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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Die politische Gefahr wiegt schwerer als das christliche Gewissen“

    „Die politische Gefahr wiegt schwerer als das christliche Gewissen“

    Nach dem Tod von Alexej Nawalny in der Strafkolonie „Polarwolf“ haben die russischen Behörden alles unternommen, damit sich seine Beerdigung nicht in eine große Demonstration der nicht Einverstandenen verwandelt. Zunächst weigerten sich die Behörden, seiner Mutter den Leichnam zu übergeben, und drohten, ihn anonym zu bestatten, wenn sie nicht einer Beerdigung abseits der Öffentlichkeit zustimmt. Dann suchten die Familie und Nawalnys Unterstützer drei Tage lang vergeblich nach einer Kirche und einem Friedhof für die Beisetzung und erhielten nur Absagen. Bis schließlich eine kleine Gemeinde in einem Moskauer Außenbezirk einwilligte. Auch fand sich lange kein Bestattungsunternehmen, das bereit war, den Sarg mit dem Toten auf seinem letzten Weg zu transportieren.

    Die Theologin Regina Elsner von der Universität Münster erklärt, wie dieser Umgang mit einem Verstorbenen in der Russisch-Orthodoxen Kirche aufgenommen wird und was die Tradition eigentlich vorsieht. 

    Wer in den vergangenen Wochen in Russland des Toten Alexej Nawalny gedenken wollte, wie hier in Sankt Petersburg, musste mit Festnahmen rechnen. Keine Kirche war bereit, das orthodoxe Totengedenken für den Oppositionsführer abzuhalten / Foto © IMAGO / SOPA Images

    dekoder: Warum war es so schwer, eine Kirche für Nawalnys Beisetzung oder für einen Abschiedsritus zu finden? 

    Regina Elsner: Das ist so schwer, weil die offizielle Struktur der Russisch-Orthodoxen Kirche inzwischen vollständig Teil des politischen Systems ist und alles vermieden werden soll, was Menschen die Möglichkeit gibt, würdevoll von Alexej Nawalny Abschied zu nehmen. Es gibt mit Sicherheit Gemeinden oder auch Priester, die grundsätzlich dazu bereit wären. Es steht aber auch fest, dass es nicht nur für das Begräbnis, sondern auch schon für Trauerfeiern überhaupt, also für das Totengedenken und das Gebet, keine Erlaubnis gab, das offiziell in Kirchen zu machen. In der Orthodoxie gibt es festgelegte Riten, die nach dem Tod folgen: ein Totengedenken am Tag selbst, ein Totengedenken am dritten und am neunten Tag, und noch einmal eines am 40. Tag nach dem Tod. Es hat aber keine einzige offizielle Trauerfeier in einer Kirche in Russland stattgefunden. Das kann nur bedeuten, dass es ein Verbot gibt, das in den Kirchen abzuhalten. Priester und Gläubige laufen Gefahr, bestraft zu werden, wenn sie sich dabei zeigen.

    Ein Priester in Petersburg wollte gleich, nachdem die Nachricht von Nawalnys Tod bekannt wurde, einen Ritus für ihn abhalten. Wer war das? 

    Das war Grigori Michnow-Waitenko. Der ist nicht Priester der Russisch-Orthodoxen Kirche, sondern einer Abspaltung, der Apostolischen Orthodoxen Kirche, die es seit einigen Jahren gibt. Er ist dann selbst verhaftet worden. Auch Menschen, die sich mit ihm versammelt hatten, wurden Überprüfungen unterzogen, einigen wurde mit Haft gedroht. Das ist ein gutes Beispiel dafür, was passiert, wenn Kirchen oder wenn Priester sich bereit erklären, ein Ritual für einen Oppositionellen abzuhalten. 

    Welche Voraussetzungen gibt es denn für ein orthodoxes Begräbnis?

    Die einzige Voraussetzung, die es für ein kirchliches Begräbnis gibt, ist die Taufe. Andere Bedingungen gibt es nicht. Es muss niemand regelmäßig im Gottesdienst gewesen sein, regelmäßig gebeichtet haben oder sonst irgendetwas. Und jeder Priester wäre eigentlich in der Lage, das Ritual zu feiern. Aber inwieweit er verpflichtet ist, es zu tun, das ist natürlich noch einmal eine andere Frage. Das gebietet zunächst das Gewissen. Und eigentlich gebietet es auch der Glaube, dass jemand, der stirbt, in Würden beerdigt wird. Aber in einer totalitären Situation, wie wir sie in Russland zurzeit haben, heißt das eben nichts. Da wiegt die politische Gefahr schwerer als das christliche Gewissen. 

    Was ist es denn für eine Gemeinde, in der schließlich die Aussegnung stattfindet? 

    Die Gemeinde liegt weit außerhalb am Rand von Moskau. Der Gemeindepriester ist niemand, der für eine kritische Haltung bekannt wäre, sondern einer, der ganz klar den Krieg unterstützt. Und das gilt mit Sicherheit auch für die weiteren Priester, die es in der Gemeinde gibt. Ich bin mir derzeit noch nicht einmal sicher, ob dieses Begräbnis wirklich stattfinden wird. Denn ich weiß von Leuten, die Gemeindemitglieder kennen, dass nichts angekündigt ist und sie nicht davon ausgehen, dass dieser Priester dies unterstützen wird. Es gibt Berichte, dass Personen, die im Kirchenchor die Liturgie begleiten wollen, unter Druck gesetzt wurden, nicht zu kommen. Wenn man bedenkt, dass das eine Kirche ist, die fest an der Seite des Regimes steht, kann man davon ausgehen, dass es ein sehr unauffälliges, schnelles Begräbnis sein wird. Gleichzeitig muss man wohl damit rechnen, dass dennoch viele Menschen kommen werden und dass es deswegen auch Festnahmen und Provokationen geben wird, vor denen die Gemeinde keinen Schutz bieten wird. 

    Wurde die Gemeinde möglicherweise sogar vom Staat ausgewählt, weil sie weit außerhalb liegt und der Friedhof dann auch an einem Ort liegt, wo nicht täglich Menschen hinpilgern werden und Blumen niederlegen? 

    Man muss davon ausgehen, dass das definitiv mit Erlaubnis der Kirchenleitung passiert ist. Wir sehen ja, dass sich keine andere Gemeinde bereit erklärt hat. Wenn es ein Verbot gibt, dann ist diese Entscheidung bestimmt Chefsache des Patriarchats. Und die Lage spricht dafür, dass man das erst mal dafür aussucht, um die Leute möglichst nicht in Massen anzuziehen. Es könnte auch passieren, dass man die Leute da hinlockt und am Ende die Beerdigung am anderen Ende der Stadt stattfindet, wo eben keiner mehr so schnell hinkommt.

    … So wie bei der Landung Nawalnys auf dem Rückweg aus Berlin. Als die Maschine im letzten Moment an einen anderen Flughafen umgeleitet wurde? 

    Ja genau. 

    Wie ist denn die Stimmung in der Kirche? Da gibt es ja auch andere, progressivere Kräfte. Wie halten die das eigentlich aus? Denn das ist ja schon ein, muss man sagen, höchst unchristliches Verhalten. 

    Der Umgang mit dem toten – ermordeten – Nawalny hat tatsächlich nochmal gläubige Menschen mobilisiert. Als noch nicht klar war, ob der Körper des Verstorbenen herausgegeben wird und seine Mutter erpresst wurde, einem Begräbnis im engsten Familienkreis zuzustimmen, da gab es einen Aufschrei, der für die Verhältnisse der letzten zwei Jahre unter Kriegszensur bemerkenswert war. In einem öffentlichen Appell erinnerten die Unterzeichner an die christlichen Werte Russlands, und mahnten, dass es sich für ein christliches Land gehört, einen Verstorbenen christlich begraben zu können. 

    Wer hat den Aufruf gestartet?

    Den ersten Brief haben hauptsächlich Menschen unterschrieben, die in Russland leben, darunter auch orthodoxe Geistliche. Inzwischen sind es knapp 5000 öffentliche Unterschriften unter diesen Briefen, viele davon auch aus dem Ausland. Aber die erste Initiative haben russische Gläubige und russische Priester und Geistliche ergriffen. Es gab ein paar Varianten, dieses Unbehagen oder auch den Protest oder den Widerstand dezent auszudrücken: Es gab den Aufruf, Gebetsanliegen für den Verstorbenen oder für den ermordeten Alexej – also ohne Nachnamen – in Kirchen zu schicken. In orthodoxen Kirchen kann man ja Zettel für den Priester abgeben, damit dieser im Gottesdienst für diese Person betet. In den Tagen nach Nawalnys Tod gab es Massen solcher Bitten, für ihn zu beten. Und das, obwohl es Denunziationen gab und Personen überprüft wurden, nachdem sie solche Zettel abgegeben hatten. Es gab Schlangen vor großen Kirchen in Russland zum Gebet, die jeweils von der Polizei beobachtet wurden. Außerdem gab es im Ausland Totengedenken, die online übertragen wurden, an denen haben viele Zuschauer aus Russland teilgenommen. Man sieht also, dass das eine Form ist, Widerstand auszudrücken, ohne wirklich öffentlich gegen den Staat oder gegen diese Regierung aufzutreten. Da hat sich etwas Bahn gebrochen. 

    In Moskau gibt es die Gemeinde Kosmas und Damian. Die hat während der Proteste nach Nawalnys Rückkehr Leuten, die vor der Polizei geflüchtet sind, Schutz geboten. Wie ist die Situation dort? 

    Kosmas und Damian war lange Zeit eine der bekannten progressiven Gemeinden. Einer ihrer Priestermönche, Giovanni Guaita, ein gebürtiger Italiener, ist aber inzwischen abberufen und nach Spanien versetzt worden. Ein anderer Priester, der eigentlich für eine eher kritische Haltung bekannt war, ist inzwischen auf Linie еingeschwenkt. Ein weiterer Priester, der sehr bekannt war, auch für seine Unterstützung für Nawalny und für die Proteste, Alexej Uminski, ist vor einem Monat entlassen worden und ausgereist. Die großen Figuren, die innerkirchlich ein Gegengewicht hätten darstellen können, wurden in den letzten Monaten auffälligerweise alle aus dem Land getrieben.

    Was wissen wir eigentlich über die Bedeutung des Glaubens für Alexej Nawalny? 

    Nawalny hat früher von sich gesagt, er sei kein Christ, er hat sich eigentlich atheistisch positioniert. Das hat sich aber spätestens mit der Verhaftung geändert. In den Monaten der Haft hat er in seinen Auftritten vor Gericht immer wieder mit dem Christentum und der Bibel argumentiert. Das ist auch deswegen interessant, weil er dadurch zu so einer Identifikationsfigur für viele wurde, die glaubwürdige christliche Vertreter in Russland vermissen. Dass dann jemand wie er sozusagen das Ethos vertritt – nicht die Kirchlichkeit, mit der man eben nichts zu tun haben will, sondern das Ethos – das macht ihn zu einer Schlüsselfigur in diesen Debatten um die Kirche und um Orthodoxie unter den Bedingungen der Diktatur.

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  • „Ihre Kinder und Enkelkinder werden sich schämen“

    „Ihre Kinder und Enkelkinder werden sich schämen“

    Der Memorial-Mitbegründer Oleg Orlow steht in Moskau wegen eines Artikels vor Gericht, in dem er den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine verurteilt hat. Dem renommierten Menschenrechtsvertreter drohen zwei Jahre und elf Monate Haft wegen angeblicher „Diskreditierung der Armee“. Das Urteil soll am 27. Februar verkündet werden.  

    Orlow hatte sich bislang aus Protest geweigert, vor Gericht zu sprechen – bis zum heutigen Tag. In einer Atmosphäre, in der die freie Meinungsäußerung immer weiter unterdrückt wird, hat das Schlusswort vor Gericht in Russland heute eine besondere Bedeutung. Mediazona und Meduza haben Orlows Schlusswort im Wortlaut veröffentlicht. dekoder übersetzt Ausschnitte daraus ins Deutsche.

    Update vom 27. Februar 2023: Oleg Orlow wurde zu zweieinhalb Jahren Haft in der Strafkolonie verurteilt.

    Memorial-Mitbegründer Oleg Orlow vor dem Golowinski-Gericht in Moskau. Ihm drohen knapp drei Jahre Haft / Foto © IMAGO, ITAR-TASS

    Am Tag, als diese Verhandlung begann, wurden Russland und die Welt von der schrecklichen Nachricht vom Tod Alexej Nawalnys erschüttert. Auch mich hat sie erschüttert. Ich habe sogar überlegt, ganz auf mein Schlusswort zu verzichten; ist uns heute nach Worten zumute, wo wir alle noch unter Schock stehen nach dieser Nachricht? Doch dann dachte ich: Das sind alles Glieder ein und derselben Kette – der Tod, oder besser gesagt die Ermordung von Alexej, die gerichtlichen Repressalien gegen weitere Regimekritiker, darunter auch gegen mich, das Ersticken der Freiheit im Land, der Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine. Also habe ich mich entschieden, dennoch ein Schlusswort zu halten. 
     
    Ich habe kein Verbrechen begangen. Ich stehe wegen eines Zeitungsartikels vor Gericht, in dem ich das politische Regime, das sich in Russland herausgebildet hat, totalitär und faschistisch genannt habe. Der Artikel wurde vor mehr als einem Jahr geschrieben. Und damals dachten einige meiner Bekannten, dass ich zu dick auftrage. 
     
    Doch jetzt ist völlig offensichtlich – ich habe kein bisschen übertrieben. 

    […] 

    Ich will einige Ereignisse aufzählen, die sich vom Außmaß und von der Tragweite her unterscheiden: 

    • In Russland werden Bücher zeitgenössischer russischer Schriftsteller verboten. 
    • Die „LGBT-Bewegung“, die als solche gar nicht existiert, wurde verboten, was in der Praxis eine schamlose Einmischung des Staates in das Privatleben der Bürger bedeutet. 
    • An der Higher School of Economics ist es den Bewerbern verboten, „ausländische Agenten“ zu zitieren. Bewerber und Studenten müssen, bevor sie  beginnen, ein Fach zu studieren, Listen mit „ausländischen Agenten“ auswendig lernen. 
    • Boris Kagarlizki, ein bekannter Soziologe und linker Publizist, wurde zu fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, weil er wenige Worte über die Kriegsereignisse in der Ukraine äußerte, die von der offiziell verlautbarten Position abwichen.
    • Der Mann, den die Propagandisten „nationalen Führer“ nennen, äußert sich [im Interview mit US-Moderator Tucker Carlson – dek] öffentlich über den Beginn des Zweiten Weltkriegs wie folgt: „Die Polen haben ihn genötigt, sie sind zu weit gegangen und haben Hitler damit genötigt, den Zweiten Weltkrieg ausgerechnet gegen sie zu starten. Warum begann der Zweite Weltkrieg mit Polen? Polen war rechthaberisch. Hitler blieb nichts anders übrig, als mit Polen zu beginnen, wenn er seine Pläne umsetzen wollte.“ 

    Wie soll man ein politisches System nennen, in dem sich all die von mir aufgezählten Dinge abspielen. Meiner Meinung nach ist die Antwort klar. Leider hatte ich in meinem Artikel recht. 

    […] 

    Sie töten sie dafür, dass sie gegen das Blutvergießen in der Ukraine protestiert haben

    Heute werden Alexej Gorinow, Alexandra Skotschilenko, Igor Baryschnikow, Wladimir Kara-Mursa und viele andere in Strafkolonien und Gefängnissen langsam getötet. Sie töten sie dafür, dass sie gegen das Blutvergießen in der Ukraine protestiert haben, dafür, dass sie dafür eintreten, dass Russland ein demokratischer, prosperierender Staat wird, der für seine Nachbarn keine Bedrohung mehr darstellt. 

    In den vergangenen Tagen wurden Menschen festgenommen, bestraft und sogar eingesperrt, nur weil sie zu den Denkmälern für die Opfer politischer Verfolgung gekommen sind, um Alexej Nawalny zu gedenken, der ein wunderbarer Mensch war. Ein mutiger und ehrlicher Mensch, der unter unglaublich harten Bedingungen, die extra für ihn geschaffen wurden, seinen Optimismus und seinen Glauben an die Zukunft unseres Landes nicht aufgegeben hat. Natürlich handelt es sich bei seinem Tod um einen Mord, ganz egal, wie er konkret ausgeführt wurde. 

    Die Staatsmacht kämpft sogar gegen den toten Nawalny, sie hat immer noch Angst vor ihm, obwohl er schon tot ist. Zurecht. Sie zerstört die improvisierten Gedenkorte, an denen die Menschen seiner gedenken. 

    Diejenigen, die so etwas tun, hoffen, dass sie auf diese Weise jenen Teil der russischen Gesellschaft entmutigen können, der sich weiterhin verantwortlich fühlt für sein Land.

    Da sollen sie sich mal keine falschen Hoffnungen machen. 

    […] 

    Ich wende mich an Sie, Euer Ehren, und an die Staatsanwaltschaft: Haben Sie keine Angst? Haben Sie keine Angst davor, was aus unserem Land wird, das auch Sie wahrscheinlich lieben? Haben Sie keine Angst, dass nicht nur Sie und Ihre Kinder, sondern auch – Gott bewahre – Ihre Enkelkinder in dieser Absurdität, in dieser Dystopie leben müssen?

    Kommt Ihnen denn nicht das Naheliegende in den Sinn: Dass die Walze der Repression früher oder später diejenigen überrollt, die sie gestartet und vorangetrieben haben? Das ist in der Geschichte doch schon so viele Male geschehen.

    Ich wiederhole, was ich bereits bei der letzten Verhandlung gesagt habe: 

    Ja, Gesetz ist Gesetz. Aber ich erinnere daran, dass 1935 in Deutschland die sogenannten Nürnberger Gesetze verabschiedet wurden. Und dann, nach 1945, wurden die Vollstrecker dieser Gesetze selbst vor Gericht gestellt.  

    Die Strafe wird unweigerlich kommen. Ihre Kinder oder Enkelkinder werden sich schämen

    Ich bin mir nicht zu 100 Prozent sicher, dass die derzeitigen Urheber und Vollstrecker der russischen rechtsstaats- und verfassungsfeindlichen Gesetze gerichtlich zur Verantwortung gezogen werden. Aber die Strafe wird unweigerlich kommen. Ihre Kinder oder Enkelkinder werden sich schämen, darüber zu sprechen, wo ihre Väter, Mütter, Großväter und Großmütter gearbeitet haben und was sie getan haben. Dasselbe wird diejenigen treffen, die jetzt in der Ukraine Befehlen gehorchen und damit Verbrechen begehen. Meiner Meinung nach ist dies die schrecklichste Strafe. Und sie ist unvermeidlich.

    Nun, für mich ist eine Strafe ebenfalls unausweichlich, denn unter den derzeitigen Umständen ist ein Freispruch bei einem solchen Vorwurf unmöglich.

    Jetzt werden wir sehen, wie das Urteil ausfallen wird.

    Aber ich bedauere und bereue nichts. 

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  • Die Angst der Macht vor der Wahl

    Die Angst der Macht vor der Wahl

    Die belarussischen Machthaber mögen keine Überraschungen, spätestens seitdem hunderttausende Belarussen bei den letzten Präsidentschaftswahlen ihren Unmut unter Beweis und diesen bei ihren Massenprotesten in den Straßen des Landes zur Schau stellten. Entsprechend wurde bei den Wahlen am 25. Februar 2024, bei denen neben 110 Abgeordneten des Parlaments auch etwa 12.000 Vertreter von Regionalversammlungen neu bestimmt wurden, nichts dem Zufall überlassen. Die USA sprechen von einer „Scheinwahl“. 

    Lukaschenko nutzte seinen Auftritt im Wahllokal in Minsk dazu, eine „Sensation“ bekannt zu geben: Er werde bei den Präsidentschaftswahlen 2025 kandidieren. Nichts anderes war selbstredend erwartet worden. Die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja – so beschreibt es der Journalist Alexander Klaskowski – habe spöttisch reagiert: „Na, dann krön’ dich mal schön“. 

    In seiner Analyse für das Online-Medium Pozirk zeigt Klaskowski, welchen eigentlichen Sinn die Parlamentswahlen verfolgten und welche Folgen dies für die nahe Zukunft in Belarus hat.

    Kein Witz: Die aktuellen Wahlen zum Repräsentantenhaus und zu den Regionalparlamenten sahen schon von Vornherein wie ein Spiel mit nur einem Tor aus. Dabei trainierte der Regent seine Mannschaft für die ihm viel wichtigeren Wahlen 2025. Und die Machtvertikale strampelte sich einen ab, um zu zeigen, dass sie für das notwendige Ergebnis sorgen kann. 

    Der Wahlprozess als existenzielle Bedrohung

    Die Parlaments- und Regionalwahlen verliefen ganz im sowjetischen Geiste: kein Kampf um die Macht, sondern ein Festtag. An erster Stelle stehen das Büffet mit den Fleischtaschen und das Konzert der Laienkünstler, den Wahlzettel wirfst du nebenbei ein, als symbolische Geste: alles steht schon vorher fest. 

    Sicher, in der Sowjetunion gab es vor der Perestroika auf den Wahlzetteln immer nur einen Kandidaten, das heutige Regime in Belarus imitiert bislang noch Konkurrenz. Aber grobschlächtig und mit Ach und Krach. Alle Kandidaten sind durch und durch regierungsnah und gründlich auf Loyalität geprüft. Lukaschenko, der 1994 sensationell die Präsidentschaftswahl gegen den damaligen Premierminister Wjatscheslaw Kebitsch gewann, hat die ganze Macht des demokratischen Wahlprozesses am eigenen Leib gespürt: Aus einem Niemand kann ein Alles werden. Und so untergrub der Herrscher diese Prozedur immer mehr und kastrierte sie. Jetzt hat der Prozess fast seinen Höhepunkt erreicht. Bei dieser letzten Wahlkampagne waren die Gegner der Regierung schlicht abwesend, sowohl unter den Kandidierenden wie auch unter den Beobachtenden.

    Am 25. Februar hatte Lukaschenko mitgeteilt, die OSZE habe keine Anfrage für eine Beobachtung gestellt. Dabei hatte Minsk das Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR) schon im Januar offiziell in die Wüste geschickt. Und der Vorsitzende der belarussischen Delegation in der Parlamentarischen Versammlung der OSZE, Andrej Sawinytsch, erklärte kürzlich ganz offen: Die Wahlbeobachter wurden nicht eingeladen aufgrund der Sanktionen gegen das Regime (in Beamtensprache heißt das natürlich „gegenüber der Republik Belarus“).

    Dabei hatte das Regime vor dem erstmals durchgeführten Einheitlichen Wahltag die Stimmung hochgekocht, ganz nach dem Motto „wenn morgen Krieg ist“. Den Ton gab der Anführer des Regimes selbst an, beschwor die Bedrohung durch Spionage, Terroranschläge und sogar einen Staatsstreich, was die Generäle und zivilen Amtsträger dann nachplapperten. Das klingt ganz nach 2020, als nichts nach Plan lief. Heute nimmt Lukaschenko Wahlen als existenzielle Bedrohung wahr. Er trifft zehnfach Vorkehrung, um sich abzusichern.

    Die größte Sabotageaktion der Opposition bei diesen Wahlen war der Zugriff auf öffentliche Monitore in Belarus (in Einkaufszentren, der Metro usw.) am 24. Februar, bei der ein Aufruf Swetlana Tichanowskajas gezeigt wurde, „NEIN zu gefälschten Wahlen“ zu sagen. Den Angriff hat angeblich BelPol durchgeführt. Wenigstens ein bisschen Salz in der Suppe. 

    Wozu die hochgepeitschte Wahlbeteiligung?

    Einer der Oppositionsführer in der Emigration, Pawel Latuschko, teilte unter Berufung auf Informationen aus dem Land mit, die Belarussen seien kaum zur Wahl gegangen, die Wahllokale, besonders in Minsk, seien leer geblieben. Die vom Regime vermeldeten offiziellen Zahlen sind allerdings tipptopp. Das Zentrale Wahlkomitee teilte mit, 72,98 Prozent der Wähler hätten abgestimmt. Zudem krönte ein zweifelhafter Rekord die Wahlkampagne: Offiziellen Zahlen zufolge haben 41,71 Prozent der Wähler vorfristig abgestimmt (das war an den fünf Tagen vor dem Wahltag möglich). 

    Der Anteil der Wähler, die vor dem Wahltag wählten, ist höher als bei den Wahlen 2020. Aber damals gab es wirkliche Schlangen an den Wahllokalen, einen ehrlichen Aufbruch, viele waren mit weißen Armbändchen gekommen, dem Symbol der Abstimmung für Tichanowskaja. Jetzt herrschte in großem Maße Zwang. Früher wurde die vorzeitige Wahl als Option für diejenigen beworben, die am Sonntag nicht die Möglichkeit haben, ins Wahllokal zu gehen. Heute preist die offizielle Propaganda diese Möglichkeit als Zeichen für hohes Verantwortungsbewusstsein und bürgerliche Reife. Die staatlichen Medien brachten schillernde Überschriften wie „Die Jugend steht in vorderster Reihe“. Überhaupt erinnern die vom belarussischen Regime gesteuerten Medien immer mehr an Nordkorea. 

    Wozu wurde die vorzeitige Stimmabgabe so forciert? Früher, sagen die Regimegegner, wurde die vorzeitige Abstimmung genutzt, um die Wahlergebnisse zu fälschen: Es war dadurch einfacher, nachts die Stimmzettel auszutauschen. Heute beschäftigt sich das Regime nach Ansicht seiner Opponenten gar nicht mehr mit solchen Kleinigkeiten. Es werden einfach die gewünschten Zahlen im Ergebnisprotokoll eingetragen. 

    Warum also werden die vom Staat abhängigen Bürger vorfristig in die Wahllokale gescheucht, noch vor dem Einheitlichen Wahltag, und das Ergebnis der Wahlbeteiligung künstlich aufgeblasen? Vermutlich ist es dem Regime wichtig, die Illusion zu schaffen, dass breites Interesse an den Wahlen besteht und der offizielle Kurs landesweite Zustimmung genießt. Zudem liebedienert hier die Machtvertikale vor dem großen Chef. Ist die vorfristige Wahlbeteiligung in einer Region niedrig, wird der zuständige Lokalchef sofort vor die Frage gestellt, ob er seinen Platz denn auch verdient hat, wenn er es nicht schafft, die Untergebenen und die Bevölkerung zu mobilisieren. 

    Für Lukaschenko war diese Wahlkampagne eine wichtige Durchlaufprobe vor der Präsidentschaftswahl 2025. Deshalb war es in seinem Interesse, die Beamten maximal anzuspannen und ihre Fähigkeit zu testen, einen nationalen Aufschwung zu imitieren. 

    Für das Regime ist es ein Kampf um Selbsterhalt

    Parlaments- und Regionalwahlen riefen in der Vergangenheit auch in für Belarus entspannteren Zeiten keine große Politisierung der Gesellschaft oder Massenproteste hervor. Dennoch bereitete sich das Regime auf diese Wahlen vor, wie auf einen Krieg. Wahllokale und umliegende Bereiche wurden von Videokameras ins Visier genommen. Zudem wurden überall Milizeinheiten abgestellt, die zuvor eifrig trainiert hatten, potentielle Aufwiegler festzunehmen. Auch mobile Einsatzkommandos mit Maschinengewehren standen bereit. Der Kommandant der Inlandstruppen, Nikolaj Karpenkow, drohte damit, dass bei Bedarf auch Wagner-Söldner aktiviert werden könnten. 

    Wenn du an Machtwechsel denkst, bist du ein Extremist

    Die Silowiki wiederholten in Dauerschleife, man habe seine Lehren aus 2020 gezogen und würde nichts Vergleichbares zulassen. Überhaupt betrachtet das System Lukaschenko Wahlen nicht als legales Mittel zum Machtwechsel, sondern als Kampf um den Selbsterhalt. Wenn du an Machtwechsel denkst, bist du ein Extremist, ein Verbrecher, ein Angreifer auf die Verfassungsordnung. So sieht es aus: Die herrschende Klasse setzt ihre auf Fälschung und Gewalt beruhende Herrschaft mit der Verfassungsordnung gleich. 

    Rumflennen wird der Herrscher nicht

    Bis Sommer 2025 wird noch viel Wasser den Bach hinunterfließen. Es ist ungewiss, wie sich der Krieg in der Ukraine entwickelt, wie es Wladimir Putin oder der belarussischen Wirtschaft bis dahin geht. Bei seinen Vorkehrungen für die Absicherung einer nächsten Amtszeit scheint Lukaschenko vom schlimmsten Szenario auszugehen, modelliert das Zusammentreffen negativer Umstände. Immer wieder betont er, „sie werden versuchen, die Lage ins Wanken zu bringen“. Die Feinde sollten bloß nicht darauf hoffen, dass „wir rumflennen und für Demokratie und eine flüchtige Freiheit kämpfen werden“.

    Der belarussische Herrscher ist ein eher misstrauischer Mensch, der einen Hang zu Verschwörungstheorien hat und sich von Feinden umgeben sieht – in weiten Teilen glaubt er seine eigenen Schauergeschichten. Und er versteht, dass er keinen Ausweg hat: Zu viel hat sich angehäuft, zu viele wünschen ihm alle möglichen Leiden an den Hals. Und daraus folgt, dass das Regime noch härter durchgreifen wird als bisher.

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  • „Ich bleibe, um die Zukunft von Belarus vor Ort mitzugestalten“

    „Ich bleibe, um die Zukunft von Belarus vor Ort mitzugestalten“

    Auch über drei Jahre nach den Protesten von 2020 und deren Niederschlagung durch die Staatsmacht vergeht in Belarus kaum ein Tag ohne neue Festnahmen. Wie aber ist die Stimmung im Land? Wie lebt man unter einem hochrepressiven System? Ist Opposition überhaupt noch in irgendeiner Form möglich? Artikel und Reportagen, die die Atmosphäre im Land selbst beschreiben, gibt es eigentlich nicht mehr, da die Medien ins Exil gedrängt und in vielen Fällen zu „extremistischen Organisationen“ erklärt wurden und die Menschen Angst haben, Interviews zu geben. 

    Der belarussische Ableger von Mediazona hat mit drei Belarussen gesprochen, die in Belarus geblieben sind, und die Auskunft geben – über ihre Ängste, über gesellschaftlichen Widerstand und über den Blick von außen auf das, was in Belarus passiert.
     

    Die Namen der Personen im Text wurden geändert, ihre Geschichten anonymisiert. Alle drei waren vor den Repressionen Leiter von Veranstaltungsorten oder Kulturorganisationen.

    „Ich verlasse Belarus nur, wenn Lebensgefahr droht.“
    Igor, Unternehmer im Kulturbereich:

    Ich habe mich vor einiger Zeit dafür entschieden, in Belarus zu bleiben. Weil ich im Kulturbereich arbeite, weiß ich, dass ich im Ausland für die belarussische Kultur nichts bewirken könnte. Im Exil kann man kulturelle Errungenschaften nur bewahren. Wie Ausstellungsstücke im Museum, mehr nicht. Ich verlasse Belarus nur, wenn Lebensgefahr droht.

    Derzeit ist es schwer, in Belarus Geld zu verdienen: die Preise steigen, der Lebensstandard sinkt, manche Waren sind verschwunden oder sehr teuer geworden. Aber ein vollständiger Zusammenbruch droht nicht. Und wo hat man es schon leicht und schön? 

    Die Behauptung, Belarus sei ein Konzentrationslager, ist Unsinn. Sogar das gegenwärtige Belarus ist von so einer Klassifizierung noch sehr weit entfernt. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass die Situation je vollkommen anders gewesen wäre. Schon immer konnten Initiativen von unten wegen unzähliger Widrigkeiten nur mit Ach und Krach umgesetzt werden. Deswegen liegt den Belarussen Einfallsreichtum aber auch im Blut. 

    Ich brauchte einige Zeit, um mich an die neuen Bedingungen zu gewöhnen, bis ich für meine Arbeit eine neue Routine fand. Wir versuchen etwas, wir kämpfen, wo wir können, wir erringen kleine Erfolge, freuen uns und machen den nächsten Schritt. Man kann eine Wiese noch so dick asphaltieren, das Gras kommt trotzdem durch. Erfreulich aber ist, dass vielen mittlerweile klargeworden ist, dass asphaltierte Wiesen nicht normal sind. 

    Sicher, es gibt heute weniger Menschen, die aktiv sind und denen nicht alles egal ist; viele haben das Land verlassen. Aber vieles ändert sich gerade, es bilden sich neue Kontakte, neue Formen der Vernetzung und der gegenseitigen Unterstützung. Und das hat zugenommen, denn es betrifft fast alle. Diese neuen kleinen Welten sind weiterentwickelte, verbesserte Versionen der alten. Deswegen stehen die Dinge bei uns gar nicht so schlecht, wie es scheint. 

    Es gibt zwei Belarus: das wirkliche und das erfundene

    Seit 2020 sind drei Jahre vergangen. Die Jugendlichen von damals haben mittlerweile die Schule abgeschlossen und studieren. Ich sehe neue Menschen, die sich für ihre belarussische Identität interessieren. Wegen der Umstände passiert das heutzutage im Untergrund, der Prozess ist von außen nicht sichtbar. Doch er findet statt, er ist nicht verschwunden, hat sogar Fahrt aufgenommen. Allerdings haben die Menschen Angst, ihre Überzeugungen und Interessen im öffentlichen Raum zu zeigen – zurecht. Deswegen entsteht der Eindruck, alles wäre erstickt, verstummt und alle wären gleichgültig geworden. Aber der Schein trügt. 

    Es sieht nicht so aus, als würde sich jemand außerhalb von Belarus groß für die realen Zustände im Land interessieren. Man könnte sogar meinen, den Belarussen im Exil gefalle die Vorstellung von einem Belarus als Konzentrationslager, wo alles Lebendige vernichtet, verbrannt und unter einer dicken Schicht Asphalt verborgen ist. Aber so brutal die Ereignisse von 2020 auch waren, finde ich trotzdem, dass sie gut waren für die Entstehung einer belarussischen Identität und für Belarus. Diese ganze Bewegung für ein neues Belarus im Exil hingegen erscheint mir ein Fischen im trüben Sumpfwasser zu sein. 

    Es gibt zwei Belarus: das wirkliche und das erfundene. Die beiden haben sehr wenig Berührungspunkte. Ich würde mir weniger Heuchelei, weniger Dramatisierung und mehr Zusammenarbeit wünschen.

    „Ich bleibe, um die Zukunft von Belarus vor Ort mitzugestalten.“
    Alexander, Person des öffentlichen Lebens:

    Die Stimmung in Belarus ist derzeit alles andere als beflügelnd: Sie ist gefährlich und depressiv. Man könnte die Situation auch mit einer Geiselhaft vergleichen. Man ist gezwungen, so zu tun, als gehorche man den Terroristen, zu versuchen, sie nicht zu verärgern und möglichst wenig aufzufallen, damit sie einen nicht erschießen. Andererseits weiß man, dass man das eigene Land ist, und dass man dort leben möchte. Deswegen beflügelt mich derzeit nur eins: Hier zu bleiben, um die Zukunft von Belarus vor Ort mitzugestalten, wenn sich ein kleines Fenster für solche Möglichkeiten öffnet. 

    Der Regierung geht es nicht darum, alle Menschen zu vernichten, sie sollen nur eingepfercht werden und brav Befehle ausführen. Menschen, die schon lange eingepfercht sind, können aufrichtig behaupten, in Belarus hätte sich nichts verändert.

    Jetzt haben es alle schwer: die Menschen im Exil, und die Menschen, die geblieben sind

    Schwieriger ist es für die Menschen, deren Vorstellung von Freiheit über Essen und Schlafen hinausgeht. Sie spüren dieses Konzentrationslager, weil sie ihre Bürgerrechte nicht wahrnehmen können. Man zwingt sie zu schweigen, und das ist für sie am schlimmsten. Denn nicht einmal im Bekanntenkreis ist es üblich, auszusprechen, was man denkt. 

    Das ist übrigens erstaunlich, denn früher war es anders. Ich bin seit 2001 Aktivist; es war immer möglich, gegenüber Bekannten, in der Partei oder im Netz, seine Meinung zu sagen, niemand sah darin was Schlechtes. Jetzt haben es alle schwer: die Menschen im Exil, und die Menschen, die geblieben sind. Einige meiner Verwandten sind im Exil, ich weiß, was das bedeutet. Es ist sehr schwer, seine Heimat zu verlassen und im Ausland anzukommen

    Was die Zukunft von Belarus betrifft, so muss ich immer an ein Sprichwort denken: Als erstes sind die gestorben, die dachten, es geht bald vorbei. Nach ihnen sind die gestorben, die dachten, es wäre für immer. Geblieben sind die, die gar nichts dachten und taten, was sie konnten.

    „Das Wichtigste in Belarus sind die Menschen.“
    Stanislaw, Kulturaktivist:

    In Belarus inspirieren mich die Menschen. Wenn du zu Hause sitzt und Nachrichten liest, erscheint alles furchtbar. Aber sobald du auf die Straße gehst, die Menschen siehst, wie positiv sie beim Einkaufen auf die belarussische Sprache reagieren, wie sie dich anlächeln – das inspiriert mich und das gibt mir Kraft. 

    Ich habe eine Zeitlang im Ausland gelebt, aber dort schnell den Mut verloren. Hier sehe ich die Stories von Menschen, die etwas machen, die sich zeigen, und möchte dabei sein. Manchmal, wenn ich an einem Feld vorbeifahre, einen Wald sehe, denke ich daran, dass ich jetzt nur ein Prozent davon verwirkliche, was ich könnte. Aber dieses eine Prozent verwirkliche ich in Belarus – das ist der wichtigste Antrieb, um hier zu bleiben.

    Vor einem Jahr war ich bei einem Konzert von Nejro Djubel. Es war großartig: ein voller Saal, Slam, eine Wahnsinnsatmosphäre. Danach lese ich in den Medien, das Konzert sei von Spezialkräften aufgelöst worden. Das stimmt überhaupt nicht. Spezialkräfte waren zwar da, aber wegen einer anderen Veranstaltung, die erst danach stattfand. Das ist natürlich auch schlimm. Aber wenn du im Ausland sitzt und liest, ein Konzert von Nejro Djubel sei aufgelöst worden, denkst du nur: wie furchtbar. Aber in Wirklichkeit war es ein super Konzert. 

    Deswegen scheint es, wenn man nur die Nachrichten liest, als wäre alles im Arsch, aber wenn man hier ist, sieht man die Möglichkeiten. Natürlich merkt man, dass das Leben stillsteht, vieles findet nicht mehr öffentlich statt. Aber das Wichtigste in Belarus sind die Menschen. Und ich meine gar nicht die Aktivisten und Aktivistinnen, das Wichtigste ist das Publikum. 

    Ich habe Mitgefühl mit jedem Menschen, der erzwungenermaßen ins Exil gegangen ist

    Ich fahre ab und zu ins Ausland und kenne viele Leute, die immer mal wegfahren und wiederkommen. Für sie ist das wie ein Häppchen Freiheit: Sie fahren weg, wenn es hart ist, erholen sich und kommen wieder. Das kann man finden, wie man will, aber es ist eine Tatsache, dass es solche Leute gibt. 

    Das politische Geschehen im Exil verfolge ich nicht und kenne auch niemanden, der sich dafür interessiert. Die Menschen, die in Belarus geblieben sind, haben ihre eigenen Sorgen, sie müssen zusehen, wie sie überleben, und vielen ist es grundsätzlich schnurz, was im Ausland los ist. 

    Ich habe Mitgefühl mit jedem Menschen, der erzwungenermaßen ins Exil gegangen ist. Auch im Laufe dieses Jahres werden Menschen Belarus verlassen, auch welche, die es jetzt noch gar nicht vorhaben. Aber in fünf Jahren sehe ich eine positive Perspektive: Ich hoffe auf Veränderungen und darauf, dass viele Belarussen und Belarussinnen zurückkehren.

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  • „Nur fünf Prozent halten das psychisch durch”

    „Nur fünf Prozent halten das psychisch durch”

    Wie viele Soldaten in diesem Krieg schon gefallen sind, dazu machen weder Moskau noch Kyjiw konkrete Angaben. Im Interview mit dem russischen Nachrichtenportal Meduza berichtet ein anonymer Angehöriger des Bergungsdienstes der ukrainischen Streitkräfte von seiner gefährlichen Arbeit. Vom Austausch mit den Russen und wie schwarzer Humor hilft, das Grauen zu verarbeiten.

    Foto © Na schtschyti
    Foto © Na schtschyti

    Wann haben Sie angefangen, nach Überresten von Gefallenen zu suchen? 

    Das war 2010. In der Nähe meines Hauses befand sich ein militärhistorisches Zentrum. Dort leisteten Freiwillige Archivarbeit, unternahmen Suchaktionen an Orten, wo im Zweiten Weltkrieg gekämpft wurde, und bestatteten Opfer, die auf ukrainischem Gebiet gefallen waren. Anfangs arbeitete ich im Archiv, doch dann beteiligte ich mich mehr und mehr selbst an der Suche. Es wurde zu meinem Hobby. Im Sommer 2014 schloss ich mich als Freiwilliger der Armee an. Seitdem wende ich mein Wissen und meine Fertigkeiten bei der Suche nach Vermissten in diesem Krieg an. Es klingt womöglich zynisch, aber mir gefällt diese Suche. 

    Was war am Anfang der vollumfänglichen Invasion besonders schockierend oder schwierig an Ihrer Arbeit? 

    Der Verlust der Komfortzone. Entweder du setzt dich damit auseinander, oder du kannst nicht weitermachen. In den vergangenen zehn Jahren haben fast 200 Menschen bei uns angefangen. Von denen sind etwa fünf Prozent geblieben, die halten das psychisch aus. Alle anderen sind entweder umgekommen, weil sie auf eine Mine getreten sind, bei manchen hat das Herz nicht mehr mitgemacht, manche waren psychisch so ruiniert, dass sie Hilfe von Psychiatern benötigten, um wieder zurück in ihre Familien zu finden. Hier gibt es keine vorgefertigten Schablonen – jeder ist anders. Aber die meisten schockiert vor allem der Anblick und der Gestank der Toten, an den man sich einfach nicht gewöhnen kann. Wenn du den ganzen Prozess von der Suche über die Identifizierung bis zur Bestattung eines Soldaten mitverfolgst, bist du auch mit deinen eigenen Emotionen konfrontiert. Aber du überwindest dich. 

    Manchmal muss man sich zusammenreißen, weil wir einfach sehr wenig Zeit haben, und wenn ein Körper zerfetzt wurde, muss man ihn bestmöglich zusammensetzen. Je weniger Daten, desto weniger Sicherheit. Fehler dürfen wir uns keine erlauben. Stellen Sie sich mal vor: Eine Familie bestattet einen Sohn, und dann stellt sich heraus, das war gar nicht er. Wie soll man denen erklären, wem da wo genau ein Fehler unterlaufen ist? 

    Gibt es für die Leichensucher eine Art psychologische Unterstützung? 

    Natürlich. Aber viele von uns haben gelernt, während der Arbeit selbst eine Psychokorrektur vorzunehmen – bei sich selbst und anderen.  

    Was meinen Sie mit Psychokorrektur? 

    Jeder kann unter bestimmten Umständen in einen Schockzustand geraten. Wenn ein Mensch zum Beispiel ertrinkt, dann kann er sich nicht kontrollieren, sein Körper widmet sich vollständig einer einzigen Aufgabe – Luft zu bekommen und die Atmung fortzusetzen. Wenn jemand zu ihm hinschwimmt, um ihn zu retten, wird der Ertrinkende ihn hinunterdrücken, um sich von ihm nach oben abzustoßen. Wenn man diesen Schockzustand beendet, kann man mögliche Fehler minimieren. Löst nun der Retter bei dem Ertrinkenden einen Schmerzschock aus, so holt er ihn aus diesem Zustand heraus, und der Ertrinkende kann dank seiner Fähigkeit zur Psychokorrektur beginnen, seine Bewegungen zu koordinieren.        

    Eine Psychokorrektur brauchen wir also, um uns in einer schockierenden, abnormalen Situation, die uns aus den gewohnten Bahnen wirft, zu konzentrieren, die Situation einzuschätzen und die Reihenfolge der notwendigen Schritte entscheiden zu können. Bei intensivem Beschuss zum Beispiel, wenn einer verletzt wurde – dem Verletzten einen Druckverband anzulegen, ihm ein Schmerzmittel zu spritzen, in Deckung zu gehen und ihn von höher gelegenen Positionen wegzuschaffen, damit er nicht erwischt wird. Zu erkennen, womit wir beschossen werden, und je nach Art der Waffen abzuschätzen, wann der Angriff vorbei ist und wann er womöglich von Neuem beginnt. Das ist in Summe eine Handlungskette, ohne die wir nicht mehr am Leben wären.         

    Seit dem 24. Februar 2022 werden wir Bergungstrupps mit Drohnen angegriffen

    Kommt es vor, dass Teilnehmer der Suchtrupps während der Suchaktionen ums Leben kommen? 

    Hier besteht ein großer Unterschied zwischen der Zeit vor und nach dem 24. Februar 2022. 2014 bis 2022 hatten wir immer einen oder zwei Minenentschärfer im Team. Damals war es leichter, mit der Gegenseite eine Vereinbarung zu treffen, damit wir in die „graue Zone“ hineindürfen. Damals herrschte Waffenstillstand, auch wenn er immer wieder gebrochen wurde; der gegenseitige Hass war nicht so ausgeprägt, die Frontlinie stabil, es gab noch Versuche zum Dialog. Sie [die russische Seite] sahen uns, kannten uns. Der Minenentschärfer ging voraus, wir hinterher. 

    Foto © Na schtschyti
    Foto © Na schtschyti

    Vielleicht wundert Sie das, aber zwischen 2014 und Februar 2022 kam kein einziger meiner Kollegen bei einer Suchaktion ums Leben. Wir machten alles gründlich und Schritt für Schritt, ergriffen alle notwendigen Sicherheitsmaßnahmen. Obwohl wir 2014 des Öfteren verminte Leichen entdeckten. Aus solchen Fällen haben wir gelernt.  

    Leider werden Suchtrupps auch manchmal beschossen. Und seit dem 24. Februar 2022 werden wir auch mit Drohnen angegriffen.    

    Die Suchtrupps? 

    Ja, manche von uns tragen schwere Verletzungen davon. Das ist natürlich nicht die feine Art. Immerhin sind wir mit einer Markierung versehen, an der man auch aus Flughöhe erkennt, dass wir keine militärischen Zwecke erfüllen. Auf dem Autodach haben wir ein großes rotes Kreuz auf weißem Untergrund, wir tragen reflektierende Westen in Signalfarben und im Sommer weiße Sanitäter-Overalls. Trotzdem wurden seit dem 24. Februar 2022 vier unserer Kollegen schwer verletzt, und es ist fraglich, ob sie je weitermachen können.      

    Wie schützen Sie sich auf dem Schlachtfeld vor Angriffen? 

    Wir haben eine Regel: Während einer Suchaktion nehmen wir niemals eine Waffe in die Hand oder beteiligen uns an Kampfhandlungen, obwohl wir Soldaten sind. Wir bewegen uns im Blickfeld unserer bewaffneten Kameraden, die die Gegenseite daran hindern, zu uns vorzudringen. Wenn es doch zu einem Gefecht kommt, dann ist das wohl Schicksal.   

    Wenn wir Waffen mitnehmen würden, würde außerdem der Platz für andere wichtige Utensilien fehlen. Wir müssen Ausrüstung mitnehmen, Helme, Panzerwesten, Tragbahren, forensisches Werkzeug mit allem, was man für die Evakuierung von Leichen braucht, eine Apotheke, Wasser, Proviant. Jedes Gramm fällt ins Gewicht.       

    Sind Sie während der Suche schon in Gefechte geraten? 

    Ja. Ich glaube, das war ein Missverständnis: Wir hatten eine Vereinbarung getroffen, aber die Leute in den Schützengräben wussten wahrscheinlich einfach nichts davon. Denn als wir dicht an ihre Positionen herankamen, reagierten sie zuerst verstört und schockiert und begannen dann, auf uns zu schießen. Offenbar war ihnen nicht sofort klar, wer wir sind – ein paar unbewaffnete Leute in orangenfarbenen Westen mit Tragbahren. Als sie das Feuer eröffneten, schossen unsere Leute zurück, woraufhin sie umschwenkten und auf die ukrainischen Stellungen zielten.       

    Das Gefecht dauerte ungefähr eineinhalb Stunden. Am Ende robbten wir zu unserem Ausgangspunkt zurück. Die Angst blieb an die zwei Jahre. Aber ich bin nicht daran zerbrochen.   

    Jeder Kommandeur wird sich bemühen, die Gefallenen aus den eigenen Reihen bergen zu lassen

    Führen Sie Buch über die seit dem 24. Februar 2022 geborgenen Leichen? Mich würden beide Seiten interessieren.  

    Wir zählen alle zusammen. Insgesamt sind es rund 5000. Haben Sie eine Vorstellung von den Dimensionen dessen, was da passiert? Ich als Leichensucher bin überzeugt: Wir haben noch mindestens 50 Jahre zu tun – ab dem Zeitpunkt, wo das alles zu Ende ist. Allein auf ukrainischer Seite. Und dann gibt es ja auch noch die russische. Und manche Menschen finden wir überhaupt nie. Wenn es einen in lauter Stücke zerreißt – umgeben von Wildnis, Natur und Verwesung … Ein ungeschulter Mensch würde nie im Leben auf solche Fragmente achten.    

    Kann man aufgrund Ihrer Daten über die Menge der gefundenen Überreste die Verluste auf beiden Seiten einschätzen? 

    Nein, unsere Statistik liefert kein vollständiges Bild über die Zahl der Todesopfer. Wir sehen nur einen Teil.  

    Wie funktioniert die Identifizierung der gefundenen Leichen? 

    Da werden Daten aus mehreren verschiedenen Quellen zusammengeführt und verglichen. Erstens liefern uns die Angehörigen der Soldaten Informationen, zum Beispiel besondere Kennzeichen, Tätowierungen etwa. Zweitens sammelt die Polizei aufgrund der Vermisstenmeldungen ebenfalls Daten. Außerdem gibt es Vereine, die den Verwandten von Vermissten bei der Suche helfen.  

    Wenn die Informationen aus allen drei Quellen übereinstimmen, dann greifen wir auf die interne Kommunikation der ukrainischen Streitkräfte zu. Wenn ein Soldat vermisst wird, dann muss der Kommandeur Meldung machen über Ort, Zeit und Zahl der Verschwundenen unter Angabe ihrer persönlichen Daten. Wir überprüfen das alles, und wenn die Daten übereinstimmen, untersuchen wir eben den Ort des Geschehens. 

    Spezialisten bergen die Leichen getöteter Zivilisten in einem Wald nahe Butscha im Juni 2022 / Foto © IMAGO, Ukrinform

    Wenn es ein derzeit besetztes Gebiet ist, so bestimmen wir die konkreten Standorte und bearbeiten sie erst, wenn es gelungen ist, das Territorium zu befreien. Wenn es aber besetzt bleibt, dann geben die ukrainischen Streitkräfte meinem Wissen nach die Informationen an Kontaktpersonen auf der russischen Seite weiter, damit die Suche von denen durchgeführt wird.  Na, und weiter je nachdem. Wenn sich die Stelle nahe an Kampfhandlungen befindet, dann gehen da weder wir noch die Russen hin. Keiner kann den Krieg aufhalten, so viel habe ich schon verstanden.    

    Erzählen Sie mal bitte, wie der Austausch abläuft.  

    Der erfolgt immer auf russischem Gebiet an der nördlichen Grenze der Ukraine und entsprechend den Richtlinien des humanitären Völkerrechts. Ein Kühlwagen mit ukrainischem Personal und Leichen russischer Soldaten fährt nach Russland. Wir laden die Leichen in einen russischen Kühlwagen um, übernehmen die toten ukrainischen Soldaten und fahren zurück in die Ukraine.    

    Wie ist es, dem Feind ins Gesicht zu blicken? Gab es auch schon Exzesse aufgrund menschlichen Fehlverhaltens? 

    Für die Vereinbarung von Ort und Zeit des Austauschs gibt es Verhandler. Während des Austauschs selbst reden wir mit niemandem. Wir arbeiten in weißen Overalls, mit Mundschutz und Kapuzen – in erster Linie aus hygienischen Gründen. Die Russen sind auch so gekleidet. Nur die Augen sind zu sehen. In der ganzen Zeit gab es nie einen Konflikt. Man merkt, dass die Leute angewiesen wurden, nicht mit uns zu sprechen. Keiner verhält sich respektlos – alle sind absolut neutral. Gesichtslose Menschen verladen Leichen von Kriegsopfern und fahren wieder nach Hause.    

    Dabei werfen beide Seiten einander häufig vor, dass sie die Leichen der Gefallenen nicht abholen und sich überhaupt nicht darum kümmern. Inwiefern sind diese Vorwürfe gerechtfertigt? 

    Das sind politische Manipulationen von beiden Seiten. Die Leichen werden bei der ersten Gelegenheit geborgen. Wir benachrichtigen die russische Seite, und sie kommen nur dann nicht, wenn sie sich dadurch in Lebensgefahr begeben würden. Mir sind keine Fälle bekannt, wo eine Leiche einfach liegenbleibt.  

    Waren Sie auch an Orten, an denen Russland massenhafte Kriegsverbrechen begangen hat, etwa in Butscha oder Borodjanka? 

    Ja, dort waren unsere Spezialisten im Einsatz, aber im Detail kann ich dazu nichts sagen, weil die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind.  

    Nicht einmal jeder vierte russische Soldat trägt eine Erkennungsmarke. Der Grund ist Aberglaube oder schlechte Ausstattung der Truppe 

    Welche Rolle spielen die Erkennungsmarken bei der Identifizierung der Toten? 

    Auf den russischen Plaketten stehen nur Kennnummern aus Buchstaben und Ziffern. Sie haben ihre interne Datenbank, anhand derer nur sie in der Lage sind, die Person mithilfe ihres Codes zu identifizieren. Das heißt, die Soldaten sind entpersonalisiert. Wobei wir nur bei 15 bis 20 Prozent der gefallenen Russen, die wir geborgen haben, Plaketten gefunden haben. Da wirkt einerseits der Aberglaube, dass eine solche Marke etwas für Todgeweihte ist, andererseits bestehen Lücken in der Versorgung der Armee in einem großen Krieg, manche verlieren sie oder weigern sich, sie zu tragen, weil sie die Dringlichkeit nicht verstehen.             

    Auf den ukrainischen Marken steht der volle Name und eine Identifikationsnummer, die dieselbe ist wie die Steuernummer. Das ist die individuelle Nummer des Soldaten. Außerdem steht bei den Ukrainern die Blutgruppe drauf und zu welcher Einheit sie gehören: zur ukrainischen Nationalgarde, zum Grenzschutz, zur Polizei oder zu den ukrainischen Streitkräften. All das beschleunigt die Identifizierung eines Toten, wenn man ihn rein visuell nicht mehr erkennen kann. Die Menschen in Russland müssen verstehen, dass keiner ihre Kinder und Angehörigen braucht außer ihnen selbst. 

    Wie oft werden DNA-Tests für die Identifikation eingesetzt – die sind ja ziemlich teuer?      

    DNA-Tests sind nur eine der Methoden, mit denen die Identität eines Toten festgestellt werden kann. Sie dienen als letzter Beweis und geben den Verwandten die endgültige Gewissheit, wer der Tote ist.  

    In welchen Fällen wird ein DNA-Test gemacht? Sie haben ja keinen Zugriff auf DNA-Datenbanken russischer Soldaten.  

    Ja, leider. Wenn sich die ukrainische und die russische Seite eines Tages darauf einigen könnten, die Genotypen von Verwandten von Vermissten auszutauschen, dann würden bestimmt auf beiden Seiten viele ihre vermissten Angehörigen finden. Aber es gibt viele Gründe, warum das unmöglich ist, unter anderem politische.      

    Noch einmal – wie oft und in welchen Fällen werden DNA-Tests gemacht? 

    In der Regel dann, wenn anhand der Leiche und der Überreste keine Identifikation möglich ist. Wenn einer eine Erkennungmarke, einen Pass oder einen Militärausweis hat und somit eindeutig zugeordnet werden kann, dann kann der Ermittler auf den DNA-Test verzichten.  

    Sprechen Sie mit Ihren Kollegen über das, was während der Arbeit passiert? 

    Natürlich. Aber das sind interne Gespräche, dazu möchte ich nichts sagen. Oft ist das ein spezieller schwarzer Humor – Scherze über den Tod, die über alle Regeln des Anstands hinausgehen. Wer zurückwitzelt, hat die Probe bestanden und ist einer von uns. Ich kann an der Reaktion eines Unbekannten in einer solchen Situation erkennen, ob er tatsächlich Erfahrung mit Leichen hat oder ob ich es mit einem Dilettanten zu tun habe. Im Kreis bereits bekannter Kollegen ist das eine eigenartige Form der gegenseitigen Unterstützung, die Rückversicherung, dass man in seinem Rudel ist – so viele sind wir ja nicht.

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  • Alexej Nawalny ist tot

    Alexej Nawalny ist tot

    Alexej Nawalny war zweifellos einer der talentiertesten Politiker unserer Zeit. Die Recherchen seines Fonds für Korruptionsbekämpfung haben allen vor Augen geführt, wie Wladimir Putins Umfeld sich bereichert. Noch wichtiger war aber, dass er die Mächtigen der Lächerlichkeit preisgab: Ein Volk, das gelernt hat, Angst zu haben vor dem Staat, lernte von Alexej Nawalny, über dessen Vertreter zu lachen. Das untergrub ihre Macht. „Ich habe keine Angst, und ihr sollt auch keine Angst haben“, war Nawalnys wichtigste Botschaft. Mehrfach haben Putins Geheimdienste versucht, ihn umzubringen. Am 16. Februar 2024 meldete die Strafvollzugsbehörde seinen Tod in einem Straflager hinter dem Polarkreis. 

    Alexej Nawalny verstarb am 16. Februar 2024 im Straflager / Foto © Sergei Fadeichev/ITAR-TASS, imago-images

    Ein politischer Mord 

    Lew Schlosberg, Publizist und Politiker der Partei Jabloko, auf Telegram

    [bilingbox]Beim Tod von Alexej Nawalny handelt es sich um einen geplanten politischen Mord. Es muss wegen eines Anschlags auf das Leben einer öffentlichen Person ermittelt werden, eines Anschlags, der begangen wurde, um seine politische Tätigkeit zu unterbinden oder um sich für eine solche Tätigkeit zu rächen. Gemäß Artikel 277 des Strafgesetzbuchs der Russischen Föderation wird das mit einer Freiheitsstrafe von zwölf bis zwanzig Jahren geahndet. Oder mit lebenslanger Haft. Oder mit der Todesstrafe. ~~~Смерть Алексея Навального является спланированным политическим убийством и должна быть расследована как посягательство на жизнь государственного или общественного деятеля, совершенное в целях прекращения его государственной или иной политической деятельности либо из мести за такую деятельность (статья 277 Уголовного кодекса РФ), что наказывается лишением свободы на срок от двенадцати до двадцати лет с ограничением свободы на срок до двух лет, либо пожизненным лишением свободы, либо смертной казнью.  

    большое личное потрясение для граждан России. Мои соболезнования семье, всем родным и друзьям Алексея Навального. Когда в Россию вернется правосудие, убийцы будут установлены и наказаны. [/bilingbox]

    16.02.2024, Original

    Die Hoffnung wurde getötet 

    Ilja Asar, Journalist, Politiker, auf Telegram

    [bilingbox]Nein, diese Mistkerle haben nicht nur Nawalny umgebracht – als ich von seinem Tod las, hatte ich außer Wut und Entsetzen das Gefühl, dass sie in mir jegliche Hoffnung getötet haben darauf, dass in Russland zu meinen Lebzeiten noch irgendetwas Gutes kommen könnte. Als ob in mir noch irgendein irrationaler Glaube gelebt hätte, solange Nawalny noch am Leben war, obwohl er faktisch eine lebenslängliche (putinsche) Haftstrafe absaß. Jetzt ist es vorbei, nur noch Verzweiflung.  ~~~нет, не просто Навального убили эти подонки – я, когда прочитал про его смерть, то почувствовал кроме злобы и ужаса сразу, что убили во мне всякую надежду, что в России еще может быть что-то хорошее впереди, как минимум при моей жизни. получается, пока Навальный был жив, хоть и фактически на пожизненном (путинском) сроке, какая-то вера еще жила иррациональная, а теперь все, только отчаяние [/bilingbox]

    16.02.2024, Original

    Mit allen Mitteln 

    Swetlana Tichanowskaja, belarussische Oppositionsführerin, auf Telegram

    [bilingbox]Dieser Tod ist ein weiterer Beleg dafür, dass für Diktatoren ein Menschenleben keinen Wert hat. Putins Regime entledigt sich seiner Gegner mit allen Mitteln, um die Macht zu erhalten – genau wie Lukaschenkos Regime. In Belarus sind in diesem Moment dutzende von politischen Gefangenen in Isolationshaft – das Leben von Mikolaj Statkewitsch, Mascha Kolesnikowa, meinem Mann Sergej und anderen ist unmittelbar bedroht. Witold Aschurok, Wadzim Chrasko, Ales Puschkin und Mikalaj Klimowitsch sind bereits in der Haft gestorben. Und noch Hunderte Weitere werden unter unmenschlichen Bedingungen und ohne jegliche Hilfe im Gefängnis festgehalten. ~~~Эта смерть – очередное доказательство, что для диктаторов человеческая жизнь не имеет никакой ценности. Режим Путина, как и режим Лукашенко, в стремлении сохранить власть избавляется от оппонентов любыми способами. 

    В Беларуси прямо сейчас десятки политзаключенных находятся в режиме инкоммуникадо – жизни Николая Статкевича, Маши Колесниковой, моего мужа Сергея и других сейчас находятся под прямой угрозой. Витольд Ашурок, Вадим Храсько, Алесь Пушкин, Николай Климович уже умерли в заключении. А еще сотни людей содержатся в нечеловеческих условиях и без всякой помощ.[/bilingbox]

    16.02.2024, Original

    Ein tragischer Held 

    Alexander Friedman, belarussischer Analyst und Historiker, auf Gazeta.by

    [bilingbox]Alexej Nawalny ist ein tragischer Held, der sich für eine Gesellschaft geopfert hat, die ein solches Opfer nicht verdient und es nicht würdigen wird. ~~~Алексей Навальный – трагический герой, пожертвоваший собой ради общества, которое такой жертвы не заслуживало и которое такую жертву не оценит. [/bilingbox]

    16.02.2024, Original

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    Eine junge Frau steht in einem Treppenhaus, auf Wände und Decken fällt kühlweißes Neonlicht, andere Bereiche liegen im Schatten, wo auch diese Frau steht, die nur schwer zu erkennen ist. Dieses eindrucksvolle Foto ist das Cover des Buches, das enstanden ist aus dem Projekt Connecting einer belarussischen Fotografin, die anonym bleiben möchte. Das Foto steht metaphorisch für die Schwierigkeiten des Ankommens in einem anderen Land, an einem fremden Ort, für das Dazwischensein, in dem Migranten leben, für die Suche nach lichten Orten, die einem helfen anzukommen, sich selbst zu finden in einer neuen Umgebung. 

    Die Fotografin hat sich genau dies zur Aufgabe gemacht: Menschen, die aus vielen anderen Ländern in die polnische Stadt Wrocław gekommen sind, an den Orten zu fotografieren, zu denen sie auf der Suche nach Halt und Orientierung eine Verbindung aufgebaut haben. Es ist auch ein Prozess, den Hunderttausende Belarussen durchmachen, die nach den Ereignissen im Jahr 2020 ihre Heimat verlassen mussten. Wir haben mit der Fotografin gesprochen und zeigen eine Auswahl von Bildern aus ihrem Projekt.

    Wassilissa Swiridowa, Belarus
    „Wrocław hieß mich herzlich willkommen. Der Umzug hierher glich einer großen, fröhlichen Reise, und es fühlte sich ganz natürlich an, hier zu sein. Vielleicht, weil ich Studentin war und alle um mich herum die gleichen Erfahrungen machten. Wir haben die Stadt erkundet und uns in sie und ineinander verliebt.“ / Foto © KK

    dekoder: Wie ist Ihr Projekt entstanden?

    KK: Das Projekt Connecting entstand, als ich aus Belarus nach Polen zog. Ich hatte mich für den Studiengang für bildende Kunst MFA (Master of Fine Arts) an der Akademie für bildende Kunst und Gestaltung in Wrocław beworben und wurde zu meinem Erstaunen angenommen – zusammen mit elf weiteren großartigen Künstlerinnen und Künstlern aus der ganzen Welt. Ich hatte nicht vorgehabt, nach Polen zu ziehen, aber ich konnte mir diese Chance nicht entgehen lassen. Und mein Mann dachte damals schon, dass es für uns immer schwieriger werden würde, in Belarus zu leben und unsere Kinder dort großzuziehen.
    Als ich Ende August 2019 in Wrocław ankam, fühlte ich mich – abgesehen von der Begeisterung über das neue Studium – vollkommen fremd. Wir kannten dort keine Leute, die wir um Unterstützung hätten bitten können. Ich hatte gedacht, ich sei organisiert und verantwortungsbewusst genug, um all die bekannten Probleme rund um die Auswanderung vorherzusehen und damit umzugehen. Aber die Wirklichkeit war dann ganz anders. Ich kam da nicht raus – ich fühlte mich völlig verloren. Um diese Situation psychisch zu bewältigen, traf ich andere Leute an der Akademie und anderen Orten. Ich begann, sie zu fragen und Erfahrungen auszutauschen, die ich bei dem Versuch machte, mich in der neuen, schönen, seltsamen und bis dahin entfernten Stadt Wrocław selbst zu finden.
    Die Kamera diente als Vorwand sich zu treffen und zugleich als Tool, um meine Gedanken und Gefühle zu analysieren.

    Warum haben Sie Belarus schließlich vollends den Rücken gekehrt?

    Ich bin in Minsk geboren und habe mein ganzes Leben dort verbracht. Und ich hatte wie gesagt auch nicht vor, Belarus zu verlassen. Aber im nächsten Jahr dann, 2020, passierte die Sache mit den Präsidentschaftswahlen. In der ersten Nacht der Anti-Regierungs-Proteste hielten meine Töchter die Schüsse für Feuerwerk. Da wurde uns klar, dass es kein Zurück mehr gab. Am nächsten Tag fuhren wir nach Polen, ohne moralisch oder finanziell darauf vorbereitet zu sein.

    Wie war das Ankommen in einem fremden Land für Sie?

    Ich kam also zweimal an, und beide Male waren schwierig. Beim ersten Mal war es dieser typische Migrationsprozess. Du glaubst, du weißt, was du tust und hältst dich für halbwegs vorbereitet. Aber du hast nie darüber nachgedacht, was es eigentlich wirklich heißt, bei Null anzufangen. Ganz einfache Dinge – das Lebensmittelgeschäft, die Apotheke, die Werkstatt, das Verwaltungsbüro, die Schule – musst du dir neu zusammensuchen. Du musst alle Formalitäten auf einmal erledigen, noch dazu in einer Fremdsprache. Mein Studium war auf Englisch, deshalb konnte ich kein Polnisch und hatte auch keine Menschen zum Üben.
    Ich habe einmal gelesen, dass eine Migration so etwas wie ein kleiner freiwilliger Tod ist. Heute kann ich das absolut verstehen. Auch wenn ich damals nicht begriff, warum Leute von Entbehrungen, Sorgen, Depressionen und Psychologen reden.

    Das Fehlen jeglicher Zukunftsvorstellung führt immer wieder zu depressiven Zuständen

    Ich weiß nur noch, dass ich zu dieser Zeit wie besessen Bilder mit einer Polaroid-Kamera aufnahm. Vielleicht war das für mich der einzige Prozess, den ich mehr oder weniger unter Kontrolle hatte und bei dem ich schnell Ergebnisse erzielen konnte. Du drückst auf den Auslöser und hast das Foto. Anders als bei all den anderen Sachen, die sich lange hinzogen und deren Ausgang ungewiss war.
    Die zweite Ankunft war für mich die Rückkehr nach Polen nach den Wahlen von 2020. Diesmal war es wegen des politischen Hintergrunds und der Covid-Einschränkungen einfach nur furchtbar. Plötzlich begreifst du, dass du etwas für alle Zeiten verlassen hast oder es dir vielleicht sogar gestohlen wurde. Das Fehlen jeglicher Zukunftsvorstellung führt immer wieder zu depressiven Zuständen. Wir bekamen mit, was mit unseren Freunden, mit den Menschen in Belarus, geschah, und empfanden Hilflosigkeit, Scham und Frustration.
    Ich brauchte eine Weile, um auf all diese Ereignisse zu reagieren. 2022 begann ich mit dem Projekt My Hut is on the Edge, in dem ich die zeitgenössische Ignoranz gegenüber sozialen und politischen Themen visuell interpretiere. 

    Wie haben Sie die Menschen für Ihr Projekt ausgewählt?

    Die Menschen, die ich für das Projekt Connecting fotografiert habe, waren unterschiedlicher Herkunft. Ich begann mit Leuten aus dem Ausland, die in irgendeiner Beziehung zur Akademie standen, und ihren Bekannten. Wrocław ist eine sehr internationale Stadt. Durch das Zusammentreffen mit meinen Protagonistinnen und Protagonisten wurde die Erfahrung, sich in einer fremden Stadt selbst zu finden, zu einer gemeinsamen, und zugleich lernte ich die Stadt auf diese Weise kennen. Für mich ist auch Wrocław eine Protagonistin dieses Projekts. Es hat eine einzigartig komplexe Geschichte mit zahlreichen Migrationsbiografien, mit denen ich mich später auch in meinem Fotoprojekt Locals beschäftigt habe.

    Die Ausländerinnen und Ausländer, die ich getroffen habe, kamen aus allen Regionen der Welt – zum Beispiel Yukako Manabe aus Japan, Polina Schumkowa aus Russland, Fatima García aus Costa-Rica, Maryam Abid aus Pakistan oder Filippo Gualazzi aus Italien. Die meisten waren zum Studium nach Polen gekommen, aber manche arbeiten auch in internationalen Unternehmen.
    Eines ist interessant: Ich dachte, je weiter das eigene Land entfernt ist, desto weniger spürt man Wrocław. Aber ganz so ist es nicht. So hat etwa Nicolas Crocetti aus Italien gesagt, die großen Unternehmen wie McDonalds und Zara seien das Einzige, was seinen Heimatort und Wrocław verbinde. Ausländer und ein paar offene Menschen aus Polen machen ihm das Leben zwar leichter, aber im Großen und Ganzen fühlt er sich in dieser Stadt wie ein Fremder.

    Was sind das für Orte, zu denen Sie selbst eine Verbindung spüren?

    Ich suche noch immer nach meinem Ort. Oder genauer gesagt, mir ist klar geworden, dass mein Ort zurzeit vielleicht keine geografischen Koordinaten hat. Er ist immer bei mir, und ich nehme ihn überall hin mit. Zumindest kann ich mir so meine Beziehung zu Wrocław erklären. Natürlich bewundere ich seine Architektur und Geschichte. Aber vor kurzem habe ich festgestellt, dass mich viele nostalgische, sentimentale Gefühle überkamen, als ich durch die Plattenbauviertel lief. Der Stil ist dort eher postsowjetisch, aber er ist mir so verständlich und nahe. Vielleicht arbeite ich deshalb jetzt an meiner Serie Betonia.

    Sehr viele Belarussen mussten ihre Heimat verlassen. Kann solch ein Projekt auch Ihnen helfen, Orientierung in einem neuen Leben zu finden?

    Viele sagen, dass Fotografie eine Art Therapie ist. Sie sehen die Arbeit an Fotoprojekten als Heilungsprozess. Ich würde dem zustimmen und zugleich widersprechen. In einer Therapie arbeitet man die Probleme durch und reflektiert sie nicht nur. Bei der Arbeit an einem Fotoprojekt kann es vorkommen, dass man intensiv über den Stoff nachdenkt und zu bestimmten Schlüssen kommt. Aber vielleicht passiert das auch nicht. Wenn man ein Problem fotografisch bearbeitet, wird man es nicht unbedingt los. Deshalb überrascht es mich nicht, dass viele meiner Kolleginnen und Kollegen psychologische Hilfe in Anspruch nehmen mussten.
    Fotografie ist ein großartiger Vorwand, um eine Zeitlang vor seinen Problemen zu fliehen und bringt eine gewisse Freude und Befriedigung. Aber sie hat vielleicht nicht so großartige Heilkräfte.
    Trotzdem finde ich es wichtig, solche fotografischen Praktiken zu unterstützen – für die Künstlerinnen und Künstler, aber auch für das Publikum, damit es erfährt, dass solche Schwierigkeiten, Situationen, Probleme und Gefühle existieren.
    Die Erfahrung der Umsiedlung wird meiner Meinung nach die Belarussen auf alle Fälle verändern. Nicht nur wegen des Traumas, das wir durchleben, sondern auch wegen des neuen Umfelds, der Menschen und Erfahrungen, die uns bereichern.

    Wie reagieren die Menschen auf die Fotos in dem Projekt?

    Ich glaube, mein Projekt ist ein etwas naiver, aber aufrichtiger Versuch, mich mit mir selbst und der Stadt anzufreunden – offen zu sein für neue Erfahrungen, für Menschen und das Leben überhaupt. Ich bin in diesem Projekt eher eine Beobachterin und Fragenstellerin. Die Menschen oder Orte, die ich zeige, stehen für unterschiedliche Ansätze, sodass viele Menschen einen Bezug dazu finden können. Zudem geht es nicht nur um Migranten. Auch wenn man in seiner eigenen Stadt lebt, kann man sich darin fremd fühlen. Die Verbindung zwischen einer Person und einem Ort hat in meiner Arbeit also eine viel breitere Bedeutung. 
     

    Maria Koupidou, Griechenland
    „Wrocław war für mich wie ein Traum. Schöne Orte, schöne Menschen. Alles war einzigartig. Ich vermisse die Stadt jeden Tag. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich hier wie zu Hause fühlen würde.“ / Foto © KK

     

    Links: Nelin Bayraktar, Türkei
    „Von zu Hause weg zu sein ist beides: verlockend und traurig. Zunächst schaue ich nach etwas Neuem, Anderem, Spannendem. Bald werden Dinge, die ich interessant finde, irgendwie mit meinem eigenen Zuhause verbunden. Wie Brücken und Wasser.“ / Foto © KK
    Rechts: Belichteter Film
    Alles hat ein Anfang und ein Ende. Jeder Umzug tötet etwas in dir und lässt etwas Neues wachsen. / Foto © KK

     

    Links: Yula Lee, Italien
    „In unserem Leben gibt es viele Scheidewege. Welchen Weg du auch wählst, du könntest immer etwas verpassen, aber der Nutzen ist dennoch viel größer.“ / Foto © KK
    Rechts: Blick aus dem Renoma
    Ein Einkaufszentrum in Wrocław. In der Vergangenheit die größte und exklusivste Shopping-Mall in der Stadt. / Foto © KK

     

    Inna Wlassowa, Russland
    „Ich mag die Architektur, die Kultur. Außerdem erinnert mich die polnische Sprache an meine Muttersprache.“ / Foto © KK

     

    Links: Dilay Kocogullari, Türkei
    „Mein Herz ist zu Hause, mein Kopf ist hier. Menschen und Verabredungen sind Dinge, die mir helfen zu überleben.“ / Foto © KK
    Rechts: Gebäude „Grüner Tag“ in Wrocław / Foto © KK

     

    Wrocław / Foto © KK

     

    Links: Katarzyna Lukojko, Polen
    „Ich will diese Stadt immer verlassen und komme immer wieder hierher zurück.“ / Foto © KK
    Rechts: Nächtliche Straßen in Wrocław / Foto © KK

     

    Ein Bau-Element der berühmten Haus-Galerie bei Powstanców Śląskich, genannt Titanic. Das 16-stöckige Galeriegebäude ähnelt dem berühmten Schiff, so auch die Absicht des Designers. / Foto © KK

     

    Links: Wrocław / Foto © KK
    Rechts: Regina Vutanyi, Ungarn
    „Zuhause war für mich immer ein schwammiges Konzept. Sobald ich auf banale Dinge stoße, merke ich, dass ich eine Routine entwickelt habe und bereit bin wegzuziehen. Wrocław war für mich immer wie zu Hause. Alles, was ich Tag für Tag sah, wurde für mich zu einem gewohnten Anblick, so wie ein gewohnter Anblick für alle wurde, die hier lebten.“ / Foto © KK

     

    Links: Korridor in einem ehemaligen Industriegebäude
    In Wrocław kommt es häufig vor, dass verfallene, verlassene Gebäude neben brandneuen, frisch gestrichenen Fassaden stehen. / Foto © KK
    Rechts: Maryam Abid, Pakistan
    „Als ich nach Wrocław kam, war alles neu und anders. Ich konnte nicht viel interagieren, aber ich mochte, wie hilfsbereit die Menschen dennoch waren und dass sie sich große Mühe gaben. Das weiß ich bis heute zu schätzen.“ / Foto © KK

     

    Wrocław ist einer der sich am schnellsten entwickelnden Ballungsräume in Polen. Seine attraktive geographische Lage gewährleistet Investoren die Nähe zum deutschen und zum tschechischen Markt, eine gute Infrastruktur und Zugang zu Mitarbeitern. / Foto © KK

     

    Links: Die Odra ist der wichtigste Fluss in Wrocław.
    Die Stadt wird oft „Venedig des Nordens“ genannt. Derzeit gibt es zwischen 118 und 130 Brücken und Fußgängerbrücken. / Foto © KK
    Rechts: Yukako Manabe, Japan
    „Ich war so glücklich, als ich sah, dass es in Wrocław Zierkirschen gibt! Sie lassen mich die Frühlingsstimmung spüren …“  / Foto © KK

     

    Links: der Fluss Odra, Wrocław / Foto © KK
    Rechts: Polina Schumkowa, Russland
    „Jeder Ort, den ich besuche, hinterlässt Spuren in meiner Seele. All diese Spuren machen aus, wer ich bin.“ / Foto © KK

     

    Nicoleta Puiu, Moldau
    „Menschen sind die größten Schätze der Städte. Jede Stadt hat ein menschliches Gesicht. Wrocław hat das beeindruckendste.“ / Foto © KK

     

    Fotos: KK
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: Ingo Petz
    Veröffentlicht am: 15.02.2024

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  • Noize MC

    Noize MC

    „Wir haben von einem Wunder geträumt
    Durch die Poesie ins Leben zurückzukehren!
    Nur sind Gedichte wie Menschen,
    Die wenigsten sind unsterblich.“1

    Im Januar 2023 veröffentlicht das Projekt Posle Rossii (After Russia) in Erinnerung an die Vertreibung russischer Intellektueller in den 1920er Jahren ein Album mit ihren neu vertonten Gedichten. In 16 Liedern ehren zeitgenössische Künstler:innen die Poesie der sogenannten unbemerkten Generation, die im Exil größtenteils ein kulturelles Schattendasein führte. Ein ähnlicher Exodus Kulturschaffender passiert auch seit dem Beginn des vollumfänglichen Krieges gegen die Ukraine. Zahlreiche Regisseur:innen, Autor:innen und Musiker:innen haben Russland aus Protest oder wegen politischer Verfolgung verlassen. Dazu gehört auch Noize MC, der für Posle Rossii das Gedicht Parnassus des Dichters Sergej Bongart interpretiert hat. Mit seinen von der Polizei aufgelösten Konzerten und den auch im Exil ausverkauften Hallen bringt Noize MC russischsprachige Menschen zusammen, die sich in der Grausamkeit der Gegenwart verloren haben – und hilft ihnen dabei, wieder von Wundern zu träumen.

    Moskau, November 2019: Noize MC auf dem Red Bull SoundClash in der Arena des ZSKA / Foto © Gavriil Grigorov/TASS, imago-images

    Während die ersten russischen Panzer in die Ukraine einrollen, veröffentlicht Noize MC ein neues Video zum Song Na Marse Klassno (dt. Es ist großartig auf dem Mars).2 Das Antikriegs-Lied erzählt von einer Zivilisation auf dem Mars, nachdem ein Atomkrieg die Erde ausgelöscht hat. Im Instagram-Post dazu schreibt Noize, heute sei es wichtiger denn je, ehrlich zu fixieren, was gerade passiere. Und genau zwischen jenem Fixieren des Gegenwärtigen und der Politisierung von Musik liegt die Tätigkeit des Künstlers, der nicht in Selbstmitleid versinken, sondern „das Unmögliche“ wagen will.3 Er will nicht unsterblich sein, sondern die durch das Putinsche Regime atomisierten Menschen wieder zusammenführen.

    MC Staatsfeind

    In der Heimat machen ihn solche Aussagen zum „MC Staatsfeind“, wie das deutsche Magazin fluter 2017 titelt.4 Zu einem der größten russischen Protestrapper wird Iwan Alexejew – so Noize MCs bürgerlicher Name – spätestens in dem Moment, als er sich 2014 bei einem Konzert im Donbas spontan in eine ukrainische Flagge wickelt. Es folgen: Konzert-Verbote, vermeintliche Drogenrazzien und schließlich das Label „ausländischer Agent“. Doch mit dieser Gängelung durch den Staat ist Noize MC zu dem Zeitpunkt bereits vertraut. Schon 2010 veröffentlichte er mit Mercedes S666 einen Song, der den Unmut der Mächtigen nach sich zog. Atmosphärisch unterlegt mit Nina Simones Feelin’ Good rappt Noize unverblümt als lyrisches Ich des Lukoil-Vizepräsidenten Anatoli Barkow, der damals einen tödlichen Autounfall verschuldete und ungestraft davonkam. 

    Ich bin halt auf einem anderen Level, ein Wesen höherer Ordnung
    Ich kenne keine Probleme, die man nicht mit Bestechung lösen könnte

    Noch brisanter als der Liedtext war allerdings die Aufforderung an alle Zeugen, sich unter der Mailadresse stop_auto_murder@mail.ru zu melden. Im letzten Satz unter dem Video heißt es: „Die Schuldigen sollen unabhängig von ihrer finanziellen und sozialen Situation bestraft werden“. Damit prangert Noize MC ganz öffentlich das korrupte System an, für das Barkow steht und das die Kleptokraten pauschal in Schutz nimmt. Infolgedessen steht der Rapper plötzlich nicht mehr nur als Musiker, sondern auch als Person im Scheinwerferlicht des öffentlichen Lebens.

    Rap gegen das Regime

    Noize MC ist jedoch niemand, der sich leicht einschüchtern lässt. Alexejew, der schon früh zur Musik kommt – sein Vater ist selbst Musiker – gewinnt bereits im Jugendalter Preise für seine Kunst. Der am 9. März 1985 in Jarzowo in der Oblast Smolensk geborene Alexejew experimentiert immer wieder mit neuen Bands, bis er als Student in Moskau sein Rap-Ego Noize MC entwickelt und 2008 sein erstes Album herausbringt. The Greatest Hits: Vol.1 erfüllt die vollmundige Ansage seines Titels, wird zu einem der meistverkauften Alben des Jahres – und katapultiert den Debütanten in die erste Riege des russischen Raps.

    Seither nutzt Noize MC seine Bekanntheit, um Missstände in Russland anzuprangern. Neben Mercedes S666 sticht auch Ljocha als einprägsames Beispiel hervor. Den Song veröffentlicht der Rapper im August 2019, als neuerliche Proteste für freie Wahlen ihren Höhepunkt erreichen. Er macht die brutale Polizeigewalt gegen die Demonstrierenden zum Thema und fängt mit seinem stakkato-ähnlichen, an ein Maschinengewehr erinnernden Rhythmus, pointiert den Moment ein:

    Ljocha träumte im Kindergarten davon, Kosmonaut zu werden
    Im Flecktarn-Raumanzug mit Schild, Maschinengewehr und Schlagstock
    – Humanoiden zu verprügeln


    Humanoiden – schon in der ersten Strophe weist Noize darauf hin, wie die Kreml-Propaganda Regimegegner entmenschlicht. Um dem entgegenzuwirken, gibt er dem Protest ein Gesicht, nimmt oft selbst an Demonstrationen teil und nutzt seine Popularität zur Mobilisierung. Zudem organisiert er Solidaritätskonzerte und verbreitet seine Botschaften auf Social Media. Auch seine zahlreichen Fans nutzen seine Videos und Postings als sozialen Kommunikationsraum. 5

    Einer für alle

    So kommentiert Noize MC auf YouTube unter seinem Song Stoletnjaja Woina (dt. Der hundertjährige Krieg): „Der hundertjährige Krieg dauerte […] nicht 100, sondern 116 Jahre. Diese Kuriosität ist sinnbildlich: Jeder internationale bewaffnete Konflikt ist immer untrennbar mit einer ungeheuerlichen Faktenverzerrung verbunden …“ Seine Ausführungen endet Noize mit einem einzigen, groß geschriebenen Wort: FRIEDEN. Er erhält darauf über 400 Antworten, die meisten davon: Danke.


    Diese Reichweite ist Noize MCs wichtigstes Werkzeug im Kampf gegen das Regime. Der Rapper zählt zu den meistgehörten russischsprachigen Künstler:innen, seinem YouTube-Kanal folgen fast eine Million Abonnent:innen. Er selbst gibt an, er richte sich nicht nur an den starren nationalen Raum Russlands, sondern an alle, die ihn verstehen – ob durch Sprache, Kunst oder Emotion. Dass er nicht in ausverkauften Stadien spielt, sei eine bewusste Entscheidung – gegen die Karriere und für moralische Integrität.6

    Denn sein kritisches öffentliches Auftreten ist nicht ungefährlich. Als im Januar 2021 eine Demonstration gegen die Verhaftung Alexej Nawalnys bei seiner Rückkehr aus Deutschland losbricht, befindet sich auch Alexejew unter den Protestierenden. Der Protest endet mit über 3000 Festnahmen.7 In einem späteren Interview mit dem beliebten YouTube-Moderator Juri Dud sagt er dazu: „[Meine Kinder] haben sich große Sorgen gemacht und mich gebeten, ‚Papa, geh nicht‘ […], und ich hab ihnen erklärt: ‚Jungs, wenn alle so denken, geht niemand.‘“

    „Es ist an der Zeit, die Mützen, Schals und Mäntel auszuziehen“

    Mit dem Beginn des vollumfänglichen Angriffskriegs gegen die Ukraine gibt es deshalb für den Rapper nur noch zwei Optionen: Schweigen und mit irgendetwas anderem Geld verdienen – oder Gefängnis. Alexejew entscheidet sich für eine dritte Variante und zieht mit seiner Frau und seinen zwei Kindern nach Vilnius. Das Exil ermöglicht ihm eine neue Unabhängigkeit. Von nun an entscheiden nur noch er und seine Fans über sein Einkommen – ohne staatliche Einmischungen.8 

    Die veränderte Gegenwart hat für Noize MC eine neue Direktheit zur Folge. Zwar hat er nie vor offener – oft derber – Sprache zurückgeschreckt. Das illustriert zum Beispiel Is Okna (dt. Aus dem Fenster), wo er die russische TV-Landschaft mit einigen Flüchen bedeckt. Doch während er in Na Marse Klassno noch mit kodierten Inhalten starke Gefühle hervorrufen will, wendet er sich jetzt von der Ästhetik ab. „Es ist an der Zeit, die Mützen, Schals und Mäntel auszuziehen […]“, sagt der Rapper im Interview mit Galina Jusefowitsch.9 Man müsse es den Menschen heute einfacher machen, sich nicht mehr hinter komplizierten Worten zu verstecken. 

    Ein Teil dieser neuen Direktheit zeigt sich auf der Solidaritätstour Voices of Peace. Gemeinsam mit der russischen Künstlerin Monetotschka sammelt er über 300.000 Euro für die Ukraine. Ohne Schlenker und Verzierungen sprechen sich die beiden gegen den Krieg aus: „Ich werde [das Friedenszeichen] zeigen, bis sie mir die Hände hinter dem Rücken festbinden“, erzählt Alexejew der Menge während eines Konzerts in Warschau. Die Menschen aus der Lethargie holen, in der Gegenwärtigkeit verankern und sie aktivieren – Noize MC gelingt diese Aufgabe auch im Exil. Seine Konzerte verbinden nicht nur Fans, sondern Russ:innen, Belaruss:innen und Ukrainer:innen, die sich in seinen Texten gemeinsam wiederfinden.

    Die Kunst, über und gegen den Krieg zu sprechen

    In Noize MCs Auftritten spiegelt sich das widerständige, Grenzen überwindende Potential von Hip-Hop in Russland. Als Poesie der Gegenwart füllt er die Rolle der Protestmusik,10 die zu Sowjetzeiten von Rocklegenden wie Viktor Zoi getragen wurde. Rap hat durch seine Performativität jedoch nicht nur das Augenblickliche, das ekstatische Leben im Moment mit dem Russki Rock gemein. Er zieht ebenso ein Millionenpublikum an, entzieht sich oft staatlicher Kontrolle und erhebt den Anspruch, für eine bessere Zukunft einzustehen. Damals wie heute rüttelt die Musik am Thron der Mächtigen und verunsichert sie, bis sie verboten wird. 

    Auch die Anfänge von Rap haben diesen widerständigen Charakter: Als Teil der Hip-Hop-Kultur entsteht er in den 1970er Jahren als Party-Musik und Gegenkultur zum bis dato überwiegend weißen Musikgeschäft in der New Yorker Bronx. In den 1980er Jahren setzen sich schließlich die gesellschaftsrelevanten Themen durch. Ähnlich entwickeln sich Noize MC und andere russische Künstler:innen. Oft verlieren sie dabei die Leichtigkeit ihrer Anfänge: Findet man als Zuhörer:in auf The Greatest Hits: Vol.1 noch viele lustige und ironische Lieder, sind diese auf seiner neuesten Platte Wychod is Goroda (dt. Ausgang aus der Stadt) kaum mehr vorhanden. 

    In dem ewigen Dilemma zwischen Kunst und Politik fordert der Krieg die Kunst förmlich heraus, er verlangt ihre Neudefinition und Stellungnahme. Mit ihrer Lyrik versuchen die Künstler:innen, die Gewalt zu verarbeiten; zu fassen, was unfassbar ist. 

    Verloren im Orbit

    Dass der Kampf gegen das Regime isoliert, zeigt sich in Noize MCs 2020 erschienenen Song Voyager 1. Dort bezeichnet er sich selbst als ungebetenen Gast, dessen Rufe an die Erde verhallen. Und rappt weiter: 

    Und keilförmig bündelt sich das Licht
    Auf einen fernen Punkt, dort, ganz hinten
    Auf den besten aller möglichen Planeten
    Doch er ist schon lange weg, man kann ihn nicht mehr finden


    Die Hoffnung auf Wunder und eine bessere Welt hat Noize MC mit Sergej Bongart gemein. Voyager 1 – und damit stellvertretend der letzte vernünftige Mensch – entfernt sich immer weiter vom „besten aller möglichen Planeten“. Noize stellt damit klar: Eine lebenswerte Gegenwart gibt es in Russland nicht mehr. 

    Zwei Jahre nach Veröffentlichung erhält der Song neue Aktualität. Durch den Krieg werden viele Künstler:innen und Kulturschaffende aus Russland herauskatapultiert und können auf ihre Heimat nur noch als weit entfernten Punkt blicken. Noize MC verleiht diesen Entfremdeten eine Stimme: in seiner Musik, auf der Bühne und im Netz. Er zeigt, dass die gewaltvolle Gegenwart eine neue künstlerische Verarbeitung braucht. Vor 100 Jahren – und heute auch.


     

    1. Bongart, Sergej/Noize MC: Parnassus, zit. nach: after russia 100: Sergei Bongart ↩︎
    2. instagram.com: noizemc ↩︎
    3. zit. nach FAZ.net: Kummer ist der Anfang des Menschhseins ↩︎
    4. fluter.de: MC Staatsfeind ↩︎
    5. Denisova, Anastasia/Herasimenka, Aliaksandr (2019): How Russian Rap on YouTube Advances Alternative Political Deliberation: Hegemony, Counter-Hegemony, and Emerging Resistant Publics, in: Social Media + Society, 5(2) ↩︎
    6. youtube.com/@vdud: Noize MC – The war and new life ↩︎
    7. dw.com: 3000 Festnahmen bei Nawalny-Protesten ↩︎
    8. Meister, Katarina (2023): Civic Activism Strategies of Russian Protest: Musicians after February 24, 2022, in: Russian Analytical Digest, 291, S. 12-16, hier S. 12 ↩︎
    9. youtube.com/@YuzefovichProject: Noize MC* o Pelevine, Majakovskom, sovremennoj poėzii, muzyke i vospitanii detej v ėmigracii ↩︎
    10. Liebig, Anne (2020): No Face, No Case: Russian Hip Hop and Politics under Putinism, in: FORUM: University of Edinburgh Postgraduate Journal of Culture & the Arts. No. 30 ↩︎

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    Wann kommt der Wandel?

    Die Bilder gingen um die Welt: Plötzlich standen in ganz Russland tausende Menschen Schlange und gaben ihre Unterschrift für die Präsidentschaftskandidatur von Boris Nadeshdin. In einer immer repressiveren Umgebung, in der Protest gegen den Krieg de facto verboten ist, hatten darin viele eine Chance gesehen, um ihrem Unmut auf legalem Wege Ausdruck zu verleihen.

    Doch wie weit ist es von den „Schlangen für Nadeshdin“ bis zu einem echten Wandel in Russland? Wollen die Menschen einen solchen überhaupt? Darüber schreibt der Soziologe Grigori Judin in einem Gastbeitrag für Verstka.

    [Aktualisierung vom 8. Februar 2024: Die Zentrale Wahlkomission hat Boris Nadeshdin nicht zur Wahl zugelassen. Dies wurde offiziell damit begründet, dass angeblich mehr als fünf Prozent der eingerichten Unterschriften ungültig seien.]

    Die Russen witterten eine messbare Chance auf Veränderungen – und sind sofort aktiv geworden. Zwar beträgt diese Chance gerade mal ein paar Millionstel Prozent, aber sie ist konkret. Läge sie etwas höher, würden noch mehr Menschen reagieren. Und wäre sie wirklich groß, dann wäre es ein gesellschaftlicher Durchbruch. Es ist eingetreten, was ich schon lange sage: Kollektives Handeln beginnt nicht da, wo den Menschen die Geduld ausgeht, sondern da, wo die Aussicht besteht, dass ihr gemeinsames Handeln zu einem realen, konkreten und messbaren Ergebnis führen kann. Im Fall Nadeshdin ist das seine Zulassung zu den Präsidentschatfswahlen.

    Kontrollierte Herausforderung

    Wofür braucht der Kreml Nadeshdin? Und wieso darf er ins Fernsehen? Seit seinen kriegsgegnerischen Äußerungen rufen mich immer wieder Journalisten aus dem Ausland an und fragen: „Wie kann das sein? Wir dachten, in Russland herrscht Zensur und keiner erfährt die Wahrheit! Dabei tritt da einer im Fernsehen auf und sagt einfach die ganze Wahrheit! Vielleicht sind die Russen eben allen Ernstes für Putin und seinen Krieg?“

    Das ist die Strategie der Präsidialadministration. Nadeshdin muss seine 1,5 Prozent bekommen und damit genau das zeigen, was wir vom Lewada-Zentrum die ganze Zeit hören: In Russland leben 140 Millionen Vampire und ein paar Zehntausend normale Menschen. Nach dem Motto, gebt endlich Ruhe, das Land steht hinter Putin und dem Krieg. 

    Aber man darf nicht aus dem Blick verlieren, dass dieses Ergebnis für den Kreml nur ein angenehmer Bonus ist und er mit dieser Volksbefragung eigentlich viel wichtigere Aufgaben erfüllt. Er kann es sich nicht leisten, dass für das Sahnehäubchen auf dieser Torte alles aus dem Ruder läuft.

    Deswegen verfügt der Kreml für den Fall, dass sich in den Umfragen ein zu großer Wahlerfolg für Nadeshdin abzeichnet, über ein ganzes Arsenal von Instrumenten, um seine Popularität zu verringern. Wir wissen zum Beispiel, dass Nadeshdin eng mit den Liberalen der Neunziger verbandelt war – es wäre ausreichend, wenn er plötzlich öffentlich Elemente aus ihrer Rhetorik bemühen würde. Das Ergebnis wäre wundervoll: Der allseits beliebte Antikriegs-Kandidat sagt antirussische Sachen, die sich hervorragend dafür eignen, die Kriegsgegner auf ganzer Linie zu diskreditieren.

    Oder man „kauft“ ihn mit dem Versprechen eines hohen Amtes. Schon mehrmals hat Nadeshdin bewiesen, dass er bereit ist zum Pakt mit dem Teufel – mal kandidierte er für Gerechtes Russland, mal nahm er an den Vorwahlen von Einiges Russland teil. Ob er wohl dieses Mal darauf verzichtet? Oder man erklärt ihn vielleicht ein paar Wochen vor der Wahl zum Terroristen und Extremisten und schüchtert damit seine potentiellen Wähler ein. Na, oder ganz schlicht und ergreifend: Wenn etwas nicht „nach Plan 1,5 Prozent“ läuft, dann kann man Nadeshdin einfach zu jedem beliebigen Zeitpunkt stumpf von der Liste kicken.

    In Belarus begann 2020 ebenfalls alles mit Schlangen von Menschen

    Der innenpolitische Kurator im Kreml, Sergej Kirijenko, hat von dem Aufstand in Belarus nach den Präsidentschaftswahlen 2020 bestimmt etwas gelernt. Dort begann ebenfalls alles mit Schlangen von Menschen, die für Sergej Tichanowski, Viktor Babariko und Waleri Zepkalo unterschrieben. Danach unterlief Lukaschenko ein schwerer Fehler: Er ließ Tichanowskis Frau Swetlana antreten. Was dazu führte, dass Leute, die noch einen Monat zuvor in ihrer Masse kaum an so etwas wie Proteste gedacht hatten, plötzlich an die Möglichkeit eines Wandels durch einen „Erdrutschsieg“ bei den Wahlen und Straßenproteste zu dessen Verteidigung glaubten. Dafür gingen sie buchstäblich in den Tod – tausende Demonstrierende gingen weiterhin auf die Straße, obwohl die Silowiki dort Menschen töteten. Sie trennten sich erst, als die Hoffnung versiegt war, dass die Handlungen jedes Einzelnen zu einem konkreten Ergebnis führen.

    Eine ähnliche Mobilisierung haben wir auch schon in Russland gesehen. Nämlich 2021, als Alexej Nawalny zurückkehrte und sofort verhaftet wurde. In jenem Jahr war unser Land hinsichtlich der Gesamtzahl der Protestierenden unter den weltweit Ersten. Das war eine Massenbewegung, die das ganze Land erfasste. Obwohl die Chance, Nawalny freizukriegen, genauso gering war wie die Chance auf einen Regimewechsel.

    Seit Beginn des Kriegs hatte die russische Gesellschaft nicht die leiseste Hoffnung auf Veränderungen. Auch Jewgeni Prigoshin konnte mit seinen Aktionen und dem Aufstand keine Zuversicht wecken. Ja, er vertrat in Bezug auf die Situation im Land einen Standpunkt, der alternativ zum offiziellen und trotzdem legal war. Er konnte aber keine Menschen mobilisieren, obwohl ich überzeugt bin: Hätte er den Leuten eine Zukunft ausgemalt, die ihnen blüht, wenn sie seine Bewegung unterstützen, dann wären viele schon allein deswegen aufgestanden, weil sie etwas Neues wollen.

    Wenn die Leute sehen, dass sie etwas verändern können, dann sind sie bereit, sehr große Risiken einzugehen

    Die Formel für den Beginn kollektiven Handelns ist simpel. Ausschlaggebend ist das Gefühl, dass die eigene persönliche Beteiligung die Situation beeinflussen und zu einem nachweislichen, messbaren und sichtbaren Ergebnis führen kann. Natürlich schätzt man auch noch das Risiko ab, das man eingeht, aber dieser Faktor ist nicht so hoch, wie oft angenommen wird. Klar will niemand ins Gefängnis oder verprügelt werden. Und keiner macht das einfach so ins Blaue. Aber wenn die Leute sehen, dass sie etwas verändern können, dann sind sie bereit, sehr große Risiken einzugehen. 

    Ein legaler Wahlkampf ist natürlich ein minimales Risiko. Man braucht nur zu unterschreiben, und wenn der Kandidat aufgestellt wird, zu agitieren und dann zu wählen. Das ist alles grundsätzlich nicht verboten, daher ist die Hemmschwelle zum Mitmachen gering. Man braucht dafür nicht unbedingt in einen Panzer zu steigen wie in Prigoshins Fall. Super! Aber es ist auch nicht so, dass sich durch Repressionen jedes kollektive Handeln verhindern ließe. Sonst bräuchte man gar keine Politik und es gäbe überhaupt nirgendwo Massenbewegungen. Die Geschichte hat gezeigt, dass die Menschen für hohe gemeinsame Ziele bereit sind, ihr Leben zu riskieren.      

    Was fehlt: eine positive Zukunftsvision

    In Russland gibt es keine militarisierte Mehrheit, die man durchbrechen muss. Die Mehrheit duldet den Krieg als etwas vermeintlich Unausweichliches, das man lieber verdrängt. Angeführt wird das Ganze von kleinen Gruppen, die demonstrativ verrohen und darauf ihre Karrieren aufbauen. Der Überdruss, den dieser Krieg und die alte Führungsriege in der russischen Gesellschaft erzeugt, ist riesig. Aus dieser Situation heraus ließe sich leicht eine starke Mehrheit von Kriegsgegnern versammeln.  

    Insofern lautet die richtige Antwort auf die Frage, wie lange die Leute noch mitmachen werden: „Beliebig lange.“ Denn sie gehen nicht dann vom Erdulden zum kollektiven Handeln über, wenn sie es nicht mehr aushalten – man kann sich ja immer noch tiefer eingraben, noch stärker anpassen –, sondern wenn sich eine Alternative anbietet. Aber genau die fehlt heute. „Nein zum Krieg!“ ist eine schöne Parole, aber sie sagt nichts darüber aus, wie es danach weitergehen soll. Noch hat niemand eine Zukunftsvision ausformuliert, die Russlands nationale Interessen berücksichtigt, die dem Land einen Platz in der Welt aufzeigt, den die Bürgerinnen und Bürgern als würdig empfinden, und die zugleich ein deutliches Bild davon zeichnet, wie das Leben dort aussehen wird.

    Es gibt einen Putin – zu dem hat keiner mehr eine Frage: Unter seiner Regierung leben wir beschissen, aber wir wissen, woran wir sind – wir kennen die Regeln. Sobald einer kommt und eine knackige Alternative dazu anbietet, vorzugsweise im Rahmen der russischen Gesetzgebung, klafft ein Spalt auf, in den das ganze riesige Protestpotential hineinstürzt, das sich in der Gesellschaft angestaut hat. Anlass dafür kann alles sein – vom banalen Alltagskonflikt bis hin zu einer einzigen unglücklichen Entscheidung der Behörden. Die Beobachter werden es nicht fassen können: Wie gibt’s das, die Leute haben das doch immer geschluckt, wieso auf einmal nicht mehr? Aber an diesem Punkt wird der Wandel schon angefangen haben.    

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    Den ganzen Januar über standen in vielen Städten in Russland die Menschen Schlange, um mit ihrer Unterschrift die Kandidatur von Boris Nadeshdin für die Präsidentschaftswahl zu unterstützen, die Mitte März abgehalten wird. Um als Präsidentschaftskandidat registriert zu werden, muss er bis Ende Januar 100.000 Unterschriften in verschiedenen russischen Regionen sammeln (2500 in je 40 Regionen). Nadeshdin war bis dahin nur wenigen bekannt. Seine Biografie lässt keine eindeutigen Schlüsse zu: Er gibt an, in den 1990er Jahren sowohl mit Boris Nemzow als auch mit Sergej Kirijenko zusammengearbeitet zu haben. Nemzow wurde zu einem der erbittertsten Gegner Putins, 2015 traf ihn eine Kugel vor den Mauern des Kreml. Kirijenko sitzt auf der anderen Seite dieser Mauer im Kreml: Als stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung ist er heute verantwortlich für die Unterdrückung jeglicher Opposition. Ohne sein Einverständnis dürfte Nadeshdin wohl noch nicht einmal für die Kandidatur kandidieren. Dennoch haben in den vergangenen Wochen selbst Anhänger von Alexej Nawalny dazu aufgerufen, Nadeshdins Kandidatur zu unterstützen. Dass es dabei mehr um einen symbolischen Akt geht, mit dem die Menschen sich selbst und einander gegenseitig Mut machen, zeigt eine Umfrage, die das Portal Holod unter den Schlangestehenden durchgeführt hat.

    „Die Zukunft liegt um die Ecke“: Wie hier in Sankt Petersburg standen in vielen russischen Städten Menschen Schlange, um mit ihrer Unterschrift die Kandidatur von Boris Nadeshdin für die Präsidentschaftswahl zu unterstützen / Foto © Artem Priakhin/imago-images

    Anton, 30, Jekaterinburg
    Ich denke, es geht vor allem darum, dass selbst nach der dunkelsten Nacht irgendwann der Morgen kommt. Und irgendwie habe ich das Gefühl, dass die Veränderungen viel schneller kommen werden, als es scheint – man muss nur daran glauben.

    Leider gibt es in meinem Freundes- und Bekanntenkreis viele Menschen, die verzweifelt sind und nicht mehr an das Gute oder an die Zukunft glauben. Ich sehe ja auch überall das Negative und verstehe, warum die Menschen apathisch werden. Deshalb war ich ehrlich überrascht, als ich sah, dass Leute mehrere Stunden vor Nadeshdins Kandidatenbüro anstehen: Menschen, die nicht verzweifelt sind, die lächeln und an Veränderungen glauben. Das macht Hoffnung.

    Für Millionen von Russen erlöschen mit jedem Tag weitere Funken der Hoffnung

    Dimitri, 37, Ishewsk
    Ich würde das nicht einmal als Schlange bezeichnen. Ich habe nicht länger angestanden als für einen Burger bei KFC. Außerdem, warum denken viele, dass es sowieso nichts bringen wird?

    Für Millionen von Russen erlöschen mit jedem Tag weitere Funken der Hoffnung. Die Hoffnung auf Liebe, auf eine Karriere, die nicht auf Vitamin B beruht, auf ein Leben in Würde. [In Russland] sind die geblieben, die keine Möglichkeit haben, alles hinzuwerfen. Sie haben sich selbst dazu verdammt, Tag für Tag die Maske der Resignation zu tragen. Wir haben Freunde verloren, den Kontakt zueinander, unsere Heimat – und das, ohne dass wir ihre territorialen Grenzen verlassen hätten.

    Die Unterschrift heute ist die einzige legale Möglichkeit, zu versuchen, etwas zu ändern und dem wunderbaren Russland der Zukunft wenigstens ein kleines Stückchen näher zu kommen.

    Nach zwei Jahren Krieg nehme ich die Zs und Vs nicht mehr wahr und habe eine Selbstzensur entwickelt

    Anna, 31, Jakutsk 
    Nach zwei Jahren Krieg nehme ich die Zs und Vs nicht mehr wahr, ich habe mich damit abgefunden, dass es bestimmte Internet-Dienste nicht mehr gibt, und eine Selbstzensur entwickelt. Aber als ich davon hörte, dass Unterschriften für einen Kandidaten gesammelt werden, der sich gegen den Krieg ausspricht, bin ich sofort auf Nadeshdins Internetseite gegangen. Ich habe mich registriert und bin gleich hingegangen, als sein Büro geöffnet war. Warum?

    Weil es für mich eine Möglichkeit ist, sicher und offen mein „Nein“ zu sagen. Nein zur Politik der Einschüchterung, nein zu menschenverachtenden Gesetzen. Schließlich bin ich russische Staatsbürgerin, ich gehöre dem Volk der Jakuten an – ich kann doch meine eigenen Ansichten haben? Ist es etwa ein Verbrechen, sie zu äußern? Seit Februar 2022 fühle ich mich gelähmt, hoffnungslos und apathisch. Ich hätte mir einfach nicht verziehen, wenn ich nicht meine Unterschrift abgegeben hätte. Selbst, wenn es nichts ändert, wenn alles umsonst ist, heißt es nicht, die Hoffnung stirbt zuletzt? Schon sein Name ist ja sprechend [„Nadeshda“ bedeutet auf Russisch Hoffnung dek].

    Nadeshdin ist der einzige Kandidat, der offen für ein Ende der ‚militärischen Spezialoperation‘ eintritt

    Wladimir, 49, Ishewsk
    Boris Nadeshdin ist der einzige Kandidat, der offen für ein Ende der „militärischen Spezialoperation“ eintritt und die Politik des Präsidenten kritisiert. Allein die Art, wie er seine Unterschriften sammelt (mit Unterstützung von Freiwilligen in Hunderten von Städten in ganz Russland und nicht mit Hilfe des Staatsapparats), spricht dafür, dass bei Weitem nicht alle in Russland die aktuelle Politik unterstützen und eine große Nachfrage nach Veränderung besteht. Allein, persönlich dabei zu sein und echte, lebendige Menschen zu sehen, ist schon eine große Sache. Es ist sicher nur der Beginn eines langen Weges, aber wir müssen den ersten Schritt gehen.

    Oleg, 21, Jekaterinburg
    Ich bin mir natürlich der Aussichtslosigkeit bewusst, aber ich habe trotzdem beschlossen, meine Unterschrift abzugeben – es ist wenigstens eine winzige Chance auf Veränderungen. Ich bin froh, meinen kleinen Beitrag geleistet zu haben. Wenigstens habe ich nicht tatenlos zugesehen, sondern getan, was ich konnte – ich habe selbst unterschrieben und meinen Freunden davon erzählt.

    Fürs Demonstrieren könnte ich von der Uni fliegen – und ich will nicht mein Leben ruinieren

    Jaroslaw, 21, Nowosibirsk/Sankt Petersburg
    Was in den letzten zwei Jahren in Russland passiert, gefällt mir ganz und gar nicht. Auf eine Demonstration zu gehen oder etwas Vergleichbares zu tun, das traue ich mich nicht. Dafür könnte ich von der Uni fliegen, und ich will nicht mein Leben ruinieren für etwas, das dem Land ohnehin nicht viel nützen wird. Aber meine Unterschrift für einen vernünftigen Kandidaten abzugeben, ist eine absolut sichere Form des Protests, und so habe ich wenigstens meinem inneren Unmut Ausdruck verliehen.

    Vera, 63, Moskau
    Ich verfolge seit vielen Jahren die Beiträge von Ekaterina Schulmann, und ich stimme ihr zu: Das Volk muss dem Staat seinen Willen zeigen (wie sie sagt, „es muss sich regen“). Jedes Volk hat die Anführer, die es verdient. Man muss jede noch so kleine Gelegenheit nutzen, die das Leben bietet.

    Es stimmt optimistisch, dass nicht alle um einen herum nur von Hass und Krieg besessen sind

    Wladimir, 41, Twer
    Mir ist klar, dass es in Russland keine freien Wahlen gibt, dass für Putin so oder so seine 80 Prozent verkündet werden und Nadeshdin ein paar müde Prozent bekommt. Ich habe meine Unterschrift für ihn abgegeben, damit ich mir guten Gewissens sagen kann, dass ich überhaupt etwas in dieser ganzen Finsternis getan habe. Immerhin habe ich auch eine Menge vernünftiger, anständiger Leute gesehen, von denen es in Russland immer noch viele gibt. Es stimmt optimistisch, dass nicht alle um einen herum nur von Hass und Krieg besessen sind.

    Regina, 35, Ufa
    Wenn wir alle diese kleine Chance, etwas zu bewegen, wieder einmal verstreichen lassen, wer wird dann je etwas verändern? Das ist immerhin eine legale Form des Protests, man kommt nicht ins Gefängnis dafür. Ich rechne nicht damit, dass sie Nadeshdin zur Wahl zulassen werden. Das ist natürlich schade, aber trotzdem ist es besser, zu handeln, als tatenlos zuzusehen. Ich finde es inspirierend, dass ich nicht alleine damit bin und mein Umfeld so enthusiastisch reagiert hat. Also wird alles gut – wenn nicht jetzt, dann irgendwann.

    Ich hätte für jeden unterschrieben, der halbwegs anständig wirkt. Hauptsache nicht Putin

    Katerina, 35, Ishewsk
    Ich habe in einem verbotenen sozialen Netzwerk Posts von Freunden gesehen, dass Unterschriften gesammelt werden. Ehrlich, ich habe mir Nadeshdins Seite nicht einmal genau angesehen, ich bin einfach hingegangen und habe unterschrieben. Außerdem habe ich meine Familie und Freunde dazu aufgerufen – ein Teil von ihnen hat mitgemacht.

    Ich glaube, ich hätte für jeden unterschrieben, der halbwegs anständig wirkt. Hauptsache nicht Putin.

    Anna, 47, Tomsk
    Für mich ist das eine Form des Protests gegen die „Spezialoperation“, gegen die totale Zensur, gegen die aggressive Außenpolitik gegenüber zivilisierten Ländern, das Abgleiten unseres Landes in ein autoritäres Regime, gegen die Inflation. Also gegen all den Wahnsinn, der nach dem Beginn der „Spezialoperation“ folgte. Ich kann nur hoffen, dass Putin sieht, was die Menschen wirklich von ihm halten, und die Unterschriftensammlung wie ein Hebel wirken kann, der ihn dazu bringt, seine Innen- und Außenpolitik zu ändern. Das ist eine Wunschvorstellung, aber vielleicht wird Nadeshdin ja wirklich genügend Unterschriften sammeln und zur Wahl zugelassen werden?!

    Während ich das schreibe, denke ich, was, wenn Sie gar nicht von Holod sind, sondern nur ein Provokateur? Und ich zensiere mich selbst. In solchen Zeiten leben wir! Die Menschen sind verängstigt. Das muss man auch ändern. Das darf nicht sein.

    Mir gefällt hier alles außer der Regierung – ich habe keine Lust dazu, meine Heimat zu verlassen 

    Jewgeni (Name geändert), 21, Ufa
    Ich bin geboren und aufgewachsen unter ein und demselben Präsidenten. Von Jahr zu Jahr wird alles schlimmer. Vor meinen Augen verwandelt sich mein Land von einer Demokratie in einen autoritären Staat, eine Diktatur.

    Deshalb halte ich es für meine Bürgerpflicht, meinem Land zu helfen. Mir gefällt hier alles außer der Regierung, und ich habe keine Lust dazu, meine Heimat zu verlassen und in Europa oder der USA meine Freiheit zu suchen. Weil ich glaube und hoffe, dass wir es hier irgendwann sogar noch besser haben könnten als dort.

    Jewgenija (Name geändert), 33, Nowosibirsk
    Für mich ist dies eine Gelegenheit für einen Appell der Anständigen und ein inneres Bedürfnis. Wie das Zwitschern der Spatzen im Winter: „Wir leben! Wir auch!“ Es geht mir schlecht, weil ich nicht offen sagen kann, was ich denke, und mich nicht ohne Risiko für mich und meine Familie über die Missstände empören kann. Ich halte es für nötig, alles zu tun, was nicht verboten ist, um mich selbst zu schützen. Das schließt auch das Wahlrecht ein. Vielleicht werde ich meinem Kind, wenn es irgendwann einmal Politikunterricht in der Schule hat, davon erzählen, wie wir unsere Unterschrift für Nadeshdin abgegeben haben – vielleicht wird das in zehn Jahren ein wichtiges Ereignis gewesen sein? 

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