Idee gar nicht so weit weg von der Wirklichkeit. Sie fangen einfach mit LGBT an.
Staatlich geförderte Hetze
Kommen wir zu konkreten Auswirkungen. Was gerade passiert, kann auf zweierlei Weise interpretiert werden. In einem gemäßigten Szenario werden die LGBTQ-Gegner mit Beginn des neuen Jahres, wenn das Urteil des Obersten Gerichts in Kraft tritt, wie schon bei den anderen Kampagnen gegen „Extremismus“ vorgehen: mit Bußgeldern für Symbole, Strafverfahren gegen „Anstifter“ und „böse Gesetzesbrecher“. Das hieße: Wer nicht auffällt, überlebt.
Das Problem dieses gemäßigten Szenarios ist, dass queere Menschen eine enorm große „extremistische Organisation“ sind und die staatliche Hetzkampagne gegen sie in einer homophoben Gesellschaft betrieben wird. Das bedeutet, dass das Oberste Gericht – und natürlich auch Putin, es ist ja seine Kampagne – einen gigantischen Raum für Willkür eröffnen. Menschen werden denunziert, bedroht und erpresst werden. Das alles gab es in der Geschichte der Diskriminierung queerer Menschen schon sehr oft. Der Unterschied liegt bloß darin, dass der Hass und die Hetze nun staatlich gefördert werden und in einer Gesellschaft stattfinden, die vor nicht allzu langer Zeit relativ offen war.
Es entsteht ein regelrechter Markt der Gewalt, der staatlich befördert wird
Menschen, die sich nie mit der Geschichte des Kampfes von queeren Menschen für ihre Rechte befasst haben, verstehen oft nicht, wozu es Veranstaltungen wie den CSD gibt. Ihre wesentliche Funktion liegt darin, homosexuelle Menschen sichtbar zu machen, damit sie niemand damit erpressen kann „allen zu erzählen, was sie machen“. Ein offener Umgang mit sexueller Orientierung gibt in einer freien Gesellschaft Schutz gegen Gewalt und Erniedrigung.
Ich habe große Angst um die Menschen. Sie können wie in Tschetschenien zusammengeschlagen oder vergewaltigt werden, denn die Täter wissen, dass die Opfer die Straftat nicht anzeigen werden, um nicht auf die Liste der „Extremisten und Terroristen“ zu kommen. Es entsteht ein regelrechter Markt der Gewalt, der de facto staatlich befördert wird.
Tausende weitere Menschen werden aus Russland fliehen – Menschen, die bis zuletzt auf Veränderungen gehofft hatten und im Land geblieben waren.
Etwa 500 Schüler und Studenten aus ganz Russland sitzen auf bunten Sitzkissen im Halbkreis. Sie sind Teilnehmer des exklusiven Coaching-Programms Neue Horizonte, mit dem sich die staatsnahe Stiftung Snanije (dt. Wissen) an die russische Elite von morgen wendet. Der Mann in der Mitte, dem alle gebannt zuhören, erzählt von den 10 Prinzipien einer effektiven Führungskraft.1
Dass es dabei dem Namen nach nicht um einen effektiven Manager geht, ist wahrscheinlich kein Zufall – denn dieser Begriff ist im russischen Politjargon sehr mehrdeutig: Manche verbinden ihn (galgenhumorig) mit Stalin oder Berija, andere assoziieren damit den Vortragenden selbst, Sergej Kirijenko. Der Erste stellvertretende Leiter der Präsidialadministration hat zudem noch ganz andere Spitznamen: Kinderüberraschung etwa, oder Vizekönig von Donbass.
Unumstritten sind diese Zuschreibungen nicht. Der Vortrag verdeutlicht aber, dass Kirijenko ein sehr guter Redner ist: Er spricht zielgruppengerecht, interagiert mit dem Publikum und holt es immer wieder mit aktuellen Beispielen aus dem Donbas ab. Es ist ein Heimspiel für Kirijenko, denn er ist der zivile Statthalter der 2022 annektierten ukrainischen Gebiete. Zudem ist Kirijenko neben Alexej Gromow für die (Des-)Informationsagenda sowie die Medien- beziehungsweise Propagandapolitik Russlands zuständig. In seiner Eigenschaft als Erster stellvertretender Leiter der Präsidialadministration steuert er die Innenpolitik Russlands. Mit dem Aufbau von Kaderschmieden, Initiativen und gelenkter Zivilgesellschaft richtet sich seine Politik vor allem an die jüngeren Menschen. Die Grundzüge patriotischer Erziehung, die Kirijenko in sein Management-Coaching einflicht, wirken anders als die aggressive Kriegspropaganda in den Staatsmedien. Ruhig und heiter vermittelt er seine Inhalte: Hart in der Sache, sanft im Ton. Hier formt er mit Begeisterung die nächste Generation der Verwaltungselite. Womöglich erweckt dies in ihm Erinnerungen an den Komsomol, die Jugendorganisation der kommunistischen Partei, wo auch seine Karriere einst begann.
Der Komsomolze
1962 in Suchumi geboren, wuchs Sergej Kirijenko in Sotschi auf. Anschließend ging er zum Studium nach Nishni Nowgorod. Dort leitete sein Vater an der Technischen Universität für Wassertransport den Lehrstuhl für wissenschaftlichen Kommunismus – und war so direkt für die Indoktrination der Studierenden zuständig.2 1984 absolvierte Kirijenko das Institut als Schiffbauingenieur, trat in den Komsomol ein und beendete anschließend seinen Militärdienst in der ukrainischen Stadt Mykolajiw (Nikolajew).3 1986 nach Nishni Nowgorod zurückgekehrt, leitete Kirijenko als Meister eine Arbeiterbrigade in den traditionsreichen Schiffsbauwerken Krasnoje Sormowo. Dort beteiligte er sich an der Fertigung von Atom-U-Booten.
Sein Aufstieg ist auch Thema des besagten Vortrags: Immer wieder betont Kirijenko die Wichtigkeit des effizienten Lernens. In einer sich stetig wandelnden Welt sei die Fähigkeit, sich schnell umzuorientieren, für den Wettbewerbsvorteil entscheidend. Er erzählt von seiner Ingenieursarbeit in Krasnoje Sormowo, bei der er seine Parteikarriere verfolgte und sich schnell als Komsomol-Sekretär etablierte – zunächst nur für die Schiffsbauwerke, dann für das ganze Stadtgebiet Gorki.
Der Komsomol bot während der Perestroika ambitionierten jungen Menschen nicht nur Aufstiegschancen in der Parteihierarchie und Verwaltung. Er war zugleich eine Art Schule des Unternehmertums, wo die späteren Oligarchen, wie etwa Michail Chodorkowski, ihre ersten Gehversuche in der Marktwirtschaft machten.4 Auch Kirijenko eröffnete Ende der 1980er Jahre zusammen mit anderen Komsomolzen eine Import-Export-Firma mit dem klangvollen Namen Aktienkonzern der Jugend (AMK – akzionerny molodeshny konzern). Auch in dieser Position mauserte er sich schnell zum Generaldirektor. Gleichzeitig startete er seine politische Karriere: Mutmaßlich mit Hilfe seines Vaters, der nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zwei PR-Agenturen in Nishni Nowgorod eröffnet hatte, wurde er 1990 als Abgeordneter in den Landtag von Gorki gewählt. Parallel dazu ließ er sich an der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Öffentlichen Dienst (RANCHiGS) zum Finanzwirt ausbilden. 1993 wurde er Vorstand der Bank Garantija: Die größte Bank der Stadt führte unter anderem die Rentenkonten der Regionalverwaltung. Faktisch stand ihr damals Boris Nemzow vor, jüngster Gouverneur Russlands. Für Kirijenko erwies sich diese Bekanntschaft fortan als größter Karriereantrieb.
Der Premierminister
Nemzow genoss überregionale Popularität als charismatischer liberaler Reformer und potentieller Nachfolger für das Präsidialamt. Noch bevor er 1997 von Boris Jelzin in die Zentralregierung auf den Posten des Ersten Vize-Ministerpräsidenten mit Schwerpunkt Energiewirtschaft berufen wurde, ernannte Nemzow seinen Vertrauten Kirijenko zum Direktor des staatlichen Energiekonzerns Norsi-Oil in Nishni Nowgorod. Schon bald folgte Kirijenko Nemzow nach Moskau; zuerst als sein Stellvertreter, wenige Monate später als Energieminister. Doch viel Zeit, sich in seine neue Rolle einzugewöhnen, hatte er nicht. Innerhalb eines Jahres überflügelte Kirijenko seinen Förderer, als Jelzin ihn im März 1998 zum Premierminister ernannte. Mit 35 Jahren war er der jüngste Regierungschef in der russischen Geschichte. Seitdem haftet ihm der Spitzname „Kinderüberraschung“ an. Er blieb nur fünf Monate im Amt.
War Kirijenko ein Bauernopfer, das den Default abfedern sollte? Die Geschichte scheint dafür zu sprechen: Die Währungskrise in Asien 1997 hatte auch in Russland eine Kapitalflucht ausgelöst. Internationale Anleger entschieden sich dazu, ihr Geld lieber in stabilere Ökonomien zu investieren. Der russische Staat war gezwungen, die Zinsen für Staatsanleihen zu erhöhen, um die so entstandenen Löcher im Haushalt zu stopfen. Dadurch verschlechterten sich die Bedingungen für Umschuldung. Gleichzeitig verringerte ein Preiseinbruch auf den internationalen Rohstoffmärkten, insbesondere bei Öl und Gas, die Staatseinnahmen. Hinzu kam, dass der Rubel überbewertet und sein Wechselkurs fest war, was wirtschaftliche Akteure zum Verkauf der russischen Währung animierte. Trotz massiven Einsatzes von Währungsreserven zur Stützung des Rubels konnte die Situation nicht unter Kontrolle gebracht werden. Am 17. August 1998 war Kirijenko gezwungen, den Staatsbankrott zu erklären, den Rubel freizugeben und damit seine Abwertung einzuleiten.
In der Folge verloren viele Sparer ihr Geld, Präsident Jelzin entzog dem jungen Premierminister das Vertrauen. Viele Menschen in Russland verbinden den Default als existenzbedrohende Erfahrung seither mit Kirijenkos Namen. Heute gilt der Staatsbankrott als eine von „Liberalen“ verschuldete Katastrophe der wilden 1990er Jahre.
Kirijenkos Amtszeit als Ministerpräsident war zwar kurz, aber bewegt. Besonders eine Personalentscheidung Jelzins, deren Verkündung Kirijenko oblag, sollte sich als besonders folgenreich erweisen: Rund ein Monat, bevor er den Hut nehmen musste, verkündete er, dass Jelzin seinen Ersten stellvertretenden Leiter der Präsidialadministration, Wladimir Putin, nun zum Direktor des Inlandsgeheimdienstes FSB ernannt hat. Knapp ein Jahr später, im August 1999, war Putin bereits Premierminister. In dieser Eigenschaft traf er im Dezember 1999 erneut mit Sergej Kirijenko zusammen, der bei Putin nun für die von ihm mitbegründete Union der rechten Kräfte (SPS) werben wollte. Heute kann man dieses Treffen als Geburtsstunde der sogenannten Systemopposition im postsowjetischen Russland betrachten: Gemeint sind Parteien, die vom Kreml geschaffen wurden, um zum Schein die Rolle der Opposition zu spielen. Offizielles Ziel der SPS war eine Neuaufstellung der liberalen Kräfte in der russischen Politik. Kirijenko stand persönlich für einen dezidiert pro-europäischen Kurs der SPS. Bei den Wahlen zur Staatsduma 1999 erreichte die SPS fast neun Prozent der Stimmen und zog ins Parlament ein. Kirijenko wurde Fraktionsvorsitzender. Bei den gleichzeitig stattfindenden Bürgermeisterwahlen in Moskau unterlag er jedoch mit 11,3 Prozent deutlich dem Amtsinhaber Juri Lushkow.
Kurz nachdem Putin zum Jahreswechsel 2000 das Präsidentenamt übernommen hatte, holte er Kirijenko in die Präsidialadministration. Die Arbeit am Abbau der Gewaltenteilung begann, Putin rezentralisierte Russland und beschnitt die Kompetenzen der Föderationssubjekte. Schon im Mai führte er per Dekret damals sieben Föderationskreise ein. Kirijenko wurde zu Putins bevollmächtigtem Vertreter für den Föderationskreis Wolga. Damit beendete er seine politische Karriere und begann eine neue als hochgestellter Beamter der Präsidialverwaltung.
An seiner alten Wirkungsstätte Nishni Nowgorod konnte Kirijenko auf ein dichtes Netz an Bekanntschaften zurückgreifen, die ihm eine effektive Steuerung der Regionalpolitik im Sinne des Kreml ermöglichten. Besonders beeindruckend für Putin erwies sich dabei wohl der beharrliche Ansatz Kirijenkos im Umgang mit den eigenwilligen Regionaleliten von Tatarstan und Baschkirien, die er trotz Widerstände in die Machtvertikale integrieren konnte.5
Mit solchen Erfolgen empfahl sich Kirijenko für einen höheren Posten im Staatsapparat. Im November 2005 wurde er schließlich zum Leiter der Föderalen Agentur für Atomenergie. Er gestaltete die Behörde in die Staatsholding Rosatom um und verwandelte sie innerhalb von knapp elf Jahren zu einem globalen Player im Aufbau von Energieinfrastruktur. In dieser Zeit knüpfte Kirijenko auch enge Beziehungen zu dem Bankier Juri Kowaltschuk, der als „Putins Brieftasche“ bekannt ist.
Der Polittechnologe
Doch nach knapp elf Jahren an der Spitze von Rosatom war Kirijenko den Beobachtern eine weitere Überraschung schuldig. 2016 ernannte Putin ihn zum Еrsten stellvertretenden Leiter der Präsidialadministration mit dem Aufgabenschwerpunkt Innenpolitik.6 Laut Einschätzung des Journalisten Andrej Perzew haben Kirijenkos Vorgänger auf diesem Posten, Wladislaw Surkow und Wjatscheslaw Wolodin, immerhin mit dem russischen Elektorat zusammengearbeitet, um die Unterstützung für den Regierungskurs und Putin persönlich zu mobilisieren – wenn auch in höchst manipulativer Manier. Kirijenko hingegen ging direkt zur Inszenierung (zivil)gesellschaftlicher Unterstützung über, zur Herstellung von Akklamation, die exklusiv die Erwartungshaltung Putins bedienen sollte.7
Die unmittelbar anstehende Parlamentswahl 2016 wurde zur Bewährungsprobe für Kirijenko. Dabei musste zum ersten Mal auch die annektierte Halbinsel Krim in die Wahl der Staatsduma „integriert“ werden. Im Endergebnis sicherte Kirijenko mit 54,2 Prozent ein überragendes Ergebnis für Einiges Russland, indem er unter anderem Beschäftigte aus dem öffentlichen Dienst zu Propagandaveranstaltungen delegierte und ihnen durch engmaschige Kontrolle die richtige Wahlentscheidung diktierte.8 Die auf diese Weise entwickelten Instrumente der Masseninszenierung, die letztlich auf Zwangswahlen hinausliefen, verfeinerte Kirijenko anschließend bei der Präsidentschaftswahl 2018 und bei der Abstimmung zur Verfassungsänderung 2020. Das eine sicherte Putins Wiederwahl mit 76,69 Prozent, das andere bescherte ihm die Aussicht auf weitere 16 Jahre an der Macht.
Inszenierungen, Manipulation der öffentlichen Meinung und Einsatz der sogenannten Adminressource gelten als übliche Technologien von Spin Dictatorships.9 Für diese Instrumente des Machterhalts sind im Kreml vor allem zwei Bürokraten zuständig: Kirijenko und sein gleichrangiger Kollege Alexej Gromow. Gromow verantwortet unter anderem die Überwachung und Propaganda in analogen Medien, Kirijenko entwirft und lenkt als oberster Polittechnologe und Eventmanager die Imitationen zivilgesellschaftlicher Institutionen, treibt die Professionalisierung der Verwaltungsabläufe voran und steuert die russische Internet-Politik. Zusammen entscheiden die beiden über die sogenannten metoditschki – Leitfäden, die die mediale Berichterstattung vorgeben.
Dieses polittechnologische Handwerkszeug nutzt und entwickelt Kirijenko schon so lang wie auch seine Verbindungen zu den Methodologen. Um dieses Netzwerk der bereits in sowjetischer Zeit entstandenen Schule um Georgi Schtschedrowitski, in deren Umfeld die für Putins aggressiven Expansionskurs grundlegende Ideologie der „Russischen Welt“ entstanden ist, macht er kein Geheimnis.10 Die Netzwerke der Methodologen umspannen immer noch den engsten Kreis der Putin-Vertrauten.11
Der Okkupant
Anders als die sowjetischen Dissidenten setzten die Methodologen darauf, den Parteiapparat und vor allem seine Jugendorganisation Komsomol zu infiltrieren, um die sowjetische Verwaltung und Marktwirtschaft zu reformieren. Die spielerische Aufmachung von Management-Coachings galt als eines der effektivsten Ansätze der Methodologen, auch Kirijenko soll die Methoden weiterentwickelt haben. Vor allem die Steuerung der Bewegung der Ehrenamtlichen und Trainings für die Verwaltungselite erwiesen sich wohl als nützlich, als Kirijenko die Aufgabe zufiel, die besetzten ostukrainischen Gebiete in die Russische Föderation zu „integrieren“.12
Für den Einsatz in der Ostukraine bereitet Kirijenko im Mai 2022 auch seine Zuhörer vor. In Allgegenwart des zu einem Z stilisierten Logos der Stiftung Wissen (russ. Znanie), spricht er über die sogenannte militärische Spezialoperation: Kirijenko interagiert zielgruppengerecht, schaut in die Gesichter der zukünftigen Verwaltungselite, die er aufgebaut hat und auf die er sich schon morgen stützen kann – es ist sein persönlicher Komsomol.
Kirijenko betont immer wieder: Der Donbass erhält materielle Hilfe von russischen Regionen. Aber die russischen Regionen erhalten auch etwas vom Donbass: Die Region lehrt Patriotismus, Willen zur Selbstbestimmung und Glauben.
Glaube – das ist die Krönung seiner 10 Prinzipien des effektiven Managements. Er beendet seine Ausführungen mit einem anschaulichen Beispiel: Wenn man Mäuse in einen halb gefüllten Wassereimer hineinwirft, dann halten sie sich etwa 15 Minuten über Wasser, bevor sie erschöpfen und ertrinken. Wenn man sie kurz vor dem sicheren Tod aus dem Wasser herausnimmt, sie etwas zu sich kommen lässt und später erneut hineinwirft, halten sie 60 Stunden durch – weil sie hoffen und glauben. „Nun stellt euch vor, was die Kraft des Glaubens mit Menschen ausrichten kann“, sagt Kirijenko und schaut die jungen Menschen auf den bunten Sitzkissen an. Schon bald werden auch sie in den Krieg hineingeworfen.
Die Wolga-Metropole Nishni Nowgorod, während der Sowjetzeit in Gorki umbenannt, hatte wegen hoher Konzentration von Rüstungsbetrieben den Status einer „geschlossenen Stadt“. Sie durfte von Ausländern nicht besucht werden und unterlag einer sehr strengen Kontrolle durch die Geheimdienste. Seit 1980, während der Studienzeit Kirijenkos, war die Stadt darüber hinaus als Verbannungsort des bekanntesten sowjetischen Dissidenten, Nobelpreisträgers und Menschenrechtlers, Andrej Sacharow, bekannt. ↩︎
Kaminskij, Konstantin (2017): Another Life of the Soviet Intelligentsia and the Subconscious of Neo-Russian Liberalism. In: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte 21,2 (2017), S. 13-40. ↩︎
„Das Fernsehen ist jener Ort, an dem ich mehrere Leben gleichzeitig leben kann“ – diese Worte wiederholt der Generaldirektor des Perwy Kanal in Interviews gerne. Ob vor oder hinter der Kamera, ob als Regisseur, Drehbuchautor oder Produzent zahlreicher Filme und Serien – der Name Konstantin Ernst taucht in fast allen zeitgenössischen medialen Produktionen auf. Ohne Zweifel ist Ernst eine der mächtigsten und einflussreichsten Persönlichkeiten der russischen Medienwelt. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine steht er für „die Mitwirkung bei der Verbreitung von anti-ukrainischer Propaganda“ unter internationalen Sanktionen. Wie kaum ein anderer ist Ernst in der Lage, Stimmungen zu erfassen und weiterzugeben. Konstantin Ernst ist jedoch kein plumper Propagandist, sondern in erster Linie ein geschickter Medienmanager und kreativer Kopf, der das russische Staatsfernsehen reformiert und modernisiert hat.
Seine Karriere beim Fernsehen begann in einer Zeit des Umbruchs und Neubeginns: 1988 fing Ernst beim damaligen Sender ORT an. Mit Ende 20 wurde er Regisseur, Drehbuchautor und Moderator bei Wsgljad (dt. Blick) – einem der bekanntesten Programme der Perestroika-Zeit. Ab 1991 produzierte und moderierte er fünf Jahre lang seine eigene Sendung Matador im Nachtprogramm des Senders, die beim Publikum sehr beliebt war. In essayartigen Sendungen widmete sich Ernst dort vor allem seiner großen Leidenschaft, der Kino- und Filmindustrie. Er träumte davon, einmal selbst zum Kino zu gehen, doch dann kam alles anders: Im März 1995 erschossen Unbekannte den ORT-Direktor Wladislaw Listjew. Konstantin Ernst wurde sein Nachfolger.
Modernisierer des Perwy Kanal
In seiner neuen Position reformierte Ernst ORT und trug damit wesentlich zum Erfolg des Senders bei, der 2002 in Perwy Kanal umbenannt wurde. Sein Ziel war es, dem staatlichen Fernsehen wieder zu hohen Einschaltquoten zu verhelfen und Stabilität zu schaffen, was ihm unter anderem durch die vermehrte Aufnahme von Spielfilmen ins Programm sowie neue Produktionen gelang. So verantwortete er beispielsweise Russki Projekt (dt. Das Russische Projekt) – die erste sogenannte soziale Werbekampagne der russischen Regierung nach dem Ende der Sowjetunion. Mit einfachen, aber eindringlichen Bildern sollten die anderthalb bis zweiminütigen Clips die Bevölkerung an wichtige gesellschaftliche Werte erinnern. Häufig endeten sie mit einem moralisierenden Appell: „Denk an deine Liebsten“, „Glaube an dich selbst“ oder „Setzen Sie sich realistische Ziele“.1
Ernst verstand, dass er das Publikum auf einer emotionalen Ebene erreichen muss, wenn er moralische Botschaften übermitteln will. Er entwickelte Unterhaltungsprogramme wie Proshektor Paris Hilton (dt. Paris Hilton im Rampenlicht), die Erfolgstalkshow Pust goworjat (dt. Lasst sie reden) oder die mehrteiligen Musikfilme Staryje pesni o glawnom (dt. Alte Lieder über das Wesentliche). Das Fernsehen ist außerdem jener Ort, an dem Ernst seiner großen Leidenschaft für die Filmkunst nachgehen kann. So produzierte er zahlreiche erfolgreiche Filme und Serien der letzten zwei Jahrzehnte. Dazu gehören etwa die Filme Notschnoi dosor (dt. Wächter der Nacht, 2004) und Dnewnoi dosor (dt. Wächter des Tages, 2005), die Fortsetzung des beliebten Klassikers Ironija sudby (2007) (dt. Ironie des Schicksals), ein Biopic über den Sänger Wladimir Wyssozki (2011) und der Historienfilm Wiking (2016) über Fürst Wladimir I.
Mediale Megaevents für das Putin-Regime
Seit 1999 hat Ernst nicht nur den Posten des Generaldirektors des Perwy Kanal inne, sondern er ist auch Hauptproduzent medialer Großereignisse, wie zum Beispiel des Eurovision Song Contests 2009 in Moskau, der Eröffnungs- und Schlusszeremonie der Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi, sowie der Fußballweltmeisterschaft 2018. Ernst war es auch, der die jährliche Call-in-Show Prjamaja linija s Wladimirom Putinym (dt. Direkter Draht mit Wladimir Putin) ins Leben gerufen hat. Jedes Jahr am 9. Mai produziert er die Übertragung der Siegesparade in Moskau. Der begeisterte Cineast weiß seine Leidenschaft für Hollywood-Filme in diese monotonen Ereignisse einfließen zu lassen und sie in mediale Spektakel zu verwandeln: So ließ er unter anderem Kameras in den Cockpits von Kampfflugzeugen installieren, um dem Publikum Aufnahmen wie im amerikanischen Action-Drama Top Gun zu liefern.
Nicht zuletzt aufgrund der Produktion medialer Megaevents gilt Ernst als „Kreativdirektor“ des Kreml und hauptverantwortlicher Gestalter des visuell-medialen Stils des Putin-Regimes. Der Kreml hat ihn dafür mit Auszeichnungen überhäuft: Er erhielt zahlreiche Urkunden, Medaillen und Orden. So verlieh Putin ihm unter anderem 2021 den höchsten Grad des Ordens für Verdienste um das Vaterland. Ernst ist außerdem mehrfacher Gewinner des wichtigsten russischen Fernsehpreises Tefi, Mitglied zahlloser Verbände und Akademien sowie Teil des Kuratoriums des Fond Kino, der wichtigsten Finanzierungseinrichtung der russischen Regierung für die russische Filmproduktionsindustrie.
Vom Wissenschaftler zum Fernsehmogul
Eine Karriere in Film und Fernsehen schien dem 1961 in Moskau geborenen Konstantin Ernst zunächst nicht in die Wiege gelegt. Wie sein Vater Lew Ernst sollte er Wissenschaftler werden. Dieser war ein bekannter Biologe, Vize-Präsident der Sowjetischen Akademie für Landwirtschaftswissenschaften und Begründer der sowjetischen Schule für Genetik. Lew Ernst war somit der erste Wissenschaftler in einer Familie, die vorwiegend bei der Eisenbahn gearbeitet hatte – Konstantin Ernsts deutscher Ur-Ur-Großvater Leo Ernst kam im 19. Jahrhundert zum Bau der Eisenbahn ins Russische Kaiserreich, heiratete und blieb.
Konstantin Ernst studierte Biologie und erhielt nach Abschluss des Doktorats im Bereich der Genetik 1986 ein prestigeträchtiges Angebot für ein zweijähriges Praktikum an der Universität Cambridge. Aber er lehnte ab und machte sich stattdessen an die Arbeit an seinem ersten Film. Zunächst produzierte er einen Videoclip für das Lied Aerobika der Rockgruppe Alisa, danach folgte der avantgardistische Dokumentarfilm Homo duplex sowie die Verfilmung eines Konzerts des populären Rock-Barden Boris Grebenschtschikow in Leningrad. Durch diese Arbeit wurde der damalige Moderator von Wsgljad, Jewgeni Dodolew, auf Ernst aufmerksam. Dodolew engagierte ihn als Regisseur und Produzenten – es war der Startschuss für Ernsts Höhenflug beim Fernsehen.
Ein Mensch der Gegensätze
Bereits an seinen Debüt-Arbeiten und seinem beruflichen Werdegang zeigt sich, dass Ernst ein Mensch der Gegensätze ist: Er wurde im analytisch-strukturierten Denken ausgebildet, aber seine Leidenschaft gilt der Filmkunst. 2021 wurde bekannt, dass ein Unternehmen, das mit Ernst in Verbindung gebracht wird, zahlreiche Kinotheater aus der Sowjetzeit in Moskau abreißen ließ. An ihrer Stelle wurden Einkaufszentren errichtet – der große Freund des Kinos ist somit zugleich sein Zerstörer.2 Der Perwy Kanal ist Ernsts Erfolgsprojekt; gleichzeitig ist er mitverantwortlich für dessen hohe Verschuldung.3 Auch unter seinen Mitarbeitern ist er umstritten. So hat beispielsweise eines der bekanntesten Gesichter des Perwy Kanal, Andrej Malachow, den Sender aufgrund von Konflikten mit Ernst verlassen.
Seine Ausbildung und gesellschaftliche Stellung machen Ernst zu einem Vertreter der Intelligenzija. Er ist jedoch auch Hauptverantwortlicher für aggressiv-propagandistische Talkshowformate wie Wremja pokashet (dt. Die Zeit wird es zeigen). Derartige Programme zeugen von seinem Wunsch, die Menschen emotional zu lenken, sowie von seiner Sicht auf die Rolle des Fernsehens in der Gesellschaft: Wie er bereits 2004 anlässlich des Geiseldramas in Beslan und der spärlichen Berichterstattung darüber im Perwy Kanal gegenüber der Financial Times erklärte, ist es in seinen Augen die wichtigste Aufgabe des Fernsehens, das Land zu mobilisieren; erst an zweiter Stelle komme die Aufgabe, die Menschen zu informieren.4
Meister der Inszenierung
In seiner Rolle als Generaldirektor eines der wichtigsten Fernsehsender Russlands sowie als Produzent zahlreicher Filme agiert Ernst im Spannungsfeld von Einschaltquoten, Vorgaben aus dem Kreml und eigenen künstlerischen Ambitionen. Tatsächlich wurde unter Ernsts Anhängern spekuliert, dass dieser für die Möglichkeit, mediale Großprojekte realisieren zu können, die Propaganda für den Kreml in Kauf nehme.5 Ernst definiert sich allerdings selbst als Vertreter eines starken Staates (gosudarstwennik) und kann daher als loyaler Anhänger des Putin-Regimes bezeichnet werden. So erklärte er einmal in einem Gespräch mit einem Journalisten des New Yorker, dass es seltsam wäre, wenn ein staatlicher Sender eine regierungsfeindliche Haltung einnehmen würde.6 Trotzdem bewahrte Ernst stets den künstlerischen Anspruch an sein Programm. Über lange Zeit hatte der Perwy Kanal bei der Propaganda nie ein gewisses Niveau unterschritten. Angesichts der Geschmacklosigkeiten in Wremja pokashet hat jedoch auch diesen Sender die politische Realität inzwischen eingeholt. Ernsts Aufmerksamkeit gilt heute umso mehr den Unterhaltungsprogrammen, da hier der kreative Spielraum noch am größten ist. Diese Projekte zeigen Ernsts persönlichen Ehrgeiz, sich technisch mit Hollywood zu messen und die amerikanische Filmfabrik zu übertreffen, denn inhaltlich habe diese in den letzten 15 Jahren „nur Mist“ hervorgebracht, wie er bei einem öffentlichen Auftritt abschätzend erklärte.7
Die von Ernst produzierten Fernsehserien und Spielfilme, die oft Rekordsummen verschlingen, transportieren vor allem eines – die russische Staatsideologie. So fällt beispielsweise in der Serie Trotzki (2017) die historische Genauigkeit der Symbolik zum Opfer: Trotzki wird als Marionette ausländischer Kräfte dargestellt, Revolutionen werden als etwas Fatales präsentiert. Auch das Drama Wysow (dt. Die Herausforderung) aus dem Jahr 2023 hat in erster Linie politische Bedeutung: Der angeblich im Weltraum gedrehte Film soll den „erneuten“ Sieg über Amerika beim Wettlauf ins All demonstrieren. Die politische Dimension zeigt sich auch darin, dass Konstantin Ernst sowie die Schauspielerin Julia Peresild dafür prompt eine Auszeichnung erhielten – und zwar von Wladimir Putin persönlich. Zufrieden zurücklehnen wird sich Ernst deshalb bestimmt nicht. Er greift weiter nach den Sternen und kündigt an: Eine Fortsetzung des Blockbusters solle „auf dem Mond“ gedreht werden.8
In einem dieser Videos schenkt eine Frau, deren Mann sie nach einem Streit auf der dunklen Straße ausgesetzt hat, einem jungen Liebespaar ihren Hut. Als sie in die Nacht hineinwandert, erscheint die Überschrift: „Passen Sie auf die Liebe auf“. ↩︎
Die Ideologie des Russki Mir beschreibt Russlands Konfrontation mit dem Westen als apokalyptischen Kampf zwischen Gut und Böse. Ein einstmals international gefeierter Regisseur deutet ein eingeritztes Zeichen im Boden einer Moskauer Kirche als Beleg dafür, dass der Angriffskrieg gegen die Ukraine auf göttlicher Vorsehung beruhe. Die orthodoxe Kirche übernimmt Formulierungen von Ideologen, die sie früher wegen Okkultismus und Satanismus bekämpft hat. Wladimir Putin argumentiert mit „Erkenntnissen“, die sein Geheimdienst mit Hilfe von Gedankenlesern errungen haben will. Der Präsident und sein Verteidigungsminister besuchen gemeinsam „Kraftorte“ in der Taiga. Woher dieser Trend zum Magischen in der russischen Führung kommt, schildert der Religionsexperte Alexander Soldatow in der Novaya Gazeta.
Im Zuge der wachsenden Sinnkrise der „militärischen Spezialoperation“ tauchen immer öfter Begriffe wie „Magie des heiligen Krieges“ oder „Blut- und Opferkult“ auf. Die Bemühungen des Patriarchen Kirill, das Geschehen in ein christliches Gewand zu hüllen, klingen wenig überzeugend. Besser funktioniert da schon das Verschwörungskonstrukt von Alexander Dugin oder die heidnisch-manichäische Doktrin des Russki Mir.
Das lateinische Wort occultus bedeutet so viel wie „geheim“, „verborgen“. Und während die großen klassischen Religionen offen predigen, liegt der Reiz des Okkulten im Verborgenen, in seinem esoterischen Charakter. Träumen Sie von geheimen Instrumenten der Weltpolitik, und möchten Sie ewig in Ihrem physischen Leib leben? Dann ist Okkultismus genau das Richtige für Sie. Besonders hilfreich beim Eintauchen in esoterische Tiefen sind Verschwörungserzählungen.
Die Doktrin des Russki Mir, die der Russischen Föderation heute als Ideologie dient, ist durch und durch konspirologisch. Im vergangenen Jahr haben orthodoxe Theologen aus mehreren Ländern diese Doktrin in einer gemeinsamen Erklärung kritisiert. Sie verglichen sie mit dem Manichäismus – dem Glauben an einen ewigen Kampf zwischen Gut (Russland) und Böse (der Westen). Wenn es sich bei der „Spezialoperation“ um eine metaphysische Schlacht handelt, wie Patriarch Kirill behauptet, dann reichen weltliche – militärische und politische – Mittel allein nicht aus, um sie zu gewinnen. Dann braucht man „Hilfe von oben“.
Die Facetten der neuen russischen Konspirologie
„Ein böses und ehebrecherisches Geschlecht verlangt ein Zeichen“, sprach Jesus (Matthäus-Evangelium 12:39). Wenn man eines braucht, dann findet man auch ein Zeichen – und den Einen oder Anderen vermag es sogar zu überzeugen. So entdeckte Nikita Michalkow in der Großen Christi-Himmelfahrt-Kirche in Moskau ein „Z“ (welches man übrigens auch als „N“ lesen kann), das jemand im 19. Jahrhundert in den Steinboden geritzt haben soll. Daraus schlussfolgerte der Großmeister des Kinos: „Also ist das [was in der Ukraine geschieht] von Gott gewollt“.
Einer gründlicheren Suche nach einer orthodoxen Rechtfertigung für die „Spezialoperation“ widmete sich im vergangenen Oktober das Weltkonzil des Russischen Volkes in der Christ-Erlöser-Kathedrale. Einer der Ideologen des Konzils war Alexander Dugin, dem die Russisch-Orthodoxe Kirche einst mit Misstrauen begegnete, weil seine Schriften eine Fülle von okkulten Verschwörungsmythen enthielten. Nun finden sich Dugins Gedanken in den Abschlussdokumenten des Konzils wieder: „Der Westen ist eine Idee. Die Einpflanzung dieser Idee begann mit der Säkularisierung, die das Göttliche vom Menschlichen trennte … Die Spezialoperation ist ein Krieg zwischen Himmel und Hölle.“
Vordenker des Nationalsozialismus als Inspiration
Auf Dugins Lehren, die von russischen Intellektuellen bisher belächelt wurden, muss man nun genauer schauen – der ideologische Überbau der „Spezialoperation“ ist unübersehbar von seinen Postulaten beeinflusst. Dugins Ansichten gediehen im mystischen Nebel des Jushinski-Zirkels, der in den 1960er Jahren von dem Schriftsteller Juri Mamlejew gegründet wurde. Die Teilnehmer – überwiegend Studenten – probierten sich durch sämtliche ihnen zugängliche esoterische und magische Praktiken, psychedelische eingeschlossen. Nach Radikalität strebend, entdeckten die Mamlejew-Anhänger die Ideologie der europäischen Rechtsextremen für sich. Dugin verbreitete im Folgenden die Ideen des französischen Traditionalisten René Guénon und des italienischen Esoterikers Julius Evola. In seinem Buch Heidnischer Imperialismus schreibt Evola: „Der Mensch besitzt keinen Wert an sich. Sein Leben wird durch und durch vom Kastensystem bestimmt und entfaltet sich erst im Imperium … Der Humanismus ist das Böse. Der Imperator steht über der Religion … Die wahre Freiheit ist die Freiheit zu dienen.“ Auf der Suche nach einem Ort, an dem er seinen rechtsextremen Ideen nachgehen konnte, trat Dugin der [National-patriotischen Front] Pamjat bei, wo man ihn jedoch wegen seines „okkulten Satanismus“ rauswarf. Bald darauf gründete er seine Eurasische Bewegung.
Der heutige Kriegsphilosoph begeisterte sich für die Mystik des Dritten Reiches. In Archiven studierte er die Schriften der okkulten SS-Abteilung Ahnenerbe, und sein Buch Hyperboreische Theorie gibt die Anschauungen eines ihrer Köpfe wieder – Herman Wirth.
In seinem Almanach Das Ende der Welt publiziert Dugin Werke des englischen Schwarzmagiers und Begründers des Ordo Templi Orientis Aleister Crowley, der dem Satanismus nahe stand. Dugins Kernidee, die der Kreml und das Weltkonzil des Russischen Volkes übernommen haben, ist der „okkulte geopolitische Dualismus“. Für die Anhänger dieser Idee ist die Weltgeschichte einzig ein Kampf zwischen dem Atlantischen Orden des Todes und dem Eurasischen Orden des Lebens. Diese Theorie gipfelt in einer grotesken Rassenlehre: Laut Dugin stammen die reinrassigen Arier von Cro-Magnon-Menschen ab, während die westlichen „Dämonen-Menschen“ von den Neandertalern abstammen. Seine Überzeugungen betrachtet der Chefdenker der Eurasier als durchaus orthodox, genauer noch: als altgläubig – und bezieht sich dabei auf die Starowerzy (dt. Altgläubige), wurzelnd in einer volkstümlichen esoterischen Strömung, die von der offiziellen Kirchen vergessen worden sei.
Moskau als Nachfolgerin von Byzanz
Eine andere Figur, die einen religiösen Einfluss auf das aktuelle Geschehen hat, ist Metropolit Tichon (Schewkunow), ehemals Archimandrit des Sretenski-Klosters auf der Lubjanka, jetzt Metropolit von Pskow. Tichon und Putin verbindet eher Freundschaft, wobei dem Lubjanka-Archimandrit einst die Rolle des persönlichen Geistlichen des Präsidenten zugeschrieben wurde. Ihre Freundschaft reicht lange zurück: Bereits 2001 begleitete Tichon Putin zum Starzen Johann Krestjankin, und vor kurzem besuchten sie gemeinsam das Freilichtmuseum Chersonesos von Tauria auf der Krim. Tichons Ideologie ist zwar orthodoxer und weit entfernt von Dugins kruden Theorien, aber in der Praxis führt sie zu denselben Schlüssen.
Tichons Lehre zufolge ist Russland von Gott als Nachfolger von Byzanz auserwählt und dazu berufen, ein Abbild des Reiches Gottes auf Erden zu sein. Doch eine Vielzahl an äußeren, vom Teufel inspirierten Feinden sorge dafür, dass es ständigen Prüfungen ausgesetzt sei.
Die „Geschichtsparks“, die unter Tichons Patronage eröffnet wurden und in die Milliarden aus Staatsunternehmen fließen, vermitteln den Besuchern mit interaktiven Mitteln einen einfachen Gedanken: Russland hat immer wieder seine Feinde besiegt, ist dann auf seinen vorbestimmten Weg zurückgekehrt und hat andere Völker mitgezogen.
Der russische Präsident und Tichon haben sich über den heute im Exil lebenden Oligarchen Sergej Pugatschow kennengelernt, und der ist folgender Ansicht: „[Tichon] verehrt Putin wirklich, er glaubt an sein gottgleiches Charisma.“ Tichon seinerseits sagte unlängst dem Staatssender Rossija 24: „Ich kenne den russischen Präsidenten persönlich. Er hätte die Spezialoperation unter anderen Bedingungen und Umständen für Russland nicht begonnen. Also musste es sein.“
Populärer Okkultismus bietet einfache Lösungen
Der populäre, kommerzielle Okkultismus unterscheidet sich von traditioneller Religiosität und geopolitischen Verschwörungsmythen dadurch, dass er einfache Lösungen anbietet. In den vergangenen Jahren (und im letzten ganz besonders) ist oft davon die Rede, dass die Machthaber aktiv auf archaische schamanische Praktiken, Magie, Zauberei und andere esoterische Methoden zurückgreifen würden. Einer der ersten „Schamanismus-süchtigen“ russischen Politiker war der Vorsitzende der gesetzgebenden Versammlung in Sankt Petersburg Wadim Tjulpanow. Bereits als Senator brachte er den nenzischen Schamanen Kolja Talejew mit in den Föderationsrat. „Er bekommt Botschaften vom Universum und kann dir alles über dich erzählen, über deine Vergangenheit und deine Zukunft. Die Vergangenheit kennt er so gut, dass ich Gänsehaut bekomme“, schwärmte der Senator. Bei der gläubigen Orthodoxen [und Vorsitzenden des Föderationsrats] Valentina Matwijenko zeigte das Schwärmen Wirkung: „Dann zaubern Sie uns doch was herbei, damit die Wirtschaft wächst“, bat sie Kolja.
Davon, dass das Schamanismus-Thema nicht nur Spaß ist, zeugt das tragische Schicksal von Alexander Gabyschew, einem jakutischen Schamanen, der sich zu Fuß nach Moskau aufgemacht hatte, um „den Präsidenten zu vertreiben“. Jetzt wird er seit drei Jahren von unterschiedlichen Gerichten von einer Nervenheilanstalt in die nächste geschickt. Gleichzeitig werden die „richtigen“ Schamanen von der staatlichen Nachrichtenagentur RIA Nowosti zitiert: „Der oberste Schamane der Russischen Föderalen Kara-ool Doptschun-ool dankte den Schamanen in Russland für das gemeinsam durchgeführte Ritual zur Unterstützung der russischen Streitkräfte und wünschte ihnen viel Erfolg für die weitere Stärkung unserer Heimat.“
Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu, der aus einer Region stammt, in der der Schamanismus zur Tradition gehört, ist der einzige russische Minister, der unter allen Präsidenten und Premierministern in der Regierung verblieb. Er war schon als Kind mit den Traditionen seines Volkes vertraut – er führte Archäologen aus Leningrad zu tuwinischen Grabhügeln. Der junge Schoigu begeisterte sich außerdem für die Geschichte des „schwarzen Barons“ Roman von Ungern-Sternberg, der während des Bürgerkriegs im russisch-mongolischen Grenzgebiet kämpfte. Als einer der ersten eurasischen Mystiker träumte von Ungern-Sternberg von der Wiedererrichtung des Reiches von Dschingis Khan und einem neuen „Feldzug nach Westen“, an dem die Völker Asiens beteiligt sein sollten. Der Vater des Ministers, Kushuget Schoigu, war als Volksheiler und „wahrer Hüter der Volkstraditionen“ bekannt, was ihm zu einer Parteikarriere unter dem alternden Breshnew verhalf. Offenbar haben auch Putins und Schoigus berühmte gemeinsame Reisen zu sibirischen „Kraftorten“ eine spirituelle Erklärung.
Streben nach ewigem Leben
Unter der Leitung von Michail Kowaltschuk wird derweil am Kurtschatow-Institut an der Verlängerung des Lebens geforscht. Das Wissenschaftsverständnis von Kowaltschuk, der als Freund Putins gilt, ist dabei durchaus ungewöhnlich. So schlug er 2016 bei einem Treffen mit dem Präsidenten vor, „nach Organisationen zu suchen, die den Gedankenfluss in bestimmte Richtungen lenken können“, und in jüngster Zeit machte er auf die Gefahr von „ethnischen Waffen“ aufmerksam („Kampftauben“ oder „Moskitos“, die „nur Russen“ angreifen würden).
Auf dieser Ebene bewegt sich auch das Interesse an künstlicher Intelligenz, die es ermöglichen soll, nach dem physischen Tod in ein Meta-Universum umzusiedeln. Die Ablehnung des wissenschaftlichen Weltbildes auf Staatsebene zieht auch die Weltanschauung der einfachen Bürger in Mitleidenschaft, die zunehmend in Aberglaube und magisches Denken abgleitet. Eine Umfrage des Lewada-Zentrums im vergangenen Jahr ergab, dass nur ein Viertel der Russen an das Reich Gottes nach dem Tod glaubt, aber fast ein Drittel an den bösen Blick und Verwünschung (das sind doppelt so viele wie noch vor sieben Jahren). Als wäre das nicht genug, hat das Präsidium der Russischen Akademie der Wissenschaften ohne viel Aufhebens die Kommission zur Bekämpfung von Pseudowissenschaft und Verfälschung wissenschaftlicher Erkenntnisse abgeschafft. Der Verschwörungs-Ideologe Dugin argumentiert: „Echte Forschung und echte Wissenschaftler gibt es schon lange nicht mehr … Durchdrungen von der starren Diktatur des Liberalismus, sehen sie in allem nur noch die in sie selbst eingeimpften Codes.“
Atmosphäre des kollektiven Rasputinismus
Esoterik und Okkultismus gab es im Kreml schon lange vor Putin. Gleich zu Beginn von Boris Jelzins Amtszeit ernannte der Leiter des Sicherheitsdienstes, Alexander Korshakow, den General Boris Ratnikow zu seinem Chefberater und General Georgi Rogosin zu seinem ersten Stellvertreter: In den 1980er Jahren hatten diese beiden in geheimen KGB-Labors auf dem Gebiet der „Psychotechnik“ und „extrasensorischen Wahrnehmung“ geforscht. Rogosin erstellte astrologische Karten für Jelzin und förderte die Psychotronik, auf deren Grundlage der Generalstab „psychotronische Waffen“ entwickelte. Laut Eduard Krugljakow, dem ehemaligen Vorsitzenden der Kommission der Russischen Akademie der Wissenschaften zur Bekämpfung von Pseudowissenschaften, brachte Rogosin „alle möglichen Hellseher, Heiler, Okkultisten, Astrologen und andere Scharlatane“ mit in den Sicherheitsdienst, was zu einer Atmosphäre des „kollektiven Rasputinismus“ geführt habe.
General Boris Ratnikow ging obendrein in die Geschichte ein, weil er das Gehirn von Madeleine Albright „auf Entfernung scannte“ und „pathologischen Slawen-Hass“ darin vorfand. Ratnikow sah seine Mission im Sicherheitsdienst des Präsidenten darin, das Bewusstsein des Staatsoberhaupts vor Manipulationen zu schützen, so erklärte er es in einem Interview mit dem Staatsblatt Rossijskaja Gaseta. Die Manipulationen des parapsychologischen Generals selbst haben jedoch eine deutliche Spur in der Geschichte hinterlassen. Vergleichen wir zwei Aussagen: „Wir haben eine Seance durchgeführt, um uns mit dem Unterbewusstsein von US-Außenministerin Albright zu verbinden … Sie war empört darüber, dass Russland über die größten Rohstoffreserven der Welt verfügt. Ihrer Meinung nach sollten die russischen Reserven in Zukunft nicht von einem Land allein verwaltet werden“ (General Ratnikow, 2006). „Jemand wagt es ungerecht zu finden, dass Russland allein die Reichtümer einer Region wie Sibirien besitzt – ein einzelnes Land“ (Wladimir Putin, 2021). Im Jahr 2015 erklärte Albright, in Russland gebe es „Leute, die glauben, ihre Gedanken lesen zu können“, und fügte hinzu, dass sie „nie so etwas über Sibirien oder Russland gedacht oder gesagt“ habe.
Hoffen auf Botschaften aus dem All
Bis 2003 existierte innerhalb der russischen Streitkräfte die sogenannte Dienststelle Nr. 10003 – eine Experten-Abteilung des Generalstabs der Streitkräfte der Russischen Föderation für außergewöhnliche menschliche Fähigkeiten und besondere Waffentypen. Ihrem ehemaligen Chef Generalleutnant Alexej Sawin zufolge, sei es die Aufgabe der Abteilung gewesen, „das Gehirn für Botschaften aus dem Universum empfänglich zu machen“. Er erläuterte: „Wir nannten uns ‚Spezialoperatoren‘ – Menschen mit erweiterten Hirnfähigkeiten … Die Amerikaner erreichten nicht annähernd unsere Ergebnisse.“ Mir, dem Autor dieses Textes, war es vergönnt, an Konferenzen teilzunehmen, auf denen Militärwissenschaftler, viele von ihnen im Generalsrang, allen Ernstes ihre mit Hilfe von „psychotronischen Techniken aufgedeckten“ konspirologischen Erkenntnisse präsentierten. Das sowjetische New Age, das von Science Fiction das in den 1960er bis 1980er Jahren von Science Fiction, Ufologie und dem Glauben an das Übersinnliche geprägt war, wächst und gedeiht in der Armee-„Elite“ fröhlich weiter.
Angesichts der extremen Auswüchse der russischen Propaganda fragt man sich häufig: „Sind diese Menschen verrückt geworden oder täuschen sie einfach nur sehr professionell eine Paranoia vor?“ Tatsächlich erleben wir gerade eine interessante Verschiebung des Massenbewusstseins weg von einer objektiven und hin zu einer esoterischen Sicht auf die Welt. Einerseits erinnert das an Massenhysterie und eine extreme Archaisierung des Denkens. Wenn wir uns jedoch das ganze technologische Arsenal ansehen, das zur Volksverdummung eingesetzt wird, wirkt es eher wie eine komplexe Manipulation. Wer braucht noch systematische Bildung, nüchterne Religiosität oder die Fähigkeit zum kritischen Denken, wenn der große Leader alles mit Hilfe von Schamanen und künstlicher Intelligenz entscheidet?
In Wirklichkeit ist das Erstarken des Okkultismus in den Regierungskreisen ein klares Zeichen für ihre Schwäche und Unfähigkeit. Wenn ein Politiker oder ein militärischer Führer nicht in der Lage ist, seine Handlungen rational zu planen und seine Macht lieber an unbekannte und unsichtbare Kräfte „delegiert“, offenbart er damit seine Unfähigkeit, die Situation zu kontrollieren.
„Wer hat gesagt, dass in der Welt die Liebe gestorben ist? Dass es keine Ehre mehr gibt und die Wahrheit bis auf den Grund verbrannt ist? Selbst wenn um mich herum die Hölle losbricht, ich gebe nicht auf! Immer vorwärts und nie einen Schritt zurück.“ So beginnt ein Hit des russischen Sängers Shaman. Am 21. Juli 2023 veröffentlichte er das Video zu Moi Boi (dt. Meine Schlacht). Schnell fanden Zuschauer:innen in diesem Lied Parallelen zu Hitlers Manifest: Die automatischen deutschen Untertitel auf YouTube übersetzen die titelgebende Zeile als „Mein Kampf“.1
Shaman, der bereits in seinem Lied My (dt. Wir) mit Nazisymbolik gespielt hatte, gilt als patriotischer Sänger. Das Musikvideo dazu, veröffentlicht am 20. April – Hitlers Geburtstag – zeigt Shaman in kurz geschorenen blondierten Haaren, Springerstiefeln und einer Armbinde in den Farben der russischen Trikolore. Seine professionell produzierten Lieder greifen immer wieder dieselben Motive auf: darunter Kampf, Stolz, Liebe, Gott, Frieden, Freiheit, Wahrheit, Stärke, Volk und brennende Herzen. Shamans Schaffen spiegelt die Rhetorik der russischen Macht wider und präsentiert sie in konzentrierter Form.
30. September 2022: Shaman stimmt die russische Nationalhymne bei der Feier zur Annexion ukrainischer Gebiete an.
Das ursprünglich für die Markierung des russischen Militärs verwendete Z-Zeichen fand sich schon wenige Wochen nach der russischen Großinvasion in den Erzeugnissen russischer Popindustrie und Werbung wieder. Dort gilt es seitdem als Symbol der Unterstützung für den Angriffskrieg. Über die Verbreitung des Kriegs-Merchandisings in der Lebenspraxis der Menschen in Russland gibt es keine verlässlichen Quellen. In den Staatsmedien ist es jedoch allgegenwärtig, auch die Popkultur sorgt für die Popularisierung. Forscher wie der Historiker Alexej Tichomirow sprechen deshalb mittlerweile von einer „Z-Gesellschaft“ in Russland.2
„Einen wie Putin“
Die Propaganda-Popkultur in Putins Russland begann bereits in den frühen 2000er Jahren, lange vor Beginn des Krieges in der Ukraine. Damals konzentrierte sie sich vor allem auf die Schaffung eines Personenkults: So erschien zum Beispiel 2001 das Lied A w tschistom pole (dt. Auf offenem Feld) der Band Bely Orel, das vor dem Hintergrund des zuvor entfesselten Tschetschenienkriegs Putins kriegerische Stärke hervorhob. Ein Jahr später gelang der Gruppe Pojuschtschije Wmeste mit Takogo kak Putin (dt. Einen wie Putin) ein Hit, der noch Jahre später den Soundtrack zu Putins Wahlkampfveranstaltungen liefern sollte. Das Musikvideo stilisiert den Präsidenten zum geheimnisvollen 007, vor einer animierten russischen Flagge tanzen entsprechend Bondgirls. Ursprünglich als Scherz gedacht, ging das Lied spätestens nach der Aufnahme in den offiziellen Propaganda-Kanon viral.3
In der Folgezeit wurden Loblieder auf Putin schon fast zu einer eigenen Musikgattung, Graswurzelpropaganda ging dabei wohl mit kommerziellen Erwägungen der Interpret:innen einher. Dabei bedienten sie sich allerdings nicht nur musikalischer Propagandaformen: So haben 2010 Studentinnen der Fakultät für Journalistik der MGU anlässlich Putins 58. Geburtstags einen erotischen Kalender entworfen.4 Auf jedem Blatt räkelt sich eine neue, knapp bekleidete Frau. Jede von ihnen hat eine persönliche Botschaft an Putin. Das Dezembermodel etwa schreibt: „Ich möchte Ihnen persönlich gratulieren. Rufen Sie mich an: …“
Nach der Krim-Annexion 2014 wurden auch patriotische Graffitis zu einer beliebten Form der Propaganda-Massenkunst. So tauchte 2014 eines Tages an einer Sewastopoler Hauswand plötzlich vor blauem Hintergrund der Buchstabe A auf. Umrahmt von Eiszapfen stand unter einem weiß-blau-rot gestrichenen Eisbrecher das Wort Arktika. In Moskau fand man ein S, darunter den Schriftzug Suwerenitet und eine Abbildung der Interkontinentalrakete Topol-M. Die Bilder waren Teil einer Aktion des staatlichen JugendprojektsSwjas (dt. Verbindung) zu Putins 62. Geburtstag. Die über sieben Großstädte verteilten Wandgemälde bilden das Wort Spasibo (dt. Danke): Für Stärke (Sila), Erinnerung (Pamjat), die Arktis (Arktika), Souveränität (Suwerenitet), Geschichte (Istorija), Sicherheit (Bezopasnost) und die Olympischen Spiele (Olimpiada).5
Andere Graffitis zeichneten Putin als Retter – ein häufiges Propagandabild, laut dem Putin das Land von den Knien erhoben habe. Parallelen zu Juri Gagarin gehören ebenfalls zu beliebten Stilmitteln, auch der klassische Gegensatz Freund/Feind und die Konfrontation mit den Vereinigten Staaten sind wiederkehrende Motive. Als visuelle Konstanten dienen unter anderem die Farben der russischen Flagge und der Umriss des Kreml oder des Landes inklusive Krim. Auch emotionale Marker wie glückliche Kinder, eine reiche Naturvielfalt, Sonnenschein oder niedliche Tiere finden Anwendung in den Straßenkunstwerken. So stehen die Murals in der Tradition der Kunst des sozialistischen Realismus, der volksnahe Helden und eine helle Zukunft propagierte.
„Ich bin ein Russe“
Mit Beginn des Kriegs in der Ostukraine 2014 entstand auch in der Musik eine neue patriotische Schaffenswelle. Im Lied Moi Putin (dt. Mein Putin) von 2015 der Sängerin Mashany tritt der Präsident als Retter der Ukraine und Beschützer Russlands auf. Der russische R’n’B-Star Timati nennt Putin in seinem Lied Lutschi drug (dt. Bester Freund, 2015) einen „coolen Superhelden“. Und die Girlband Fabrika bezeichnet Putin in ihrem Lied Wowa, Wowa (2018) als ihren „Lieblingschef“. Durch fleißige Kommentator:innen – ob echt oder Bots lässt sich im Zweifel schwer feststellen – verbreiteten sich diese Clips schnell und breitenwirksam in den sozialen Netzwerken.6
Doch als Russland 2022 den großangelegten Krieg losgebrochen hat, änderte sich der Tenor der russischen Popszene erneut. Statt lediglich den Personenkult zu pflegen, wollen neue Propagandalieder offensichtlich einen Rally-‚round-the-Flag-Effekt zünden und das Volk hinter der sogenannten militärischen Spezialoperation vereinen. Hier kommt wieder Shaman ins Spiel: Der Sänger begann seine Karriere in der beliebten Sendung Golos, russische Version von The Voice. Das sicherte ihm die anfängliche mediale Präsenz. Zum Repertoire gehörte zunächst kommerziell ausgerichteter Boyband-Pop, zur Zielgruppe – weibliche Teenager. Ein wirklicher Star wurde Shaman aber erst kurz nach dem Beginn der Großinvasion mit seinem Lied Ja Russki (dt. Ich bin ein Russe): Mit über 50 Millionen YouTube-Klicks und nahezu schon inflationären Auftritten in den Propagandaorganen erwischte Shaman eine Welle der politischen Konjunktur, die auf Regimetreue, Unterstützung des Kriegs und Patriotismus setzte.
Trittbrettfahrer folgten: An Shamans nächstem Hit Wstanem (dt. Wir stehen auf) beteiligten sich neben Shaman verschiedene Größen aus Rock, Pop, Jazz und Schlager. Dazu gehören etwa Larissa Dolina, Nikolaj Baskow, Nadeshda Babkina und Alexander Skljar. Die Taktik ist klar: Je breiter das Spektrum an Künstler:innen, desto größer ist das Publikum, das abgedeckt werden kann.
Auch Grigori Leps gehörte zum Ensemble um Wstanem. Der Chanson- und Softrock-Sänger, dessen Lieder zur Grundausstattung russischer Karaokebars gehören, präsentiert seit Februar 2022 ein neues, patriotisches Repertoire. Co-Autor seines Songs Rodina-Mat (dt. Mutterland) ist der beliebte Chanson-Veteran Alexander Rosenbaum. So heißt es im Refrain des zum Jahrestag des Krieges veröffentlichten Liedes Das Mutterland ruft – lass es nicht im Stich! Für dich erhebe ich mich, Mama Russland! Auch die Propagandaformel Wir lassen unsere Leute nicht im Stich bleibt nicht unerwähnt. Das Video zu Rodina-Mat, in dem Leps in einem mit russischen Flaggen schwingenden Zuhörern gefüllten Stadion singt, hat auf YouTube über anderthalb Millionen Aufrufe.
„Ich bleibe“
Leps will wohl die russischen Männer mobilisieren, die Sängerin Irina Dubtsowa wendet sich mit ihrem Z-Pop eher an ein weibliches Publikum. Ihr Lied Sa nas (dt. Auf uns) enthält alle wichtigen Klischees der russischen Propaganda: Die Erinnerung an Stalingrad und die Heldentaten der Großväter wecken Stolz, der Verweis auf die Kinder in der Gedenkstätte Allee der Engel in Donezk erwecken Mitleid. Das in dem mitreißenden Song verwendete Vokabular – die stete Wiederholung von Worten wie wir, Mutterland, Liebe, Stärke und Himmel – klingt wie aus einem Propagandahandbuch. Über die Premiere des Liedes berichtete Dubtsowa am Tag Russlands auf Instagram – das in Russland inzwischen verboten ist.
Leps und Dubtsowa gelten unter Kritikern als Propagandakitsch. Etwas komplizierter verhält es sich mit der Neuaufnahme von Ja ostajus (dt. Ich bleibe), die unter Garik Sukatschews Anleitung entstanden ist. Der Klassiker, den Anatoli Krupnow 1992 kurz nach der Auflösung der Sowjetunion schrieb, und der insbesondere nach seinem Tod 1997 an Popularität gewann, bekommt im aktuellen Kriegskontext einen faden Beigeschmack. In der Version von 2022 singen beliebte Rockmusiker wie Sergej Schnurow, Andrej Knjasew oder Mascha Makarowa: Und ich, ich bleibe – dort, wo ich sein möchte. Und doch, ich habe ein wenig Angst – aber ich, ich bleibe. Ich bleibe, um zu leben!
Schnurow, der im April 2022 mit seiner Band Leningrad ein Lied herausbrachte, das sich dem Thema Krieg eher satirisch näherte, hielt sich mit konkreten Äußerungen zur Invasion bisher zurück. Ein Foto, das ihn im August 2022 an der Seite Jewgeni Prigoshins in der sogenannten Volksrepublik Luhansk zeigte, betitelte er als Fälschung.7 Auch Ja ostajus ist kein eindeutiges Bekenntnis zu Putin. Dennoch fällt es schwer, das Lied innerhalb des aktuellen politischen Kontexts anders zu interpretieren, wirkt es doch eher wie Kritik an denjenigen Musiker:innen, die das Land nach dem Beginn des Krieges verlassen haben, wie etwa die Pop-Ikone Alla Pugatschowa, die Stars Andrej Makarewitsch, Boris Grebenschtschikow und Zemfira, die Rapper Oxxxymiron, Noize MC oder Face.
Alle Register
Z-Propaganda hat nicht nur Musik und Straßenkunst, sondern auch andere Bereiche der Massenkultur erreicht. Eine ganze Reihe neuer Spielfilme und Serien bedient sich patriotischer Z-Rhetorik.8 Eines der markantesten Beispiele ist der Film Swidetel (dt. Zeuge (der Kyjiwer Verbrechen)), der nach der ersten Woche in russischen Kinos zu einem Flop erklärt wurde: Im Schnitt saßen in jeder Vorstellung lediglich fünf Zuschauer.9 Auch auf YouTube buhlt man mit bewegten Bildern um Aufmerksamkeit. Die Show Podrugi Zet (dt. Z-Freundinnen) beschreibt sich als „Show, in der schöne Frauen über die neuen Realitäten Russlands sprechen und man an manchen Stellen lacht und an manchen überrumpelt wird“. Die Show vermittelt den Eindruck, dass sie von Frauen für Frauen gemacht wird.
Zu finden ist auf YouTube auch Stand-Up mit Inhalten der Z-Propaganda. Z-Lyrik ist im Netz verbreitet, und zahlreiche Hip-Hopper wollen mit Z-Rap wohl Jugendliche gewinnen. Auch TikTok wird rege bemüht, um die jüngere Generation mit Z-Propaganda zu versorgen. Beliebte TikToker:innen werden laut einer Recherche von Vice dafür bezahlt, um auf ihren Seiten über die politische Lage, den Kriegsverlauf und das Leben in der Ukraine zu sprechen und mutmaßliche Live-Videos zu verbreiten.10 Die Influencer:innen, die sich bei ihren Zuschauer:innen zuvor mit Lifestyle-Videos, Challenges und Streaming-Partys einen Namen gemacht haben, erfinden sich als kremltreue Meinungsbildner:innen und -führer:innen neu und verbreiten fröhlich Kreml-Agenda.
Im Endeffekt lässt sich Z-Pop auf vier Grundprinzipien herunterbrechen: einfache Botschaften und Wiederholungen, hohe Emotionalität, zielgruppenspezifische Ausrichtung, und die Nutzung sozialer Netzwerke. Während der Fokus patriotischer Popkultur in den 2000er Jahren noch auf dem Personenkult Putins lag, geht es heute um das Volk und dessen Stärke sowie die Notwendigkeit seiner Einheit. Zu den Angelpunkten der Kriegspropaganda gehören Glaube an Gott, Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg und seine Helden, traditionelle Werte, Feindbilder, Nationalstolz und eine vermeintliche helle Zukunft.
Einerseits steht die Kriegspropaganda inhaltlich und visuell in der Tradition des sowjetischen sozialistischen Realismus. Andererseits nutzt sie aktiv Mechanismen der Popindustrie, schöpft die Möglichkeiten von Social Web aus und setzt so auf schnelle Verbreitung und Interaktivität. Während der Kreml in der Sowjetunion allerdings ein Quasi-Monopol auf Propaganda hatte, betreibt die Z-Propaganda ein eigenartiges Franchise-Modell: Es gibt zwar zahlreiche Hinweise darauf, dass einige Protagonist:innen des Z-Pop letztendlich von der Präsidialadministration beauftragt und bezahlt werden, viele von ihnen dürften aber dennoch Graswurzelpropagandisten sein. Über ihre Motive lässt sich nur spekulieren: Manche sind sicherlich glühende Putinist:innen und Kriegsbefürworter:innen, andere könnte man wohl zu den Konjunkturschiki rechnen – zynische Opportunist:innen, die der politischen Konjunktur folgen und daran mitverdienen wollen.
Die USA hätten Russland einen Verteidigungskrieg aufgezwungen, Putin gehe gegen eine globale Verschwörung der Eliten vor, die NATO betreibe in der Ukraine geheime Labore zur Herstellung von Biowaffen … Nicht nur in Russland, auch im Westen können solche Erzählungen in Teilen der Gesellschaft verfangen.
Will man sie mit Fakten vom Gegenteil überzeugen, wird man nicht selten selbst zum Teil der Verschwörung und Gehilfen der „Lügenmedien“ abgestempelt. Redet man nicht miteinander, riskiert man weitere Polarisierung.
Die Redaktion von Cherta versucht, dieses Dilemma aufzulösen und greift auf eine alte britische Rechtspraxis zurück.
Bei Begegnungen mit Menschen, die den Krieg unterstützen und die Thesen der russischen Propaganda reproduzieren, finden wir oft keine Basis für ein konstruktives Gespräch. Bei aller Überzeugung, es besser zu wissen, stehen wir diesen Thesen, die Fakten und Realität absichtlich verzerren, doch hilflos gegenüber. Aber was, wenn wir mal das Weltbild unseres Gegenübers annehmen und auf Grundlage seiner Realität mit ihm diskutieren?
Realitäten
1843 fügte der Glasgower Unternehmer Daniel M'Naghten in London Edward Drummond, dem Privatsekretär von Premierminister Robert Peel, eine tödliche Verletzung zu.
Vor Gericht stellte sich dann heraus, dass M'Naghten unter Verfolgungswahn litt. Er glaubte, die Regierung und der Premierminister persönlich wollten ihm auf jede erdenkliche Weise schaden und hätten es auf seine Geschäfte und sein Leben abgesehen. Um sich und sein Unternehmen zu schützen, hatte M'Naghten seinen Feind töten wollen und auf Edward Drummond geschossen, im Glauben, es handle sich um Robert Peel.
Das Gericht sprach M'Naghten frei, was in der britischen Gesellschaft für Empörung sorgte. Königin Victoria schrieb zornige Briefe, und das House of Lords machte sogar von dem Recht Gebrauch, eine Erklärung der Richter einzufordern (ein als formal geltendes Recht, das kaum je in Anspruch genommen wurde), ob ein unzurechnungsfähiger Mensch für seine Taten verantwortlich gemacht werden könne und nach welchen Kriterien das Gericht diese Verantwortung beurteilen wolle.
So entstand ein Dokument, das im Weiteren „M'Naghten rules“ genannt wurde und nicht nur die Theorie und Praxis des Rechtswesens, sondern auch die Entwicklungen in Psychologie und Soziologie maßgeblich beeinflusste.
Die Schlüsselfrage der Adeligen an die Richter lautete: „Wenn ein Mensch, dessen Wahrnehmung durch einen krankhaften Wahn beeinträchtigt ist, ein Verbrechen mit schweren Folgen begeht, ist er dann von seiner juristischen Verantwortung befreit?“ Darauf antworteten die Richter: „Wir müssen die Schuld so beurteilen, als wären die der krankhaften Verwirrung geschuldeten Annahmen tatsächlich real.“ Über solche Menschen sei also nicht anhand der realen Fakten zu urteilen, sondern anhand der „Fakten“ ihrer krankhaften Vorstellung.
Wenn M'Naghten in seinem Verfolgungswahn glaubte, der Premierminister wolle ihn vernichten und er habe keine andere Möglichkeit sich zu wehren, als ihn zu ermorden – dann kann man das als Notwehr betrachten. Auch wenn Robert Peel nichts dergleichen gemacht und nicht mal von M'Naghtens Existenz gewusst hat.
Hätte M'Naghten jedoch Drummond in der Annahme ermordet, dieser schlafe mit seiner, M'Naghtens, Frau, dann hätte man ihn verurteilen müssen, weil es für einen solchen Mord nicht einmal in der imaginierten Realität des Wahns eine juristische Legitimität gebe.
Raus aus der Komfortzone
Wenn wir jetzt mit Z-Patrioten oder einfach mit Menschen, die das Weltbild der russischen Propaganda übernommen haben, diskutieren und in eine Sackgasse geraten, dann liegt das an diesen Diskrepanzen in der grundsätzlichen Beziehung zur Realität. Sie sagen: „Die Ukraine wollte Russland angreifen“, wir antworten: „Wollte sie nicht.“ Damit ist das Gespräch zu Ende oder besteht nur mehr darin, sich gegenseitig sinnlose Versatzstücke um die Ohren zu schlagen. Sinnlos deswegen, weil wir nicht in derselben Realität leben: In der Realität unseres Gegenübers gibt es einfach keine Fakten, die widerlegen, dass die Ukraine Russland angreifen wollte oder dass die USA böse Absichten verfolgen.
Genauso bestand M'Naghtens Weltbild ausschließlich aus Beweisen dafür, dass der Premierminister sein Leben und sein Unternehmen zerstören wollte.
Was aber, wenn man nun in Gesprächen mit der gegnerischen Seite die M'Naghten rules befolgen würde? Wenn man also die Rechtmäßigkeit, Angemessenheit und Notwendigkeit des Kriegs auf Grundlage jenes Weltbildes beurteilt, das unser Opponent vertritt?
Wozu man in Gesprächen mit Opponenten die M’Naghten rules beachten sollte
Wozu sollte man das tun? Erstens sind wir überzeugt, dass es für die, die diesen umfassenden Angriffskrieg entfesselt haben, in keinem Weltbild eine Rechtfertigung gibt und nicht geben kann. Auch nicht in einem völlig verqueren. Das heißt, am Ende dieses Gesprächs wird unser Opponent entweder völlig aus der Bahn geworfen oder gezwungen sein, sich seine offen menschenfeindliche Logik einzugestehen. Beide Fälle drängen ihn aus seiner Komfortzone heraus.
Was uns zum zweiten Grund führt: Spätestens seit Grigori Judin und andere kluge Köpfe uns das klar und deutlich erklärt haben, wissen wir, warum eine große Mehrheit das Weltbild der Propaganda so bereitwillig annimmt. Weil ihnen das nämlich hilft, an ihrem inneren Komfort festzuhalten. Für die Menschen ist es bequem und wohltuend, das Gefühl zu haben, dass das Land, in dem sie leben und arbeiten, die Regierung, der sie sich fügen, immer richtig und gerecht handelt. Äußerst unbequem und unangenehm wäre hingegen die Einsicht, dass das eigene Land ein Aggressor ist, der einen blutigen Krieg ohne Aussicht auf ein Ende angezettelt hat.
Versucht man, jemandem mit diesen Grundeinstellungen direkt vor den Kopf zu stoßen, so ruft das nichts als Abwehr hervor. Geht man jedoch nach der Logik der M'Naghten rules vor, ist es durchaus möglich, jemanden aus der Komfortzone herauszuholen und dafür zu sorgen, dass die gewohnten Abwehrmechanismen nicht mehr das schöne Gefühl erzeugen, alles laufe perfekt und geschehe im Dienste des Guten.
M'Naghten rules im Praxistest
Im Sinne der M'Naghten rules versetzen wir uns nun also in das Weltbild unseres Gesprächspartners hinein. Wir verzichten darauf, die Ausgangsposition zu bestreiten: Der Westen verfolgt unter Führung der USA das Ziel, Russland zu vernichten, und zwar mithilfe der Ukraine, die mit Sicherheit unser Land angegriffen hätte.
Zu der Logik der Unvermeidlichkeit des Kriegs angesichts des ukrainischen Angriffs kann man Folgendes fragen:
Wo hätte die Ukraine angegriffen? Es ist völlig klar, dass sie nicht unmittelbar in russisches Territorium einmarschiert wäre. Russland ist eine einflussreiche, gefürchtete Atommacht. Gefürchtet sowohl von der Ukraine als auch von ihren westlichen Herrschern. Sogar jetzt noch, nach eineinhalb Jahren Krieg, lassen sie lieber die Finger von russischem Territorium: ein paar wenige Diversionsgruppen und verirrte Geschosse – mehr nicht. Dabei hätten sie die Krim angreifen können! Da aber unsere Truppen, die von der Krim her anrückten, gleich in den ersten Tagen [des Krieges] ein riesiges Gebiet rund um die Halbinsel einnahmen, fasste die Ukraine nie einen Angriff auf die Krim ins Auge: Sie hatte dort kaum Truppen oder Verteidigungssysteme.
Die Ukraine hatte es also offenbar auf Luhansk und Donezk abgesehen, wir aber lassen unsere Leute nicht im Stich.
Aber Russland hätte doch den Schlag gegen diese Republiken abwehren können, wenn es einfach seine Truppen auf deren Gebiet stationiert hätte. Dafür hätte es ja auch nicht diesen großen Angriffskrieg gebraucht, all diese Todesopfer und Zerstörungen.
„Die ukrainische Regierung ist doch so unversöhnlich und hasserfüllt, dass sie trotzdem angegriffen hätte, trotz russischer Truppen.“
Russland würde dann viel besser dastehen als jetzt. Ist es denn nicht viel besser, einen Verteidigungskrieg zu führen als einen Angriffskrieg? Die Ukraine hat nicht einmal jetzt, nach mehreren Wellen der allgemeinen Mobilisierung, ausgebildet, kampferprobt und mit westlichem Kriegsgerät bewaffnet bis an die Zähne, eine Chance gegen die befestigten Abwehranlagen der Russen. Im Februar 2022 hätte sie einfach innerhalb weniger Wochen ihre ganze Armee dort verpulvert.
Und ist es etwa nicht günstiger, vor aller Welt nicht als Aggressor dazustehen, der auf fremdes Territorium einmarschiert ist, um Tod und Zerstörung zu bringen, sondern als Beschützer?
Wir lassen unsere Leute nicht im Stich! Aber eigentlich haben wir durch den Krieg doch die mobilisierten Bewohner der Volksrepubliken Luhansk und Donezk erst recht in den Kampf gegen die befestigten Stellungen der ukrainischen Armee geschickt. In den vergangenen eineinhalb Jahren Krieg sind in diesem Gebiet um ein Vielfaches mehr Menschen ums Leben gekommen als zuvor in acht Jahren Widerstand gegen die Ukraine.
„Wir mussten den USA und der NATO einen Riegel vorschieben, die bis an unsere Grenzen vorrückten und uns unmittelbar bedrohten.“
Natürlich mussten wir das. Aber hat der Krieg dieses Problem etwa gelöst? Ganz im Gegenteil. Finnland und Schweden sahen sich durch den Krieg dazu veranlasst, der NATO beizutreten, und damit sind es von Sankt Petersburg bis zu möglichen Stützpunkten der Allianz nur mehr höchstens 200 Kilometer. Von „Anflugszeiten“ braucht man jetzt gar nicht mehr anzufangen. Noch wurde die Ukraine nicht in die NATO aufgenommen, aber sie wird bereits mit deren Waffen ausgerüstet, und dieser Prozess ist nicht mehr aufzuhalten.
Und was die USA betrifft, die sind mittlerweile eigentlich die größten Nutznießer der russischen Aggression gegen die Ukraine. Noch dazu vor allem der unsympathischste und unverschämteste Teil der Eliten dieses Landes: Die Rüstungsindustrie und die Erdölkonzerne. Die amerikanischen Waffenproduzenten hätten am 24. Februar ein rauschendes Bankett zu Putins Ehren geben müssen – er hat ihnen für viele Jahre im Voraus Milliardeneinkünfte gesichert. Und die Erdölkonzerne haben kurz vor dem Krieg alle Aktiva im Bereich der Schiefergasförderung aufgekauft und unfassbare Gewinne eingefahren, als wegen des Kriegs die Gaspreise durch die Decke gingen. Vielleicht haben sie ja auch wirklich die Ukraine gegen Russland scharfgemacht, aber nie hätten sie so profitiert, wenn Russland nicht selbst diesen vollumfänglichen Krieg begonnen hätte.
Wie es aussieht, gab es für die militärische Spezialoperation keine Grundlage. Der Krieg war nicht nur nicht unvermeidlich, sondern sogar der schlechteste Ausweg aus der Situation. Weder hat dieser Krieg die USA geschwächt, noch hat er die Bewohner der Volksrepubliken Luhansk und Donezk geschützt, noch Russland vor der NATO bewahrt. Dafür hat er zehntausenden Menschen das Leben gekostet und viele Millionen in die Flucht geschlagen. Und je länger er dauert, desto schlimmer werden die Folgen für Russland.
„Jetzt, wo der Krieg nun mal begonnen und am Laufen ist, müssen wir unserem Land einzig den Sieg wünschen.“
Stimmt. Aber was genau verstehen wir unter Sieg? In diesen eineinhalb Jahren hat uns keiner gesagt, was das Ziel dieses Kriegs ist und worin der Sieg bestehen soll. Ständig ertönt das Wort Sieg, ohne dass wir uns Gedanken über die Bedeutung dieses Wortes machen. In Wirklichkeit haben wir keine Ahnung und können nicht beschreiben, was der Sieg ist. Keiner kann das. Weil dieser Krieg keinen Sinn hat und es nicht um Russlands Interessen geht. Nur um Tod und Zerstörung.
Ein per internationalem Haftbefehl gesuchter mutmaßlicher Kriegsverbrecher im Propaganda-Gewand eines fürsorglichen Opas: Die sogenannten Imagemakery des russischen Präsidenten inszenieren ihn zunehmend als „gütigen Opa der Nation“. Die Philologin Xenja Turkowa beschreibt auf Holod, weshalb sie dieses Bild gebastelt haben – obwohl „Opa“ anfangs noch eine hämische Diffamierung war.
Am 8. Juli ließ der stellvertretende Chef des russischen Sicherheitsrats, Dimitri Medwedew, wieder einmal eines seiner patriotischen Postings vom Stapel, in dem er wie üblich nicht mit heftigen Ausdrücken geizte. Er nannte US-Präsident Joe Biden einen „verschlafenen Volltrottel“ und „kranken, dementen alten Mann“ und schloss mit der Vermutung: „Vielleicht ist aber auch alles ganz anders. Vielleicht hat der von kranken Fantasien geplagte sterbende Alte einfach beschlossen, einen schönen Abgang hinzulegen – das nukleare Armageddon auszulösen und die halbe Menschheit mit ins Jenseits zu nehmen …“
Medwedews Bild vom alten Biden, der die nukleare Keule schwingt
Medwedews Äußerung über „den Alten“ wurde prompt überall in den sozialen Netzwerken zitiert, allerdings aus dem Zusammenhang gerissen und umgedeutet. Bei dem Bild eines sterbenden alten Mannes, der die nukleare Keule schwingt und die halbe Welt mit in den Abgrund reißen will, dachten die Menschen an jemanden ganz anderen, als der Autor wohl beabsichtigt hatte.
Medwedews Worte sind schon die zweite öffentliche Äußerung in den letzten Monaten, bei der das Bild des Großvaters oder Opas als Anspielung auf Putin verstanden wird. Die erste hatte es in einem Monolog von Jewgeni Prigoshin gegeben, in dem der Chef der Wagner-Gruppe nach Kräften einen gewissen „Opi“ beschimpfte: „Opi ist glücklich und glaubt, dass es ihm gut geht. […] Aber was soll das Land tun, wenn sich, nur mal angenommen, plötzlich herausstellt, dass dieser Großvater eigentlich ein Flachwichser ist?“
Mit dem glücklichen Opi sei keinesfalls Putin gemeint, so Prigoshin
Prigoshin selbst erklärte dann, mit „Opi“ sei keinesfalls Putin gemeint gewesen, und bot drei Alternativen zur Auswahl an: Michail Misinzew, ehemaliger stellvertretender russischer Verteidigungsminister, Waleri Gerassimow, Chef des Generalstabs der russischen Armee, sowie Natalja Chim, ehemalige Teilnehmerin der Reality-Show Dom 2, die in den sozialen Netzwerken Kisten mit Munition feilgeboten hatte. Weshalb er für die Rolle des mysteriösen „Opas“ auch eine Frau aufführte, blieb Prigoshins Geheimnis.
Wen auch immer Prigoshin gemeint haben mag, sein Monolog und Medwedews Telegram-Post haben gezeigt, wie stark das Bild des Opas mittlerweile mit Wladimir Putin assoziiert wird.
Lange Zeit war er ein echter Superman und Macho
Der russische Präsident hat sich lange als echter Superman, Macho und Sexsymbol inszeniert: Er schwang sich mit nacktem Oberkörper aufs Pferd, tauchte nach antiken Amphoren, flog mit Kranichen, und Frauen besangen ihn und machten ihm Liebeserklärungen in den sozialen Medien.
Wann wurde aus dem Macho der „gute Opa der Nation“, und ab wann genau wurde „Großvater“ zum bevorzugten Spitznamen für Putin?
Dem Newsletter Signal zufolge verdankt er diese Bezeichnung dem Meme „Opa, nimm deine Tabletten, sonst kriegste nen Tritt in den Arsch“, das nach Alexej Nawalnys Verhaftung im Januar 2021 als Parole bei Unterstützungsaktionen verwendet wurde.
Wann wurde aus dem Macho der „gute Opa der Nation“?
In Wirklichkeit begann Putins Metamorphose jedoch schon lange davor. Anfang September 2017 erschien im Magazin The New Times die Kolumne Putin als Großvater der Nation. Der Journalist Andrej Kolesnikow verglich darin den russischen Präsidenten mit Lenin:
„Auch Putin trifft sich in letzter Zeit oft mit der Jugend – jedenfalls öfter als mit den Vertretern anderer Altersgruppen. Wladimir Iljitsch wurde „Großväterchen Lenin“ genannt, obwohl er in einem Alter war, in dem ein ordentlicher Staatsoligarch heute gerade mal seine alte Frau gegen eine neue austauscht, die besser zu seiner eben erworbenen Yacht passt. Und ja, auch Putin verwandelt sich im Lauf seiner Direkten Drähte, Tauriden und Offenen Unterrichtsstunden nach und nach vom Vater der Nation zu ihrem Opa. Die Jugend unterhält er größtenteils mit fantastischen Erzählungen über Drohnen, Marsflüge, künstliche Intelligenz und die Passionarität des russischen Volkes, dank derer es seine Souveränität für tausend Jahre sichern und ausweiten, die eigenen Stiefel im Pazifik sauber– und alle anderen im Scheißhaus kaltmachen wird.“
Tatsächlich wurden damals, 2017, einige Zusammentreffen Putins mit Studierenden und Schülern organisiert. Grund dafür war vermutlich die wachsende Popularität Nawalnys, der sich schon immer darauf verstand, eine gemeinsame Sprache mit der Jugend zu finden. Damals gab es überall im Land Kundgebungen seiner Anhänger gegen die Korruption. Laut der Politologin Maria Snegowaja „versuchten die Imagemacher des Kreml, als sie Nawalnys Popularität unter jungen Leuten bemerkten, zunächst auch Putin ein für diese Altersgruppe attraktives Image zu verleihen“. Dies habe jedoch nicht funktioniert und deshalb habe der Kreml auf das Bild des „Großvaters der Nation“ zurückgreifen müssen.
Selbst sein Markenzeichen, die politisch unkorrekten Scherze, sind schon veraltet
Die bekannte Linguistin Jelena Schmeljowa, die die rhetorischen Profile von Politikern untersucht, stellte schon 2018 in einem Interview mit dem Radiosender Golos Ameriki (Voice of America) fest, dass sich der Wandel von Putins Image vom Macho zum Großvater bereits vollzogen habe. Die Treffen mit den Schülern hätten nicht die (vom Kreml) erwünschte Wirkung gehabt, sondern Putins Unfähigkeit, die Sprache der heutigen Jugend zu sprechen, nur noch offensichtlicher werden lassen.
„Selbst sein Markenzeichen, die politisch unkorrekten Scherze, sind schon veraltet. Sie finden bei dieser Zielgruppe keinerlei Anklang. Bei einem Treffen mit Schülern des Sirius-Zentrums für hochbegabte Kinder in Sotschi stellte ein Junge eine Frage – eine sehr kluge übrigens: Er nannte seinen Familiennamen, der armenisch war, und sagte, er sei aus Tjumen. Darauf sagte Putin (ich erinnere mich nicht genau an den Familiennamen des Jungen, sagen wir Aslamasjan): ‚Aslamasjan aus Tjumen? Ist es da nicht ein bisschen zu kalt für dich?‘ Dem Jungen kippte die Kinnlade runter, er verstand das einfach nicht. Denn das ist nicht die Art von Scherzen, die bei der Jugend heute gut ankommt.“
Putin bekam das Image des drögen Großvaters verpasst
Laut Schmeljowa habe man wohl nach diesem Vorfall beschlossen, Putin das Image des redlichen, langweiligen Großvaters zu verpassen, der durch Erfahrung lebensklug ist und sich um alle kümmert.
Etwas später bestätigte auch Putin selbst, dass er sich dieses Image zu eigen gemacht hatte. Auf seiner traditionellen Pressekonferenz bemerkte er eine Journalistin, die ein Plakat mit der Aufschrift „Putin bye-bye“ hielt, und ließ ihr das Wort erteilen. Wie sich herausstellte, stand auf dem Plakat in Wirklichkeit „Putin – babai“. Die Journalistin, die aus Tatarstan kam, erklärte, dass „babai“ das tatarische Wort für „Großvater“ sei. Putin tat die Sache mit einem Scherz ab: Im Alter habe eben seine Sehkraft nachgelassen.
Beim Wettbewerb Wort des Jahres 2021 war „Bunker-Opa“ einer der Hauptkandidaten
Kurz, das Image Putins als Opa kam schon lange vor 2021 in Umlauf. Massenhafte Verbreitung, später dann noch mit dem Beiwort „Bunker-“, hat dieser Spitzname jedoch tatsächlich durch Nawalny und seine Anhänger gefunden. Beim unabhängigen russischen Wettbewerb Wort des Jahres 2021 war „Bunker-Opa“ einer der drei Hauptkandidaten.
Der Ausdruck entstand ursprünglich während der Pandemie, als viel von Putins Selbstisolierung, seiner Angst vor Ansteckung und den strikten Quarantänevorschriften für alle die Rede war, die öffentlich mit ihm zusammentrafen. Im Juni 2020 sagte Alexej Nawalny über Putin und die ungeheuren Ausgaben für die Siegesparade in Moskau:
„Kauft mit dem Geld doch Medikamente für Rentner. […] An die Parade denken die als Letztes. Aber der Bunker-Opa will seine Parade, er muss sich ja auf der Tribüne inszenieren.“
Dieser Spitzname etablierte sich später durch den Enthüllungsfilm des Nawalny-Teams zu Putins Palast in Gelendshik, in dem ein riesiger Bunker erwähnt wird.
Im Februar 2021 fügte Nawalny ihm bei seinem Schlusswort vor dem Stadtgericht in Chimki ein weiteres Beiwort an: „Der langfingrige Bunker-Opa“.
Yandex blockiert das Anzeigen von Putin-Bildern beim Suchbegriff Bunker-Opa
Im Januar 2023, auf dem Höhepunkt des Kriegs gegen die Ukraine, brachte ein großes Datenleck des Quellcodes der Yandex-Dienste an den Tag, dass die Suchmaschine das Anzeigen von Putin-Bildern blockiert, wenn der Suchbegriff „Bunker-Opa“ (bunkerny ded) eingegeben wird. Die Wörter „Ded“ und „Deduschka“ haben auf Russisch unterschiedliche Konnotationen. Inzwischen hat der Kreml jedoch offenbar mit beiden Probleme – sowohl mit dem Begriff „Ded“, der mit der Armee bzw. dem kriminellen Milieu assoziiert wird, als auch mit dem drolligen „Deduschka“ (dem Opa in Pantoffeln, der vergessen hat, seine Tabletten zu nehmen). Nach Informationen von Journalisten der Moscow Times wurde sofort nach Prigoshins Meuterei und seinen Anspielungen auf den „glücklichen Opi“ damit begonnen, auf schnellstem Weg ein neues Image für Putin zu kreieren.
Ein neuer Putin?
Der neue Putin soll nicht mehr im Bunker hocken, sondern für alle zugänglich sein – ein Präsident zum Anfassen, dem man sogar einen Kuss geben kann. Was bei Putins dritter Metamorphose nach dem Macho und dem Großvater herauskommen wird, ist noch offen. Doch es wird sicher nicht leicht werden, das neue Image durchzusetzen – gerade, weil der Spitzname schon ziemlich fest haftet. Um es mit Andrej Kolesnikows Worten aus der letztjährigen Kolumne zu sagen: „Man kann den Opa aus dem Bunker herausholen, aber nie den Bunker aus dem Opa.“