Die Annahme, die Menschen in Russland könnten gegen Wladimir Putin auf die Straße gehen, wenn es ihnen wirtschaftlich schlechter geht, war falsch. Stattdessen richtet sich die Aggression nach außen. Der Soziologe Lew Gudkow erklärt in der neuen Zeitschrift Gorby, wie das Regime die Menschen mit Großmacht-Gesten von ihrem ärmlichen Alltag ablenkt.
Das Bewußtsein, einer „Weltmacht“ anzugehören, spielt für die arme und vom Staat abhängige Bevölkerung Russlands ohne Zweifel eine wichtige kompensatorische Rolle. Der Stolz auf das eigene Land ist untrennbar verbunden mit einer schwer zu unterdrückenden Scham und dem beklemmenden Gefühl, hinter besser entwickelten Ländern zurückzubleiben („… so ein tüchtiges Volk, so ein reiches Land, und dann leben wir in ewiger Armut und Instabilität“).
Diese beiden Bilder – von sich selbst und vom eigenen Land – ergeben zusammen einen Komplex aus Gefühlen, die in ihrer Intensität vergleichbar sind: Von „Stolz“ sprachen bei Umfragen des Lewada-Zentrums in unterschiedlichen Jahren zwischen 49 (1994) und 83 Prozent (2017), von „Scham und Bitterkeit“ beim Gedanken an das eigene Land und dessen Geschichte zwischen 78 (1989) und 48 Prozent (2021). Stolz und Scham – diese beiden Motive sind in der kollektiven Identifikation der Russen dominierend. Im Schnitt antworteten in den vergangenen 30 Jahren 73 Prozent beziehungsweise 60 Prozent der Befragten so. Anders gesagt, die überwiegende Mehrheit hatte und hat extrem widersprüchliche Gefühle bezüglich ihres Landes.
Das Gefühl von Stolz erreicht stets nach Militäreinsätzen einen Höhepunkt, während es in Jahren von Krisen und sinkendem Wohlstand auf ein Minimum fällt.
Die Verbitterung über den Zerfall der UdSSR und den Verlust des Großmachtstatus’ ist in der gesamten postsowjetischen Zeit das zweitstärkste Gefühl der Befragten (nach dem Empfinden, in Armut und ständiger „Krise“ zu leben). Mehr als 80 Prozent der Russen, also die absolute Mehrheit, war und ist bis heute der Meinung, Russland solle „seinen Großmachtstatus zurückerlangen und verteidigen“ (dieser Anteil schwankt zwischen 72 Prozent im Jahr 1992 und 88 Prozent 2018). 1998 erwarteten die Russen von Jelzins Nachfolger als Präsident vor allem zwei Dinge für ihr Land: die Überwindung der Wirtschaftskrise und die Erlangung jener Autorität als Weltmacht, über die die UdSSR bis zu ihrem Untergang verfügte. Hier stellt sich die Frage: Was ist das überhaupt, eine Weltmacht, was stellen sich die Menschen darunter vor? (Grafik 1)
Wie man sieht, assoziieren die Menschen mit diesem Begriff das, was sie sich am meisten wünschen. Das Hauptmerkmal einer „Weltmacht“ ist demnach der Wohlstand des Volkes, ein Lebensstandard wie in „normalen Ländern“ (sprich: „wie im Westen“). Dieser Wunsch wurde in den letzten 20 Jahren nur stärker. Etwas zurückgegangen ist derweil die noch aus Sowjetzeiten stammende Idee einer starken Industrienation (die sich vor allem an staatlichen Interessen, an der Rüstungsindustrie und der Armee orientierte und nicht am Bedarf gewöhnlicher Menschen). Da jedoch der Lebensstandard nicht einfach so auf ein Handzeichen der Chefs steigt, nehmen im Bewusstsein der Massen andere symbolische Komponenten mehr Raum ein. Und zwar vor allem Dinge, die andere Staaten fürchten sollen: militärische Stärke und Atomwaffen (dieser Wert ist von 30 auf 46 bis 51 Prozent gestiegen, also auf das Eineinhalbfache). Im gleichen Maße wächst das Streben nach Isolationismus: Die Bedeutung des „Respekts anderer Länder“, also eigentlich des Ansehens Russlands in der internationalen Arena, ist von 35 auf 13 bis 16 Prozent gesunken und somit um mehr als die Hälfte. (Ich möchte betonen, dass diese Entwicklung bereits vor Beginn der „militärischen Spezialoperation“ eingesetzt hat. Das bedeutet, dass die russische Gesellschaft gut darauf vorbereitet war, die Reaktion der internationalen Gemeinschaft auf die bevorstehenden Aktionen zu ignorieren.) Weder Fortschritte in Wissenschaft und Kultur noch die „heroische Vergangenheit“ (ideelle Traditionen und geistige Klammern), weder die gigantischen geografischen Dimensionen des Landes noch die Bevölkerungszahl oder der Reichtum an natürlichen Ressourcen gehören dem Verständnis der Russen nach zu den primären Eigenschaften einer Weltmacht.
Wenn es sein muss, kann man sich auch mit dem wenigen, was man hat, zu den „Großen“ zählen. Die Identifikation der Russen mit Russland als „Weltmacht“ ist (mit einer Verzögerung um ein Jahr) immer dann am höchsten, wenn es einen Militäreinsatz gab, die Propaganda drastisch hochgefahren und die Stimmung in Richtung Revanche und Dominanz im postsowjetischen Raum angeheizt wird: während des zweiten Tschetschenienkriegs (2000), während des Georgienkriegs (2009), bei der Annexion der Krim (2015) und in der aktuellen „Spezialoperation“.
Im Vergleich dazu fällt die Kurve zweimal deutlich ab: Als 2005 die Privilegien für ausgewählte Gruppen wie Rentnerinnen und Rentner oder Veteranen gestrichen und durch Geldzahlungen ersetzt wurden. Und während der Massenproteste der Mittelschicht 2011 bis 2013. In der Folge dieser Ereignisse nimmt das Bewusstsein, zu einer Großmacht zu gehören, stark ab.
Gleichwohl waren die Bemühungen der Ideologen des heutigen Regimes, die Akzente in der Vorstellung von einer Großmacht zu verschieben – weg vom Wohlstand und hin zu Phantomen traditioneller Werte und Militarismus, zur Mystik eines tausendjährigen Russlands – nur teilweise von Erfolg gekrönt. Trotz aller Bemühungen um patriotische Mobilisierung würde die Mehrheit der Russen lieber in einem Land leben, das militärisch vielleicht nicht das Stärkste und nicht unbedingt eine Weltmacht ist, dafür mit hohem Lebensstandard und guter Lebensqualität, selbst wenn es nur ein kleines, dafür aber sauberes, gemütliches und ruhiges Land wäre (Grafik 3). Nur eine kleine Minderheit ist bereit, für territoriale Größe zu bezahlen, die durch militärische Überlegenheit und Bedrohung anderer Länder aufrechterhalten wird. Im Schnitt würden es in den letzten 25 Jahren 76 Prozent der Befragten „bevorzugen, wenn der russische Staat sich in erster Linie um einen höheren Wohlstand der Bevölkerung kümmern würde“ und nicht „um die Ausweitung der militärischen Stärke Russlands“ (was nur 16 Prozent der Befragten gern hätten).
Für den kleinen Mann hat die Vorstellung von „Russland als Weltmacht“ nicht nur die Funktion, ihn zu beruhigen und ihn in seinen eigenen Augen zu glorifizieren. Sie lenkt seine Aufmerksamkeit auch weg von seinem beschwerlichen Alltag auf eine virtuelle Bühne der geopolitischen Rivalität. Manifestationen imperialer Hybris und Erklärungen über die Bedrohung der nationalen Sicherheit interessieren die Russen in ihrem realen Alltagsleben, also als gewöhnliche Menschen, die sich um das eigene Wohlergehen und das ihrer Familien kümmern, kaum. Das heißt aber nicht, dass ihnen diese Themen gleichgültig sind. In ihrer Rolle als Untergebene, also als kollektive Subjekte sind sie stolz auf Russlands militärische Macht, auf seinen „mit Blut gekauften Ruhm“ und das riesige Territorium, das es erobert und dessen Völker es sich untertan gemacht hat.
Die Angst, diesen Stolz zu verlieren, lähmt das Potenzial der zivilen Selbstorganisation, da für die Menschen ihr Gefühl von Würde keine andere Basis hat als ihre Zugehörigkeit zu einem Imperium.
Die derzeit verschärft geführten Debatten über den imperialistischen Geist der russischen Kultur und die genetische Veranlagung der Russen zu Expansion und Dominanz tragen spekulative und dogmatische Züge, denn sie gehen einem natürlichen „Großmachtstreben und Hang zum Imperialismus“ aus, als handelte es sich um eine unveränderliche und metaphysische Wesensart. Es wäre dumm, die Bedeutung solcher Konzepte für die russische Gesellschaft zu leugnen, genauso wie die Überzeugung, Russland sei anderen Ländern und Völkern historisch überlegen, und die daraus resultierende Bereitschaft, Gewalt und Herrschaft über diese zu rechtfertigen. Das Problem liegt jedoch woanders, nämlich im Verständnis dessen, welche Rolle diese Vorstellungen in der Gesellschaft spielen (oder wie man in der Soziologie sagt, was ihre Funktion bei der Integration der Gesellschaft ist), wie weit sie in der Masse der Bevölkerung verbreitet sind und welche Gruppen sie für ihre Interessen und Zwecke einsetzen.
Für die absolute Mehrheit der Bevölkerung (62 bis 66 Prozent) umfasst die Idee des „Imperiums“ vor allem anmaßende und hochtrabende Vorstellungen von Russland als Weltmacht, aber keine militärische Expansion oder die Ausübung von Druck und Gewalt auf andere Länder. Ihre Funktion ist die Aufrechterhaltung der kollektiven Identität (des Nationalstolzes) und die Legitimierung der Staatsmacht, die in den Augen der Bevölkerung dieses Image gewährleistet. Ein Viertel bis zu einem Drittel der Bevölkerung (je nach Jahr, durchschnittlich 27 Prozent) ist jedoch für militärischen Expansionismus, obwohl sich nur eine Minderheit – drei bis neun Prozent – entschieden dafür ausspricht, dass die Regierung ihre Macht anderen Völkern und Ländern aufzwingen soll.
Allerdings ist Widerstand gegen eine solche Politik von der großen Masse der Bevölkerung auch nicht zu erwarten: Die Identifikation mit einem Staat, der den Anspruch erhebt, Autorität und „Weltmachtstatus“ zu haben, geht mit passivem Konformismus und Opportunismus einher. Und das erst recht, wenn jegliche Ausformung der Zivilgesellschaft polizeilich ausgemerzt wird.
Was bleibt, ist eine schwache Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Ein Teil der Russen hat in den letzten 20 Jahren begonnen, bürgerliche Freiheiten und Menschenrechte, also die Würde des Menschen und des Landes insgesamt als Grundlage einer Weltmacht anzusehen. Dieser Parameter erreichte nach der Annexion der Krim seinen niedrigsten Wert (13 Prozent). Am höchsten (27 Prozent) lag er bei der letzten Messung vor der „Spezialoperation“ in den Jahren 2018 bis 2021.
Seit dem vergangenen Jahr spricht Putin in seinen Reden so häufig wie nie zuvor über Afrika. Woher kommt das gesteigerte Interesse? Der Ökonom Wladislaw Inosemzew beleuchtet auf Riddle die Geschäfte russischer Militärunternehmen, antikoloniale Rhetorik und geopolitische Ambitionen des Kreml auf dem Kontinent.
Vor 30 Jahren gab Wladimir Shirinowski, ein mittlerweile verstorbener russischer Politiker, der damals große Hoffnungen weckte, ein Buch heraus. Er drängte dort auf ein Ausgreifen Russlands in eine Richtung, die heute als „globaler Süden“ bezeichnet wird. Und schrieb von der Hoffnung, dass russische Soldaten einst ihre Stiefel im Indischen Ozean säubern würden. Seitdem haben die Bestrebungen, im Raum zwischen der Türkei und Indien, zwischen dem Persischen Golf und China einen Krieg zu führen, bei vielen abgenommen. Die Interessen der Großmächte haben sich Richtung Afrika verschoben. Auch Russland wurde in dieser Region aktiv und ist es immer noch, und zwar auf die ihm eigene, spezifische Weise.
Militärunternehmen mischen sich in die inneren Angelegenheiten der Länder ein
Präsident Putin hatte sich in den 2000er Jahren noch hauptsächlich mit der Wiederherstellung der Verbindungen zu den ehemaligen Satelliten der Sowjetunion befasst. Dazu gehörte, dass die Schulden recht erfolgreicher afrikanischer Staaten abgeschrieben wurden (bis 2008 wurden Schulden von über 14,5 Milliarden US-Dollar erlassen, unter anderem die von Libyen und Algerien). Ab 2012 verschoben sich die Akzente jedoch beträchtlich. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit des Kreml und seiner Stellvertreter gerieten nun die tyrannischsten Staaten des Kontinents, die von inneren Konflikten zerrissen und reich an wertvollen Bodenschätzen sind: der Sudan, die Zentralafrikanische Republik, Mali, Niger und eine Reihe anderer Staaten. Die RAND Corporation, ein US-amerikanischer Thinktank, hat jüngst in einer Studie 34 Fälle aufgeführt, in denen sich Russland seit 2005 in die inneren Angelegenheiten dieser Länder eingemischt hat. Dieses Vorgehen erfolgte zum Großteil nicht durch offizielle Stellen Russlands, sondern durch private Militärunternehmen und diverse Berater.
Hier ist anzumerken, dass sich insbesondere nach 2012, nach Putins Rückkehr in den Kreml, dieses gesteigerte Interesse Russlands auf Nord- und Zentralafrika konzentrierte: Russland unterstützte die ihm nahestehenden Kräfte im Bürgerkrieg in Libyen. Und es versuchte, im Sudan Präsident Umar al-Baschir beim Machterhalt zu helfen. Gleichzeitig hat Russland die Armee des südsudanesischen Präsidenten Salva Kiir Mayardit bewaffnet, wobei das von der UNO verhängte Embargo auf Waffenlieferungen nach Südsudan umgangen wurde. Nachdem der Bürgerkrieg in der Zentralafrikanischen Republik 2016 einigermaßen beendet war, schickte Russland erstmals offiziell Waffen und Militärausbilder in das Land (meist Angehörige privater Militärstrukturen). Zuvor hatten sich die europäischen Staaten und vor allem Frankreich unfähig gezeigt, diesen Konflikt zu schlichten: Sie zogen den größten Teil ihrer Kontingente ab; die letzten französischen Soldaten verließen das Land 2022. Die Gewinne der Wagner-Gruppe in dieser Region beliefen sich bald schon auf mindestens mehrere Hundert Millionen Dollar. In Russland kamen Gerüchte auf, dass die Zentralafrikanische Republik quasi als „Tresor“ für Vermögen diene, die die russische politische Elite zusammengeraubt hatte. Die russische Expansion ging aber weiter: 2021 beteiligten sich kremlfreundliche Kräfte am Putschversuch im Tschad, indem sie die regierungsfeindlichen Aufständischen im Süden Libyens trainierten. Dann wurden Wagner-Leute in Mali gesichtet, wo sie auf Seiten der Regierungstruppen kämpften und in massenhafte Repressionen gegen Zivilisten verwickelt waren. Und im vergangenen Jahr wurden in Niger überall russische Flaggen geschwenkt, um Jewgeni Prigoshin zu grüßen, der gerade seine letzten Tage verlebte – zuvor hatten dort Militärs den rechtmäßigen Präsidenten Mohamed Bazoum durch einen Putsch gestürzt.
Lukrative Geschäfte mit afrikanischen Bodenschätzen
All diese Jahre machten Angehörige privater russischer Militärfirmen einträgliche Geschäfte: Sie sicherten die Förderung von Edelsteinen und -metallen, die sie wiederum als Bezahlung für ihre Waffen und Dienste erhalten hatten. Es besteht kein Zweifel, dass die Einnahmen mit Offiziellen in Moskau geteilt wurden, umso mehr, als Putin 2023 selbst einräumte, dass die Wagner-Gruppe aus Haushaltsmitteln finanziert wurde. Die Beseitigung Prigoshins und die anschließende „Wiederherstellung der alleinigen Befehlsgewalt“ in der russischen Armee führten zu Korrekturen in der russischen Politik in Afrika: Der stellvertretende russische Verteidigungsminister Junus-bek Jewkurow war allein in den letzten Monaten auf Staatsbesuchen in Sudan, Libyen und Niger. Seither sollte man von neuen „aussichtsreichen“ Plänen sprechen, die der Kreml ausbrütet.
Je mehr Wagner den russischen Einflussbereich erweiterte, desto stärker begann man wohl im Kreml, auch größer zu denken
Afrika wurde bislang von Putin und seiner engsten Umgebung als eine Region betrachtet, in der Russland eine gewisse (wenn auch nicht unbedingt sehr große) Präsenz haben sollte. Das Beispiel China mit seinen gigantischen Investitionen erschien attraktiv, für Russland aber kaum realisierbar. Westliche Experten sprechen heute eher davon, dass Russland sein eigenes autoritär-kleptokratisches Modell und nicht die chinesische Variante von Wirtschaftsentwicklung nach Afrika trägt. Je mehr Wagner mit minimalen Ausgaben (und mit Gewinn für sämtliche Nutznießer) den russischen Einflussbereich erweiterte und dadurch zeigte, wie einfach die ehemalige koloniale Präsenz in der Region zu entwurzeln ist, desto stärker begann man wohl im Kreml, auch größer zu denken.
Ein Korridor bis zum Atlantik
Seit dem Beginn der intensiven Zusammenarbeit zwischen Russland und dem Sudan hatte es in der Presse Berichte über eine russische Initiative für einen eigenen Marinestützpunkt am Roten Meer gegeben. Moskau strebte eindeutig nach Präsenz in dieser strategisch wichtigen Region, wo bislang nur die vom Iran unterstützten Huthi-Rebellen ihr Unwesen treiben. Dieser Plan wurde bislang nicht verwirklicht. Dafür bilden die immer neuen Einflussgebiete Russlands in Afrika allmählich eine Art Korridor, der sich vom Roten Meer in Richtung Atlantik erstreckt, zu dessen Ufern der Kreml sehr gern einen Zugang hätte. Stand heute, nach dem kürzlich erfolgten Umsturz in Burkina Faso, ist es bis zum Ozean nur noch ein kleiner Schritt: In dem Land sind zwar nicht eindeutig prorussische Kräfte an die Macht gekommen (auch wenn der neue Regierungschef als erster auf dem Russland-Afrika-Forum eintraf), aber immerhin antiwestliche.
Werden die Europäer weiter ihre Positionen aufgeben oder versuchen sie, eine Zunahme der russischen Präsenz aufzuhalten?
Westliche Experten verweisen in letzter Zeit auf diese Prozesse, auch wenn sie diese noch nicht direkt mit dem Einfluss Moskaus in Verbindung bringen. Bezeichnend in dieser Hinsicht ist der Artikel von Comfort Ero und Murithi Mutigi in der neuen Ausgabe von Foreign Affairs. Die Autoren stellen dort einen „Coup-Korridor“ fest, der sich von Ost nach West durch die zentralen Regionen des Kontinents zieht. Allerdings sollte man nicht allein auf die Umstürze verweisen, sondern auch deren Folgen berücksichtigen. Im Fall Guinea arbeitet die neue Regierung etwa an einer Rückkehr zu demokratischen Verfahren und fördert Beziehungen zu europäischen Staaten. Die Frage ist jetzt vielfach die: Werden die Europäer ihre Positionen in Westafrika (wo lange Zeit der französische Einfluss groß war) weiter aufgeben oder versuchen sie, eine Zunahme der russischen Präsenz dort aufzuhalten?
Antikoloniale Rhetorik und bescheidene Wirtschaftshilfen
Moskau setzt jetzt erkennbar eine in der Region populäre antikoloniale Rhetorik ein. Oft werden jene Politiker und Aktivisten unterstützt, die einen Panafrikanismus verfechten, selbst wenn sie in Europa geboren sind und dort ihre Bildung erhielten. Ein Beispiel ist Kémi Séba, der seine Bewegung schwarzer Suprematisten und Antisemiten begründete, nachdem er seine Bildung in Frankreich und den USA erhalten hatte.
Anders als Peking investiert Moskau keine Riesensummen in afrikanische Volkswirtschaften. Russland geht in der Region aber viel härter vor und schreckt auch nicht vor politischer Destabilisierung zurück. Für eine Vollendung eines solchen Korridors, der den afrikanischen Kontinent durchschneidet, muss der Kreml die Kontrolle über sämtliche dieser kleineren, aber eng mit Frankreich verbundenen Länder herstellen. Hierzu gehören die Elfenbeinküste, Senegal und Kamerun, wo sich antikoloniale Stimmungen bemerkbar machen. Diese Länder versuchen aber auch, nachhaltige Beziehungen zu Frankreich aufrechtzuerhalten, weil sie auf Hilfe bei der Lösung interner Probleme hoffen.
Russland erzeugt eine Vielzahl von Problemen und beteiligt sich bei keinem davon an einer Lösung
Vor kurzem noch hatten viele westliche Experten zu der Ansicht geneigt, dass „ohne Russland keines der globalen Probleme gelöst werden“ könne. Jetzt aber muss man sich eingestehen, dass Russland eine Vielzahl von Problemen und Konflikten erzeugt, und sich bei keinem von ihnen an einer Lösung beteiligt. Das ist auch in Afrika zu sehen. Ganz gleich, wohin nun die russischen Interessen durchgedrungen sind: Es ist weder ein stabiler Frieden hergestellt noch eine nennenswerte Prosperität erreicht worden. Afrika ist bekanntlich eine der ärmsten Regionen der Welt. Allerdings sind auch hier Unterschiede zu beachten. Bei einem durchschnittlichen afrikanischen BIP pro Kopf von 2150 US-Dollar ist der russische Einfluss in den ärmsten Ländern am deutlichsten spürbar: in Mali (875 USD), im Tschad (703 USD), in Niger (631 USD), in der Zentralafrikanischen Republik (539 USD) und im Südsudan (417 USD). Allerdings sind jetzt auch die wohlhabenderen Länder Senegal (1637 USD), Elfenbeinküste (1668 USD) und Kamerun (2560 USD) in Gefahr. Es bleibt zu hoffen, dass die russischen „Influencer“ nicht zum Ozean durchkommen und ein „Einflusskorridor“ den Kontinent niemals zweiteilen wird. Damit das nicht geschieht, muss sich allerdings die Haltung in den europäischen Hauptstädten gegenüber den Problemen in Afrika wandeln – von Gleichgültigkeit zu Interesse.
Im zweiten Jahr des russischen Angriffskrieges fiel nicht nur die Gegenoffensive der Ukraine enttäuschend aus. Auch unter den Unterstützern Kyjiws bröckeln die Einheit und die Entschlossenheit. Dazu habe auch der neue Krieg im Nahen Osten beigetragen, argumentiert Alexander Baunow von der Carnegie-Stiftung. Kriegsgegner in Russland und außerhalb würden einander zunehmend fremd.
Das Jahr 2023 ist zum Jahr der großen Relativierung geworden. Im Frühling, Sommer, Herbst und Winter 2022 erlebte Europa einen Schock: Russland, das größte und militärisch stärkste Land des Kontinents, ist tatsächlich fähig, genau wie es die heutigen Erwachsenen als Kinder erzählt bekamen, einfach so, ohne jeden Vorwand, Panzer, Raketen und Kampfjets über die Grenze zu schicken, Städte zu bombardieren und unter Beschuss zu nehmen, Gebiete zu erobern und zu annektieren, um den Lebensraum für das eigene ungerechtfertigt gekränkte Volk zu vergrößern, und seine Politiker können reden wie wahnsinnig gewordene Diktatoren aus historischen Kinofilmen.
Ganz Europa erfasste das Gefühl: Das ist ein Angriff auf uns alle. Sogar in Russland selbst war diese Gefühl verbreitet. Ukrainische Flaggen wurden gehisst, wo früher nicht einmal Nationalfahnen hingen – an Museen und Theatern, an europäischen Botschaften in fremden Hauptstädten, an Baustellen und Autobahnraststätten. Ukrainischen Staatsbürgern standen die Grenzen offen wie niemandem je zuvor – ohne Einschränkungen, ohne dass sie einen Aufenthaltstitel beantragen mussten, sogar mit einer Arbeitserlaubnis in jeder beliebigen Branche.
Schließlich hatte genau jene Armee angegriffen, deren Manöver man jahrzehntelang gefürchtet und von der man gesagt hatte, dass ihr Marsch auf europäische Hauptstädte auch ohne Atomwaffen nur wenige Tage dauern würde. Und sie benahm sich stellenweise noch grausamer, als man es von ihr erwartet hatte. Der Einsatz von Bodentruppen eines europäischen Staates gegen sein Nachbarland löste schon für sich genommen einen Schock aus, doch der Anblick zerstörter Städte, von Menschen, die sich bei Kerzenlicht in den Metrostationen drängten, von Gräbern in den Innenhöfen von Wohnblocks mit Namensschildern aus Pappe übertraf alle Filme und Serien, die je von einem Einmarsch der Russen gehandelt hatten.
Die augenblickliche Identifizierung mit den Opfern motivierte zu entschlossenem Handeln. Sanktionen in Handel, Finanzwirtschaft und Verkehr, die vor dem Einmarsch noch sehr unwillig und nur als äußerste und hypothetische Maßnahmen diskutiert wurden – der Ausschluss aus Zahlungssystemen, die Einstellung des Flugverkehrs, das Einfrieren von Vermögen, ein Embargo, das der eigenen Wirtschaft schadet –, wurden mit einer Geschwindigkeit beschlossen, die alle überraschte. Als die ukrainischen Streitkräfte überraschend hartnäckig Widerstand leisteten, flossen finanzielle und militärische Hilfen in die Ukraine, deren Dimensionen man vor dem Krieg nicht annähernd in Betracht gezogen hatte.
Nach mittlerweile knapp zwei Jahren hat diese Anteilnahme ihre Intensität verloren. Europa und Amerika sehen die Ukraine zwar noch immer als Opfer, das Hilfe und Mitleid verdient, die US- und EU-Bürger fühlen sich jedoch selbst nicht mehr unmittelbar bedroht. Ein Verbündeter wurde angegriffen, ein Protegé, aber nicht sie selbst. Nicht, dass sie von Russland sofort den Anfang des Dritten Weltkriegs erwartet hätten, aber die Verschiebung wichtiger politischer und moralischer Grenzen deutete auf seinen möglichen Ausbruch hin und ließ einen schnellen Verlauf befürchten. Doch er blieb aus.
Die Stärke des ukrainischen Widerstands hat erst überrascht. Dann führte sie dazu, dass man sich im Westen entspannte
Auf paradoxe Weise spielte die Stärke des ukrainischen Widerstands, die entscheidende Erfolge für Russland verhinderte, zumindest in einer Hinsicht gegen die Ukraine: In Europa und Amerika entspannte man sich wieder. Die Russen sind einmarschiert und sie marschieren weiter, aber man weiß jetzt, dass sie noch lange nicht ankommen werden, vielleicht auch nie. Was wie der Anfang eines Dritten Weltkriegs aussah, entpuppte sich als zweiter Jugoslawienkrieg – wieder ein lokaler Konflikt an der europäischen Peripherie, der mit dem Zerfall eines verspätet sterbenden autoritären Imperiums zu tun hat und mit dem man sich schwer identifizieren kann.
Es kam zu einer Entfremdung, zu seiner teilweisen Verdrängung aus dem eigenen Alltag/Erleben/Leben. Die ukrainischen Flaggen werden weniger, mancherorts sieht man bereits mehr palästinensische, und an Solidaritätskundgebungen mit der Ukraine nehmen immer weniger Menschen teil. Die These von der praktisch vollständigen Identifikation mit dem Opfer wurde von der Antithese der Entfremdung und Verdrängung des Kriegs an die Peripherie abgelöst.
Nach dem Schema These und Antithese: Die praktisch vollständige Identifikation mit dem Opfer wurde von der Entfremdung und Verdrängung des Kriegs an die Peripherie abgelöst.
Der erste Auftritt Selenskys vor einem fremden Parlament beeindruckte. Mit jedem weiteren Auftritt nimmt die Wirkung ab
Genauso wie der gesamte Krieg hat auch das Image von Präsident Selensky eine Relativierung erfahren. Dadurch, dass der Krieg so langsam, so weit weg und so fremd geworden ist, hat sich das Bild verändert, das die Welt von Selensky hat. So wie der Krieg ist er [dem Westen – dek.] fremd geworden, ein eigenartiger, peripherer Held. Ein Held – durchaus, aber keiner, der „zu uns gehört“.
Eine Heldentat ist immer leichter zu begreifen, wenn es sich um ein einmaliges Ereignis handelt. Klassische Tragödien sind rund um einmalige Heldentaten konstruiert. Der Präsident des Landes, das sich so tapfer verteidigt, verlässt unter Kugelhagel die Hauptstadt, um in Felduniform in einem ausländischen Parlament aufzutreten, wo er tosenden Applaus erntet und widerstandslos ein Hilfspaket entgegennimmt. Beim ersten Mal. Beim zweiten, dritten und vierten Mal ist es schwieriger, denselben Effekt zu erzielen.
Wahlen zu gewinnen ist einfacher, als populär zu bleiben. Selensky verschwindet allmählich von den Titelblättern. Das unangenehme Bild des russischen Präsidenten in einem normalen Anzug erscheint weltweit dem Normalbürger auf einmal doch geläufiger als das angespannte, heroische Image Selenskys, der allein durch seinen Anblick eine emotionale Reaktion einfordert, zu der immer mehr die Kraft fehlt – Spannung hält man ja nicht so lange aus.
Die Abkühlung im Außen hat die Situation im Inneren angeheizt. In die ukrainische Politik ist die gewohnte (und ganz natürliche) Konkurrenz zurückgekehrt, und damit einhergehend der Verdacht, dass der aktuelle Held womöglich nicht der Einzige ist, dass an seiner Stelle ein anderer stehen könnte, und wer weiß, vielleicht sogar ein noch tapfererer.
Der Heroismus des Staatsoberhaupts birgt noch einen weiteren gefährlichen Aspekt: Mit seiner eigenen Heldenhaftigkeit verlangt er auch von anderen Heldentum. Als Zielscheibe Nummer eins sieht er jedoch, anders als die Könige im Mittelalter, davon ab, seiner Truppe vorauszugaloppieren oder in einem Baldachin über dem Schlachtfeld zu thronen. Vom beherzten Retter ist er zu einem geworden, der andere in den Tod schickt.
Die Stabilisierung des Bösen
Der Stillstand an der Front schwächt die Argumente jener, die dazu aufrufen, die Aggression durch entschiedenes Handeln zu stoppen. Immerhin hat die Aggression ja quasi von selbst nachgelassen.
Putins Truppen sind nur zu lokalen Offensiven in der Lage, die die Front fast nicht verschieben. Auch die Ukraine verteidigt sich derzeit eher, als Land zu befreien. In Moskau will man keine Mobilmachung, man hofft einfach, dass der Ukraine bald die Soldaten für die Verteidigung ausgehen, und dann reichen die russischen für den Angriff.
Als klar wurde, dass ein verpatzter Anfang nicht automatisch ein verpatztes Ende bedeuten muss, ist Putin regelrecht aufgeblüht. Nachdem er selbst mutwillig die Stabilität zerstört hat, derer er sich früher rühmte, ist eine neue Form der Stabilität auf den Trümmern der alten entstanden. In diesem neuen Gleichgewicht spielen dieselben Gruppen eine Rolle. Es bringt sowohl Neues als auch unwiderbringliche Verluste, aber es hält. Die Antwort auf die Frage, wie lange Russland noch Krieg führen kann, bleibt unterdessen vage: Solange es muss, kann es auch.
Man könnte meinen, die russische Wirtschaft sei aufgrund der enormen Militärausgaben überhitzt, sie leide unter hoher Inflation und einem Mangel an Technologien, die Zinsen der Zentralbank seien höher als je zuvor. Doch nicht einmal hier denkt jemand an die „Sanktionen aus der Hölle“, die so schlimm geklungen hatten. Das Verbot von Überweisungen an ausländische Banken und internationale Börsen provozierte einen Boom von Investitionen im Inland: Geld einfach auf dem Konto liegen zu haben, ist in Zeiten extrem hoher Kriegssteuern zu riskant. Staatliche und private Rüstungsinvestitionen brachten 2023 ein Wirtschaftswachstum von 3,5 Prozent, die verarbeitende Industrie verzeichnete ein Wachstum von 7,4 Prozent, und ganz nebenbei glich sich das Gefälle zwischen armen und reichen Regionen aus.
Während sich die Russen, die dem Krieg entflohen, mit der Eröffnung von Bankkonten herumschlugen, konnte Russland dank der Form der Sanktionen mit dem Verkauf von Gas nach Europa 200 Milliarden Dollar zusätzlich einnehmen. Und russisches Erdöl, das an Bord eines nicht versicherten Tanker eines Zwischenhändlers einen russischen Hafen verlässt, wird zum internationalen Produkt und, wenn auch mit Preisnachlass, auch von westlichen Verbrauchern bezahlt. Die Frage, die alle quälte, ob denn das gewohnte Leben mit dem Krieg vereinbar sei, wurde positiv beantwortet – in Russland wie im Rest der Welt.
Der moralische Schock, den die Bevölkerung westlicher Länder beim Anblick der zerstörten zwar ost-, aber doch europäischen Städte erlebte, konnte Gesellschaften in weiterer Entfernung von Europa nicht erfassen. Für sie sind getötete Ukrainer ungefähr so wie für den westlichen Durchschnittsbürger getötete Afghanen: relativ ferne Opfer. Auch die Sanktionen werden nicht von allen mitgetragen. Tiefgreifende und flächendeckende sekundäre Sanktionen des Westens gegen Drittländer sähen aus wie ein Wirtschaftskrieg gegen Entwicklungsländer und sind somit undenkbar.
Durch die relativ geringe Intensität des Kriegs und Putins bevorstehende Wiederwahl als Präsident mit breiter Unterstützung führt kein Weg an einer langfristigen Nachbarschaft mit einer neuen, übleren Version von Russland vorbei. Es kehrt die Idee zurück, dass man mit Russland – egal in welcher Version – ein Auskommen finden muss, und damit wird die Krieg führende Diktatur durch internationale Kontakte sowohl im Osten als auch im Westen legitimiert werden.
Wenn diese Kontakte zum Westen wieder aufgenommen werden, dann werden die Sanktionen angesichts der russischen Staatseinnahmen in internationalen Handelsgeschäften wie eine Bestrafung einzelner Bürger wirken – sie treffen diejenigen, die man eben erwischen kann. Wobei es doch auch in solchen Fällen üblich ist, dass die Bürger mit dem Staat gemeinsam leiden und nicht an seiner statt. Und keiner hat eine Antwort auf so verfluchte Fragen wie: Was, wenn in Russland aufgrund der fehlenden technischen Wartung ein Passagierflugzeug abstürzt?
Die gleichzeitige Unterstützung Israels und der Ukraine ist weniger widersprüchlich, als Kritiker behaupten. Es geht hier weniger um Kriegsgegner, die auf einmal zu Kriegsbefürwortern geworden sind (allerdings trifft das längst nicht auf alle zu), sondern um Menschen, die in beiden Konflikten jeweils die Seite unterstützen, die trotz all ihrer himmelschreienden Unvollkommenheiten Zivilisationen westlichen Typs repräsentiert. Darüber hinaus sind, wenn man die alles verkomplizierenden Vorgeschichten außer Acht lässt, beide Kriege eine Reaktion auf Aggression.
Israels Krieg gegen Gaza hat den proukrainischen Konsens zerschlagen
Dennoch hat der Krieg Israels gegen Gaza die Kräfte der Bündnispartner der Ukraine zerstreut, die weltweite Aufmerksamkeit abgezogen und den proukrainischen Konsens zerschlagen. Jene, die sich einig waren über die Verurteilung Russlands und die Unterstützung der Ukraine, sind sich über Israel und Palästina in die Haare geraten und werfen einander vor, die falsche Meinung zu vertreten. Die angespannte Diskussion über den neuen Konflikt hat Anlass zum Zweifel gegeben, ob es nicht auch bezüglich Russland und Ukraine sein kann, dass keiner vorbehaltlos recht hat.
Der Nahostkrieg hat den in der Ukraine nicht nur von den Titelblättern verdrängt. Legt man die beiden Konflikte übereinander, dann stimmen bei gewissen Fragen die Konturen nicht überein: bei der Annexion von Territorium, der Fremdverwaltung von dessen Bevölkerung, bei zivilen Opfern im Zuge von Kampfhandlungen. Der Vergleich mit Israel ist gerade da unvorteilhaft für Kyjiw, wo man Länder abseits des Westens davon überzeugen will, die Ukraine zu unterstützen.
Russland ist es gelungen, die Welt in jene zu spalten, die den Einmarsch in die Ukraine als eigenes Drama erlebt haben, und jene, die gleichgültig blieben. Für die einen geht es hier um Fragen der allgemeinmenschlichen Moral, für die anderen um ganz normale Geopolitik wie eh und je und überall. Zu Letzteren zählen die meisten nicht westlichen Länder, und der Nahostkonflikt machte es ihnen leichter, bei ihrer Meinung zu bleiben. Die Antwort auf die Frage, „ob man leben kann, wenn nebenan Krieg ist“, fiel positiv aus – sowohl für die meisten Menschen als auch für die meisten Staaten. Es geht, sogar wenn es zwei Kriege sind.
2022 schien es, als sei mit einem Mal die große Klarheit ausgebrochen. Eineinhalb Jahre später bildet diese Klarheit keine tragende Basis mehr
Vor einem Jahr schien es, als sei die große Klarheit ausgebrochen. Der Krieg zerstörte Leben, vernichtete Pläne, entriss vielen ihr Zuhause, lieferte dafür eine unerschütterliche moralische Stütze und ein maximal belastbares Fundament für eine neue Einigkeit über unwichtig gewordene Unterschiede hinweg. Zuvor war die Möglichkeit einer solchen Einigkeit unklar, unter anderem aufgrund unterschiedlicher Ideen, mit der perfiden Diktatur zu koexistieren, die trügerische Hoffnungen nährte. Die Ablehnung des Kriegs brachte die verschiedensten Menschen mit unterschiedlichsten Erfahrungen zusammen, und es sah so aus, als würde dieses sie verbindende Wichtige nie mehr verschwinden.
Eineinhalb Jahre später ist diese Klarheit vielleicht auf individueller Ebene noch da, bildet jedoch keine einende Grundlage mehr. Die gemeinsame moralische Basis gleicht mittlerweile einem zerbrochenen Spiegel, in dem jede Scherbe zwar dasselbe widerspiegelt, aber jeweils für sich. Die Ablehnung des Kriegs wurde vom Maß aller Dinge zu einer Meinung, die man je nach Lebenslauf, Wohnort, Umfeld und sogar Staatsbürgerschaft annimmt oder auch nicht.
Russische Kriegsgegner werden in Kyjiw nicht mehr als Verbündete gesehen
Von der spontanen, intuitiv richtigen Geste, russische Kriegsgegner automatisch als Verbündete zu sehen – wie Selensky es tat, indem er für eines seiner ersten Interviews russische Journalisten einlud –, ist ein beachtlicher Teil der ukrainischen Gesellschaft dazu übergegangen, eine solche Verbundenheit gar nicht erst für möglich zu halten, und ein Teil der russischen Gesellschaft folgte. Andere wiederum schotteten sich ganz ab: Na gut, dann müsst ihr es eben ohne uns schaffen.
In beiden Fällen geht es nicht um alle, vielleicht nicht einmal um die Mehrheit, doch allein das Aufkommen solcher Ideen reichte aus, um ein eventuelles ukrainisch-russisches Bündnis gegen den Krieg im Keim zu ersticken. Aus Angst davor, die Opfer des Angriffs zu verletzen, begannen viele im Westen, sich von Gleichgesinnten in Russland abzugrenzen. Die eine, absolute Ablehnung von Krieg und Diktatur hat sich in mehrere relative verwandelt.
Wenn die vorbehaltlose Verurteilung der Aggression als einziges Kriterium, das unter den neuen Bedingungen zählt, in Zweifel gezogen wird, wird automatisch auch das Neue und Einzigartige dieser Bedingungen in Zweifel gezogen. Und somit wird die aktuelle Aggression relativiert: „Der Krieg hat bereits 2014 begonnen, wo wart ihr damals? Wir kannten Putin doch genau, Russland hat sich immer so verhalten und so weiter. Und wenn es schon immer so war, gibt es auch keinen Grund, sich jetzt aufzuregen.
Das zum Schweigen verurteilte Russland empfand lange Zeit Dankbarkeit, dass einige ihr Zuhause aufgaben, um vom Ausland aus ihre Stimme zu erheben
Die grenzübergreifende Einheit der Kriegsgegner begann ab Mitte September 2022 zu bröckeln und setzte dies das ganze Jahr 2023 auch innerhalb der russischen Gesellschaft fort. Viele Monate nach Kriegsbeginn empfand das auf sich selbst zurückgeworfene und zum Schweigen verurteilte Russland so etwas wie Anerkennung jenen gegenüber, die ihr Zuhause aufgaben, um einer zum damaligen Zeitpunkt allgemeinen Stimmung Ausdruck zu verleihen. Auf diese Haltung – danke, dass ihr sprecht und schreibt, ihr rettet unsere Würde – trifft man jetzt seltener.
Die Lage ist so gut wie aussichtslos. Die freie Presse und generell das intellektuelle öffentliche Leben konnten nach Kriegsbeginn in Russland nicht in bisheriger Form weitergehen. Und außerhalb der Staatsgrenzen hörten sie mit der Zeit auf, jene zu repräsentieren, die im Land geblieben sind. Das liegt nicht nur an Internet-Sperren und auch nicht am unterschiedlichen Alltag. Innerhalb Russlands bildet sich schrittweise eine neue Sprache heraus, eine neue Art, über schmerzhafte Themen zu sprechen, neue Modi, mit anderen Worten und anderen Intonationen seinen Widerspruch zu markieren. Die innere und die äußere Sprache sind nicht komplett unterschiedlich, aber auch nicht komplett gleich. Dass man also in verschiedenen Sprachen vom selben sprechen wird, scheint unausweichlich.
Gegen Ende des zweiten Kriegsjahres ist die Trennung der beiden russischen Gesellschaften diesseits und jenseits der russischen Staatsgrenze abgeschlossen. Die Macht und Bedeutung von Statements gegen den Krieg hat sich indessen ebenfalls abgenutzt. Im Frühling und Sommer 2022 war jedes Wort, jedes Interview maßgeblich und dreist, man wurde bestraft oder auch nicht, aber jetzt wirken dieselben Worte wie eine Wiederholung von bereits Gesagtem.
Die Entwicklung von russischen Staatsbürgern, die gegen den Krieg protestiert haben, und die von Präsident Selensky sind sich in dieser Hinsicht ähnlich. Die Zeit, die gefüllt werden muss und daher Wiederholungen verlangt, zerreibt, verwischt und entwertet die Worte und Taten. Und genau wie für Selensky gilt für jeden Kriegsgegner, der seine Stimme erhebt: Je länger der Krieg dauert, desto größer wird das Risiko, einen Fehler zu machen, etwas Falsches zu sagen. Der Aggressor hat weniger Risiko, vor dem schwarzen Hintergrund der Aggression fällt ein verbaler Fauxpas nicht so auf, der Hauptfehler ist schon begangen, ihn zu vertiefen ist schwer.
Die Separation der beiden Kriegsgegner in und außerhalb Russlands wird durch das Vorgehen der westlichen Bürokraten beschleunigt. Mit dem nachvollziehbaren Wunsch, die Kriegsbefürworter nicht einfach in Ruhe weiterleben zu lassen, als wäre nichts gewesen, zielen sie darauf ab, die Verbindung zwischen dem Innen und dem Außen endgültig abreißen zu lassen. Drei potenziell enorm wichtige Verbindungen – die russisch-ukrainische, die russisch-europäische und die russisch-emigrantische sind zu Opfern der Relativierung geworden.
Der ideale Beobachter, das ideale Opfer und das ideale Mitleid sind Vergangenheit
Im Frühling 2022 erzeugte der Schock über den Angriff eine künstliche Reinheit der Atmosphäre. Details rückten in den Hintergrund, ermöglichten es vorübergehend, dass ideale Beobachter einem idealen Opfer ideales Mitleid entgegenbringen, ohne einander zu kritisieren. Ideales Leid, ideale Solidarität. Wie leicht und schön ist es doch, die richtige Entscheidung mitzutragen, wenn plakative Gerechtigkeit siegt, das Böse bestraft wird, das Opfer sich treu bleibt und die Zeit und die Menschen das Bild nicht verderben.
Aber dieser Punkt ist überschritten. Die beinahe laborhafte Reinheit konnte sich unter natürlichen Bedingungen nicht lange halten. Anscheinend erleben wir in der dunklen Jahreszeit the darkest hour. Heute müssen wir die unter Theologen vielzitierte unitas in necessariis (dt. Einmütigkeit im Notwendigen) mit bewusster Anstrengung aufrecht erhalten, indem wir das vom Lauf der Zeit aufgezwungene soziale und politische Durcheinander überwinden. Andererseits wiegt eine unter natürlichen Bedingungen getroffene moralische Entscheidung schwerer, und der dabei herausgebildete ethische Maßstab für die Politik könnte zur universellen Norm werden.
„Stoppt den Krieg, glaubt nicht der Propaganda. Sie lügen euch hier an.“ Drei Wochen nach Beginn des Angriffskrieges läuft Marina Owsjannikowa in den Hintergrund einer Live-Übertragung der Nachrichtensendung Wremja. Die Mitarbeiterin des staatlichen Senders Erster Kanal hält ein selbst gemaltes Plakat in die Kamera, auf dem sie den Krieg verurteilt und die Zuschauerinnen und Zuschauer auffordert, die Propaganda zu hinterfragen. Die Sendung wird unterbrochen, Owsjannikowa flieht mit ihrer Tochter nach Frankreich. Im Oktober 2023 entzieht ein Moskauer Gericht ihr das Sorgerecht für ihre beiden Kinder – auf Antrag ihres Ex-Mannes und ihres 17-jährigen Sohnes.
Trotz der enormen Risiken für sie selbst und ihre Familien führen oft Frauen den Protest gegen den Krieg an. Sie verteilen Flugblätter und Aufkleber, helfen geflüchteten Ukrainerinnen oder stellen sich als Ein-Frau-Demonstration auf öffentliche Plätze und verlangen, dass ihre Söhne, Brüder und Männer von der Front heimgeholt werden. Die Politikwissenschaftlerin Leandra Bias von der Universität Bern stellt den feministischen Widerstand gegen den Krieg vor.
„Unsere Kinder sind kein Düngemittel!“
Als im September 2022 die Mobilmachung startet, ruft der Telegram-Kanal Der Morgen Dagestans zu Protesten auf. Im Stadtzentrum Machatschkalas im Nordkaukasus sammeln sich Hunderte von Demonstrierenden, darunter überwiegend Frauen. Sie rufen „Nein zum Krieg!“ und „Unsere Kinder sind kein Düngemittel!“, bis die Nationalgarde sie mit Gewalt auseinandertreibt. Auch in der sibirischen Großstadt Irkutsk gibt es Proteste sowie in Burjatien an der Grenze zur Mongolei. Was sie alle verbindet, ist, dass an ihnen zu einem großen Teil Frauen teilnehmen. Im Jahr 2022 machen Frauen fast die Hälfte aller auf Antikriegsprotesten Festgenommenen aus.1
Viele der aufsehenerregendsten Aktionen gegen den Krieg waren das Werk von Frauen: Die junge Aktivistin Anastasia Parschkowa stellte sich mit einem Schild vor die Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau, auf dem stand: „6. Gebot: Du sollst nicht töten“. Die 77-jährige Jelena Osipowa malte ein Plakat gegen den Einsatz von Atomwaffen, Polizisten rissen es ihr aus den Händen und nahmen sie fest. Im November 2023 verurteilte ein Gericht in Sankt Petersburg die 33-jährige Künstlerin Alexandra Skotschilenko zu sieben Jahren Straflager, weil sie in einem Supermarkt die Preisschilder gegen Informationen über das Massaker von Butscha ausgetauscht hatte.
Es bleibt aber nicht bei Aktionen Einzelner. Frauen leisten auch organisierten Widerstand. Unter dem Namen Frauen der Mobilisierten versammeln sich seit November 2023 Frauen, die die Rückkehr ihrer Männer von der Front fordern. Auf Telegram sind sie im Kanal Der Weg nach Hause aktiv, der mittlerweile über 35.000 Abonnent*innen hat. Für Aufsehen sorgte eine Aufkleberaktion Ende November: In mehreren russischen Städten veranstalteten die Frauen der Mobilisierten einen Auto-Flashmob. Auf ihre Heckscheiben kleben sie Sticker mit der Losung #vernite muscha, ja za#balas (dt. Gebt mir meinen Mann zurück, mir reicht’s). Dabei standen anstelle der kyrillischen Buchstaben В und З die lateinischen Entsprechungen V und Z – ein Verweis auf die Symbolik der Kriegspropaganda.
Das gefällt dem Kreml nicht: Jelena Pensinaja, eine Abgeordnete der Regierungspartei Einiges Russland, forderte, den Kanal der Gruppe als extremistisch einzustufen. Seitdem kennzeichnet Telegram ihn offiziell als „Fake“. Abonnent*innen werden eingeschüchtert, nicht an „illegalen Aktionen“ teilzunehmen und sich nicht auf „Extremismus“ einzulassen.
Das Vorgehen erinnert an Repressionen gegen ähnliche Initiativen. Das Komitee der Soldatenmütter von Sankt Petersburg, das immerhin schon seit den 1990er Jahren aktiv ist und insbesondere im ersten Tschetschenienkrieg eine große Rolle gespielt hat, wurde bereits 2014 von der Regierung als „ausländischer Agent“ eingestuft. Der Rat der Mütter und Ehefrauen, der sich 2022 nach Beginn der Mobilmachung gegründet hatte, stellte nach seiner Diffamierung als „Agent“ seine Arbeit ein.
Feminismus gegen den Krieg
Die größte Aufmerksamkeit erlangte international die Feministische Antikriegs-Bewegung (Feministkoje Antiwojennoje Soprotiwlenie, FAS). Innerhalb weniger Stunden nach Wladimir Putins Kriegserklärung verfassten die Initiator*innen ein Manifest, das sogleich von Tausenden unterzeichnet und bereits am 25. Februar 2022, einen Tag nach Beginn des Kriegs, veröffentlicht wurde. Darin steht, dass Russland der Ukraine das Recht auf Selbstbestimmung und jedwede Hoffnung auf ein friedliches Leben abgesprochen habe.
Dem Telegram-Kanal der FAS folgen mittlerweile fast 40.000 Abonnent*innen. Laut Moscow Times wurde das Manifest der Gruppe in 30 Sprachen übersetzt, darunter einige Sprachen ethnischer Minderheiten in Russland wie Tatarisch oder Udmurtisch. Die aufsehenerregenden Aktionen werden in westlichen Medien oft aufgegriffen. So schreibt ze.tt beispielsweise über zwei Aktivistinnen, die sich in Trauerkleidung und mit weißen Rosen fotografieren ließen. Das Goethe Institut schildert die Aktion Mariupol 5000, bei der Mitglieder selbstgebastelte Kreuze und Gedenktafeln für die Opfer in der zerstörten ukrainischen Hafenstadt aufstellten.
Dass die FAS noch existiert, ist ihrer dezentralen und anonymen Organisation zu verdanken. Ihre bekanntesten Mitglieder operieren aus dem Exil heraus. Dazu gehört die Co-Gründerin Daria Serenko. In einem Interview mit dem Portal 7×7 Horizontal Russia erzählt sie, sie gehe davon aus, dass die Aktivist*innen sich zu ungefähr gleichen Teilen auf Russland und das Ausland verteilten. Auch die in London lebende Historikerin Ella Rossmann ist Teil der Gruppe. Laut eigenen Angaben arbeiten die beiden acht bis zwölf Stunden pro Tag für den Widerstand. Wie viele genau innerhalb der FAS aktiv sind, lässt sich schwer schätzen. Im Interview mit Holodgibt eine Aktivistin an, sie hätten in den ersten drei Wochen knapp 100 Anfragen von Repressierten erhalten.
Die meisten Aktivist*innen innerhalb Russlands agieren anonym. Im System der FAS gibt es keine Hierarchien: Für jeden Ort können Aktivist*innen ihren eigenen Ableger gründen. Zurzeit ist die FAS nach eigenen Angaben in 23 Ländern aktiv und betreibt 33 Telegram-Kanäle außerhalb Russlands. In Russland selbst hat die Gruppe eigenen Angaben zufolge in allen Regionen aktive Unterstützer*innen. Untereinander können sich die verschiedenen russischen Zweige nur über einen Bot austauschen. Über alle Aktionen kommuniziert – aus Sicherheitsgründen – nur der zentrale FAS-Kanal auf Telegram und Instagram.
Eine konspirativ verbreitete Zeitung soll auch Ältere erreichen
Die FAS fülle das Vakuum, in das die oppositionellen Kräfte Russlands nach der Verhaftung Nawalnys im Februar 2021 gefallen seien, ist die Aktivistin Lilia Weschewatowa überzeugt, die im Exil in Armenien lebt. Die FAS sei ein vereinigendes Element, das verschiedene Hilfsformate anbiete. Dazu gehören psychologische Unterstützung, Informationen zum Thema (Cyber-)Sicherheit und die Zeitung Wahrheit der Frau, die Weschewatowa mit herausgibt.
Sie erscheint seit Mai 2022 und trägt das Motto: „eine unabhängige Zeitung, die wir stolz unseren Müttern und Grossmüttern zeigen können“. Freiwillige drucken sie zu Hause und legen sie dann heimlich an Orten aus, wo sie von möglichst vielen gefunden wird. „Wir ermahnen alle, vorsichtig zu sein, und das Agitationsmaterial nicht im eigenen Haus zu verteilen“, warnen die Organisator*innen die Freiwilligen. „Denkt daran, dass in den Hauseingängen oft Kameras angebracht sind. Vergesst nicht, euer Gesicht zu verhüllen!“
Die Wahrheit der Frau soll in erster Linie Ältere erreichen. Diese haben oft nicht die technischen Möglichkeiten, um über das Internet an unabhängige Informationen zu kommen. Inhaltlich dreht sich die Zeitung eher um soziale Themen und hält sich mit Kritik am Krieg zurück.
Ihr Name verweist auf ihre sowjetische Inspirationsquelle: Die Wahrheit der Frau erinnert an die Wahrheit des Komsomol; eine Zeitung, die es heute noch gibt, obwohl die Jugendorganisation Komsomol 1991 zusammen mit ihrer Mutterpartei, der KPdSU, aufgelöst wurde. Das Projekt ist ein Beispiel dafür, wie Feminist*innen in Russland – trotz staatlicher Unterdrückung der eigenen Geschichtsschreibung – Anknüpfungspunkte in früheren feministischen Mobilisierungswellen suchen und finden.
Dissidentinnen der Moderne
Dass die Zeitung im sogenannten Samisdat gedruckt und verbreitet wird, ist Praktiken aus dem sowjetischen Dissidententum entlehnt. Die erste feministische Schrift im Samisdat, Shenschtschina i Rossija (dt. Die Frau und Russland), erschien im September 1979 im damaligen Leningrad. Den vier Gründerinnen und Verlegerinnen – Natalja Malachowskaja, Tatjana Goritschewa, Tatjana Mamonowa und Julija Wosnesenskaja – schwebte nicht die Frau vor, die heroisch für die Sowjetunion ins All fliegt, sondern die „Zerstörer-Frau“, die mit dem rosigen Ideal der Geschlechtergleichstellung bricht, indem sie über die wahren Zustände und gelebten Erfahrungen sowjetischer Frauen berichtet.2
Die Schrift erfreute sich solcher Beliebtheit, dass sie über Nacht von Leningrader*innen gelesen und tags darauf gleich weitergereicht wurde. Obwohl es gerade einmal zehn Exemplare gab, fand eines (vermutlich über den Kulturattaché in Leningrad) den Weg nach Paris. Das Magazin Des Femmes en Mouvement druckte den Text ab und innerhalb kürzester Zeit wurde er bis nach Japan und in die USA verbreitet. Aufgrund dieser enormen Popularität wurden alle vier Gründerinnen im Verlauf eines Jahres ins Exil vertrieben.3
Innerhalb der feministischen Bewegung in Russland gibt es aber auch Kritik an der FAS. Insbesondere, weil deren bekannte Initiator*innen im sicheren Ausland leben, Interviews geben und mit Preisen ausgezeichnet werden, während die Frauen, die in Russland Aktionen durchführen, hohe Haftstrafen riskieren.
„Traditionelle Werte“ als politische Strategie
Um Feminist*innen im Inland mundtot zu machen, stützt sich der Kreml immer häufiger auf angebliche „traditionelle Werte“. Im Manifest der FAS heißt es dazu: „Der gegenwärtige Krieg wird […] auch unter dem Banner […] ‚traditioneller Werte‘ geführt […]. Alle, die zu kritischem Denken fähig sind, verstehen, dass zu diesen ‚traditionellen Werten‘ die Ungleichheit der Geschlechter, die Ausbeutung der Frauen und die staatliche Unterdrückung von Menschen gehören, deren Lebensweise, Selbstverständnis und Handeln solch engen patriarchalischen Normen nicht entsprechen“.4
Diese „traditionellen Werte“ sind spätestens seit 2009 Teil der offiziellen russischen Politik. Wie Kristina Stoeckl aufzeigt, stehen sie für einen Wandel in der russischen Diplomatie. Während Menschenrechte früher bekämpft und hinterfragt wurden, werden sie seit 2009 uminterpretiert, von ihrer liberalen Entwicklung entkoppelt und autoritär vereinnahmt. Unter dem Vorwand, „traditionelle Werte“ bewahren zu müssen, geben Vertreter*innen des Regimes vor, Familien in Russland und ihre Kinder vor sogenannter „homosexueller Propaganda“ schützen zu wollen. Daraus folgt auch, dass Russland nicht nur „traditionelle Werte“ hat, sondern auch eine angebliche „souveräne Demokratie“ benötigt, um diese Werte angemessen zu verteidigen. So gelingt es, dass sich eine autoritäre Staatsform und patriarchale Gesellschaftsnormen gegenseitig legitimieren.
Ich nenne diese Strategie ein „autoritäres Zurückspiegeln“ gegen den Westen.5 Um gegen die Vormachtstellung des Westens anzukämpfen, interpretiert Russland den Feminismus und progressive Geschlechternormen als eine perverse Erfindung des Westens, die einzig dazu diene, Nationen mittels einer „fünften Kolonne“ zu unterwandern und zum Einsturz zu bringen. Der Kreml reduziert Gleichstellung zum reinen Machtinstrument und kann dadurch behaupten, dass Demokratie und Menschenrechte gleichsam Teil dieser subversiven Unterwanderung sind – und so die eigene Regierungsform reinwaschen. Russland hat den Westen also – nach eigener Auffassung – seiner wahren Absichten überführt und wirkt wahrhaftiger. Zwar verspricht der Kreml kein besseres Leben. Er tut aber auch nicht so, als sei dies möglich. Der Erhalt der „traditionellen Werte“ veranschaulicht damit die Apathie und den totalen Stillstand der Gesellschaft.6
Die „traditionellen Werte“ werden den angeblich degenerierten Werten des Westens, der sogenannten „Gender Ideologie“, gegenübergestellt. Dadurch erscheint Russland nicht nur wahrhaftiger, sondern auch erhabener. Mit dem Einfall in die Ukraine erreicht diese Strategie eine neue Spitze. Hier bedient sich Putin der „traditionellen Werte“, um einen Aggressionskrieg als Präventivschlag gegen die Ausbreitung der „Gender-Ideologie“ darzustellen, von der die Ukraine angeblich bereits befallen sei.7 Am Abend vor der vollumfänglich Invasion sagte er: „Im Grunde haben diese Versuche des Westens, uns für seine eigenen Interessen einzuspannen, nie aufgehört: Er versucht, unsere traditionellen Werte zu zerstören und uns seine Pseudo-Werte aufzudrängen, die uns, unser Volk, von innen zerfressen sollen. All diese Ideen, die er bei sich bereits aggressiv durchsetzt, führen auf direktem Weg zu Verfall und Entartung, denn sie widersprechen der Natur des Menschen. Dazu wird es nicht kommen, das hat noch niemand je geschafft. Auch jetzt wird es nicht gelingen“.
Das Kontinuum der Gewalt
Zu diesen „Pseudo-Werten“ zählen nach Auffassung des Regimes auch allgemeine Menschenrechte: Russland hat kein separates Gesetz gegen häusliche Gewalt. 2017 strich das russische Parlament einen Paragrafen aus dem Strafgesetzbuch, der Gewalt in der Familie zum ersten Mal in der neueren Geschichte Russlands unter Strafe stellte. Seitdem wird Körperverletzung auch unter nahestehenden Personen zunächst nur als Ordnungswidrigkeit geahndet – ähnlich wie Falschparken. Begründet wurde die Gesetzesänderung damit, dass Gewalt an Nahestehenden nicht härter bestraft werden dürfe als Gewalt an Fremden. Frauenorganisationen hatten vergeblich gegen die Entkriminalisierung häuslicher Gewalt protestiert. Die Initiator*innen der Reform diffamierten diesen Einsatz für den Opferschutz derweil als das Werk der „westlichen Feministenlobby“.
Die russische Frauenrechtlerin Aljona Popowa, die sich massgeblich für ein Gesetz gegen häusliche Gewalt einsetzt, sagte kurz nach der vollumfänglichen Invasion der Ukraine in einem Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Das System steht aufseiten des Gewalttäters“. Diese Gewissheit habe sich seit dem 24. Februar 2022 zugespitzt. „Leute kommen zurück mit der Erfahrung, dass das System auf ihrer Seite steht, trotz Vergewaltigung, Mord, Kriegsverbrechen. Diese Leute werden noch mehr Gewalt in ihren eigenen Familien anwenden“, befand Popowa.
Tatsächlich rekrutierte vor allem die Wagner-Truppe in Gefängnissen gezielt Männer, die Mord und schwere Körperverletzung begangen hatten. Viele davon haben eine Geschichte geschlechtsspezifischer Gewalt und wurden nach ihrem Einsatz an der Front begnadigt. Bekannt ist beispielsweise der Fall von Wladislaw Kanjus, der 2020 seine Ex-Freundin ermordete und zu 17 Jahren Haft verurteilt wurde. Bereits im November 2023 wurde er begnadigt, nachdem er im Krieg gegen die Ukraine gekämpft hatte.
Dass durch die Militarisierung und die Besinnung auf „traditionelle Werte“ auch die Frauenrechte beschnitten werden, verdeutlichen aktuelle Angriffe auf das Recht auf Abtreibung. Dabei sticht insbesondere die Tätigkeit der Stiftung Frauen für das Leben heraus. Diese erhält eine großzügige Finanzierung von der Regierung, um eine vordergründig harmlose Hotline für schwangere Frauen zu betreiben. Deren Mitarbeiter*innen schüchtern Frauen ein, um Abtreibungen zu verhindern. Außerdem lobbyiert sie aktiv für ein gesetzliches Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen. In der Republik Mordwinien war sie erfolgreich: seit August 2023 ist dort die „Nötigung zur Abtreibung“ verboten. Mittlerweile zeichnet sich ab, dass sich dieser Trend weiter fortsetzen wird. So hat das Parlament der Region Nishni Nowgorod Mitte Dezember der Duma einen Gesetzesvorschlag unterbreitet, wonach Abtreibungen in Privatkliniken in ganz Russland verboten werden sollen. In seiner alljährlichen Call-in-Sendung Der direkte Draht spielte Putin diese Entwicklung herab und zog einmal mehr den Schutz der „traditionellen Werte“ als Erklärung heran.
Mobilmachung von Frauen
Bei der Frage der Mobilmachung tut sich unterdessen auch ein weiteres Spannungsfeld auf. Vor kurzem hat die formell private, tatsächlich aber unter staatlicher Kontrolle stehende militärische Organisation Redut angekündigt, Frauen als Drohnenpilotinnen und Scharfschützinnen zu rekrutieren – ein Widerspruch zu den „traditionellen Werten“? Nicht zwangsläufig, erklärt die Sicherheitsforscherin Jennifer Mathers von der Universität Aberystwyth. Denn mit der Frau als Scharfschützin entstehe ein direkter Bezug zum Zweiten Weltkrieg.8 Über 2000 Frauen in der sowjetischen Armee erfüllten diese Rolle, die mit mehr als 300 bestätigten Abschüssen wohl berühmteste unter ihnen war Ljudmila Pawlitschenko.
Außerdem setzen sowohl die Arbeit als Scharfschützin als auch die der Drohnenpilotin Präzision und Geduld voraus – beides klar weiblich codierte Qualitäten. Zudem können Frauen so ohne direkten Kontakt mit dem Feind kämpfen. Solche Rechtfertigungen ermöglichen es selbst dem russischen Verteidigungsministerium, für Frauen an der Front zu werben. Allerdings nur in unterstützenden Rollen: als Ärztinnen und Köchinnen.
Schwieriger würde es, wenn die Mobilmachung der Frauen plötzlich breiter aufgestellt würde. Dann, so Mathers, hätte der Kreml wirklich Mühe, das mit seinen patriarchalen Gesellschaftsnormen in Einklang zu bringen.
In der Sowjetunion spielten Helden eine große Rolle. Stoßarbeiter dienten als Vorbilder beim Aufbau einer neuen Gesellschaftsordnung, die Überhöhung der Frontkämpfer sollte helfen, das Leid vergessen zu machen, das der Große Vaterländische Krieg gebracht hatte. Und die Flieger und Kosmonauten verkörperten Fortschritt und Erfolge im Systemwettbewerb mit dem Westen. Bis heute bedient sich die Führung im Kreml dieser Heldenmythen, wenngleich sich die Figur des Helden wandelt.
Eine neue Welt braucht neue Vorbilder. Nach dem Sturz des alten Regimes 1917 wartete die Avantgarde der Revolution sehnlichst auf die „erste sowjetische Generation“, wenn die „Kinder der Revolution“ als vollendete „Neue Menschen“ das Erwachsenenalter erreichten. Die Bildhauerin Wera Muchina setzte ihnen 1937 mit ihrer Skulptur „Arbeiter und Kolchosbäuerin“ ein 24 Meter hohes Denkmal aus Stahl. Auf der Weltausstellung in Paris hielten sie ihre Werkzeuge Hammer und Sichel in den Himmel über dem sowjetischen Pavillon. In den 1930er Jahren belebten die „Neuen Menschen“ die Propaganda als Arbeiter, Sportler und Helden. Da gab es die Stoßarbeiter, die Helden des Aufbaus, und die Fliegerhelden (Stalins Falken),1 später dann die frontowiki, die Frontkämpfer im Großen Vaterländischen Krieg.
Im sowjetischen Alltag etablierte sich währenddessen eine „neue Mittelschicht“.2 Als die ersten Jahrgänge von Ingenieuren die neuen polytechnischen Hochschulen abschlossen, mussten sie als Helfer der Repressionsstäbe während des Terrors ihre Loyalität beweisen und wurden dafür mit Ämtern und Karrieren belohnt. Das war die Generation, die fast 50 Jahre an der Macht bleiben sollte: Die Generation Chruschtschows (1894–1971), Breshnews (1906–1982), Tschernenkos (1911–1985) und Andropows (1914–1984).
Es den Helden des Aufbaus und des Großen Vaterländischen Krieges gleich zu tun, wurde für die nachfolgenden Generationen schwierig, trotz der Mobilisierungskampagnen für die Erneuerung des Sozialismus nach Stalin, als Großprojekte wie die Neulandgewinnung oder das Kraftwerk von Bratsk Anfang der 1960er Jahre mit dem Versprechen von Abenteuer und Lagerfeuerromantik lockten (neben überdurchschnittlicher Bezahlung). Die einzigen „modernen“ Helden waren die ersten Kosmonauten, aber die Mondlandung der Amerikaner 1969 beendete den sowjetischen Höhenflug im Systemwettbewerb.
In den 1970er Jahren hatten die sowjetischen Helden (wie ihre Staatschefs auch) ihren Zenit längst überschritten. Die letzten beiden sowjetischen Jahrzehnte blieben heldenarme Zeiten. Statt der leuchtenden Vorbilder wimmelte es von blassen Ordensträgern in Bürokratenanzügen.3 In Dokumentarfilmen wurde die Erschöpfung dieser Helden zunehmend kritisch vor allem an Frauenfiguren verhandelt. Paradigmatisch dafür waren zwei Dokumentarfilme von Nikolai Obuchowitsch: Die Vorsitzende Malinina(1976) und Unsere Mutter ist eine Heldin (1979). Beide thematisierten die beiden Ebenen, auf denen diese „Heldinnen“ arbeiteten. Die eine Ebene war ihre tägliche Arbeit, die zweite die der öffentlichen Performanz, auf der sie die Figur der Heldin der Arbeit und ihr gesellschaftliches Engagement bei ritualisierten Auftritten in festgelegten Formeln darzustellen hatten. Der Film über die Kolchosvorsitzende und Delegierte an mehreren Parteikonkressen Praskowja Malinina arbeitet die klischeehaftigkeit der Phrasen, die über sie geäußert wurden, die sie aber auch selbst an Anlässen von sich gab, deutlich heraus, kritisierte sie jedoch nicht offen. Der Film über die Stoßarbeiterin Valentina Golubewa Unsere Mutter ist eine Held (sie ist zweifacher Held der sozialistischen Arbeit, Delegierte am 27. Kongress der KPdSU, Mitglied des Obersten Sowjets der RSFSR, Mitglied des ZK der KPdSU, Mitglied des Gebietsparteikomitees und Direktorin des Kammgarnkombinates Iwanowo)4 hingegen kontrastierte den familiären Alltag mit der Heldenerzählung und zeigte die Heldin als erschöpftes Wrack. Die Schlüsselszene des Films, die dazu führte, dass der Film bis 1989 nicht in den Verleih kam, zeigt Valentina, wie sie von der Nachtschicht nach Hause kommt, zu müde, um sich die Stiefel auszuziehen. Sie sitzt im Eingang der Wohnung und weint nur noch.
Tod im Amt
Mit Ausnahme Chruschtschows starben alle sowjetischen Staatschefs im Amt. Angefochten wurden die greisen Herrscher kaum, denn Generationenkonflikte gab es im Selbstverständnis der UdSSR nicht. Stattdessen zeigten Plakate, wie „die Jungen von den Alten lernen“. Doch zu Beginn der 1960er Jahre tat sich eine Kluft auf zwischen dem alternden Politbüro und den Jungen, akademisch gebildeten „60ern“,5 die keine Gewalterfahrung hatten, weder durch Revolution noch durch Terror und Krieg, und die voller Enthusiasmus waren. Die Aufbruchstimmung des Tauwetters erstickte in den bleiernen Breshnew-Jahren im bescheidenen Wohlstand, den Wohnungen und Datschen. Aber in diesen Rückzugsräumen blühte der Untergrund: Die 1984 gegründete subversive Leningrader Künstlergruppe Mitki um Dmitri Schagin inszenierte sich als infantile, triebgesteuerte Anti-Helden, die demonstrativ und ironisch mit Helden-Stereotypen spielten und sich sowjetischen Konventionen verweigerten. Ihre Markenzeichen waren gestreifte Matrosenshirts und der Slogan „Die Mitki wollen niemanden besiegen” – damals eine Provokation, und heute wieder. Nach dem Überfall auf die Ukraine wurde ein Gemälde Schagins mit dem heldenfeindlichen Slogan aus einer Ausstellung im Moskauer Museum für dekorative Kunst entfernt.6
1985 kam mit Gorbatschow endlich ein Vertreter der Generation der „60er“ an die Macht und versuchte, das marode und verschuldete Land mit den Visionen eines besseren Sozialismus aus seiner Lethargie zu reißen. Doch es war zu spät für Reformen, die Sowjetunion zerfiel.
Revolutionen und Systemwechsel werden oft als Neubeginn inszeniert und allzu gerne so verstanden. Das täuscht darüber hinweg, dass sich zwar die Rahmenbedingungen einschneidend ändern mögen, doch Entscheidungsträger nicht aus dem Nichts kommen, und auch die Bürokraten in der Regel in ihren Ämtern bleiben.
Russland erbte die sowjetischen Eliten
Etwa 60 Prozent der heutigen politischen Elite in Russland sind unmittelbar aus der spätsowjetischen Nomenklatura hervorgegangen und bestehen vorwiegend aus ehemaligen Mitgliedern der Kommunistischen Partei und des Komsomol, aus Bürokraten und Silowiki.7Diese Eliten haben kein Interesse an Demokratie, sondern betreiben Klientelpolitik. Mit ihnen herrscht eine Schicht gut vernetzter Individuen, eng verflochten mit dem Staat, dessen Vermögenswerte sie sich aneignen und an den sie Verbindlichkeiten weitergeben.8 Ein anonym publizierender Moskauer Soziologe argumentiert auf Meduza, diese postsowjetischen „Eliten der Bereicherung“ seien identisch mit den Emporkömmlingen der 1970er Jahre, als sich durch Erdölboom und Entspannungspolitik in der sowjetischen Nomenklatura Konsumismus und Korruption ausbreiteten. Damals wurde die Selbstbereicherung zur sozial akzeptierten Praxis.9
Die Kontinuität der Eliten ist einer der Gründe dafür, dass der post-sozialistische Turbokapitalismus nicht von außen kam, sondern von innen, aus den gewachsenen Strukturen. Zur bürokratischen Kultur sozialistischer Regime gehörte die Zentralisierung der Entscheidungsgewalt. Manager und Technokraten genossen Vorzug gegenüber Gestaltern. Die Öffentlichkeit blieb von Debatten ausgeschlossen und war an Planungsprozessen nicht beteiligt, dafür waren Experten zuständig. Nach 1989 nutzten wohlhabende und politisch einflussreiche Personen dieses bestehende System, um den Zugang zu Entscheidungsträgern zu kontrollieren, ihre eigenen finanziellen Interessen voranzutreiben und die Öffentlichkeit sowie deren Anliegen weiter zu marginalisieren.10 Die Korruption wurde in den 1990er Jahren zur faktisch legitimierten Basis des polit-ökonomischen Systems. Diese Eliten bezeichnet der anonyme Moskauer Soziologe als ebenso unsichtbar wie prinzipienlos. Sie verteufelten den Westen, schickten zugleich aber ihre Kinder auf teure Privatschulen ebendort und brächten ihr Vermögen dort in Sicherheit. Die persönliche Bereicherung verdrängte die Werte des sozialen und politischen Idealismus, den die Generation der 1960er predigte und dessen Sternstunde die Perestroika war. In Klientelverhältnissen zählt allein Loyalität, sie ersetzt die Ideale.11
Mit den Idealen verschwanden auch die Heldentypen des Aufbauers und Eroberers, die diese verkörperten. Übrig bleiben die Helden, die sich für das Vaterland aufzuopfern haben.
Der Präsident als sowjetischer Held
In Russland wirken sowjetische Heldentraditionen nach, in denen Arbeiter und Sportler eine große Rolle spielten. Daran knüpft auch die Erzählung von der einfachen Herkunft Putins an. Er spielt die Rolle des Helden, der sich aus einfachen Verhältnissen hochgearbeitet hat, doch volksnah geblieben ist. Er ist ein Held, der sein Ziel immer erreicht. Dabei ist er unerbittlich. Er macht seine Gegner „notfalls auf dem Scheißhaus kalt“, oder er wiegt sie in falscher Sicherheit, bis sie wie von Geisterhand getroffen vom Himmel fallen.
Putins Versprechen von law and order erinnern ebenso wie seine Sprache und die unzimperlichen Methoden der Terrorismusbekämpfung an den Helden der ersten postsowjetischen Blockbuster Brat 1 und 2, Danila Bagrow, die unvergessene Kultfigur der 90er. Das unscheinbare Auftreten dieses Kriegsheimkehrers aus der tiefen Provinz stand seiner Schlagkraft diametral gegenüber. Seine Weltsicht packte er in Sprüche wie „in der Wahrheit liegt die Kraft”, die Werte, die er vertrat, waren so russisch wie archaisch.
Auf der Bühne der Macht spielte Putin eine ganze Reihe von Heldenrollen. Er gab den Judoka, den Piloten, den Naturburschen, oben ohne und in Khaki als Angler, Jäger, oder Reiter. Er vertrat ein Bild idealer Männlichkeit: asketisch, sportlich, ohne Frauen, aber umschwärmt. In seine erste Amtszeit fiel die Zeit des „Glamour“, er suchte die Nähe zu Popstars, eine russische Girl Group trällerte, sie wollten „einen wie Putin“ heiraten.
2008 bis 2012 überließ Putin den Schreibtisch in Moskau seinem Statthalter Medwedew und ritt mit nacktem Oberkörper durch die Tundra (2009) oder zeigte sich als oberster Tierschützer mit Bären und Sibirischen Tigern. 2011 tauchte Putin im Schwarzen Meer nach antiken Amphoren, aber sogar sein Sprecher Peskow musste zugeben, dass es sich um einen arrangierten Fund handelte. Zuletzt flog Putin 2012 mit einem Deltasegler mit den Kranichen, dann stellte er die Produktion von Heldenvideos ein.
Putins Wiederwahl zum Präsidenten 2012 war von Protesten und dem Übergang zu einem zunehmend autoritären Regime begleitet. Die öffentlichen Inszenierungen männlicher Fitness passten nicht mehr zum fortschreitenden Alter des Dauerpräsidenten, zudem kursierten Gerüchte über Rückenprobleme. Putin zeigte sich fortan nur noch im dunkelblauen Anzug mit Krawatte. Der Fokus seiner Aktivitäten lag nun auf der Größe Russlands, der Geschichtsklitterung und der Außenpolitik, nämlich dem Angriff auf die Grenzen und die Unabhängigkeit der Ukraine.
Putin umgibt sich mit Helden
Die Macht ist letztlich ironiefrei, sie kann sich nicht selbst infrage stellen. Umso mehr war Ironie zu Sowjetzeiten die Waffe der Subalternen, zumal in einem System, in dem eigene Teilhabe als Farce wahrgenommen wurde. Auch im postsowjetischen Russland erhielten die öffentlichen Inszenierungen und Darbietungen staatlicher Autorität sogleich eine doppelte Signatur, eine ironische Brechung in Parallelerzählungen, für die seit den 2000er Jahren das Internet, insbesondere die Sozialen Medien, ein ideales Biotop bildeten.
Putin-Meme aus dem Internet
Seit sich 2011 die Rückkehr Putins in den Kreml abzeichnete, häuften sich die russischen Memes, die sich über dessen zunehmendes Alter und seine mehrfachen Amtszeiten lustig machten. Eine Darstellung ist einem grünlichen Breshnew-Porträt in Uniform mit von Orden bedeckter Brust nachempfunden, aktuelle Memes zeigen ihn als ewigen Präsidenten 2036 oder 2050.
Doch wie verschiedene Graswurzelbewegungen und populärkulturelle Phänomene wurde auch die Ironie vom System Putin gekapert und in das Arsenal der Herrschaftstechniken überführt. Der Anschein der Selbstironie ist trügerisch. Jede Aussage kann in ihr Gegenteil verkehrt werden, nie ist sicher, ob das Gesagte auch das Gemeinte ist. Mit dem Überfall auf die Ukraine ist aus Spaß Ernst geworden. Niemand spricht mehr von russischen Soldaten als “höflichen Leuten” wie bei der Besetzung der Krim. Nun sind sie Helden.
In wichtigen Momenten greift Putin immer wieder tief in die sowjetische Helden-Mottenkiste. Als es darum ging, der Duma 2020 die Verfassungsänderungen vorzulegen, die Putin zum ewigen Präsidenten machen sollten, schickte er keine andere als Walentina Tereschkowa vor, Jahrgang 1937, die letzte der sowjetischen Heldinnen, einmal-Kosmonautin 1963 und Duma-Abgeordnete der Partei Einiges Russland. Neben Tereschkowa erscheint Putin als Jüngling. Und als er am 8.12.2023 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2024 ankündigte, da wählte er eine Zeremonie zu Ehren der Helden des Vaterlandes als Rahmen, eine Gelegenheit, in der er Medaillen verlieh und als erster unter den Helden auftreten konnte. Doch diese Helden sind entweder schon tot oder vom Tod umgeben. Es sind Helden ohne Zukunft.
Mit den immer gravierenderen Verstößen gegen Menschen- und Völkerrecht in Russland ging in den vergangenen Jahren auch eine Verrohung der Sprache und der Umgangsformen der politischen Elite einher. Selbst Diplomaten verwenden heute Formulierungen, die ursprünglich aus der kriminellen Unterwelt stammen. Wladimir Putin brüstet sich damit, in seiner Jugend selbst ein Rowdy gewesen zu sein. Nicht zuletzt in Verbindung mit einer populären Streaming-Serie wurde zuletzt wieder viel über die Kultur gewalttätiger Jugendgangs diskutiert, deren Mitglieder sich selbst als Pazany bezeichnen. Sie handeln nicht nach dem Gesetz, sondern nach einem eigenen Kodex, po ponjatijam. Dort zählen allein Stärke und Skrupellosigkeit, Nachgeben ist ein Zeichen von Schwäche, wer sich entschuldigt, hat verloren. Die Soziologin und Kriminologin Svetlana Stephenson von der London Metropolitan University hat die Entstehung solcher krimineller Jugendgangs in den 1980er Jahren der Sowjetunion erforscht und in ihrem Buch Gangs of Russia beschrieben. In einem Beitrag für das Online-Magazin Holod erklärt sie, wie Sprache und Umgangsformen dieser kriminellen Subkultur Eingang in die russische Politik fanden.
Ein Paradox im öffentlichen Auftritt der russischen Staatsmacht ist der Graben zwischen den Beteuerungen über Russlands Größe, seine Geschichte, Kultur und Moral einerseits, und dem Straßenbanden- und Knastsprache, die eben jene Staatsmacht oft und gern verwendet. Wobei ausgerechnet Personen diesen Kreml-Fenja verwenden, die selbst nicht in der Gosse aufgewachsen sind, sondern ganz im Gegenteil in gebildeten, ja geradezu elitären Kreisen ihre Erziehung genossen.
Die Hinwendung dieser „Elite“ zur Sprache der Hinterhöfe und Gefängnisse begann allerdings nicht in den 1990ern, in denen der Einfluss der Kriminalkultur auf die Gesellschaft seinen Höhepunkt erreichte. Damals wurden Film und Literatur von der düsteren Tschernucha überschwemmt, und aus jedem Radio dudelten Lieder aus der Lagerfolklore. Doch Jelzin (wie auch seine Vorgänger) und sein Umfeld benutzten keinen Gefängnisjargon, wenn sie sich an die Bevölkerung oder ausländische Amtskollegen wandten. Zur Staatssprache wurde Kreml-Fenja erst unter Putin. Die Gewalt der Straße, die in den 1990ern blühte, wurde von staatlicher Gewalt abgelöst, die sich der Sprache der Hinterhöfe und der Unterwelt bedient.
Die Elite spricht eine Sprache der Drohungen und Erniedrigungen
Begonnen hat diesen Trend Putin, der mit stolzer Brust seine Kindheit im Sankt Petersburger Hinterhof heraufbeschwört. Im Gespräch mit den Verfassern seiner ersten Biografie Aus erster Hand erzählte er: „Ich war ja ein Rowdy, kein Pionier […] Ich war eigentlich ein Rabauke.“ Die Sprache der Straße, der Drohungen und Erniedrigungen („im Klo abmurksen“, „wer uns beleidigt, überlebt keine drei Tage“), die Vorstellung von Gewalt als Beziehungsgrundlage („wir haben Schwäche gezeigt, und Schwache kriegen Prügel“, „wenn eine Schlägerei unvermeidbar ist, schlag als erster zu“) – all das gehört mittlerweile zu dem Stil, den die Entourage des Präsidenten an den Tag legt.
Seit Jahren bedienen sich die russische Führung und die Kreml-Propaganda des Gaunerjargons. Erinnern wir uns etwa daran, wie Viktor Solotow, der Befehlshaber der Nationalgarde, Alexej Nawalny eine otwetka (dt. wörtl. „eine kleine Antwort“) in Aussicht stellte, als dieser ihn der Korruption bezichtigte. Kürzlich lieferte sich der bekannte Moderator Wladimir Solowjow einen Schlagabtausch mit dem Gouverneur der Oblast Swerdlowsk, Jewgeni Kujaschew, in einem Jargon, der wörtlich ins Deutsche übertragen etwa so klingen würde: „Schlägst du mir etwa einen Uhrzeiger ein, Gouverneur?“ (was so viel heißt wie: Willst du mir etwa vorschreiben, wann wir uns treffen?). Worauf dieser den Moderator ermahnte: „Passen Sie auf, was Sie da sagen.” Was ähnlich klang wie der Jargon-Ausdruck: „Passen Sie auf, was Sie da zum Basar tragen.” Was so viel heißt wie: Seien Sie bloß vorsichtig.
Als der Schanson-Sänger Alexander Nowikow daraufhin Solowjow in noch ausgefeilterem Fenja den Marsch blies, bewies das einmal mehr, dass mittlerweile Gouverneur und Staatspropagandist und Schanson-Sänger denselben Kriminaljargon sprechen.
Wenn der Außenminister, an die internationalen Regierungschefs gewandt, sagt: „Der Pazan hat’s gesagt, der Pazan hat’s getan“, wenn der Fernsehmoderator mit einem Eimer Kot ins Studio kommt und droht, ihn über seinen Opponenten zu kippen, und der UNO-Botschafter des Landes sein Gegenüber harsch auffordert: „schau mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede!“, dann fühlen wir uns wie in einem schlechten Gangsterfilm.
Ein Befreiungsschlag gegen den Anstand
Der Einsatz von Redewendungen aus dem Knast und aus der Gosse und generell die saloppen Verhaltensweisen haben etwas Karnevaleskes, einen Show-Effekt, sie wirken wie ein erleichternder Befreiungsschlag gegen den Anstand. Allerdings ist die Karnevalskultur, wie der Philologe Michail Bachtin schrieb, traditionell eine niedere, eine Volkskultur. Hier jedoch haben wir es ganz deutlich mit karnevaleskem Verhalten von Angehörigen des Establishments zu tun, die öffentlich und genüsslich gesellschaftliche Normen übertreten. Und wenn die Lachkultur des Volkes auf Tollerei beruht, die die Ketten der Kontrolle und Unterdrückung durch die Machthaber sprengt, so ist der Karneval der Machthaber ein Fest des Todes, der Gewalt und Unterwerfung. Dem Eros des Volkes, der Leben hervorbringt, stellt sich der Thanatos der Macht entgegen.
Ein auf brutaler, überbordender Gewalt basierendes Verhalten hat tatsächlich viel mit dem Verhalten gemein, das in dem Milieu üblich ist, in dem „echte Pazany“ am Werk sind, Mitglieder von Straßenbanden. Da der Pazan der Souverän seines Territoriums ist, ist er dem ungeschriebenen Gesetz der Straße folgend – po ponjatijam – immer im Recht. Was auch immer er getan hat, selbst wenn es keine Absicht war, irrtümlich, aus Dummheit oder so genannter Willkür (wenn also die Gewalt durch nichts zu rechtfertigen ist) – er muss darauf bestehen, im Recht zu sein. Unter keinen Umständen darf er sich entschuldigen.
Dieser Regel folgt ganz offensichtlich auch die russische Regierung (erinnern wir uns an die abgeschossene Boeing der Malaysia Airlines und an all die Versionen von „wir sind dort nicht“, [mit dieser Formulierung wurde nach 2014 der Einsatz russischer Soldaten im Donbass geleugnet – dek]). Das Eingeständnis einer Schuld bedeutet Gesichtsverlust, daher werden alle Vorwürfe sofort zurückgewiesen. Sogar da, wo es im eigenen Interesse gelegen hätte, die Situation zu entschärfen – wie zum Beispiel nach Lawrows ungeheuerlichen Äußerungen über Hitlers jüdische Wurzeln und antisemitische Juden –, blieb das Außenministerium noch eine Weile bei dieser These und beschuldigte Israel, in der Ukraine Neonazis zu unterstützen. Dass Putin sich beim israelischen Premierminister entschuldigte, ist eine große Ausnahme und auf existenzielle Interessen eines Regimes zurückzuführen, das einen Verbündeten braucht. Zudem erfolgte die Entschuldigung heimlich: Dass der russische Präsident mit Naftali Bennett telefoniert hatte, wurde nicht aus dem Kreml berichtet, sondern aus Israel.
Angegriffen werden nur Schwächere
Das Wort des Pazans hat sofortige und unmittelbare Gültigkeit. Er darf keine leeren Drohungen aussprechen. Wenn Putin der Welt mit Atomwaffen droht, dann behauptet er durchaus po ponjatijam: „Wir spucken keine großen Töne, wir tun das, und fertig.“ Wem die Banditenlogik fremd ist, dem erscheint eine solch bedingungslose Entschlossenheit, wenn es um Leben und Tod von Millionen Menschen geht, moralisch unmöglich. Aber po ponjatijam ist alles ganz einfach: Ein Pazan darf nicht nur mit der Waffe herumprahlen, sonst riskiert er einen Gesichtsverlust. Sobald er sie zeigt oder auch nur erwähnt, muss er auch bereit sein, sie einzusetzen.
Steht ein Pazan jedoch ganz unerwartet auf der Straße einer überlegenen Gruppierung gegenüber oder gerät in eine Schießerei, so verhält er sich ganz anders. Er fängt an zu bluffen: Er tut, als erwarte er jeden Moment Verstärkung, beult seine Taschen aus, um gar nicht wirklich vorhandene Waffen vorzutäuschen. Auf solche Bluffs ist man hinterher unheimlich stolz, sie finden genauso wie Geschichten über Straßenkämpfe und Massenschlägereien Eingang in die Bandenfolklore. Einer stärkeren Bande erklärt niemand absichtlich den Krieg – man greift immer nur scheinbar Unterlegene an. Zusammenstößen mit überlegenen Gegnern versucht man lieber auszuweichen.
Eine Konfrontation auf der Straße beginnt oft mit der Forderung: „Schau mich gefälligst an!“ (Oder auch umgekehrt: „Was glotzt du mich so an?“) Auf diese Weise ergreift ein Pazan die Initiative und demonstriert, dass er es ist, der die Regeln der Interaktion bestimmt. Nur wer ein Pazan ist, hat einen Namen und ist den anderen ebenbürtig. Wer zu keiner Bande gehört, zu keinem Clan, keine Macht hinter sich hat, der ist ein namenloser Niemand. Deswegen nimmt Putin auch Nawalnys Namen nicht in den Mund, weil er ihn damit als ebenbürtig anerkennen würde.
Ein Anführer in diesem Milieu muss ständig seine Macht und Stärke demonstrieren
Bei unseren Recherchen zur organisierten Kriminalität in Kasan fasste ein Bandenmitglied die Ordnung innerhalb der Bande im Interview so zusammen: „Der Anführer muss ein harter, selbstsicherer Mann sein, der die Macht liebt und bereit ist, mit allen Mitteln darum zu kämpfen.“ Schwäche zu zeigen oder die Gruppe durch Kämpfe mit Gegnern zu schwächen, kann für den Anführer den Verlust seiner Macht oder sogar seines Lebens bedeuten.
Anführer und Autoritäten, die sich von Straßenbanditen zu Bossen krimineller Vereinigungen hochgekämpft haben, müssen auf jede erdenkliche Art ihre Macht demonstrieren: mit Brutalität, Unberechenbarkeit und Grobheit, um nicht nur Gegnern Angst einzujagen, sondern auch den Respekt seiner eigenen Mitstreiter zu verdienen. Während der allseits bekannten Versammlung des russischen Sicherheitsrats am Tag vor der Invasion in die Ukraine spielte Putin den skrupellosen Mafiaboss, der in seinem Umfeld keine Zweifel duldet und über Leichen geht.
Auch gemäßigtere Autoritäten machen demonstrativ harte Ansagen, um weiterhin zur herrschenden Elite zu gehören. Zum Beispiel Ex-Präsident Dimitri Medwedew, der einst als liberal galt, jetzt aber den ukrainischen Gegnern rät, „sich nach allen Seiten gründlich umzusehen“, und überlegt, wie man „den [nach Westen orientierten] Sapadniki die Nasen in den Dreck stoßen“ könnte.
Aus einer Bande kommt man nur sehr schwer ohne Verluste heraus. Wenn einer geht, wird er kollektiv „abgefertigt“, verprügelt, noch dazu wird ihm alles Geld abgeknöpft, das er angeblich der Gruppe schuldet. Manchmal enden solche „Abfertigungen“ mit schweren Verletzungen oder sogar dem Tod ehemaliger Mitglieder der Pazan-Bruderschaft. Dieses „Abschiedsritual“ veranschaulicht, dass die Einigkeit der Gruppe über der früheren Freundschaft und über geleisteten Verdiensten steht. Hier kann man Parallelen zu Vergeltungsaktionen sehen, die Mitgliedern der herrschenden Elite drohen, wenn sie beschließen „zu gehen“, auszuwandern oder es wagen, die Staatsmacht zu kritisieren.
Die Staatsspitze ist selbst zu einer quasi kriminellen Bande geworden
Natürlich ist die Struktur des russischen Staates komplexer als die einer kriminellen Bande. Der Stil der Pazany und die entsprechende Verhaltenslogik der Regierung lässt jedoch auf ihre tiefgreifende Primitivisierung schließen. Insofern ist die Staatsspitze rund um Putin, die den Rechtsstaat und die gesellschaftlichen Institutionen zerschlagen hat, universelle moralische Normen großkotzig mit Füßen tritt und das soziale Gefüge zerstört, selbst zu einer quasi kriminellen Bande geworden.
Primitiv ist auch die russische Gesellschaft geworden. Die Sprache und die Praxis der Gewalt können ethische Inhalte nicht ersetzen, sie können keinerlei positives Programm liefern. Hinter dem barbarischen Karneval verbirgt sich Leere. Diese Leere beginnt allzu leicht der Faschismus auszufüllen, der einerseits das Böse und die Zerstörung verkündet, andererseits die Primitivität und Leere „mit intensivierter Vergeistigung und Moralismus“ stopft, wie Merab Mamardaschwili schrieb.
Diesen Kult der nackten Gewalt hat die Staatsmacht mit einem Kult der Ahnen umgeben, mit der heiligen Geschichte, der ethnischen Exklusivität und in letzter Konsequenz dem Krieg. Aus primitiven, kriminellen, mafiösen Formen werden vor unseren Augen ultrarechte, faschistische Phänomene.
Derzeit ist schwer vorstellbar, wie und wann die Primitivisierung ein Ende findet und das Wachstum von sozialen Bindungen und institutionellen Beziehungen wieder einsetzt, die nicht auf ponjatija gründen und nicht allein aus Herrschaft und Unterdrückung bestehen. Aber eins ist klar – solange Krieg ist, müssen wir in den Abgrund der Verrohung blicken, der sich hinter dem jahrelangen Karneval der Gewalt aufgetan hat.
Die achtteilige SerieSlowo pazana war das Kulturereignis des Jahres in Russland, und auch ein enormer Erfolg in vielen Nachbarländern, in denen Russisch verstanden wird. Selbst in der Ukraine stand der Titelsong der Gruppe Aigel an der Spitze der Charts. Der Regisseur Shora Kryshownikow erzählt die Geschichte krimineller Jugendgangs in der Sowjetunion der 1980er Jahre. Unter Jugendlichen entstand in kürzester Zeit ein enormer Kult um die Serie, die auf der Plattform wink.ru gestreamt werden kann. Auf der Straße, in Cafés, in den Sozialen Medien, in der Staatsduma und in Propaganda-Talkshows wird über sie gesprochen. Allein im November wurde auf dem russischen Google-Pendant Yandex häufiger nach Slowo pazana gesucht als im gesamten Jahr nach Informationen zum Krieg in der Ukraine – das zeigt ein Vergleich der Suchanfragen, den das Onlinemedium Verstka durchgeführt hat.
Nachdem Anfang Dezember im Gebiet Irkutsk ein 15-Jähriger von Gleichaltrigen getötet wurde, die dabei ein Zitat aus Slowo pazana verwendeten, wurden Forderungen laut, die weitere Ausstrahlung zu verbieten. In russischen Medien und im Internet wurde heftig debattiert, ob die Serie unterschwellige Kritik an den Verhältnissen in Russland übt, die von dieser kriminellen Bandenwelt geprägt sind, oder ob sie im Gegenteil im Sinne des Regimes ein Bild von der guten Staatsmacht zeichnet, die die Kriminalität bekämpft und sich rührend um Jugendliche kümmert, die vom rechten Pfad abkommen. Für die eine Lesart spricht zum Beispiel, dass die Sängerin des Titelsongs den Krieg in der Ukraine öffentlich mit deutlichen Worten verurteilt hat. Den Liebhaber einer Polizistin spielt ausgerechnet Iwan Makarewitsch, der Sohn des Musikers Andrej Makarewitsch, der wegen seiner kritischen Haltung zum Kreml und seiner Ablehnung des Krieges im Exil leben muss. Für die andere Lesart gibt es aber auch gewichtige Argumente. Nicht zuletzt wurde die Serie vom Institut zur Entwicklung des Internet gefördert, eine Organisation, die in staatlichem Auftrag eine patriotische Agenda vorantreibt und unter anderem auch den Z-Pop-Sänger Shaman und Militärblogger unterstützt hat. Die Redaktion von Holod hat Svetlana Stephenson gefragt, was an der Serie authentisch ist und was fehlt. Die Professorin für Soziologie und Kriminologie an der London Metropolitan University hat in ihrem Buch Gangs of Russia. From the Streets to the Corridors of Power die Geschichte der Straßengangs untersucht. Es war auch eine Inspiration für die Autoren der Serie.
Wowa Adidas ist aus dem Krieg in Afghanistan heimgekehrt und führt jetzt eine Straßengang in Kasan an / Plakat: Rostelecom
Der Erfolg der Serie Slowo pazana liegt in hohem Maße am Thema. Die kriminelle Kultur ist für Außenstehende eine verborgene Welt und macht allein deshalb schon sehr neugierig. Einerseits ist die Welt von Banden, Gangs und Mafia beängstigend; ein Verbrechermilieu, das unsere friedliche Existenz bedroht. Andererseits stellen sich viele diese Welt als eine Welt vor, in der Gerechtigkeit und Brüderlichkeit herrschen und das Individuum sich in einer Gemeinschaft auflöst (selbst wenn das mit Kriminalität und Gewalt einhergeht).
Die Serie entführt die Zuschauer in ein von manchen schon fast vergessenes, von den meisten nie gekanntes Leben in einer sowjetischen Stadt in den 1980er Jahren. Gelungen ist die Vermittlung des schäbigen sowjetischen Alltags mit seiner ewigen Mangelwirtschaft und der stolzen Brühwurst auf dem Tisch, wo der Verlust der Pelzmütze zu einer echten Tragödie werden kann (weil sie Unsummen kostet und auch nirgendwo zu kriegen ist). Gut getroffen ist auch die unwirtliche urbane Landschaft, in der die jungen Protagonisten leben und um deren Straßenpflaster sie so verbissen kämpfen. Der Zuschauer spürt die feuchtkalten Straßen und Treppenhäuser regelrecht auf der Haut, er taucht ein in die Atmosphäre einer Zeit, in der es überall grob zugeht – vom harschen Ton der Verkäuferinnen bis zum erniedrigenden Umgang der Lehrerinnen und sogar der Putzfrauen mit den Schülern. Nur kleine Inseln der Kultur – Musikschulen – heben sich irgendwie von der allgegenwärtigen Gewalt ab, doch auch sie sind nicht in der Lage, ihre Schützlinge vor der magnetischen Anziehung der Straße zu bewahren. Dort gründen die Jungs ihre kriminellen Bruderschaften.
Diese Welt ist sehr glaubwürdig dargestellt. Als Expertin für Straßenbanden in Russland kann ich sagen, dass die Serie die Lebensweise und soziale Organisation der Kasaner Jugendgangs jener Zeit äußerst genau abbildet. Auch der Jargon ist gut getroffen, genau so die Rituale: Die Versammlungen der Straßengangs, von denen Außenstehende ausgeschlossen sind, Schießereien und Racheakte, Initiation und Ausschluss-Rituale für jene, die sich nicht nach den Regeln (po ponjatijam) verhalten.
Ein ganz normaler Teenager beginnt nach den Regeln der Straße zu leben
Die Serie vermittelt wahrheitsgetreu, wie sich die Bandenmitglieder als Herren über ihr Territorium verstanden und sich berechtigt fühlten, von allen, die es betraten, Schutzgeld zu erheben – vor allem von Jugendlichen, die keiner Bande angehörten und von Leuten, die dort ihre Firmen gründen wollten.
Den Machern von Slowo pazana gelingt es, ohne belehrend oder moralisierend zu wirken die Geschichte eines ganz normalen Teenagers zu erzählen, der sich einer Bande anschließt, nur weil er sich sonst nicht sicher fühlen kann. Dann beginnt er, wie es damals hieß, „mit den Pazany zu leben“: Er gerät in eine Gesellschaft, in der die Illusion einer männlichen Gerechtigkeit geschaffen wird, in der einer für alle einsteht und alle für einen, und in der das Gaunerehrenwort als unanfechtbares Gesetz gilt.
Je tiefer der Held jedoch in diese Welt eintaucht, desto mehr Gefahren ist er ausgesetzt. Das Risiko, im Gefängnis zu landen, die Gesundheit oder gar das Leben zu verlieren, ganz zu schweigen vom Leid der Angehörigen – das ist es, was die Jungs in ihrem neuen Leben erwartet. Und Gerechtigkeit suchen sie in den Banden vergeblich.
Obwohl das nicht alles in der Serie vorkommt, gehörten interne Konflikte bis hin zur Ermordung der einen Bandenführer durch die anderen, der Raub der Gemeinschaftskasse jüngerer Gruppen und deren gnadenlose Ausbeutung durch ältere Banden zur Norm. Die männlichen Bruderschaften erwiesen sich in einer Gesellschaft, in der auch Beziehungen innerhalb der Gruppen mit Gewalt reguliert wurden, als äußerst unzuverlässig. Ein junger Mann, der sich von seiner Bande bereits losgesagt hat, und den ich zu Forschungszwecken interviewt habe, beschrieb es so:
„Was ich damals bemerkenswert fand: Da ist zum Beispiel ein Typ von der Straße, den man kennt, man ist richtig befreundet mit ihm, verbringt viel Zeit zusammen, er gilt als Kumpel. Doch dann baut er irgendwie Scheiße, und auf einmal wird er geschasst, alle verprügeln ihn, pressen ihm Kohle ab. Gerade noch war man gut Freund, lag sich in den Armen, und auf einmal spuckt man ihn an und schlägt ihn. Das ist doch eine Schweinerei, das geht doch nicht. Ich brachte so etwas nie zustande, mir war das irgendwie zu arg. Mehreren von uns ging es ähnlich, die konnten das auch nicht. Aber zum Teil waren da Leute, für die war man heute ein Freund und morgen einfach nur ein Niemand.“
Auf das berüchtigte Gaunerehrenwort – in der Serie hört man den Begriff Slowo pazana ständig – war in jenen Jahren auch nicht wirklich Verlass. Es funktionierte nur in Bezug auf ebensolche Pazany, alle anderen konnte man ohne jegliche Konsequenzen damit verarschen – auf Betrug und Diebstahl an Außenstehenden war man besonders stolz.
Die Verflechtung krimineller Gangs mit der Polizei fehlt in der Serie
Die Serie wird von liberal gesinnten Kritikern sehr gelobt. Von den künstlerischen Vorzügen abgesehen, lesen sie eine politische Botschaft heraus, die sich ihnen klar erschließt: Die jungen Serienhelden sind als Opfer des morschen sowjetischen Systems dargestellt, mit seiner Korruption und Verlogenheit, mit seinen wachsenden wirtschaftlichen Problemen. Diese Jungs der 1980er werden als Vorboten der weiteren Entwicklung von Putins Russland gesehen, in dem Putins hinfälliges System, das noch dazu einen unnötigen Krieg angezettelt hat, das Land fast unweigerlich in ein Chaos von Straßenbanden, Gewalt und krimineller Umverteilung des Eigentums stürzen wird.
Ich sehe aber auch, wie die Serie bei all ihrem Wahrheitsgehalt mal wichtige Realien der damaligen Zeit außen vor lässt, mal dem sowjetischen Alltag etwas hinzufügt, das es gar nicht gab. Die Gopniki und ihre Eltern und Lehrer sind äußerst überzeugend dargestellt, doch gleichzeitig stechen bei der Darstellung der damaligen Silowiki ziemliche Unstimmigkeiten ins Auge.
Die Miliz ist durch zwei unglaubwürdige Typen vertreten: ein wunderschönes Turgenjewsches Mädchen, das Andrej, den Pionier und Gopnik, mit beinah liebevoller Fürsorge bedenkt, und ein infernalischer Ermittler, der Anzüge einer damals nicht vorhandenen Preisklasse trägt (er scheint eher einem heutigen, ebenfalls der Kinoleinwand entsprungenen und allmächtigen FSB-Agenten nachempfunden als einem sowjetischen Milizionär).
Die Autoren der Serie zeigen zwar die Sitten und Gebräuche der Straße, versäumen dabei aber, zu beschreiben, wie sich dieses Milieu in das große Ganze einfügt, wo es komplexe Wechselbeziehungen zwischen kriminellen und legalen Machtstrukturen gab. Solche Verbindungen zwischen Polizei und kriminellen Autoritäten sind in Kasan dokumentarisch belegt. Der Kriminalfall Tjap-Ljap zum Beispiel (eine berühmte Bande, die in den 1970ern in Kasan Massenprügeleien und Morde zu verantworten hatte und als Ausgangspunkt des so genannten Kasan-Phänomens gilt – Anm. Cholod) enthält Beweise, dass die Miliz die Bande gedeckt hat. Nach der Verurteilung ihrer Anführer wurden fünfzig Beamte gekündigt. Davon ist in Slowo pazana an keiner Stelle die Rede. Dafür wartet die Serie mit einem primitiven Antiamerikanismus auf, den es in jenen Jahren nicht gab. Im Gegenteil, Ende der 1980er war alles Ausländische heiß begehrt, Amerika wurde – wie überhaupt der ganze Westen – von Ferne geliebt. Und in der Diskothek tanzten die Gopniki nicht zu Laskowy maj, sondern zu Pop aus dem Westen.
Schön wäre es, eine Fortsetzung der Serie zu sehen, mitzuverfolgen, wie die Banditen und ihre Bosse im neuen kapitalistischen Russland aufsteigen, wie sie die Gewinne der privatisierten sowjetischen Betriebe und privater Firmen kassieren, wie sie Chefsessel von Unternehmen, hohe Funktionen in der Staatsverwaltung und Rektorenposten an Universitäten besetzen. Aber eine solche Fortsetzung werden wir wohl kaum zu sehen bekommen, zumindest nicht in nächster Zeit.
Das Schicksal von Wladimir Kara-Mursa ist unter Russlands politischen Gefangenen bisher beispiellos: Die russische Staatsmacht hat ihn für 25 Jahre ins Gefängnis geschickt. Das ist die gesetzlich vorgesehene Höchststrafe – mehr, als jemals zuvor im postsowjetischen Russland gegen einen Oppositionellen verhängt wurde.1 Sogar Kara-Mursa selbst, ein erfahrener Oppositioneller und studierter Historiker, hatte nicht damit gerechnet. Wenige Tage vor seiner Verurteilung im April 2023 erklärte er vor Gericht: „Ich war mir sicher, dass mich nach zwei Jahrzehnten in der russischen Politik, nach allem, was ich gesehen und erlebt habe, nichts mehr überraschen könnte. Wie ich zugeben muss, habe ich mich getäuscht. Dass die Undurchsichtigkeit und die Missachtung der Verteidigung in meinem Prozess selbst die ,Prozesse‘ gegen sowjetische Dissidenten in den 1960er und 1970er Jahren übertreffen würde, hat mich doch überrascht. Ganz zu schweigen von der Härte der geforderten Strafe und dem Ausdruck ,Feind‘. Da sind wir nicht mehr in den 1970ern, sondern schon in den 1930ern.“2
Der russländische Staat betrachtet Kara-Mursa schon seit langem nicht als legitimen Gegner, sondern als Feind, den es zu zerstören gilt. Das kommt auch in der Anklage gegen ihn zum Ausdruck: Sie lautete nicht allein auf das Verbreiten von „Fake-News“ über das Vorgehen der russischen Armee in der Ukraine und auf die Zusammenarbeit mit einer „unerwünschten Organisation“, der Stiftung Freies Russland, sondern auf Hochverrat.3Trotz allem hat Kara-Mursa sich ebenso hartnäckig gezeigt wie der Kreml-Kritiker Alexej Nawalny. Seine politische Aktivität in Russland hat er selbst nach Moskaus Großangriff auf die Ukraine nicht eingestellt. Was hat ihn dazu angetrieben, und was steht hinter der grausamen Reaktion des Kreml?
Kara-Mursa ist ein renommierter russischer Oppositioneller. Schon viele Vertreter der liberalen Opposition in Russland haben große Beharrlichkeit, Mut und Talent bewiesen. Auch die grundsätzliche Weigerung, Russland zu verlassen, verbindet Kara-Mursa mit anderen Oppositionellen wie Ilja Jaschin. Kara-Mursa hat dazu erklärt: „Ich glaube, dass ich nicht das Recht hätte, politisch aktiv zu sein, die Leute zum Handeln aufzurufen, wenn ich irgendwo anders in Sicherheit säße.“4 Was Kara-Mursa von seinen Weggefährten unterscheidet, sind seine ausgesprochen elitäre Herkunft sowie seine internationalen Verbindungen und Aktionen.
Die Familie Kara-Mursa führt ihre Herkunft bis auf den Mongolen-Herrscher Dschingis Khan zurück. Aber er gehört auch einer anderen Art von russischem Adel an, der Intelligenzija.5 Sein Vater Wladimir Kara-Mursa senior, in den 1990ern ein bekannter TV-Moderator, studierte bereits in vierter Generation an der Moskauer Staatsuniversität, dem heiligen Gral der russischen Hochschulbildung. Der ethnisch diverse Stammbaum der Familie – sie hat russische, jüdische, lettische und armenische Wurzeln6 – ist durch die zahlreichen Tragödien des sowjetischen Jahrhunderts mitgeformt worden, vom Gulag bis zum herrschenden Antisemitismus.
Geboren in Moskau, aufgewachsen in London
Kara-Mursa wurde 1981 in Moskau geboren. Nach der Scheidung seiner Eltern ging er im Alter von 14 Jahren mit seiner Mutter nach London, kehrte jedoch immer wieder nach Russland zurück. Sein Geschichtsstudium in Cambridge schloss er Anfang der 2000er Jahre mit dem Master of Arts ab. Nach seiner Verurteilung bekundete Adam Tooze, einer der bedeutendsten zeitgenössischen Historiker, bei dem Kara-Mursa in Cambridge studiert hatte, seine „Demut […] angesichts dieses großartigen historischen Zielbewusstseins“ und seine Hochachtung vor Kara-Mursas „außergewöhnlichen Mut“.7
Kara-Mursa strebte keine Laufbahn als Intellektueller an, auch wenn er 2011 ein kurzes Buch publiziert hat. Darin befasst er sich mit einem der wenigen Versuche einer moderaten Liberalisierung von oben, die es in der russischen Geschichte gab. Das Interesse an dieser Geschichte ist unter den jungen Aktivisten der liberalen Opposition nicht weit verbreitet. Doch Kara-Mursa beschäftigten mit Blick auf das Kabinett der konstitutionellen Demokraten (Kadetten) unter Nikolaus II., das nach der Revolution von 1905 für einige Monate regierte, wohl die historischen Parallelen:8 Der Zar habe die Liberalisierungs- und Demokratisierungsbestrebungen im Ansatz erstickt, „den Weg zu einer friedlichen Reform des Landes versperrt“ und damit weiteren Tragödien den Boden bereitet, schrieb Kara-Mursa. Die Analogien zum modernen Russland waren damals, 2011, ebenso offenkundig wie heute. Trotzdem zeugt sein Buch von einem unbeirrbaren Optimismus, was Russlands Zukunft angeht: „Das Leben ist stärker als der Tod“, lautet sein Fazit. Auch die bolschewistische Revolution sah er lediglich als vorübergehendes Hemmnis auf Russlands Weg hin zu der von ihm angestrebten Demokratie.
Zwischen Politik und Journalismus
Im engen politischen Sinn war Kara-Mursa ausschließlich dem konservativen Flügel des russischen Liberalismus und dessen verschiedenen Organisationen verbunden: „Demokratische Wahl Russlands“, „Union der rechten Kräfte“ (SPS), „Solidarnost“ und „RPR-Parnas“.9 Boris Nemzow, der an all diesen Parteien führend beteiligt war, stellte ihn während seiner Zeit als Duma-Abgeordneter als Referenten ein und holte ihn so in die Politik. Dank der guten Beziehungen seines Vaters war Kara-Mursa von Kindheit an mit Nemzow bekannt und die beiden wurden gute Freunde. Kara-Mursa hatte verschiedene Funktionen in diesen Bewegungen inne, stellte sich jedoch nur einmal selbst als Kandidat zur Wahl – bei den Wahlen zur Staatsduma 2003 in einem Moskauer Wahlbezirk. Dort wurden massive „administrative Ressourcen“ gegen ihn eingesetzt und er kam – mit offiziell 8,59 % der Wählerstimmen – auf den zweiten Platz. Eine weitere Kandidatur, diesmal für die Regionalduma der Oblast Jaroslawl, ließen die Behörden unter Verweis auf seine doppelte Staatsbürgerschaft nicht zu.
Statt einer wissenschaftlichen oder politischen Karriere schlug Kara-Mursa schließlich eine Laufbahn als Journalist ein und trat damit in die Fußstapfen seines Vaters. Wladimir Kara-Mursa senior war viele Jahre lang für NTW tätig gewesen – den „größten und erfolgreichsten privaten TV-Sender Russlands“, der damals dem Oligarchen und Medientycoon Wladimir Gussinski gehörte. 2001 wurde der Sender durchsucht und auf Linie gebracht – eine der ersten, entscheidenden Maßnahmen im Zuge der Übernahme der Medien durch Putin. Kara-Mursa senior wechselte zu dem russischen Auslandssender RTVi. 2004, einige Monate, nachdem er seine erste – und letzte – Wahl verloren hatte, fing auch sein Sohn dort an. Schon nach kurzer Zeit wurde ihm die schwierige und ehrenvolle Aufgabe angeboten, das neue RTVi-Büro in Washington aufzubauen und zu leiten.
Kara-Mursa hebt sich vom Gros der liberalen Oppositionellen Russlands ab, weil er viele und tiefgehende Verbindungen zu „den Angelsachsen“ hat, wie die russische Propaganda die USA und Großbritannien heute gern nennt: Er ist nicht nur russischer, sondern auch britischer Staatsbürger, hat einen Abschluss der Universität Cambridge, war Korrespondent verschiedener Nachrichtenmedien in Washington mit ständigem Wohnsitz in den USA, wo seine Frau und seine drei Kinder leben; und er war eng mit dem konservativen US-Senator John McCain befreundet, der ihn zu einem seiner Sargträger bestimmte.10
Trotz seiner klar pro-westlichen Haltung, die er mit dem Mainstream des russischen Liberalismus teilt, erweckt Kara-Mursa nicht den Eindruck, übermäßig naiv gegenüber dem Westen zu sein. Das liegt vielleicht daran, dass er ihn gut kennt, anders als viele andere russische Oppositionelle vor ihrer notgedrungenen Emigration.11 Er stand auch nicht für eine Haltung, die das Ende des Kalten Krieges als unumschränkten Triumph des Westens sah. Die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstandene Ordnung betrachtet er als gescheitert. Zwar bezeichnet er die Vergrößerung der NATO als „durchschlagenden Erfolg“, da sie die Grenzen der freien Welt erweitert habe. Doch zugleich sagt er: „Der schwerste Fehler des Westens in den frühen 1990ern war, dass er nicht bereit für die Herausforderung war, ein demokratisches Russland zu integrieren.“12 Die mittel- und osteuropäischen Länder hätten in den frühen 1990ern erhebliche Demokratisierungsanreize von den europäischen und transatlantischen Institutionen erhalten, die russischen Liberalen hingegen nicht.
Aktivist und Lobbyist für die Magnitski-Liste
Mit seinem Wohnsitz in Washington hatte Kara-Mursa beste Voraussetzungen, um als Lobbyist für Sanktionen gegen russische Amtsträger zu werben, die in Korruption oder Menschenrechtsverletzungen verwickelt waren. Er trug entscheidend zur Verabschiedung der sogenannten Magnitski-Liste bei.
Die Idee, dass der Westen persönliche Sanktionen gegen die obersten Vertreter des Regimes verhängen und umsetzen sollte, stammt ursprünglich von Boris Nemzow. Den russischen Investigativjournalisten Irina Borogan und Andrej Soldatow zufolge brachte er sie Ende 2007 ins Spiel.13 Sein Motiv für diesen Schritt seid demnach die Verzweiflung angesichts der politischen Situation in Russland gewesen. Die Umsetzung erforderte langfristige Lobbyarbeit, die ganz offen durchgeführt wurde. Neben dem ehemaligen russischen Ministerpräsidenten Michail Kassjanow und Nemzow selbst, die beide häufig in Washington waren, traf auch Kara-Mursa regelmäßig mit führenden Vertretern des US-Kongresses zusammen.
Die Magnitski-Liste wurde durch Bill Browder ermöglicht, einen Investor, der zum Vorkämpfer für die Verhängung von Sanktionen gegen russische Amtsträger wurde, nachdem er beim russischen Regime in Ungnade gefallen war. Der für Browders Fondsgesellschaft Hermitage Capital Management tätige Moskauer Steuerexperte Sergej Magnitski hatte den russischen Behörden vorgeworfen, den Fonds betrogen zu haben. Der Hintergrund des Falls Magnitski und vor allem Browders Rolle dabei sind bis heute umstritten.14 Außer Frage steht jedoch, dass Magnitski infolge seiner Nachforschungen ins Gefängnis kam und dort furchtbaren Bedingungen ausgesetzt war. Nachdem er erkrankte und nicht ärztlich behandelt wurde, starb er 2009 im Gefängnis.
Die Magnitski-Liste wurde 2012 vom US-Kongress verabschiedet. Ursprünglich zielte sie nur auf die Personen, die als verantwortlich für Magnitskis Schicksal angesehen wurden. Später fand das Gesetz jedoch breitere Anwendung, sodass potenziell alle russischen Amtsträger betroffen waren – etwas, worauf Kara-Mursa gezielt hingearbeitet hatte. Alexej Nawalny lobte das Gesetz als „ausgezeichnet“, der Kreml reagierte zornig und nannte es „seltsam und barbarisch“.15 Er revanchierte sich mit einem Verbot der Adoption russischer Kinder durch US-Staatsbürger.16
Für Kara-Mursa selbst stand seine Tätigkeit als Journalist nicht im Widerspruch zu seiner aktiven Lobbyarbeit für Sanktionen: „Unter den Bedingungen eines autoritären Regimes […] ist das weniger eine politische als eine staatsbürgerliche Betätigung“, erklärte er.17 Der Kreml sah dies allerdings anders. Er ließ ihm durch den russischen Botschafter in den USA ausrichten, dass er ihn „nicht mehr als Journalist“ betrachte. Sein Engagement kostete Kara-Mursa seinen Posten bei RTVi.
Wahrscheinlich hat es ihn auch fast das Leben gekostet: Lange vor dem Nowitschok-Angriff auf Nawalny in Sibirien wurde Kara-Mursa 2015 Opfer eines politisch motivierten Giftanschlags – einer der ersten dokumentierten Fälle dieser Art in Putins Russland. Und es blieb nicht bei dem einen Mal: 2017 erlitt Kara-Mursa erneut eine lebensbedrohliche Vergiftung. Er selbst schildert das so:
„Innerhalb von Minuten wurde ich plötzlich krank […] Ich konnte meinen Puls spüren, hatte Atemnot, schwitzte und verspürte Brechreiz. Ich ging auf die Toilette, kehrte dann zum Meeting zurück und lehnte mich gegen die Wand. Meine Kollegen legten mich aufs Sofa und riefen den Krankenwagen. In zehn bis fünfzehn Minuten war ich von einem völlig gesunden Menschen zum Todeskandidaten geworden.“18
Kara-Mursa kam ins Krankenhaus, fiel ins Koma und erholte sich wieder. Die russischen Behörden führten nie ernsthafte Ermittlungen zu dem Anschlag auf sein Leben durch. Eine gemeinsame Recherche des Investigativnetzwerks Bellingcat mit dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel und dem russischen Onlinemedium The Insider brachte ans Licht, dass Kara-Mursa von Mitgliedern des selben FSB-Teams beschattet worden war, das sehr wahrscheinlich auch den Giftanschlag auf Nawalny verübt hatte.19
Klartext selbst hinter Gittern
In über zwanzig Jahren politischer Tätigkeit hat Kara-Mursa mehr als genug getan, um den Zorn des Kreml auf sich zu ziehen. Er gehört zu denen, die den Kampf gegen Putin auf die internationale Ebene gehoben und speziell in den USA vorangetrieben haben. Zugleich ist er auch einer derjenigen, die sich nicht allein auf Putin beschränkten, sondern auch die kleineren Rädchen im Getriebe ins Visier nahm. Ausgerechnet eines dieser „Rädchen“ sollte schließlich sein eigenes Schicksal besiegeln. Unter den Richtern, die ihn zu 25 Jahren Haft verurteilten, war auch Sergej Podoprigorow, der selbst auf der „Magnitski-Liste“ steht. Er war es, der Sergej Magnitski 2008 in Untersuchungshaft nehmen ließ.
25 Jahre in der winzigen, nur drei mal anderthalb Meter großen Zelle eines Hochsicherheitsgefängnisses sind eine furchtbar lange Zeit, besonders für jemanden wie Kara-Mursa mit angeschlagener Gesundheit.20 Trotzdem hat Kara-Mursa an einem überraschenden Ort Trost gefunden: In der russischen Geschichte. Sogar hinter Gittern spricht er weiter Klartext. In einer schriftlich zwischen zwei Gefängnissen geführten Debatte mit Alexej Nawalny schrieb er im September 2023: „Der politische Wandel kommt in Russland stets unerwartet“ – 1905, 1917 und 1991. Auch wenn die Demokratie dem Land bisher versagt blieb, vertraut Kara-Mursa darauf, dass die nächste Chance kommen wird: „Ich glaube, wir können es schaffen.“ Bei seinem Kampf gegen die Autokratie hat Kara-Mursa stark auf internationale Sanktionen gesetzt. Und Großbritannien, die EU und die USA haben tatsächlich Sanktionen verhängt, vor allem nach dem Großangriff auf die Ukraine. Nach dem Zusammenbruch der Oppositionspolitik bleibt ihm nur die Hoffnung, dass ein solches unerwartetes, dramatisches Ereignis Russland verändern wird – oder dass der Westen ihn rettet, vielleicht durch einen Gefangenenaustausch. Ein anderer Weg aus dem Gefängnis in Omsk, in das man ihn gebracht hat, ist nicht in Sicht.
Für Menschen, die in Russland aufgewachsen sind, ist der Schwanensee mehr als ein Ballett von Pjotr Tschaikowski, in dem zierliche Ballerinas in weißen Tutus tanzen. Schwanensee ist eine mächtige historische Referenz – Requiem für sowjetische Staatsmänner und Begleitmusik zum Untergang der Sowjetunion selbst. Mahnung an das Regime und Erinnerung daran, dass am Ende das Gute über das Böse siegt.
Schwanensee ist eine archetypische Geschichte vom Sieg des Guten über das Böse, vom Triumph der Liebe über den Tod, verkörpert durch weiße und schwarze Schwäne. Es geht um eine verzauberte Schwanenprinzessin, die nur durch Liebe erlöst werden kann. Das von Pjotr Iljitsch Tschaikowski nach Märchenmotiven komponierte und 1877 uraufgeführte Ballett war Symbol der sowjetischen Hochkultur und prestigeträchtiger Kulturexport des Kalten Krieges.
Das Politbüro mit seiner alternden, aber starken Hand beanspruchte dieses Ballett als authentisches nationales Erbe und Schaufenster für seine Leistungen. Die weltberühmte Ballerina Maja Plissezkaja tanzte die Rolle der Odette über 800 Mal. In ihrer Autobiografie erinnert sie sich an das Ritual, als ausländische Delegationen mit Schwanensee verwöhnt wurden. Sie kolportiert auch die Anekdote, dass Nikita Chruschtschow sich das Stück so oft ansehen musste, bis ihm übel wurde:
„Wenn ich daran denke, dass ich heute Abend wieder Schwanensee sehen werde, wird mir schon übel. Das Ballett ist wunderbar, aber wie oft kann man es sich anschauen? Nachts träume ich dann von weißen Tutus abwechselnd mit Panzern.“
Die sowjetische Führungsriege musste das Stück nicht nur unzählige Male über sich ergehen lassen, es verfolgte sie bis in den Tod: Beim Ableben Leonid Breschnews 1982 erblickten die Fernsehzuschauer statt des erwarteten Konzerts den Schwanensee. Berichten zufolge soll bei dieser Wahl durch die Fernsehleute die Entstehungsgeschichte des Stücks eine Rolle gespielt haben: Tschaikowski schrieb es in der sogenannten Fomin-Woche fertig, der Woche der Erneuerung nach der Auferstehung Christi, in die auch der Gedenktag an die Verstorbenen (Allerseelen, Radoniza), fällt. Schwanensee ist durchdrungen vom Thema des Todes und schien sich als Symbol öffentlicher, die Nation einender Trauer besonders zu eignen. Auch nach dem Tod von Juri Andropow 1984 und Konstantin Tschernenko 1985 (sie starben alle im Amt) wurde das reguläre Programm jeweils unterbrochen und so lange Schwanensee gezeigt, bis ein Nachfolger gekürt war. So verwandelte sich das Ballett „von der offiziellen Visitenkarte des Bolschoi-Theaters und des sowjetischen Imperiums in eine Trauerveranstaltung mit 32 Fouettés“.1
Auch während des Staatsstreichs gegen Michail Gorbatschow im August 1991 lief Schwanensee im Fernsehen in Endlosschleife. Dieser bedeutungsvolle Code kündete von Unheil und veranlasste die Menschen dazu, auf die Straße zu gehen, um zu erfahren, was los war. Während also die Schwänchen zu Tschaikowskis Melodien tanzten, versammelte sich eine große Menge von Demonstranten vor dem Moskauer Parlamentsgebäude und verhinderte den Putsch der Altkommunisten, nicht aber das Ende der Sowjetunion.
Das Stück ist zugleich eine Ikone des sowjetischen und russischen Traditionalismus. Einerseits vermittelt das Ballett altmodische Virtuosität und Ordnung, andererseits erzeugt es ein Gefühl des Verlusts der sowjetischen Monumentalität und bietet sich als nostalgischer Erinnerungsort an. In Russland wurde der Untergang der Sowjetunion als befreiend, aber auch als beängstigend erlebt.
Vor allem der Tanz der Schwänchen im zweiten Akt wurde zum Kitsch, zu einer abgenutzten Tanzshow, die sowohl im Zeichentrick-Klassiker Nu, Pogodi! (dt. Hase und Wolf) als auch in Comedy Club aufgeführt wird, in Kindergärten und von verkleideten Herren auf Firmenveranstaltungen, von denen später Videos im Internet landen. Und genau das wurde mittlerweile zum Vehikel ironisch unterfütterten Protests. Seit es das Putin-Regime mit der versprochenen Stabilität und Sicherheit zu übertreiben begann und zunehmend repressiv wurde, seit Russland die Ukraine überfiel und öffentliche Kritik harte Strafen nach sich zieht, hat Schwanensee erneut Konjunktur. Aus Kitsch wurde Kult (Susan Sonntag prägte dafür den Begriff camp), und aus Kult ein neues politisches Symbol. Der ukrainische Regisseur Sergei Loznitsa machte in seinem Dokumentarfilm The Event (Sobytije, Belgien 2015) Tschaikowskis Melodie zum Soundtrack der sowjetischen Agonie. Und nun heißt es wieder: Lasst die Schwäne tanzen!
Anlässlich von Putins Wiederwahl 2018 tauchte in Sankt Petersburg ein Graffiti der vier Ballerinas auf, die den Tanz der Schwänchen tanzen. Es wurde von der Künstlergruppe Yav auch auf Instagram verbreitet.2 Als der liberale Fernsehsender Doshd im März 2022 seinen Programm vorübergehend einstellen musste, spielte der Kanal zum Abgang dieselbe sowjetische Aufnahme von Schwanensee, die den Untergang der Sowjetunion einläutete. Im September 2023 veröffentlichte Yav auf Youtube ein Video, in dem ein arrivierter Geschäftsmann (der aussieht wie Jelzin in besseren Zeiten) vor dem Fernseher sitzt und plötzlich mit Schwanensee auf allen Kanälen konfrontiert wird. Die Ballerinen verfolgen ihn bis ins Badezimmer, wohin er sich flüchtet, unausweichlich gerät er selbst in den Tanz der Schwänchen.
Schwanensee ist eine archetypische Geschichte vom Sieg des Guten über das Böse, vom Triumph der Liebe über den Tod, verkörpert durch weiße und schwarze Schwäne / Video: Art Gruppa Yav „Tanec“
Das Ende ist nah, lautet die Botschaft, während Kommentare unter dem Video sagen: „Wir warten schon unendliche 20 Jahre auf das Ballett!“ Dazu passt der Refrain eines weiteren Videos mit dem Titel „Schwanensee“, das der Rapper Noize MC Anfang 2023 veröffentlichte:
„Wo seid ihr gewesen acht Jahre lang, ihr verdammten Unmenschen Ich will das Ballett sehen, lass die Schwäne tanzen Ich will sehen, wie der Alte um seinen „See“ zittert Verpiss dich vom Bildschirm, Solowjow, lass die Schwäne tanzen“.
Schwanensee wurde zum mehrfachen Code: Einmal als Requiem für greise sowjetische Staatschefs, dann als Zeichen für Aufruhr und Umsturz / Video: Noize MC Kooperatiw „Lebedinoje osero“
Schwanensee wurde zum mehrfachen Code: Einmal als Requiem für greise sowjetische Staatschefs, dann als Zeichen für Aufruhr und Umsturz. Schwanensee ist der Erinnerungsort aller, die den Augustputsch 1991 miterlebt haben, der das Ende der Sowjetunion einläutete. Die dritte, aktualisierte Bedeutung macht das Stück und seine Teile (Bilder, Melodien) zum popkulturellen Code gegen das Putin-Regime. Es verweist ironisch auf die Kontinuitäten von Machtstrukturen, auf Parallelen zwischen dem sowjetischen Regime und dem Putinismus. Und es droht diesem mit dem baldigen Ende, mit dem Sieg des Guten über das Böse: Es ist Zeit, die Schwänchen tanzen zu lassen!
Literatur:
Ezrahi, Christina (2012): Swans of the Kremlin. Ballet and Power in Soviet Russia, Pittsburg. Pliseckaja, Мaja (2008): Ja, Majja Pliseckaja…, Moskau. Sontag, Susan (1964), On Camp, in: Against Interpretation. New York 1964, S. 275–292.