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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Debattenschau № 91: Jelzin, die Oligarchen und die Sünden der 1990er

    Debattenschau № 91: Jelzin, die Oligarchen und die Sünden der 1990er

    Mit einer Serie einstündiger Videos haben Mitstreiter Alexej Nawalnys vom Fonds für Korruptionsbekämpfung (FBK) eine heftige Debatte über das Erbe der 1990er Jahre in Russland ausgelöst. Im Kern geht es um die Frage, wann die Weichen für den Weg in Richtung Korruption, Manipulation und Autoritarismus gestellt wurden und wer die Schuld dafür trägt, dass sich Russland nach dem Ende der Sowjetunion nicht zu einem demokratischen Rechtsstaat entwickelte. In seinem letzten programmatischen Aufsatz aus dem Straflager hatte Nawalny im August 2023 voller Wut Boris Jelzin, seine Familie und die Oligarchen der frühen Jahre dafür verantwortlich gemacht, dass Selbstbereicherung und Machterhalt über demokratische Prinzipien triumphierten. In den Videos sitzt nun Maria Pewtschich – die Direktorin von Nawalnys Fonds für Korruptionsbekämpfung (FBK) – in einer Wohnung, die mit Möbeln und Accessoires der 1990er eingerichtet ist – und kommentiert Filmausschnitte und Dokumente.

    Die Debatte um die Fehler der 1990er Jahre ist nicht neu. Aber sie wird vor dem Hintergrund aktueller Ereignisse immer wieder neu geführt. Diesmal mit großer Heftigkeit. Denn es geht auch um die Verwicklung heutiger Regimegegner, die damals zu Jelzins Netzwerk aus Macht und Geld gehörten und im Gefängnis landeten oder ins Exil gingen, wie etwa Michail Chodorkowski. Während die einen sagen, es sei wichtig, die Fehler der Vergangenheit zu benennen, um sie nicht zu wiederholen, bemängeln andere, angesichts des Krieges gegen die Ukraine sei jetzt nicht die Zeit für Streit. Stattdessen müsse die Opposition geeint auf ein Ende des Krieges und des Regimes hinarbeiten. 

    Was bedeutete Demokratie im postsowjetischen Russland?

    Der Politikwissenschaftler Wladimir Gelman vertritt die Ansicht, dass nie der Weg zu einer echten Demokratisierung eingeschlagen wurde:

    [bilingbox]Die Debatte über die 1990er Jahre in Russland läuft […] letztlich auf die Frage nach den Anfängen des derzeitigen politischen Regimes hinaus: War das Land in den 1990er Jahren auf dem Weg zur Demokratie, und dann kam Putin und ruinierte alles? Oder war nach dem Zusammenbruch der Kommunistischen Partei nie von einer Demokratisierung auch nur die Rede? 
    In meinem Buch Awtoritarnaja Rossija (dt. Das autoritäre Russland) wird die zweite Sichtweise ausführlich dargestellt. Demzufolge lässt sich der politische Prozess im postkommunistischen Russland zusammenfassen mit einem Satz von Anatoli Sobtschak: „Jetzt sind wir an der Macht – und das ist Demokratie“.~~~Спор о 1990-х годах в России, […] в конечном итоге сводится к вопросу об истоках нынешнего политического режима. Действительно ли (1) в 1990-е страна двигалась к демократии, а потом пришел Путин и все испортил или же (2) изначально после краха КПСС ни о какой демократизации не было и речи. В моей книге «Авторитарная Россия» довольно подробно представлена вторая точка зрения. Предельно огрубляя, политический процесс в посткоммунистической России, согласно этой точке зрения, можно суммировать фразой Собчака на с.7 книги – «мы теперь у власти – это и есть демократия».[/bilingbox]

    erschienen am 17.04.2024, Original

    Jelzins Regierungszeit war bestimmt vom Kampf gegen die Geister der Vergangenheit

    Der Journalist Sergej Parchomenko vermisst in Pewtschichs Videos die sozialen und gesellschaftlichen Hintergründe, vor denen sich die Ereignisse abspielten:

    [bilingbox]Die ganze Geschichte mit Jelzin und seiner Regierungszeit begann nicht im luftleeren Raum, sondern knüpfte unmittelbar an eine jahrzehntelange Odyssee: Sowjetmacht, kommunistische Diktatur, eine durch diese Diktatur verunstaltete und gequälte sowjetische Gesellschaft, eine absurde politische Maschinerie ohne funktionierende staatliche Institutionen und eine von sozialistischer Idiotie erdrückte Wirtschaft, die in keinem Bereich funktionsfähig war. Das Ganze hat sich bis zur letzten Minute im Kampf genau dagegen entwickelt und war der Logik dieses Kampfes untergeordnet. Nein, nicht bis zur letzten Minute: Fairerweise müssen wir festhalten, dass es eine späte Periode der Schande gab, als Jelzin die Macht bereits völlig aus den Händen geglitten war und er sie einer Gruppe übergeben hatte, die nur getrieben war von Angst um ihre eigene Zukunft, von dem alleinigen Wunsch, wohlhabend aus der Herrschaft hervorzugehen und ihre eigene Sicherheit zu gewährleisten.

    All diese Grundlagen sind in dem Film Verräter zu sehen. Nicht als Begleitumstände, sondern eben als tragende Grundlage. Doch die Autoren und die Erzählerin schauen das an und merken irgendwie nichts. Ringsum verschwommene Gesichter und Menschen unklarer Herkunft.

    Wer sind die alle?

    Das sind die, denen die russische (5 Minuten zuvor noch sowjetische) Wirtschaft in dem Moment gehörte, als Abramowitsch und Beresowski und Jelzins ganze Mannschaft auf der Bildfläche erschienen. Sie sind die Verkörperung des sowjetischen Systems, ja, die personifizierte sowjetische Macht. Sie verschwanden nicht, sie lösten sich nicht auf, sondern sie wehrten sich vehement gegen jede Veränderung, forderten ihren Löwenanteil und gaben ihre Positionen nur in einem erbitterten Kampf auf.

    Heutzutage wären solche Verweise auf das „sowjetische Erbe“ und die „verfluchten 90er Jahre“ die reinste Lüge und zynische Heuchelei: Denn von der UdSSR trennen uns 35 und von der „Phase der ursprünglichen Akkumulation“ der 1990er immerhin 30 Jahre.

    Jelzins Periode folgte unmittelbar auf die sowjetische, ohne Pause, dauerte weniger als ein Jahrzehnt und wurde zu einer einzigen Preiskatastrophe mit einem Ölpreis von acht bis zehn Dollar pro Barrel und einem Bezwingen der volkswirtschaftliche Katastrophe.

    Die Gesellschaft forderte eine Befreiung, eine Überwindung der sowjetischen Vergangenheit. Sie forderte kein Verbot der KPdSU, keine Lustration. Die Menschen forderten Reformen, die ihnen Hoffnung auf mehr Konsum gaben: Sie wollten Lebensmittel, Kleidung, Wohnungen, Autos, Geschirrspülmaschinen, Urlaubsreisen, Bücher und Filme, Waschmittel, ohne dafür anstehen zu müssen, sauberes Wasser in Flaschen und frisches Bier aus dem Zapfhahn. Und sie waren bereit, für diesen Konsum – oder zumindest die vage Hoffnung auf diesen Konsum – auf Vieles zu verzichten. Darunter auch auf ihre Wertpapiere, was die Aufgabe des Traums bedeutet, Gazprom-Aktionär zu werden.

    Unter diesen Umständen – in dieser sozialen und gesellschaftlichen Atmosphäre – geschah all das, was in dem Film des Fonds für Korruptionsbekämpfung (FBK) beschrieben ist, plus enorm viel mehr, was dort nicht beschrieben ist. Dem keine Beachtung zu schenken, wäre dumm. So zu tun, als sei das „nicht wichtig“, wäre unlauter. 

    Ich glaube, dass jetzt gerade der falsche Zeitpunkt für solche Debatten ist, und ausgerechnet heute hilft wütendes Streiten darüber, wer schuld daran war, was vor 35 und 25 Jahren geschah, nicht dabei, das Böse, mit dem wir es aktuell zu tun haben, zu bezwingen: Mit Putins Aggression gegen die zivilisierte Welt und der Bereitschaft dieses Diktators, Millionen Leben zu opfern, um selbst an der Macht zu bleiben.~~~Вся история Ельцина и его правления началась не на пустом месте, а отталкивалась от многодесятилетней эпопеи советской власти, коммунистической диктатуры, изуродованного и измученного этой диктатурой советского общества, нелепой политической машины, лишенной нормально действующих институтов государства, и раздавленной социалистическим идиотизмом экономики, не способной действовать ни на одном своем участке. И вся – до последне минуты – в борьбе с этим и развивалась, и логике этой борьбы была подчинена. Впрочем, нет, не до последней: справедливости ради, надо все время оговариваться, чтоб был там поздний, позорный период, когда Ельцин уже совсем упустил власть из своих рук, и отдал ее группе людей, которыми двигал только страх за свое будущее, только желание благополучно “выскочить” из власти и обеспечить лично себе безопасность.

    Вся эта основа – именно не фон, не антураж, а основа, содержательная и решающая, – в фильме ФБК присутствует. Но авторы и рассказчица смотрят на них и как бы не замечают. Какие-то люди с мутными лицами и непроясненным происхождением толпятся вокруг

    Кто они все?

    А это те, кто владели российской (еще пять минут назад советской) экономикой в тот момент, когда на сцене появились и Абрамович, и Березовский, и вся команда Ельцина. Это просто олицетворения, персонализованные воплощения советской власти и советского строя, которые никуда сами не делись, не рассосались, а ожесточенно противостояли любым изменениям, требовали своей львиной доли и первоочередного учета своих интересов, и уступали свои позиции только в свирепой борьбе.

    Это сейчас ссылки на “советское наследие” и на “проклятые девяностые” представляют собой чистейшую ложь и циничное лицемерие: потому что от СССР нас отделяет 35 лет, а от “периода первоначального накопления” 90-х – 30. 

    Ельцинский же период следовал за советским вплотную, без паузы, продолжался меньше десятилетия, и весь пришелся на одну сплошную ценовую катастрофу с нефтью по 8-10 долларов за бочку, и на преодоление хозяйственной разрухи. 

    Общество требовало освобождения от этого, преодоления советского прошлого. Не было никакого общественного запроса на запрет КПСС, например, не было запроса на люстрацию… люди требовали таких реформ, которые обещали им надежду на рост потребления: люди хотели еды, одежды, жилья, автомобилей, посудомоечных машин, поездок в отпуск, книг и фильмов, стирального порошка без очереди, чистой воды в бутылках и непрокисшего пива в разлив. И готовы были за это потребление – или хотя бы за смутную надежду на потребление – многое отдать. В том числе отдать свой ваучер, а с ним и мечту стать акционером Газпрома.

    В этих обстоятельствах – в этой общественной и политической среде – происходило все, что описано в фильме ФБК, а также и колоссальное количество того, что в нем не описано. Не обращать на это внимания – глупо. Делать вид, что это “не важно”, – нечестно.

    Я думаю, что сейчас плохое, неправильное время для этих дебатов, и именно сегодня яростные споры о том, кто виноват в случившемся 35 и 25 лет назад, нам не помогут справиться с главным злом сегодняшнего дня: путинской агрессией против цивилизованного мира и готовностью диктатора пожертвовать миллионами жизней ради того, чтоб остаться у власти.[/bilingbox]

    erschienen am 17.04.2024, Original

    Wie sich echte Politiker von Höflingen unterscheiden 

    Die Psychologin Ljudmila Petranowskaja streicht die Unterschiede zwischen den Akteuren in Jelzins Umfeld und Alexej Nawalny heraus:

    [bilingbox]Folgendes dachte ich bei der kurzweiligen Lektüre der hitzigen Debatte über die 1990er Jahre: Einer der Gründe des gegenseitigen Missverständnisses besteht darin, dass die Akteure der 1990er Jahre und Nawalny (wie wahrscheinlich auch seine Mitstreiter) grundlegend verschieden sind. 

    Erstere waren, wie man es dreht und wendet, Höflinge – Menschikows unter einem schillernden Reformzaren. Sie standen in der Gunst und erhielten Aufträge, fielen in Ungnade, waren in der Verbannung und auf der Flucht – je nachdem, wie das Leben so spielt. Aber im Fokus ihrer Aufmerksamkeit stand immer der Zar (der eine, dann der nächste). Ihr Schicksal hing immer vom Zaren ab, mit seinen Entscheidungen waren ihre Ängste und Hoffnungen verbunden – darunter nicht nur die rein egoistischen, sondern auch die erhabenen, „das Schicksal des Vaterlandes betreffenden“. Politik war in ihren Augen das, was einer mit dem anderen über irgendetwas vereinbart – ob in den Fluren der Macht, in der Banja, in den Büros. Im nächsten Schritt wird das dann als rein polittechnologische Aufgabe umgesetzt: Wie genau soll man die Ergebnisse der Vereinbarungen dem „Volk“ nahebringen? Aber der Gedanke, dass dieses „Volk“ selbst Subjekt des politischen Lebens sein könnte, wird nicht zugelassen – das Volk liebt doch bekanntermaßen die harte Hand und Almosen, ist atomisiert und beeinflussbar. Gott bewahre, dass es etwas entscheiden darf!

    Nawalny dagegen ist ein true politician. Ganz im Ernst. Eine in unseren Breiten noch nie dagewesene Spezies. Der hat sich direkt an die Menschen gewandt – hat hat ihnen nichts vorgespielt, keine von anderen verfassten Reden abgelesen, sondern den direkten Kontakt gesucht, sogar über die Köpfe der Gefängnisaufseher hinweg. Er glaubte wirklich, dass am Ende sie – die Menschen – entscheiden sollen.

    Man kann mit ihm einer Meinung sein oder nicht, ihn lieben oder hassen, aber dass er ein talentierter Politiker war (wie sehr es einem widerstrebt, hier dieses „war“ einzusetzen) – das ist schlicht Fakt.

    Dieser FBK-Film ist keine Recherche im eigentlichen Sinne, kein „Versuch, zu verstehen“, sondern ein direkt an die Menschen gerichtetes politisches Statement. Ob es wirkungsvoll ist oder nicht, wird die Zeit zeigen. Doch das Genre ist klar.

    Was sind die Ziele dieses Statements? 

    Sich von diesen kompromittierten Personen und Entscheidungen abzugrenzen und zu sagen: „So sind wir nicht.“

    Putins Lieblingsargument „Ich habe euch aus den 1990er Jahren gerettet“ und die Schlussfolgerung „Demokratie ist Lüge und Raub“ auszuhebeln.

    Eine Bewegung nach links zu markieren, denn die linke Flanke ist offen und die Sehnsucht nach sozialer Gerechtigkeit enorm.~~~Первые – это как ни крути, придворные, этакие Меньшиковы при ярком и "с загогулинами" царе-реформаторе. Бывали в фаворе и получали подряды, бывали в опале, в ссылке и в бегах – жизнь разная. Но в фокусе их внимания всегда был собственно царь (один, потом второй). От отношений с царем зависела их участь, с его решениями связывались надежды и страхи – в том числе не чисто эгоистические, а возвышенные, "про судьбы Родины". Политика в их представлении – это кто с кем о чем договорится где-то там, в коридорах, банях, кабинетах. Потом уже решается чисто политтехнологическая задача – как именно результаты договоренностей донести "народу". Но мысли о том, что сам этот "народ" может быть субъектом политической жизни не допускается – народ, как известно, любит твердую руку и подачки, атомизирован и внушаем, боже упаси пустить его решать. 

    А Навальный – он тру политик. Прям вот всерьез . Невиданный в наших краях зверь. Реально обращался к людям – не изображал, не читал написанное спичрайтерами, а прям обращался, даже через головы конвойных. Реально верил, что в конечном итоге им – людям – решать. 
    Можно с ним соглашаться или нет, любить или ненавидеть, но то, что он был (как не хочется вставлять это "был") профпригодным публичным политиком – это просто факт. 
    И фильм ФБК – это не расследование, не "попытка разобраться", а политическое высказывание, обращённое напрямую к людям. Эффективное или нет – время покажет, но жанр очевиден. 
    Какие цели высказывания? 
    Отстроиться от скомпрометированных персон и решений, сообщить "мы не такие".
    Выбить любимый аргумент Путина "я вас спасаю от 90х" и сцепку "демократия – это ложь и грабеж". 
    Обозначить движение влево, потому что левый фланг пуст, а запрос на социальную справедливость огромный. [/bilingbox]

    erschienen am 25.04.2024, Original

    „Dieser Film weckt Wut und Hass“

    Lew Schlosberg, Publizist und Jabloko-Politiker kritisiert die Serie scharf: 

    [bilingbox]Jelzin hatte nicht vor, ein Russland Putins aufzubauen, doch er hat es mit seinen vielen Fehlern herangezüchtet, hat einen historischen Raum geschaffen für eine politische Revanche des imperialen und sowjetischen Systems. 

    Aber eine Aufarbeitung der Chancen, Risiken, Fehler und Verbrechen der 1990er darf nicht zu politischen Repressionen, zur Verunglimpfung politischer Gegner und Feinde führen und nicht zum Entzünden von Rache und Bürgerkrieg anstiften.

    Der Film Verräter beantwortet die Frage „Wer ist schuld?“ auf eine Art und Weise, die nicht Gerechtigkeit durch den Rechtsstaat, sondern durch außergerichtliche Vergeltung nahelegt, wobei die Lenker der Vergeltung sich im Namen der Gesellschaft das Recht auf Gewalt herausnehmen und die Gesellschaft manipulieren, unter anderem durch ihren Schmerz und ihr Leid. Die ist eine unlautere und gefährlich provokative Technik.

    Der Film Verräter fördert keine Gerechtigkeit, sondern Revolution und Umverteilung von Eigentum und Macht durch Gewalt. Dieser Film weckt bei Erniedrigten und Beleidigten Wut und Hass. Er fördert im Land die Atmosphäre von Bürgerkrieg.
    Ich bin sicher, dass das den Autoren des Films sehr wohl bewusst ist.~~~Политически эпоха Владимира Путина выросла из эпохи Бориса Ельцина. Ельцин не планировал построить Россию Путина, но вырастил её своими многочисленными ошибками, создал историческое пространство для политического реванша имперской и советской системы. Политическая ответственность за эти последствия в значительной части лежит на Борисе Ельцине. Идеализировать Ельцина и его эпоху нельзя, хотя это была эпоха невиданного ранее исторического шанса на свободу.
    Но анализ шансов, рисков, ошибок и преступлений 1990-х не должен проводиться в технике политических репрессий, шельмования политических оппонентов и противников, не должен быть разжиганием настроений мести и гражданской войны. 
    Фильм «Предатели» даёт ответ на вопрос «Кто виноват?» в манере, предполагающей не восстановление справедливости через законность, а внесудебные кары, когда вершители возмездия присваивают себе право на насилие от имени общества и манипулируют обществом, в том числе его болью и страданиями. Это нечестная и очень опасная провокативная технология.
    Фильм «Предатели» взывает не к правосудию, а к революции, переделу собственности и власти через насилие. Этот фильм будит в униженных и оскорблённых людях гнев и ненависть. Он формирует в стране атмосферу гражданской войны.
    Уверен, что авторы фильма это хорошо понимают.[/bilingbox]

    erschienen am 22.04.2024, Original

    Dieser Film ist eine Verschwörungserzählung

    Die Medienwissenschaftlerin Xenia Lutschenko sieht in den FBK-Videos Elemente einer Verschwörungs-Erzählung:

    [bilingbox]Maria Pewtschichs Film liefert die endgültige Ausformulierung der Verschwörungerzählung „Komplott der Korruptionäre gegen Russland“. Es gibt da diese Gruppe böswilliger Verschwörer, die mit dem Ziel der persönlichen Bereicherung und zum eigenen Wohl absichtlich das Leben von Millionen Menschen verschlechtert hat und das auch weiterhin tut und die „uns das Land gestohlen hat“. 

    Die Krieger des Lichts machen Jagd auf die Korruptionäre, doch die sind listig, wohlhabend und lenken im Verborgenen die ganze Welt und das Land entsprechend ihren Interessen. All dies geschieht nicht zufällig, alles ist miteinander verknüpft. Verschwörungsgläubige müssen nicht unbedingt Aluhüte tragen, typisch für sie ist eine bestimmte Art des Denkens. Es gibt Verschwörungserzählungen, die „uns“ gefallen. Also check your biases! ~~~В фильме Марии Певчих окончательно сформулирована конспирологическая теория «Заговор коррупционеров против России»: Существует некая группа злых заговорщиков, которая в целях личного обогащения и собственного блага намеренно ухудшила жизнь миллионов и продолжает это делать, «украла у нас страну». Воины света охотятся на коррупционеров, но те изобретательны, богаты и тайно управляют миром (страной) в своих интересах. Все события неслучайны, явления взаимосвязаны. Конспирология не обязательно в шапочках из фольги, это специфический тип мышления. Бывают теории заговора, которые «нам» нравится. Так что check your biases[/bilingbox]

    erschienen am 21.04.2024, Original

    Boris Jelzin stand am Beginn von billigem Populismus, Familien- und Klanwirtschaft und manipulativer Politik

    Die Demokratie wurde früh verraten, ist der Ökonom und Publizist Wladislaw Inosemzew überzeugt:

    [bilingbox]In den 1990er Jahren bildete und festigte sich ein System persönlicher Loyalitätsbeziehungen, die an die Stelle demokratischer Institutionen trat, die sich nie etablieren konnten. Die Reformen der ersten postsowjetischen Jahre legten die Grundlage für die Marktwirtschaft, wobei ehemaliges Staatseigentum an neue Eigentümer verteilt wurde. In dieser Situation hätte die Rückkehr der Kommunisten an die Macht im Jahr 1996 zu enormen Spannungen zwischen Regierung und Geschäftswelt geführt. Daraus hätte sowohl ein politischer Wettstreit entstehen können als auch eine Rechtsordnung. Doch diejenigen, die die demokratischen Reformen verrieten, zogen persönliche Garantien der Rechtsstaatlichkeit vor, was Russland in eine faschistische Diktatur führte.

    Ich erinnere mich noch lebhaft an den Sommer 1989, als in der UdSSR Millionen von Menschen an den Radioempfängern hingen, um die Debatten auf der ersten Sitzung der Volksdeputierten zu hören. Sie erlebten zum ersten Mal, wie Gesetze diskutiert und verabschiedet wurden, und das einst allmächtige Politbüro war dagegen machtlos. Dann folgten Demonstrationen und Kundgebungen, die Wahlen für die Parlamente der Unionsstaaten 1990 – und die Bereitschaft Michail Gorbatschows, sich den neuen Machthabern und letztlich dem Willen des Volkes zu beugen. 

    Diese Bereitschaft hatte Boris Jelzin nie – er begründete in moderner Zeit die Tradition von billigem Populismus, von Familien- und Klanwirtschaft, von manipulativer Politik und übermächtiger Sorge um geklautes Geld. Der Verrat der Demokratie fand in der Tat Anfang und nicht Ende der 1990er Jahre statt – hier haben die Autoren des Films absolut recht.~~~Именно в 1990-е годы в российской власти стала возникать и укрепляться система отношений личной преданности, заменившая так и не состоявшиеся демократические институты. Реформы первых постсоветских лет создали основы рыночной экономики, во многом распределили бывшую государственную собственность среди новых хозяев — и в такой ситуации возврат коммунистов к власти в 1996 году создал бы необходимое напряжение между властью и бизнесом, из которого смогли бы вырасти и конкурентная политика, и правовой порядок. Но те, кто предал демократические реформы, предпочли личные гарантии власти закона, что и привело Россию к фашистской диктатуре.

    Я прекрасно помню лето 1989 года, когда в СССР миллионы людей приникли к радиоприемникам, слушая дебаты на первом съезде народных депутатов. Они впервые увидели, как обсуждаются и принимаются законы и как всемогущее политбюро бессильно против них. Затем были демонстрации и митинги, выборы 1990 года в парламенты союзных республик — и готовность Михаила Горбачева уступить новым властям, в конечном счете — воле народа.

    Этой готовности никогда не было у Бориса Ельцина, заложившего традиции современных дешевого популизма, семейственности и клановости, манипулятивной политики и непреодолимой заботы о награбленных деньгах. Предательство демократии действительно состоялось в начале, а не конце 1990-х — и тут авторы фильма совершенно правы.[/bilingbox]

    erschienen am 23.04.2024, Original

    Aussprache mit Chance auf Versöhnung

    Der Galerist Marat Gelman war in den 1990er Jahren selbst Politikberater und räumt eine Mitschuld ein:

    [bilingbox]Nach dem FBK-Film sollten andere Journalisten mit jenen sprechen, die noch leben, damit sie ihre Sicht der Dinge darlegen. Die Augenzeugen dieser Ereignisse sollten aus heutiger Perspektive ihre Einschätzung abgeben und nicht schweigen. Ich glaube übrigens nicht, dass dies zu Uneinigkeit in der Opposition führen wird. Im Gegenteil, nach einer Aussprache, kann es zu einer Einigung kommen. Ohne verborgenen Groll. ~~~Я думаю надо историю поднять. И потом, после фильма ФБК, другим журналистам поговорить с теми кто еще жив, и пусть они выскажут свой взгляд на происходящее. Я не знаю, может окажется что Путин не мог не прийти. Я так не считаю, но вдруг. И участники тех событий должны дать оценку из сегодняшнего дня, а не молчать.[/bilingbox]

    erschienen am 17.04.2024, Original

    Der Film ist ein einziges klassisches Ressentiment

    Der Publizist Alexander Morosow lässt kein gutes Haar an der FBK-Produktion

    [bilingbox]In gewisser Hinsicht ist das der beste Beweis, nicht eines „putinschen“, sondern eines „liberalen“ Ressentiments. Das gesamte Narrativ des Films ist ein einziges klassisches Ressentiment: eine Kombination aus Demütigung, dem Erleiden einer Niederlage durch die „Verschwörung der Feinde“, multipliziert mit Heldenpose und moralischer Überlegenheit.~~~В каком-то смысле это лучшее свидетельство не "путинского", а "либерального" ресентимента. Весь нарратив фильма – это просто классический ресентимент: совмещение униженности, переживания поражения из-за "заговора врагов", помноженные на чувство героического превосходства и моральной правоты.[/bilingbox]

    erschienen am 20.04.2024, Original

    Vor dem Hintergrund des autoritären Drifts erscheint die Rolle der 1990er in neuem Licht 

    Durch den Angriff auf andere Oppositionelle könnten Nawalnys Mitstreiter Verbündete verlieren, warnt Ilja Matwejew:

    [bilingbox]Pewtschich hat eindeutig einen Nerv getroffen: Die Ereignisse der 1990er Jahre, die einerseits den Weg für den Putinismus ebneten und andererseits Akteure in den Vordergrund rückten, von denen viele später unter dem Putinismus litten – wie Michail Chodorkowski, der mehr als zehn Jahre im Gefängnis saß. Einerseits wird hier zum ersten Mal laut benannt, dass die Rolle der 1990er Jahre im Angesicht des darauf folgenden autoritären Drifts neu gedacht werden muss, andererseits bleibt bislang unklar, wie die ganze Sache endet. 

    Pewtschich hat es geschafft, sich mit den rechtsliberalen Oppositionellen anzulegen, die sie zum Teil de facto als „Verräter“ bezeichnet hat. Aber kann denn der Fonds für Korruptionsbekämpfung ein Alternativprogramm und einen Aktionsplan anbieten, die einen solch heftigen Bruch rechtfertigen würden? Mit anderen Worten: Der FBK verliert Verbündete – aber kann er weiterhin eine Führungsrolle übernehmen? Auf diese Fragen gibt es bislang keine eindeutigen Antworten, doch die Ideen-Krise sowohl in der Opposition allgemein als auch speziell im FBK dauert an, so dass das Ergebnis möglicherweise nicht erquicklich sein wird – Pewtschichs großtönende Serie wird dann zu einem Sturm im Wasserglas.~~~Певчих явно нажала на больной нерв — события 1990-х годов, которые, с одной стороны, подготовили почву для путинизма, а с другой, выдвинули на первый план действующих лиц, многие из которых впоследствии от путинизма пострадали, как Михаил Ходорковский, отсидевший в тюрьме более 10 лет. С одной стороны, впервые так громко прозвучала реплика, переосмысляющая роль 1990-х годов в последующем авторитарном дрейфе, с другой стороны, пока непонятно, чем закончится история с сериалом. 

    Певчих сумела рассориться с праволиберальными оппозиционерами, часть из которых она фактически назвала «предателями», но сможет ли ФБК предложить альтернативную программу и план действий, которые оправдали бы столь мощный разрыв? Другими словами, ФБК теряет союзников, но сможет ли он оставаться лидером? На эти вопросы пока нельзя дать однозначного ответа, но кризис идей в оппозиции в целом и в ФБК в частности продолжается, так что итог может оказаться неутешительным — громкий сериал Певчих станет бурей в стакане воды.[/bilingbox]

    erschienen am 25.04.2024, Original 

    Die 1990er ohne romantischen Kitsch 

    Der Journalist Farid Bektemirow begrüßt, dass die Opposition die 1990er Jahre nicht länger verklärt:

    [bilingbox]In meinen Augen ist der Film nichts Neues (in dem Sinne, dass die vorgestellten Fakten weitgehend bekannt und sehr grob nachgezeichnet sind). Aber als Ausgangspunkt der nicht enden wollende Debatte über das Russland der 1990er Jahre ist er durchaus geeignet. Immerhin beschreibt er das Verhältnis von Staatmacht und Volk in jenen Jahren ohne die sonst übliche romantische Verklärung der Liberalen. Und ohne diesen nostalgischen Kitsch wirkt die Realität höchst unattraktiv, verachtenswert und – in der Tat – verräterisch.~~~По мне, ролик, конечно, базовый (в смысле факты в нём по большей части общеизвестные и даны широкими мазками), но вполне работающий как точка входа в бесконечную тему российских 90-х с довольно точным описанием отношений власти и народа в те годы, просто лишённым привычного для либералов романтического флёра. А без этого флёра и ностальгии происходившее и правда выглядит крайне неприглядно, подло и – совершенно верно – предательски. [/bilingbox]

    erschienen am 20.04.2024, Original

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    Diejenigen, die sich noch an Michail Borsykin erinnern, nennen ihn eine Legende. Aber es erinnern sich nicht mehr viele an den Musiker, der in der Zeit des großen Umbruchs Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre bekannt wurde. Kein Wunder: Während andere Bands Stadionhits komponierten, wollte er sich keinem Trend anpassen. Das galt auch politisch. Wladimir Putin war ihm von Anfang an suspekt. 2014, als Russland nach der Krim-Annexion im patriotischen Taumel lag, schrieb er das Lied „Vergib uns, Ukraine“. Als Putin acht Jahre später den großen Angriff startete, verließ er das Land. In einer kleinen Stadt an der Küste von Montenegro betreibt er gemeinsam mit einem Schauspielerpaar aus der Ukraine ein Theater. Die Vorstellungen sind ausverkauft. 

    Michail Borsykin auf einem Konzert in Budva am 19. Januar 2024 / Foto © Waleri Wassilewski
    Michail Borsykin auf einem Konzert in Budva am 19. Januar 2024 / Foto © Waleri Wassilewski

    Neulich rief während der Theater-Aufführung jemand die Polizei. Das Stück Almar von Alexander Gelman wurde in Montenegro gespielt, in einem kleinen Saal zwischen Budva und Bečići. Die Nachbarn hatten die Polizei gerufen. Eine Mitarbeiterin des Theaters bat die Polizisten, die Schauspieler noch zu Ende spielen zu lassen, es würde nur noch eine halbe Stunde dauern. Die Polizisten sagten: Gut, aber der da soll nicht so laut singen. Wer da so laut gesungen hatte, war Michail Borsykin.   

    Die Sankt Petersburger Band Telewisor ist eine besondere Band. Auch wer kein dezidierter Fan ist, kennt die Songs S wami goworit telewisor (dt. Hier spricht Ihr Fernseher) und Twoi papa – faschist (dt. Dein Papa ist ein Faschist). In den 1990er Jahren, als in Russland Rock vorübergehend zum Showbusiness wurde, blieb Telewisor sich treu. Sie mussten nicht unbedingt Stadien füllen und schrieben keine Songs, zu denen man sich auf den Tribünen in den Armen lag und brennende Feuerzeuge schwenkte. 

    Seit zwei Jahren lebt Michail Borsykin im montenegrinischen Urlaubsort Budva und vermisst Sankt Petersburg kein bisschen – die Ästhetik einer Megapolis bedrückt ihn, wie er sagt, während ihn die kleinen Städtchen hier irgendwie an seine Kindheit in Pjatigorsk erinnern. 

    Zusammen mit den ukrainischen Schauspielern Katarina Sintschillo und Wiktor Koschel gründete er in Budva das European Art Community Theater (EuroACT). 

    Anfang der 1990er Jahre – es war eine Euphorie mit Tränen in den Augen

    „Anfang der Neunziger war ich euphorisch, so wie alle damals“, erzählt Boryskin. „Das war eine Zeit der Innenschau: Wir dachten, wir könnten unser soziales Umfeld vergessen und uns endlich mit uns selbst beschäftigen. Doch auch da trat allerhand Schreckliches zutage. Also, es war eine Euphorie mit Tränen in den Augen. Als in der zweiten Hälfte der Neunziger der Tschetschenienkrieg begann, wurde mir klar, dass keineswegs alles so eindeutig ist, wie es heute so schön heißt. Irgendwo war Jelzin falsch abgebogen und kriminelle Energien wurden frei, die vorher geschlummert hatten – all diese Geheimdienstler und Geschäftsmänner.

    Unübersehbar verschmolzen Banditenmilieu und Geheimdienste, man erinnere sich nur an Kumarins und Putins gemeinsame Partys in Sankt Petersburg. Und dann trugen die plötzlich alle Schulterklappen, und es wurde ungemütlich. 

    Im Jahr 2000 war ich noch in einer Art Schockstarre. Putin konnte ich vom ersten Tag an nicht leiden – auf psychophysiologischer Ebene. Aber ich hielt ihn für eine temporäre Erscheinung, eine technische Übergangsfigur, die man als nichts Besonderes ausgesucht hatte. Dabei hat er anscheinend sein ganzes Leben der Aufgabe gewidmet, niemand Besonderer zu sein. 2002 begann schon die Panik, und nach Chodorkowskis Verhaftung war endgültig alles klar. 2017 ging ich mit einem Guest-Writer-Programm für ein paar Jahre nach Schweden. Ich sah bereits, dass die Zeit der friedlichen Proteste vorbei war und wir zum bewaffneten Widerstand übergehen müssten. Dazu war ich aber innerlich nicht bereit, weswegen ich anfing, über Emigration nachzudenken. Zehn Jahre, von 2007 bis 2017, hatte ich aktiv an Demos teilgenommen, die sukzessive zum Schweigen gebracht wurden, obwohl es natürlich auch Highlights gab. Dann kamen die weißen Luftballons und die Gummi-Enten – ich lief nur noch mit, um mein Gewissen zu beruhigen, denn die Zwecklosigkeit dieses Zivilgesellschaft-Spielens war mir sonnenklar. Russland war nicht Indien, ein Gandhi fand sich bei uns nicht. Es gibt die Ansicht, dass gewaltlose Proteste effektiver sind, das bestätigen sogar statistische Daten. Aber das gilt nicht für alle und nicht immer. Auf Russland trifft diese Statistik nicht zu. Während wir mit Taschenlampen und Gummi-Enten marschierten, wurden sie nur noch stärker und sammelten Kräfte, bis sie uns alle schließlich zerschmetterten. Ich schob meine Abreise lange hinaus. Ich hoffte, dieser große Krieg würde doch noch ausbleiben. Obwohl alles darauf hinwies, dass er jeden Moment beginnen würde. Aber so viele politische Analysten ringsum behaupteten netterweise das Gegenteil. Als es losging, besorgte ich mir ein Ticket und flog davon.“          

    Es gibt keine Rechtfertigung, den Bruder als Feind zu sehen.
    Das bedeutet jahrelanges Leiden und Jahrhunderte der Schande.
    Du und ich, wir sind schuld,
    der Freiheit unwürdige Söhne,
    mit Watte im Kopf,
    die Herzen in Gefangenschaft des Kriegs. 

    Das ist von Borsykin. 

    An Protesten hat Michail Borsykin immer teilgenommen. Als 1988 in Leningrad ein Rock-Festival abgesagt wurde, war er es, der die Leute, die sich Eintrittskarten kaufen wollten, zum Smolny führte. Auf dem Weg dahin schlossen sich ihnen Passanten an, die fragten, wohin sie gingen. Als sie vom Verbot des Rock-Festivals erfuhren, liefen sie mit. Beim Taurischen Park wurden sie von der Polizei gestoppt, der Vorsitzende des Rock-Clubs wurde zu einem Gespräch zitiert, man wartete ohne große Hoffnungen draußen, doch zu aller Überraschung wurde das Festival genehmigt und nicht einer der Demonstranten wurde festgenommen.

    Dann ging Telewisor auf Europa-Tournee, richtete sich ein eigenes Tonstudio ein und nahm ein Album auf. Und wechselte fast alle Bandmitglieder aus.  

    Wir wollten zur globalen Musikkultur gehören

    „Wir fingen an, das Album aufzunehmen“, erinnert sich Borsykin, „und merkten, dass die Musik einiger unserer Kollegen einen kommerziellen, massentauglichen Touch bekommen hatte. Da trafen wir die snobistische Entscheidung, das alles nicht mitzumachen. Wir hatten nichts gegen große Auftritte, spielten manchmal auch in Stadien, wollten uns aber von diesem Trend nicht vereinnahmen lassen.

    Sie kennen ja diesen Einheitsbrei – eine simple Melodie und die ewige Verbrüderung mit dem ganzen Volk. Seichte Hits wie Oj-jo sind ein typisches Beispiel. Viele Musiker prägten später den Begriff gownorok (dt. Kackrock) für so etwas – für diese stadionfüllenden Schlager mit gemeinsam gegröltem Refrain zum Mitklatschen. Dieser Weg widerstrebte uns: Wir sahen uns als Absolventen der europäischen Schule und wollten zur globalen Musikkultur gehören. Es ging alles in die falsche Richtung, und das passte uns nicht. Unsere Songs waren zu individualistisch und sogar misanthropisch – damit lässt sich kein Zusammengehörigkeitsgefühl erzeugen und auch kein Geld verdienen. Das wirkte sich natürlich auf die Zahl unserer Konzerte aus und führte zu gewissen Problemen untereinander. Deswegen verabschiedeten wir uns von unserer bisherigen Besetzung. Einer ging zu Nautilus, ein anderer zu Grebenschtschikow, und ich suchte mir neue Leute.“



    Die Band Telewisor bei einem Live-Auftritt mit ihrem Song „Twoi papa – faschist“

    Das Album Metschta samoubizy (dt. Traum eines Selbstmörders), das die Band nach ihrer Rückkehr von der Europa-Tournee 1991 aufnahm, enthält die phänomenale Nummer Twoi papa – faschist (dt. Dein Papa ist ein Faschist), die nie an Aktualität verliert und nicht nach der guten alten Zeit klingt, in der die Mädchen noch jünger waren. Borsykin sagt, dass sie alle zwei, drei Jahre einfach wieder zu schwingen beginnt, zu vibrieren, mit der Umgebung zu interagieren und in neuen Farben zu schillern. Doch in den 1990er Jahren waren solche Lieder wirklich nichts für große Konzerthallen. Und Michail Borsykin wurde so was wie ein weißer Rabe oder ein schwarzes Schaf, er hob sich von der Masse ab, war unkonventionell, zu hart und zu wütend für die damalige Zeit. Und als sich zehn Jahre später die Zeiten änderten, bemerkten das viele erst einmal gar nicht.                

    Den Song Verzeih uns, Ukraine schrieb Michail Borsykin 2014

    Den Song Ty prosti nas, Ukraina (dt. Verzeih uns, Ukraine) schrieb Michail Borsykin 2014. Acht Jahre später nahm er im Sommer 2022 an einem Benefiz-Festival für ukrainische Flüchtlinge teil, das der Fonds Pristanischte (dt. Dock) in Budva in Montenegro veranstaltete. Er übte mit montenegrinischen Musikern zwei Songs ein – die bereits erwähnten Ty prosti nas, Ukraina und S wami goworit telewisor. Sie waren am Schluss an der Reihe, als es schon dunkel war. Die Scheinwerfer gingen aus, nur das Diskolicht flackerte. Der Beleuchter war aber nach Bali geflogen, erzählt Borsykin, und man konnte ihn nicht anrufen und fragen, wie man diese kitschigen Funzeln bedient. Also sang er fast im Dunkeln, griff am Keyboard immer wieder daneben. Im Publikum saßen Katarina Sintschillo und Viktor Koschel, zwei Schauspieler aus der Ukraine. An dieser Stelle würde man gern schreiben: Und damit nahm alles seinen Anfang.   

    Viktor Koschel ist verdienter Künstler der Ukraine, er spielte viele Jahre lang im Kyjiwer Lessja-Ukrajinka-Theater. Zusammen mit Katarina hatte er 13 Jahre zuvor das KChAT gegründet – das Klassische Alternative Künstlertheater, eines der landesweit größten unabhängigen Ensembletheater mit 13 Stücken im Repertoire. Als der großangelegte Einmarsch begann, wurden alle Theater geschlossen. 

    Katarina rief im Kulturministerium an und schlug vor, in der Metro Konzerte zu organisieren, weil es in vielen Häusern keine Bunker gab und die Kyjiwer unten in den Stationen Schutz suchten.

    Im Ministerium hatten sie aber gerade andere Sorgen, also begannen Katarina und Viktor, jeden Abend kleine Sendungen mit Gedichten, Liedern und Ansprachen aufzunehmen und zur moralischen Unterstützung der Menschen, die sich der Territorialverteidigung anschlossen, ins Netz zu stellen. Die Concierges waren geflüchtet, die jungen Männer waren an der Front oder in der Territorialverteidigung, und die restlichen paar Männer mittleren Alters teilten sich die Wachdienste auf, um das Haus vor Saboteuren und Plünderern zu schützen.      

    „Ich war vor allem im Nachtdienst“, erinnert sich Viktor Koschel. „Wenn ich nach Hause kam, war Katja wach. Sie schlief nicht mehr. Dann fing sie an, übertrieben heftig zu reagieren, sogar auf ganz kleine Alltagssorgen. Sie war am Durchdrehen, hielt das alles nervlich nicht aus. Wir wollten nicht weg, aber es war an der Zeit, sich um ihre mentale Gesundheit zu kümmern. Vor dem Krieg waren wir acht Jahre hintereinander in den Urlaub nach Montenegro gefahren, immer in dasselbe Ferienhaus in Dobrota bei Kotor. Der Vermieter der Apartments hatte uns gleich am Tag nach Kriegsbeginn geschrieben, dass wir kommen sollen, er nehme uns auf. Kostenlos. Hier wisse man, was Krieg bedeutet. Innerhalb von einer Stunde hatten wir gepackt.“  

    In Montenegro blieben Katarina und Viktor nicht am Strand sitzen, um ihr Trauma zu bewältigen, sondern begannen sofort, nach Arbeitsmöglichkeiten zu suchen. Sie wandten sich mit der Idee, ein Konzert mit ukrainischen Liedern zu veranstalten, an die Direktorin einer Galerie in der Altstadt von Budva. Die Direktorin sagte dasselbe wie der Vermieter des Ferienhauses: Wir wissen, was Krieg ist. Plakate und Flyer druckte die Galerie auf eigene Kosten, und jeden Monat gab es ein oder sogar mehrere Konzerte. Doch das Theater fehlte trotzdem.     

    Nach 50 Tagen Krieg in Kyjiw war es schwierig, die posttraumatische Belastungsstörung zu überwinden. Viktor und Katarina konnten kein Russisch mehr hören, sprachen nur noch Ukrainisch miteinander, obwohl ihr Kyjiwer Theater zweisprachig gewesen war: Die Hälfte der Vorstellungen war Ukrainisch, die andere Russisch.

    Psychologen meinten, sie müssten sich ausweinen, aber sie konnten nicht. Ihre Augen brannten vor Trockenheit. Und dann besuchten sie jenes Musikfestival in Budva, hörten Michail Borsykins „Verzeih uns, Ukraine“, und endlich flossen die Tränen.

    „Eine so kraftvolle Kombination aus Musik und Text habe ich noch nie gehört“, sagt Katarina. „Viktor und ich weinten uns aus und bekamen Lust, mit diesem Mann zusammenzuarbeiten. Und – stellen Sie sich vor: Am selben Abend, es war schon ganz dunkel, bemerkten wir an einer Kreuzung eine Silhouette, in der wir Borsykin erkannten, und riefen: ‚Maestro!‘ Auf der Bühne war es genauso dunkel gewesen wie jetzt auf der Straße, trotzdem hatte Viktor ihn erkannt. Wir gingen zu ihm hin und sagten, dass wir gern mit ihm arbeiten würden. Obwohl das angesichts unseres Repertoires bedeutete, das Unvereinbare zu vereinbaren. Doch Mischa macht nun Mal tolle Rock-Versionen ukrainischer Lieder.“

    Die Konzerte bestanden immer aus drei Teilen: zuerst sang Viktor Koschel ukrainische Lieder, dann kamen ukrainische Lieder in Borsykins Bearbeitung und gemeinsamer Interpretation und dann eigene Songs von Borsykin. Viktor war ein guter Ukrainisch-Lehrer: Geduldig brachte er Borsykin die Aussprache bei, der jetzt jedes paljanyzja so aussprechen kann, dass er nicht von einem Ukrainer zu unterscheiden ist. Im Gegenzug war Borsykin Viktor ein strenger und anspruchsvoller Gesangslehrer.         

    Sehr schwer war es, erzählt Katarina, einen Gitarristen zu finden. Viele wurden beim Bewerbungsgespräch oder während der ersten Probe ausgesiebt. Eben wegen der hohen Ansprüche, die Borsykin an ihre musikalische Ausbildung stellte. Mit vereinten Kräften fanden sie schließlich Dima aus Dnepro, und endlich kann Borsykin sich auf der Bühne ganz dem „Zappeln und Winken“ widmen, wie er es selbst nennt.

    Viktor Koschel und Katerina Sintschillo im Stück "Jewreisskije Tschassy" am 26. Januar 2024 / Foto © Walerie Wassilewski
    Viktor Koschel und Katerina Sintschillo im Stück „Jewreisskije Tschassy“ am 26. Januar 2024 / Foto © Walerie Wassilewski

    Als das Programm fertig war, begann Katarina, nach Bühnen für mögliche Auftritte zu suchen. Sie ging in große Restaurants und sagte: „Im Winter ist bei euch sowieso nichts los, lasst uns einen Art-Club gründen!“ Fast ein Jahr lang tingelten sie von Bühne zu Bühne, die Katarina fand. Zum Tag des Theaters am 27. März wollten sie dann ein Stück spielen. Indessen hatten in Montenegro Schauspieler Fuß gefasst, die aus verschiedenen Städten und Theatern Russlands gekommen waren: aus Sankt Petersburg, Ischewsk, Krasnodar. Katarina und Wiktor entschieden sich für Tschechows Tschaika (Die Möwe) – zum Tag des Theaters sollte auch das Stück vom Theater handeln. In Kyjiw hatten sie für eine Produktion immer neun Monate eingeplant, hier schafften sie es in einem. Obwohl viele Schauspieler auf Baustellen und in Bäckereien arbeiteten und nur in ihrer Freizeit proben konnten. Aber alle hatten ihren Beruf so sehr vermisst, dass sie innerhalb eines Monats bereit für die Aufführung waren. Den Proberaum hatte Marat Gelman zur Verfügung gestellt, der ihn sich einmal als Lager für seine Bilder gekauft hatte. So befand sich die Bühne in einer Art Lager oder Galerie. Es kamen so viele Leute, dass sie auf Teppichen auf dem Boden sitzen mussten, weil nicht genug Stühle da waren, und in der Loge stehen mussten. Am zweiten Abend schlug Gelman vor: Gründet ein Theater, einen Raum habt ihr ja schon, ihr kriegt alles hin.    

    „Zur Eröffnung wollten wir etwas aus der ukrainischen Klassik spielen: Johanna von Lessja Ukrajinka. Die Möwe hatten wir schon, und dann kam noch Alexander Gelmans Stück Almar dazu – über die Liebe zwischen Albert Einstein und Margarita Konjonkowa. Plus ein abendfüllendes Konzert mit Michail Borsykin. Marat Gelman fragte: Mögt ihr Borsykin? Wollt ihr ihn zum musikalischen Leiter des Theaters machen? Natürlich wollen wir das, natürlich, wir lieben ihn!“

    So entstand innerhalb von nur drei Monaten ein Theater. Der Saal, in dem jetzt gespielt wird und früher Bilder aufbewahrt wurden, funktioniert wie ein Baukasten. Es gibt keine Bühne, die Schauspieler spielen eine Armlänge vom Publikum entfernt, und jedes Mal stehen die Stühle anders. Bei Almar längs, bei der Möwe quer, bei Pridurki (Dummköpfe) im rechten Winkel. Im Saal haben maximal 50 Zuschauer Platz, wenn sie sich quetschen wie die Sardinen. Das Bühnenbild ist minimalistisch – logisch, wenn das Theater lediglich über Tische und Stühle verfügt. Katarinas und Viktors Fantasie kennt allerdings keine Grenzen.    

    Nur bei Almar steht in der Ecke noch ein Keyboard, an dem Michail Borsykin sitzt. Das Zusammenwirken seiner Lieder mit Gelmans Drama und Sintschillos und Koschels glänzendem Spiel als Konjonkowa und Einstein ist nicht nur ein Theaterstück, sondern eine überraschend harmonische Kombination aus Rock-Konzert und Drama. „Mit unserem Krieg retten wir uns vor einem noch schrecklicheren Krieg“ [Swojeju woinoi my budem spassatsja ot boleje straschnoi woiny] klingt, als wäre es extra für dieses Stück verfasst worden. Doch Borsykin hat nichts extra geschrieben – Katarina hat die Songs für die Inszenierung ausgesucht.

    Viktor Koschel sagt, er habe Borsykin schon fast gehasst, weil seine Frau mehrere Wochen lang jeden Morgen Telewisor aufdrehte und bis zum Abend hörte. Die Songs, die sie aussuchte – von Schestwije ryb (dt. Marsch der Fische) aus dem ersten Album bis Krasny sneg (dt. Roter Schnee) aus dem letzten –, klingen tatsächlich ähnlich aktuell und wichtig sowohl für heute als auch für gestern oder jenen Frühherbst 1945, in dem Einstein sich von Margarita verabschiedete.

    Auf dem Plakat zu Almar steht: mit der Rock-Legende Michail Borsykin. Doch zu Ehrentiteln wie Rock-Legende oder Grundpfeiler des sowjetischen Rock sagt Michail immer nur: „Schreibt lieber so was wie ‚stand am Ursprung der Neoromantik‘ oder ‚an der Quelle von Dark Wave‘. Telewisor ist stilistisch nicht wirklich Rock, eher New Wave. Reiner, klassischer Rock war nie das, wofür sich meine Band begeisterte.“ Aber was mal auf einem Plakat steht, ist fix.        

    „Bei Almar wollte ich nur mitspielen. Das war mein Beitrag zur tätigen Reue. Ich bezwang meine Star-Allüren: Ich war immer mein eigener Herr gewesen, hatte selbst Regie geführt, auf meiner eigenen Bühne. Und auf einmal wurden meine Songs zurechtgeschnitten und anders zusammengebaut: Hier zwei Strophen, hier drei, und hier ohne Refrain. Ich fügte mich dem Ton, den Katarina vorgab.“

    Jetzt hat das Theater Tschechows Medwed (Der Bär), das Ein-Mann-Stück Tri goda (Drei Jahre), ebenfalls nach Tschechow, Jewreiskije tschassy (Die jüdische Uhr) der ukrainischen Dramenautoren Sergej Kisseljow und Andrej Ruschkowski und Pridurki (Dummköpfe) von Alexander Karabtschijewski im Repertoire. Insgesamt in diesem knappen Jahr sieben Stücke und drei Konzerte.    

    „Wir wiederholen jetzt, in einem fremden Land, was wir in Kyjiw schon einmal geschafft haben“, sagt Katarina. „Wir hätten in Kyjiw eigentlich noch eine kleine Bühne eröffnen wollen, es war schon fast soweit. Unsere Hauptbühne befand sich im Haus des Schauspielers, das sie immer abreißen wollten, um stattdessen eine Bank hinzubauen oder einfach, um es zu verkaufen. Das gab uns den Anstoß, auf die Barrikaden zu gehen, zu protestieren, uns an den Kyjiwer Bürgermeister Vitali Klitschko zu wenden. Er nannte uns ‚aggressive Intelligenzija‘. Er verstand uns einfach nicht: ‚Wollt ihr sagen, ihr habt keine 30 Millionen für eine anständige Sanierung?‘ 

    Wir saßen wie Studenten mit einer Flasche Wein am Strand und schmiedeten Pläne 

    Und dann saßen wir zu dritt da, Viktor war traurig, Mischa Borsykin war traurig, der eine ein verdienter Künstler, der andere eine Rock-Legende, und alle sahen sich gezwungen, von Null anzufangen und ihr ganzes Leben zurückzulassen. Ich sagte: ‚Was habt ihr denn bloß? Darin steckt unsere große Chance, wieder jung zu sein. Wir sind wieder wie Studenten, bei denen noch nichts fix ist, die mit einer Flasche Wein am Strand sitzen und Zukunftspläne schmieden. Zurück an den Start, ein neues Leben!‘“   

    Ein neues Leben. Auf den Ruinen des alten. Eine Flasche Wein für drei. An allen Enden der Welt sitzen sie jetzt genauso im Sand, auf dem Asphalt, auf dem Sofa – Menschen, die vor Krieg und Gefängnis geflüchtet sind, bei denen genauso nichts fix ist, die nicht wissen, wie es weitergeht. Vorerst in einem kleinen Dorf zwischen Budva und Bečići, in einem halbdunklen Saal, in dem noch vor einem Jahr Bilder gelagert wurden und sich jetzt Sintschillo als Arkadina aus der Tschaika mal im feurig folkloristischen Tanz dreht, mal als Phaidra Trigorin zu Füßen sinkt, während Koschel als Einstein die Eifersucht quält und Borsykin in der Ecke am Keyboard mal vom Tod und mal vom Glück singt. Dann scheint alles möglich, und die Verzweiflung schwindet mit der Ebbe. Der Weltuntergang ist ausgeblieben – Borsykin hat ihn abgewendet. 

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  • „Russland braucht jetzt ein solches Belarus“

    „Russland braucht jetzt ein solches Belarus“

    Mit keinem anderen Staatsführer trifft sich Wladimir Putin derart häufig wie mit seinem belarussischen Kollegen Alexander Lukaschenko. Vor allem seit dem Beginn der Proteste in Belarus im Jahr 2020 und seit Beginn der russischen Großinvasion in die Ukraine hat die Anzahl der Besuche, die bis auf zwei Ausnahmen allesamt in Russland stattfanden, deutlich zugenommen. Die Gründe sind klar: Lukaschenko ist für Putin trotz aller Differenzen in der Vergangenheit der loyalste Verbündete; der russische Präsident hält dem belarussischen Diktator im Gegenzug den Rücken frei, unterstützt ihn wirtschaftlich, versucht aber gleichzeitig, den russischen Einfluss in Belarus weiter zu erhöhen. Erstaunlich ist dabei immer wieder, wie Lukaschenko für sich Vorteile auszumachen versucht, obwohl er weiß, dass er sich gegenüber dem Kreml in der deutlich schwächeren Position befindet. 

    Nun war Lukaschenko Ende vergangener Woche wieder in Moskau, es war bereits das zweite Treffen zwischen den beiden Staatenführern in diesem Jahr. Die Treffen werden in unabhängigen belarussischen Medien regelmäßig eingehend diskutiert. Dabei standen diesmal vor allem diese Fragen im Vordergrund: Welche aktuelle Rolle spielt Lukaschenko für Putin im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine? Könnte Belarus immer noch mit eigenen Truppen eingreifen? Oder wäre es dem Kreml dienlicher, wenn Lukaschenko Russland mit seinen industriellen Möglichkeiten im Kampf gegen die Sanktionsauswirkungen unterstützt und er für den Fall, dass es doch irgendwann zu Verhandlungen mit der Ukraine kommen sollte, die Rolle des „Friedensstifters“ für Putin übernimmt? Der belarussische Journalist Alexander Klaskowski gibt in seiner Analyse für das Online-Medium Pozirk Antworten auf diese und andere Fragen.

    Alexander Lukaschenko teilte bei seinem Besuch im Kreml am 12. April vor Journalisten mit: „Ich bestreite ja nicht, dass wir ein Co-Aggressor sind“. Dabei unterstrich er aber auch: „Jeder erfüllt seine Aufgabe.“ Anders gesagt, Wladimir Putin und Lukaschenko haben sich offenbar auf eine Aufgabenteilung in der ukrainischen Frage (und darüber hinaus) geeinigt. Diese spezielle Aufgabenteilung zeigte sich auch darin, dass der Gast während seines aktuellen Besuchs als Sprachrohr des Kreml zum Thema Friedensgespräche mit Kyjiw fungierte. Er trat vehement dafür ein, die Verhandlungen von Istanbul 2022 als Grundlage zu nehmen und diskreditierte die für Juni geplante Konferenz in der Schweiz, zu der Moskau nicht eingeladen wurde. Putin pflichtete – wie es sich für einen Zaren ziemt – großmütig bei. 

    Selbst wenn Lukaschenko zugibt, Co-Aggressor zu sein, hindert ihn das nicht daran, als Friedensstifter aufzutreten. Den ukrainischen Präsidenten, den er viele Male beleidigt und als politischen Jungspund deklassiert hat, nannte er diesmal höflich beim Vor- und Vatersnamen. Kurzum, er ist ein Großmeister im Herumlavieren. 

    Russland braucht jetzt ein solches Belarus

    Die Moskauer Journalisten fragten Lukaschenko, wie hoch er die Wahrscheinlichkeit einschätze, dass Belarus in die Kampfhandlungen eintreten müsse. Die Antwort lautete: „Eine solche Notwendigkeit gibt es nicht. Und eine solche Notwendigkeit wird es auch nicht geben.“

    Es folgten Argumente, die der belarussische Machthaber vermutlich wiederholt vor Putin von Angesicht zu Angesicht ausgebreitet hat. Heute scheint zwischen ihnen in dieser Hinsicht Konsens zu herrschen. Lukaschenko sagte: „Russland braucht jetzt ein solches Belarus – friedlich, still und ruhig, das seine Aufgabe erfüllt. Im Einzelnen werde ich Ihnen nicht erzählen, womit wir uns beschäftigen“. 

    Im Grunde kann man erraten, dass es vor allem um die Unterstützung des kriegsführenden Russland bei der Produktion von Nachschub geht – sowohl im zivilen Sektor (im Zuge der Sanktionen und der Abwanderung westlicher Firmen aus Russland sind einige Lücken entstanden) als auch im militärischen Bereich. Unter anderem hilft Minsk Moskau dabei, mithilfe von Grauimporten die Sanktionsauswirkungen zu mildern. 

    Des Weiteren erklärte Lukaschenko offen, dass es derzeit selbstmörderisch sei, sich von Belarus aus in der Ukraine einzumischen. Erstens sei „deren Grenze zu Belarus verbarrikadiert – da ist kein Rankommen. Sie ist vollständig vermint und zubetoniert, und es stehen 120.000 ukrainische Soldaten an dieser Grenze.“ 

    Zweitens, so erklärte er, würde sich in diesem Fall die Front um 1000 Kilometer – nämlich um die Länge der belarussischen Grenze mit der Ukraine, Polen und den baltischen Staaten – verlängern (jaja, die aggressiven NATO-Staaten warten nur darauf!): „Wenn wir in den Krieg eintreten, müssen wir diese Front sichern. Können wir das? Wir können das nicht. Ich sage Ihnen: Wir können das nicht. Wollen wir Probleme? Nein, wollen wir nicht.“

    Und ein weiterer Punkt: „Die Hälfte unseres Landes liegt im Hundertkilometerradius von Kyjiw (hier übertreibt er in seinem üblichen Stil – Anm. d. A.). Auch die Erdölraffinerie in Mosyr, die zum Glück bislang ohne Einschränkung arbeitet, sie wurde modernisiert, und auch die Russen tanken Benzin aus der Raffinerie Mosyr.“ Es ist anzunehmen, dass Lukaschenko faktisch wiederholt hat, was er auch Putin in ihren Tête-à-Têtes dargelegt hat. Und der ist mit dieser Argumentation bis heute mehr oder weniger einverstanden: Besser keine schlafenden Hunde wecken. Andernfalls hätte Lukaschenko keine solche Überzeugung ausgestrahlt. 

    Die Tatsache, dass der belarussische Machthaber wieder zwei Tage bei seinem Großen Bruder zu Gast war und gemeinsam mit ihm die Kosmonauten ehrte, spricht alles in allem dafür, dass zwischen ihnen gegenseitiges Verständnis eingekehrt ist. Die von einigen Kommentatoren überspitzte Version, Putin würde seinem Partner wieder und wieder verzweifelt die Daumenschrauben anziehen, erscheint eher unwahrscheinlich.

    Der Klassiker: Rückendeckung für die „russischen Brüder“ 

    Die beiden Herrscher reagierten auch auf die Äußerungen ihrer politischen Gegner und einer Reihe von Experten, dass laut Lukaschenko „Putin und Lukaschenko morgen Europa einnehmen wollen“. Der belarussische Regent versicherte, man habe „niemals solche Pläne besprochen“. Der Kremlchef bezeichnete diese Verdächtigungen als Unsinn. Auf der Gegenseite liegt das Vertrauen in die Aussagen der beiden Herrscher verständlicherweise bei Null. Die hatten auch vor dem Einmarsch in die Ukraine 2022 unverfroren versichert, nur gemeinsame Militärübungen durchzuführen

    Damals war jedoch offensichtlich, dass Truppen zusammengezogen wurden, und die Amerikaner warnten in Klartext vor einem anstehenden Überfall. Eine solch schlagkräftige Formation ist heute weder für einen erneuten Marsch auf Kyjiw von belarussischem Territorium aus noch für einen Blitzkrieg zur Einnahme von Vilnius (oder gar Warschau) ersichtlich. Sollte sich eine solche Formation bilden, dann dauert das länger als einen Monat, und würde zudem mit den heutigen Möglichkeiten der Aufklärung klar entdeckt werden. Aktuell ist es für Putin logischer, an den bestehenden Fronten in der Ukraine maximal voranzukommen, um im Falle von Friedensverhandlungen eine möglichst günstige Position zu haben. 

    Selbst wenn Russland eine neue Mobilisierung durchführt, würde das Kanonenfutter am ehesten in der Ukraine gebraucht, vielleicht für den erwarteten Angriff auf Charkiw. In dieser Situation eine weitere Front gegen die NATO zu eröffnen, wäre fraglos eine schlechte Idee.

    Lukaschenko wird hingegen mit Vergnügen den Anschein erwecken, die russischen Brüder vor einer potenziellen NATO-Aggression zu beschützen. Unter anderem behauptet er, sich den westlichen Truppen heldenhaft entgegenstellen zu wollen, sollten sie in der Ukraine auftauchen: „Jetzt haben sie begonnen, von der Verlegung eigener Truppen in die Ukraine zu reden, höchstwahrscheinlich an die Grenze zu Belarus. Wir warten, sollen sie nur kommen.“

    Doch diese Truppenverlegung ist bislang mit einer Heugabel auf Wasser geschrieben, und so oder so ist klar, dass die Franzosen oder auch die Briten nicht in die Offensive gehen würden. Doch Lukaschenko ist es wichtig, Moskau davon zu überzeugen, wie wertvoll seine Mission ist, die verdammten Westler zurückzuhalten, die an den Grenzen des Unionsstaates mit den Panzerketten rasseln. 

    Die Weltraumparty soll weitergehen – die Kosten trägt der große Bruder

    Derweil hat der belarussische Bündnispartner es eilig, Dividenden aus der aktuellen Situation einzustreichen. Am 11. April sagte er im Kreml zu Journalisten: „Wenn wir schon Aggressoren sind, sollten offen gestanden auch die gleichen Bedingungen für die Wirtschaftssubjekte und die Menschen gleich sein.“

    Zwar ist das doppelt gemoppelt, doch der Inhalt ist verständlich. Als einziger Verbündeter des kriegsführenden Imperiums will Minsk ein Maximum an Vorteilen. Im Gespräch mit Putin merkte Lukaschenko an: „Die Kredite, die für gemeinsame Projekte bewilligt wurden – 100 Milliarden Russische Rubel [circa 1 Milliarde Euro – dek] – sind schon zu über 80 Prozent in Projekten umgesetzt.“ Die Andeutung ist klar: Es wäre keine Sünde, noch ein paar Kreditmittel rüberwachsen zu lassen.

    Zudem ist Lukaschenko sichtlich euphorisch ob der Tatsache, dass es locker gelungen ist, auf das russische Raumfahrtprogramm aufzuspringen. Am 26. März rutschte ihm raus, dass der Weltraumflug Belarus 70 Millionen Dollar kosten würde, Russland allerdings diese Ausgaben übernehme. Jetzt überredet Lukaschenko Putin, wieder belarussische Kosmonauten in den Orbit zu schicken. Dem belarussischen Machthaber gefällt eindeutig das Image des Anführers einer Raumfahrernation, und er wünscht sich eine Fortführung der Party, zumal der große Bruder die Kosten dafür übernimmt. 

    Der Wohlstand wackelt, doch Lukaschenko ist es gewohnt, sich herauszuwinden

    In den ersten Wochen der großangelegten Invasion Russlands in der Ukraine, besonders, nachdem die Angreifer bei Kyjiw aufs Maul bekommen hatten, wirkte Lukaschenko nervös und gereizt. Jetzt ist er viel lockerer: Er konnte die Entsendung seiner Truppen in diesen Fleischwolf vorerst abwenden und von Russland neue Produktionsaufträge bekommen. Die russische Armee drängt die Ukrainer zurück. Ein Teil der westlichen Politiker tendiert scheinbar dazu, Kyjiw zu einem Frieden zu ungünstigen Bedingungen zu zwingen. Die Ansichten einiger Kommentatoren, dass Putin den belarussischen Vasallen im Falle eines Friedensabkommens mit der Ukraine weniger schätzen wird, die Subventionen streicht und Belarus als Trostpreis annektiert, kann man anzweifeln. 

    Eine friedliche Verschnaufpause würde Moskau am ehesten nutzen, um Kraft und Ressourcen für eine „Endlösung der Ukraine-Frage“ zu sammeln. Und dann weiterzumachen. Und bei solchen Plänen kann der belarussische Verbündete noch sehr nützlich sein. Warum ihn also verprellen? Wie man sieht, hat sich Lukaschenko, dieser Meister des Manövers, begabt im Springen zwischen Strömungen, unglaublich geschickt an die Situation des großen Krieges in der Nachbarschaft angepasst (und dabei der eigenen Wählerschaft noch das Image des weisen und starken Friedensschützers in die Köpfe gepflanzt). 

    Es steht auf einem anderen Blatt, dass sein Wohlstand arg wacklig ist. Auf dem russischen Markt verschlechtert sich langsam die Stimmung. Bei den Händlern dort haben sich große Produktionsvorräte angesammelt, worüber sich Lukaschenko kürzlich bei einem Branchentreffen empörte. Auch die belarussische Außenhandelsbilanz verschlechtert sich – Äquatorialguinea ist, auch wenn man hundertmal hinfliegt, ein schlechter Ersatz für EU und Ukraine. Die einseitige Orientierung auf den russischen Markt und die Bindung im Bereich der Exportlogistik verstärken die Abhängigkeit vom Imperium. Das Russische Imperium seinerseits, sieht man von der Weltraumprotzerei ab, kann im Bereich innovativer Technologien nicht behilflich sein. Zudem atmet es Aggression, sie ist sein Modus vivendi. Mit einem solchen Großen Bruder kann sich der ganze relative Wohlstand, der heute vorhanden ist, unversehens in Nichts auflösen.
     
    Doch Lukaschenko hat keine Wahl, nach Den Haag will er ja auch nicht. Er ist es gewohnt, sich herauszuwinden, und tut das auch heute, wenn er versucht, selbst aus dem Status des Co-Aggressors den größtmöglichen Gewinn zu pressen.

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    Maria Sacharowa

    Seit 2015 spricht zum ersten Mal in der Geschichte eine Frau für das russische Außenministerium. In Talkshows, auf Social Media und beim wöchentlichen Briefing für die internationalen Korrespondenten erklärt Maria Sacharowa Moskaus Sicht auf die Welt – Lügen und Desinformation inklusive. Mit ihr ist ein neuer Kommunikationsstil in die russische Diplomatie eingezogen: Statt Verbindendes zu betonen und Kompromisse zu suchen, setzt er auf Konfrontation und Provokation.

    Um sich vor Augen zu führen, wie Maria Sacharowa Russlands Auftreten in der Welt geprägt hat, hilft es, drei Namen zu nennen: Alexander Lukaschewitsch, Andrej Nesterenko, Michail Kamynin.1 Wer kennt sie noch? Wahrscheinlich niemand. Und selbst in Russland dürfte sich kaum jemand an ihre Gesichter erinnern. Lukaschewitsch, Nesterenko und Kamynin waren Sacharowas Vorgänger als Sprecher des russischen Außenministeriums: altgediente Diplomaten in grauen Anzügen, die in formelhaften Sätzen Dinge sagten, die sich höchstens Spezialisten merken konnten. 

    Spott, Sarkasmus und Eskalation

    Maria Sacharowa ist in jeder Hinsicht anders: Jeder kennt ihr Gesicht, sie ist dauerpräsent auf allen Kanälen, schrill, bisweilen vulgär, und bei manchem, was sie sagt, würde man sich wünschen, man könnte es schnell wieder vergessen. Anstelle diplomatischer Formeln sind Spott und Sarkasmus ihre rhetorischen Mittel. Wenn sie nicht gerade in den Talkshows staatlicher Propaganda-Kanäle auf den verlogenen Westen und die Nazis in Kyjiw schimpft, setzt sie diese Agenda auf Facebook und auf ihrem Telegram-Kanal fort, gerne auch in Reimform.2 Dafür hat sie umso mehr Zeit, seit sie weniger auf Dienstreisen geht: Die Beziehungen mit Europa und den USA liegen seit dem russischen Überfall auf die Ukraine auf Eis, und auch der Name der Außenamtssprecherin steht auf den Sanktionslisten in Berlin, Brüssel und Washington.

    Die Ernennung von Maria Sacharowa zur Sprecherin des russischen Außenministeriums im August 2015 markiert tatsächlich einen Wendepunkt. Sowjetische und russische Diplomaten waren nie leichte Verhandlungspartner. Aber seit der Krim-Annexion zeigt Moskau immer häufiger, dass es gar kein Interesse an Verhandlungen hat (und begründet das damit, dass der Westen im Allgemeinen und insbesondere die USA ohnehin ein falsches Spiel spielten). Russland verlässt den Europarat,3 kündigt Verträge zu Rüstungskontrolle4 und als bereits mehr als hunderttausend russische Soldaten an der ukrainischen Grenze stehen, fordert Putin den Rückzug der NATO auf den Stand von 19975 – ein Ultimatum, von dem er weiß, dass es nicht erfüllt werden kann.

    Zu einer Politik der Drohungen passt eine Sprache der Häme und Eskalation. Nicht ein tragfähiger Kompromiss wird als Erfolg gewertet, sondern wenn ein saftiger Satz Sacharowas für die Politik-Talkshows des Fernsehens taugt und sich als Meme im Netz verbreitet. Die Formulierung: „Maria Sacharowa hat XY in die Schranken gewiesen“ taucht in hunderten Meldungen staatlicher Medien auf.6 Mal ist es ein britischer Journalist, den Sie „auf den Topf setzt“, mal der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell. „Wenn Sie kein russisches Gas mögen, heizen Sie doch mit Ihrer Zeitung“, verspottet sie den Chefredakteur der italienischen La Repubblica.7

    Wenn Mittwochs das wöchentliche Briefing für die internationalen Medien stattfindet, ziehen die Korrespondenten im Pressezentrum des Außenministeriums schon vorsorglich die Köpfe ein: Früher haben Sprecher Fragen beantwortet. Sacharowa dagegen nutzt die Gelegenheit, um den Journalisten die Leviten zu lesen. Als sich ein finnischer Journalist 2017 nach dem Schicksal der Männer erkundet, die in Tschetschenien als schwul diffamiert, gefoltert und ermordet wurden, empfahl ihm Sacharowa, doch nach Grosny zu fahren, und diese Frage direkt an den Republikchef Ramsan Kadyrow zu richten – eine kaum verhohlene Drohung.8

    In den Fußstapfen des Vaters

    Dabei wird Maria Wladimirowna Sacharowa 1975 buchstäblich in die Welt der sowjetischen Diplomatie hineingeboren, die Weltläufigkeit ist ihr in die Wiege gelegt: Ihr Vater Wladimir Sacharow ist Asien-Spezialist im sowjetischen diplomatischen Dienst. Als Maria sechs Jahre alt ist, wird er an die Botschaft nach Peking versetzt und nimmt die ganze Familie mit. Ihre Mutter ist Kunsthistorikerin. Das China der 1980er Jahre wirkt im Vergleich zur UdSSR zurückgeblieben. Während in der Heimat die Ära der Stagnation andauert, können sich die sowjetischen Diplomaten in China als Vertreter des ersten sozialistischen Staates noch überlegen fühlen.
     
    Als die Familie 1985 nach Moskau zurückkehrt, beginnt Gorbatschow gerade, den Staat zu reformieren. 1990 geht es wieder nach Peking, und Sacharowa erlebt das Ende der Sowjetunion in China. Als sie 1993 erneut nach Moskau zurückkehrt, hat sich die alte Supermacht aufgelöst und die sowjetische Elite, in der Sacharowa aufgewachsen ist, hat ihre Privilegien verloren. Dennoch will sie in die Fußstapfen des Vaters treten, doch der hält nichts davon; die Diplomatie war in der Sowjetunion eine Männerdomäne. Also studiert Sacharowa an der Diplomatenschmiede des Moskauer Instituts für Internationale Beziehungen (MGIMO) Auslandsjournalismus. Während des Studiums arbeitet sie in der Presseabteilung des Außenministeriums und als Fremdenführerin für chinesische Touristen in Moskau. Nach ihrem Abschluss 1998 bekommt sie ihre erste Stelle als Redakteurin der Monatszeitschrift Diplomatischer Bote, in der das Außenministerium Reden und Verträge veröffentlicht – eine nicht besonders aufregende Aufgabe. Von 2003 bis 2005 leitet Sacharowa die Abteilung im Außenministerium, die die internationale Presse auswertet. Dann wird sie nach New York versetzt als Pressesprecherin der russischen Vertretung bei den Vereinten Nationen.

    Als der Präsident Dimitri Medwedew 2009 zur Generaldebatte bei den Vereinten Nationen nach New York reist, wird seine Sprecherin, Natalja Timakowa, dort auf Sacharowa aufmerksam. Medwedew gilt damals noch vielen als liberale Hoffnung und seine Sprecherin pflegt einen moderneren und offeneren Kommunikationsstil, als er bisher im Kreml üblich war. Dem liberalen Fernsehsender Doshd steht Timakowa wohlwollend gegenüber.9 Auf ihre Empfehlung hin holt Sergej Lawrow Sacharowa zurück nach Moskau und befördert sie zur stellvertretenden Leiterin seiner Presseabteilung. Dort nimmt sie sich des Themas Social Media an, das bisher nur ein Nischendasein im Presseamt führte. Wie Twitter und Facebook funktionieren und welche Bedeutung sie haben, lernt Sacharowa ausgerechnet von Michail Sygar, dem späteren Chefredakteur von Doshd. In den frühen Medwedew-Jahren scheint eine Liberalisierung des Landes vielen noch wie ein Naturgesetz, ebenso wie der wachsende Wohlstand. Die Boheme aus Medienleuten und IT-Unternehmern trifft sich mit jungen Staatsbediensteten wie Sacharowa auf denselben Veranstaltungen und Partys. Mit Putins Rückkehr in den Kreml und der Niederschlagung der Proteste im Winter 2011/2012 beginnen sich die Lager zu teilen. Sacharowa geht als eine von wenigen Regimevertreterinnen weiter in die Sendungen von Doshd und ist regelmäßig auf Radio Echo Moskwy zu hören. Im Mai 2020 willigt sie sogar zunächst ein, eine Debatte mit Alexej Nawalny zu führen, der da schon lange von allen Staatsmedien totgeschwiegen wird, macht dann aber im letzten Moment einen Rückzieher. Zwei Jahre später lebt ein Teil der Menschen, mit denen Sacharowa verkehrte, in der Emigration und sie selbst befeuert im Fernsehen den staatlich verordneten Hurra-Patriotismus. Das US-Außenministerium porträtiert sie unter der Kategorie Faces of Kremlin Propaganda.10

    Wie bei ihrem Chef Sergej Lawrow paaren sich bei Sacharowa Intelligenz, großes Wissen, Arroganz und Chuzpe. Sacharowa spricht neben Englisch auch Mandarin und hat nebenbei noch promoviert. Als erste Frau in ihrem Amt hat sie ihrem Vater bewiesen, dass er Unrecht hatte: Neben dem Außenminister selbst ist sie heute das Gesicht und die Stimme der russischen Außenpolitik. Sacharowa hat einen neuen Stil geprägt. Einen Stil, in dem es nicht darum geht, Verbindendes zu finden, sondern zu polarisieren. Ihre schrillen Auftritte sind Teil dieses Programms: Mal posiert die Diplomatin in Hotpants für ein Selfie, mal beschwört sie in scharlachrotem Mantel zum Jahrestag der Krim-Annexion die traditionellen Werte eines heiligen Russlands. Mal isst sie mit frivoler Geste vor der Kamera Erdbeeren, mal tanzt sie zur Eröffnung des ASEAN-Gipfels in Sotschi Kalinka11 für die versammelten Staatsgäste. 

     

    Maria Sacharowa auf einem Konzert anlässlich des achten Jahrestags der Krim-Annexion am 18. März 2022 im Moskauer Lushniki-Stadion / Foto © Alexander Vilf/Itar-Tass, Imago

    Als Leiterin der Presseabteilung des Außenministeriums gehört Sacharowa seit 2015 auch zum Kreis derjenigen, die sich zu regelmäßigen Briefings in der Präsidialverwaltung einfinden. Dort gibt der stellvertretende Leiter der Präsidialverwaltung Alexej Gromow12 die Agenda für die staatlichen Medien vor. Er legt fest, welche Themen hochgezogen, und welche verschwiegen werden, wer gefeiert und wer verspottet wird und wie aktuelle Ereignisse zu deuten sind. Die Runde ist die Herzkammer zur Gleichschaltung der russischen Medien und Maria Sacharowa kommt dabei die Rolle zu, diesen Spin auch in den internationalen Medien zu platzieren.

    Argumente und Stringenz sind dabei nachrangig. Getreu der Linie des Kreml leugnet Sacharowa bewiesene Fakten wie den Abschuss der malaysischen Boeing auf Flug MH17 oder die Massaker der russischen Armee in Butscha und streut Desinformationen. Im November 2017 behauptet sie in einer Fernsehsendung, das Weiße Haus in Washington habe Osama bin Laden empfangen – das Bild, das den Initiator der Anschläge auf das World Trade Center beim Shake Hands mit Hillary Clinton zeigt, ist ein Fake, der schon lange im Netz zirkuliert.13 Er wird umgehend entlarvt, aber das ist egal: Es geht eben nicht um rationales Überzeugen, sondern darum, das Publikum von den (für Russland oft nicht besonders günstigen) rationalen Argument weg auf emotionales Glatteis zu führen. Und darin ist Sacharowa eine Meisterin. 


    1. Ministerstvo inostrannych del Rossijskoj Federacii: Stranicy istorii ↩︎
    2. Maria Zarachova/Telegram am 21. Juni 2022 ↩︎
    3. Spiegel Ausland: Russland leitet Verfahren für Austritt aus Europarat ein ↩︎
    4. Wachs, Lydia (Stiftung Wisschenaft und Politik, 03.03.2023): New Start vor dem Aus? Rüstungskontrolle als Teil Moskaus nuklearer Erpressungsstrategie ↩︎
    5. Fischer, Sabine (Stiftung Wissenschaft und Politik, 22.12.2021): Moskaus Verhandlungsoffensive ↩︎
    6. „Marija Zarachova postavila na mesto …“ ↩︎
    7. RIA Novosti: Zarachova predložila glavredu la Repubblica topit‘ dom svoimi gazetami ↩︎
    8. YouTube/Meduza: Marija Zarachova otpravljaet finskogo žurnalista v Čečniju iskat‘ geev ↩︎
    9. Novaya Gazeta: Natal’ja Sindeeva: «Medvedev ne sobiralsja u nas rabotat’» ↩︎
    10. U.S. Department of State: Faces of Kremlin Propaganda: Maria Zakharova ↩︎
    11. YouTube/Krym.Realii: Predstavitel‘ MID Rossii stancevala «kalinku» na sammite ↩︎
    12. Gromow war Putins erster Pressesprecher nach dessen Ernennung zum Präsidenten 1999, bis er 2012 von Dimitri Peskow abgelöst wurde. 2012 machte ihn Putin zu Beginn seiner dritten Amtszeit zum stellvertretenden Leiter der Präsidialverwaltung. Zu seinen Aufgaben gehört die Gleichschaltung der Medien. ↩︎
    13. BBC: Reality Check: Was Hillary Clinton photographed with Osama Bin Laden? ↩︎

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  • „Ich habe Sehnsucht, dieses Land ist mir sehr nah“

    „Ich habe Sehnsucht, dieses Land ist mir sehr nah“

    Um einem Strafverfahren zu entgehen, verließ die Aktivistin Kira Bojarenko ihre Heimat Belarus. Weil sie von jetzt auf gleich abreisen musste, musste sie ihre Ausweisdokumente zurücklassen. Den 24. Februar 2022, den Beginn der russischen Invasion in die Ukraine, erlebte sie in Kyjiw. Sie flüchtete aus der Ukraine und kehrte nach einiger Zeit dorthin zurück, wurde bei einem Raketenangriff verletzt und wird zurzeit in Polen behandelt.

    Im Interview mit dem belarussischen Ableger des Online-Mediums Mediazona erzählt die Belarussin davon, wie es ist, wenn das Schicksal alle Lebenspläne durchwirbelt, wenn man einfach durchkommen muss, dabei aber seine Ideale nicht aus dem Blick lässt.

    Vor zwei Jahren erwachten die Bewohner eines Kyjiwer Hauses von Explosionsgeräuschen. In dem Haus lebten vor allem Belarussen, die vor den Repressionen geflüchtet waren. Niemand hatte ernsthaft daran geglaubt, dass ein Krieg beginnen würde. Einige Hausbewohner besaßen aus verschiedenen Gründen nicht einmal Papiere, darunter auch die damals 31-jährige Kira Bojarenko. Ihr Pass war bei den belarussischen Sicherheitsbehörden geblieben, als sie das Land überstürzt verlassen hatte, da sie wegen Störung der öffentlichen Ordnung angeklagt worden war. 

    Viele der Hausbewohner beschlossen, die Ukraine zu verlassen. Alle zusammen hatten nur ein Auto, daher sollten zuerst die Kinder und die Erwachsenen ohne Papiere an die polnische Grenze gebracht werden. Noch am selben Tag erreichten sie den Grenzübergang in Hruschiw, mussten dort aufgrund der langen Warteschlange aber bis zum 27. Februar warten. 

    „Es war hart: kleine Kinder im Auto, kaum Sachen dabei, wir hatten nur ein paar Flaschen Wasser eingepackt, und die waren alle. Alle wollten essen und trinken, aber an der Grenze gab es keine Geschäfte, keine Häuser. Die Tankstellen waren schon leergekauft“, berichtet Kira.

    An der Schlange durften nur jene vorbei, die Kinder unter drei Jahren dabeihatten. Eine Frau bat eindringlich darum, vorgelassen zu werden, obwohl ihr Kind älter war, erinnert sich Kira. Die Ukrainerin sagte, dass sie das Kind zur Grenze bringen und dann zurückkommen würde. Letztlich wurde die Frau vorgelassen und kehrte einige Zeit später in Begleitung mehrerer Autos mit Wasser und Nahrung zurück, die sie an die wartenden Menschen verteilte. Die Belarussin erinnert sich, dass ein ukrainischer Grenzer am Kontrollpunkt sagte: „Was wollt ihr eigentlich, ihr Belarussen. Wir haben euch reingelassen, und ihr schießt auf uns.“ 

    „Ich sagte ihm damals: Hier gibt es keine Belarussen, die nicht unter diesem Regime gelitten hätten und die der Ukraine nicht dankbar sind. Was sollen wir denn tun – an die Grenze zurückkehren und die Raketen mit bloßen Händen abfangen?“

    „In Polen ist die Integration schwerer.“ – Rückkehr in die Ukraine

    In Polen erhielten die belarussischen Geflüchteten Hilfe von Freiwilligen – Wasser, Essen und eine Unterkunft in einem Schulgebäude, das als Aufnahmeeinrichtung diente, später dann in einem Dorf bei Warschau. „Unsere größte und einzige Bitte war damals, nicht getrennt zu werden. Wir wollten als Hausgruppe zusammenbleiben, erst einmal zu uns kommen.“

    In Polen erhielt Kira internationalen Schutzstatus. Während ihre Anerkennung geklärt wurde, arbeitete sie in einem Call Center der Organisation Helping to leave, die Ukrainern dabei half, die besetzten Gebiete zu verlassen. Die Belarussin sprach mit Menschen, die Hilfe brauchten, und half bei der Zusammenstellung von Evakuierungsrouten. 

    Im vergangenen Jahr empfahl ihr eine Freundin, die selbst ein Auto für die ukrainischen Streitkräfte überführte und humanitäre Hilfsgüter in die Ukraine brachte, bei einem Transport mitzufahren. Kira fuhr mit Papieren der Organisation, für die sie arbeitete, in die Ukraine und beschloss schließlich, in Kyjiw zu bleiben. In Polen sei es schwierig gewesen, sich zu integrieren, erzählt sie, die Ukraine sei ihr näher, zudem waren da noch Freunde.

    Freiwilligendienst in Cherson: „Unterwegs musste ich mich um Alte kümmern, sie füttern, Windeln wechseln, weil sie oft bettlägerig waren“

    In Kyjiw beschloss Kira, dass sie mehr tun könne als nur Telefondienst. Die Organisation schlug ihr vor, nach Cherson zu fahren und bewegungseingeschränkten Menschen bei der Evakuierung aus der Stadt zu helfen. Kira willigte ein. 

    Die Arbeit bestand darin, Alte und Menschen mit Behinderung bei der Evakuierung aus gefährlichen Stadtteilen von Cherson zu begleiten. Kira zufolge waren das manchmal Leute, die ihr Haus verloren hatten, Menschen, die aus Kellern geholt wurden. Die Freiwilligen (Kira nennt sie „Blutsbrüder“) sammelten die Leute in jenen Stadtteilen ein, die am häufigsten beschossen wurden, und brachten sie zum Bahnhof. Kira fuhr dann gemeinsam mit ihnen mit dem Zug und übergab sie am Zielpunkt anderen Freiwilligen, die sie dann in Gruppenunterkünften unterbrachten. „Unterwegs musste ich mich um sie kümmern, sie füttern, Windeln wechseln, weil sie ganz oft bettlägerig waren.“

    Auf jeder Fahrt begleitete die Freiwillige drei bis sieben Personen. Jede von ihnen hatte ihre eigene Geschichte, einige davon sind Kira besonders im Gedächtnis geblieben. Die erste Geschichte ist die von einem Großmütterchen, das 104 Jahre alt war. „Sie hatte schon einen Krieg überlebt, und jetzt erlebte sie wieder Beschuss und hatte ihr Zuhause verloren.“

    Die zweite Geschichte ist die von einer Frau mit einem schweren Beckenbruch, die zuerst mit der Evakuierung einverstanden war, dann aber die ganze Reise über nach Cherson zurückwollte, weil dort kürzlich ihr Ehemann gestorben war. „Sie war sogar böse auf mich, als ich sagte, dass ihr Mann tot sei und sie nun weiterleben müsse, dass man sie an einen guten Ort brächte. Wir waren ja keine ausgebildeten Psychologen.“

    „Im Bein steckten Splitter.“ – Die Verletzung

    Im Juni 2023 erlitt Kira in Cherson eine Verletzung. Sie war gerade auf dem Heimweg von der Migrationsstelle, als sie unter Beschuss geriet. Sie wartete an einer Haltestelle auf den Bus, als ein Geschoss in ein nahegelegenes Haus einschlug. Im ersten Moment war der Schock so stark, dass sie nichts begriff oder spürte. Ein Ukrainer, der gerade mit dem Auto vorbeikam, bot Kira Hilfe an, brachte sie nach Hause, da bald der nächste Angriff beginnen konnte. Und so war es auch: Kira kam in ihre Wohnung, ging auf den Balkon, um zu rauchen und sich nach dem Erlebten zu beruhigen, als die Stadt erneut von Raketen angegriffen wurde.

    „Ich nahm ein Kopfkissen und eine Decke und ging zum Ausruhen ins Badezimmer, da das der sicherste Ort ist. Dort begriff ich schließlich, dass etwas nicht stimmte. Es stellte sich heraus, dass in meinem Bein ein Splitter steckte.“ 

    Kira erzählt, dass sie selbst ein Tourniquet anlegte, das sie damals immer bei sich trug, und den Fremdkörper aus der Wunde entfernte. Sie wählte den Rettungsdienst, kam aber nicht durch, da das Netz beeinträchtigt war. Am nächsten Morgen rief sie dann andere Freiwillige an, die sie ins Krankenhaus Tropinki brachten. „Der Arzt sagte, ich hätte alles richtig gemacht, ich solle die Wunde reinigen, frisch verbinden und in einer Woche wieder zu ihm kommen.“
    Aber nach zwei Tagen hatte Kira stark erhöhte Temperatur und ihr Bein war aufs Doppelte angeschwollen. Sie musste schnell ins Krankenhaus. 

    „Da ich nicht alle Splitter erwischt hatte, war eine Entzündung entstanden, die Wunde war infiziert. Ich musste im Krankenhaus bleiben.“ Einige Tage später hatten Kiras Freiwilligenfreunde erreicht, dass sie nach Kyjiw verlegt werden konnte, um nicht unter dauerhaftem Beschuss im Chersoner Krankenhaus bleiben zu müssen. Nach Kyjiw reiste die Belarussin allein. Sie kam in das Krankenhaus, in dem sie im Endeffekt mehrere Monate blieb, die Ärzte entfernten eitriges Gewebe, reinigten die Wunde, gaben ihr Medikamente gegen Schmerzen und gegen die Schwellung. Kira zufolge hätte sie eine Hauttransplantation benötigt, aber in Kyjiw gab es Probleme mit einer solchen Operation. Kira beschloss, nach Polen zurückzukehren. In einem Krankenhaus in Białystok bekam sie schließlich eine Hauttransplantation. 

    Im Moment lebt die Belarussin in Polen und macht ihre Reha. Wenn die Wunde geheilt und ihr psychischer Zustand stabilisiert sind, plant sie, in die Ukraine zurückzukehren. „Ich habe Sehnsucht nach der Ukraine, dort sind meine Freunde, und das Land ist mir sehr vertraut. Aber noch ist da eine Art unterschwellige Angst. Selbst als hier in Polen zu Silvester überall die Feuerwerke krachten, habe ich mich unwohl gefühlt.“

    Das Leben in Cherson war nicht leicht: Die Geschäfte schlossen bereits um 15 Uhr, nur die ukrainische Kette ATB hatte bis 19 Uhr geöffnet. Ab 21 Uhr herrschte in der Stadt Ausgangssperre, niemand durfte mehr auf die Straße. Und ständig Beschuss. Im Februar 2021 war Kira in Minsk festgenommen worden, sie verbrachte ein halbes Jahr in Untersuchungshaft. Dann wurden ihre Haftbedingungen geändert, sie kam aus der Untersuchungshaft frei und nutzte diese Chance, um Belarus zu verlassen, ungeachtet dessen, dass ihr Pass bei den Sicherheitsbehörden verblieben war. „Ich verglich Cherson mit Minsk, mit dem Stadtteil, in dem ich aufgewachsen bin. Es war sehr ähnlich, die gleichen Häuser, nur dass bei vielen Fensterscheiben fehlten und in den oberen Etagen häufig Wohnungen durch Angriffe ausgebrannt waren.“

    Nach Minsk kann Kira nicht zurück. Deshalb möchte sie wenigstens in Cherson leben, der Stadt, die sie an ihr Zuhause erinnert, trotz Krieg.

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  • „Die Welt weiß nicht, wie sie Widerstand leisten soll gegen das Böse“

    „Die Welt weiß nicht, wie sie Widerstand leisten soll gegen das Böse“

    Für Millionen von Menschen hatte Alexej Nawalny Hoffnung verkörpert: Hoffnung auf ein „wunderbares Russland der Zukunft“, in dem Regierungen durch Wahlen abgelöst werden können, das die Würde des Einzelnen achtet und seine Nachbarn in Frieden lässt. Mit dem Tod Nawalnys ist diese Hoffnung bei vielen in ein Gefühl absoluter Hilflosigkeit umgeschlagen. 

    Schura Burtin, der als Journalist aus den Kriegsgebieten in der Ukraine berichtet hat, schreibt auf Meduza, dass Hoffnung derzeit schädlich ist. Sein aufgewühlter Kommentar hat im russischsprachigen Internet sehr starke Reaktionen hervorgerufen. Der Politologe Sergej Medwedew spricht etwa von einem „Manifest der Verzweiflung“, das vor allem emotional und nicht analytisch sei. Die Schriftstellerin Anna Starobinets dagegen sieht in Burtins Text schlicht eine „Anleitung zum Überleben“ unter den gegebenen Umständen. dekoder dokumentiert Burtins kontroverses Meinungsstück im Wortlaut auf Deutsch.

    Trauerfeier für Alexej Nawalny auf dem Moskauer Borissowskoje Friedhof am 01. März 2024 / Foto © Andrei Bok/imago-images

    Erst nach diesem Mord wurde klar, wie immens unbewusst wir davor lebten in der Hoffnung auf eine „gute“ Zukunft. Wir wollten unbedingt glauben, dass das, was da vor sich geht, ein vorübergehender Fehler ist. Ungeachtet einer inneren Stimme der Vernunft lebte in uns das nebulöse Bild einer Zukunft, die wir bevorzugen würden – und bestimmte unser Verhalten. Nawalny hat sein Leben auf dieses Bild ausgerichtet, und es dadurch quasi Realität werden lassen. Putin hat uns schlichtweg erklärt, dass es diese Zukunft nicht gibt.

    Ich denke, es ist wichtig, dass wir nicht zurückfallen in diese Illusion. Denn dieses Böse macht in der Tat mehr Angst, als wir verdauen können. Indem wir Blumen niederlegen oder ein Foto von Julia Nawalnaja posten, wird es keine solche Zukunft geben, wir beruhigen uns nur.

    Zu hoffen, dass in absehbarer Zeit in Russland etwas gut sein wird, ist gefährlich

    In dem Video Gebt nicht auf spricht Nawalny über eine Kraft in uns. Ich weiß nicht. Vielleicht hat er seine Kraft gespürt und sie auf uns alle projiziert. Ich denke, es ist wichtig, dass wir unsere Schwäche spüren. Dass wir klar sehen, dass wir keine Zukunft haben und dass wir sehr schwach sind. Dass wir sehen, wie zersplittert wir sind, wie wenig wir im Stande sind, einander zu helfen.

    Zu hoffen, dass in absehbarer Zeit in Russland etwas gut sein wird, ist gefährlich. Wir befinden uns in einem schlimmen, bösartigen Prozess, der so bald nicht zum Stillstand kommen wird. Denn Russland ist ein riesiges Land, und es strotzt nur so von Kraft.

    Ich glaube, der Mord war eine Botschaft an den Westen. Doch auch Russland hat die Botschaft vernommen. Und sie klingt hier so: „Verräter werden wir töten.“ Das hat Putin schon früher gesagt, doch als Verräter galten die, die seine Bande hintergingen. Jetzt sind es auch die Vaterlandsverräter. Dafür gibt es keine Befehle, das funktioniert anders: Auf allen Ebenen wurde jetzt klar, dass es keine Hemmungen mehr gibt. Vom Mord an Kirow bis zum Großen Terror hat es nur drei Jahre gedauert.

    Wir sitzen mit einem Psychopathen in einer Zelle, da muss man auf jeden Fall Angst haben

    Auf einer Kundgebung in Tbilissi anlässlich der Ermordung Nawalnys skandierten ein paar Mädchen: „Wir haben keine Angst!“ Ich wollte ihnen sagen: „Das solltet ihr aber.“ Wir sitzen mit einem Psychopathen in einer Zelle, da muss man auf jeden Fall Angst haben. Man muss sich ganz nüchtern bewusst werden, dass alles schlimmer wird – und nicht nur in Russland. Der Krieg wird sich aller Wahrscheinlichkeit nach ausweiten. Als ich von dem Mord hörte, dachte ich aus irgendeinem Grund sofort, dass sie jetzt in Georgien einmarschieren werden, einfach weil sie nicht aufhören können. Plötzlich wurde mir klar, dass die Litauer, Letten und Georgier, die wegen der russischen Bedrohung in Panik gerieten, völlig Recht hatten und ich nicht. Denn wir sahen es aus unserer Perspektive und subjektiv, sie aber von außen und objektiv.

    Eigentlich interessiert Putin gegenwärtig nichts außer seine Reibereien mit dem imaginierten Westen. Klar, er hat Nawalny gefürchtet und gehasst, doch in seinem Kopf trägt er im Wahn eine Auseinandersetzung mit dem Westen aus. Derzeit geht es ihm dabei blendend, an der Front läuft es bestens und in seinem Kopf sagt er zu ihnen: „Ihr Idioten glaubt also, dass es ein anderes Russland gibt und irgendeinen Nawalny? Ihr habt gehofft, mit dem werdet ihr euch dann später einigen können? Nein. Ihr werdet mit mir sprechen, kapiert?“ Für ihn ist es wichtig, dass sie ihn mal können, dass sie ihm Respekt zollen. Und er wird die Einsätze erhöhen und weiter eskalieren. Niemand kann das stoppen. Wir haben dafür keine Kraft und hatten sie im Grunde auch nie. Aber auch die Welt hat keinen Plan, wie sie Widerstand leisten soll gegen das Böse. Putins Wahn ist nur eine Manifestation des Bösen; Krieg drängt aus jeder Ritze hervor, und es kann leicht passieren, dass wir dabei draufgehen.

    Am ehesten wird sich wohl jeder einsam und allein für sich retten. Die Opposition ist verstreut und hilflos. Noch nicht einmal in Freiheit, in der Emigration versucht sie etwas gemeinsam auf die Beine zu stellen, zum Beispiel für die Interessen von Millionen aus Russland geflohener Russen einzustehen. Und mir fällt auch nichts ein, wie man das ändern könnte.

    Hoffnung auf die Zukunft – derzeit ist das schädlich. Es ist zwecklos, sich den Kopf darüber zu zerbrechen: Wir sind zu wenige, wir sind sehr, sehr schwach. Alles, was wir haben, ist das Jetzt – und uns in diesem Jetzt. Wir müssen einsehen, dass unsere Lage beschissen ist und wir nicht wissen, was wir tun sollen.

    Die Zeit ist gekommen, in den Notfall-Modus umzuschalten

    Als ich von Nawalnys Tod erfuhr, wollte ich gleich alle anrufen. Das ist erst einmal das Einzige, was mir einfiel: anderen nah zu sein. Bewusst einander nah zu sein und sich umeinander zu kümmern. Sich klarzumachen, was die Personen, die mir nahestehen, jetzt brauchen, lieber zweimal darüber nachzudenken. Ich glaube, jetzt ist die Zeit gekommen, in den Notfall-Modus umzuschalten und zu versuchen, sich anders zu verhalten. Wir sollten uns bewusst darum bemühen, Menschen zu vereinen, ganz egal wozu, und sei es einfach, um gemeinsam ein Abendessen zuzubereiten. Was jetzt zählt, ist, sich nicht zu verschließen, offen zu bleiben für Einladungen anderer, zu vertrauen.

    Als Russland die ersten Bomben auf Charkiw abwarf, zeigten die Kassiererinnen in den wenigen verbliebenen Supermärkten plötzlich eine ungewohnte Höflichkeit und Fürsorge. Sie spürten, dass es die Kunden, die bei ihnen in der Schlange standen, genau so gut hätte treffen können. So sollten auch wir handeln. Mir scheint, dass der Tod von Nawalny kein Signal ist, dass wir uns an die Schießscharten begeben sollten (wo wir uns sowieso nur die Hosen vollscheißen). Es ist eher ein Zeichen, dass wir auf unserem Weg bisher versäumt haben, etwas Wichtiges zu tun und dass wir deswegen so schwach waren. Dass wir immer so schwach sind. 

    Ich glaube nicht an wirkungsvolle Aktionen bei faschistischen Wahlen. Wobei man die Initiativen guter Leute unterstützen sollte, auch wenn sie andere Ansichten haben. Auf allerlei Zankereien sollte man bewusst Verzicht üben, das ist momentan dumm. Wir sind sehr schlecht darin, einander zu unterstützen, nicht nur in der Politik, sondern generell. Wir müssen das lernen, wenn wir nicht blöd verrecken wollen. Natürlich sind wir es gewöhnt, unser normales Leben zu leben, in dem es die Gesellschaft auf welche Art auch immer nicht zulässt, dass du draufgehst. Meines Erachtens müssen wir erkennen, dass die Situation jetzt eine andere ist.

    Ich befürchte, dass es für die meisten meiner Freunde, die nichts dergleichen tun, in den kommenden Jahren gefährlich wird, in Russland zu bleiben. Als Nawalny getötet wurde, hat mein Freund und Kollege Andrej einen verzweifelten Post geschrieben und alle, die können, aufgerufen zu fliehen. Der letzte Satz dort lautete: „Ich hatte gar nicht die Wahl, es zu wollen oder nicht zu wollen.“ Ja, Andrjucha, die wenigsten wollen es. Aber du willst es plötzlich ganz leicht, wenn dir und deinen Nächsten Gefahr droht. Es geht nicht darum, ob alle vorzeitig abhauen, sondern darum, kein Dummkopf zu sein – und den Vampiren nicht noch jemanden zum Fraß vorzuwerfen. Zu wollen ist nicht das Problem, die Frage ist bloß, wie man im Ausland leben soll. Für viele ist das sehr schwer, sie brauchen Hilfe. Darüber heißt es ernsthaft nachzudenken, solange dafür noch Zeit ist.

    Es ist schädlich auf Anführer zu setzen, das ist Selbstbetrug

    Es steht schlecht um unsere Infrastruktur, aber immerhin gibt es sie. Wir sollten uns bemühen, noch mehr den Organisationen zu helfen, die etwas tun. Egal wem, wichtig ist, sich überhaupt aktiver an gemeinsamen Sachen zu beteiligen. Und die Organisationen sollten sich nicht verschließen. Je stärker diese Infrastruktur ist, desto größer sind unsere Chancen. Es ist gut, dass Menschen wie Alexej Nawalny und Julia Nawalnaja versuchen, uns zu vereinen, aber ganz allgemein ist es schädlich, auf Anführer zu setzen, das ist Selbstbetrug. Nur eine [zivilgesellschaftliche – dek] Infrastruktur kann funktionieren.

    Solange es noch möglich ist, sollten wir Briefe an politische Häftlinge schreiben. Es ist wichtig, Kontakte mit Ukrainern wiederherzustellen. Das ist schwer, aber wir müssen es versuchen, ihnen schreiben, sie anrufen, ihnen helfen. Nach dem Mord rief mich ein nur flüchtig bekannter Kollege aus Kyjiw an, um sein Beileid auszudrücken – obwohl ich Nawalny gar nicht persönlich kannte. Er sagte, dass es in Kyjiw viel dämlichen Hate gebe, aber ihm sei es wichtig zu sagen, dass er mit uns fühlt. Und ich bin ihm unglaublich dankbar dafür. 

    Mir ist wichtig, dass ich das Gefühl des Entsetzens nicht vergesse, das im ersten Moment nach dem Mord über mich hereinbrach. Ich glaube, in diesem Moment habe ich alles ganz klar und nüchtern gesehen.

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  • Eine Karte der Verwüstung

    Eine Karte der Verwüstung

    Bis zur russischen Vollinvasion im Februar 2022 war die ukrainische Hafenstadt Mariupol ein bedeutendes Wirtschaftszentrum. Bei der Belagerung wurden Schätzungen zufolge mehr als 80.000 Menschen getötet, noch mehr flohen, mehr als 80 Prozent der Wohnungen wurden zerstört. Seit September 2022 ist Mariupol vollständig unter russischer Verwaltung. Der versprochene Aufbau geht derweil kaum voran. Geflohene Besitzer werden enteignet, die besten Objekte sichern sich die russischen Besatzer. Mediazona hat Eindrücke gesammelt: Von Bewohnern, von einem Bauarbeiter aus Siribiren, der geschockt wieder heimgefahren ist, und von einem Kartografen, der die Zerstörung von Israel aus dokumentiert.

    „Mariupol gehört zu Russland. Punkt“ steht auf diesen Imbiss-Wägen, bei denen die verbliebenen Bewohner der Ruinenstadt sich eine Mahlzeit besorgen können. Die Bilder hat ein Bauarbeiter mit Namen Michail aufgenommen und der Redaktion von Mediazona überlassen. / Fotos © Mediazona

    Oxana hat mit ihrem Mann und ihrem Kind am 16. März 2022 Mariupol in Richtung Dnipro verlassen. Vor dem russischen Überfall lebte sie im Bezirk Primorski. Im Keller ihres Wohnhauses betrieb sie einen Kosmetiksalon. Dort versteckte sie sich mit ihrer Familie drei Wochen lang, als Mariupol beschossen wurde, erzählt sie Mediazona

    „Ein fünfstöckiges Haus auf einer Anhöhe in der Nähe der Stadtverwaltung“, erinnert sie sich an ihr früheres Zuhause. „Alle Häuser in der Nähe wurden sofort zerstört, zurück blieben nur Ruinen. Aber unser Haus blieb wie durch ein Wunder unbeschadet, bis auf die zerplitterten Fenster natürlich.“

    Vergangenes Jahr, als Oxana schon in Vilnius lebte, ließ die Besatzungsregierung ihre leerstehende Wohnung in Mariupol durchsuchen. Bei ihrer Flucht hat die Ukrainerin zwar die Unterlagen für ihre Wohnung mitgenommen, aber mittlerweile ist es für sie unmöglich, nach Mariupol zu gelangen. Im November 2023 habe sie es von Estland aus versucht, erzählt Oxana, aber am Grenzübergang Iwangorod verweigerte man ihr die Einreise nach Russland.

    Anlass für die versuchte Einreise war allerdings nicht die zurückgelassene Wohnung sondern Oxanas Mutter, die sie seit Kriegsbeginn nicht gesehen hat. Oxana hatte gehofft, ihre Mutter und ihre Großmutter aus Mariupol herauszuholen. Die Mutter wurde im Frühling 2022 bei einem Beschuss zu Hause verwundet, seitdem sei das Haus immer noch „durchlöchert“, sagt Oxana. „Mittlerweile ist Mama dort ganz allein – sie hat weder Nachbarn noch Verwandte. Sie hat meine bettlägerige Großmutter zu sich geholt und pflegt sie, obwohl sie selbst kaum laufen kann. Und sie bekommen weder Gehalt noch Rente. Ich hätte sie da rausholen müssen.“

    Die flächendeckende Inventur 

    Oxana ist sich sicher, dass ihre Wohnung am Meer jetzt verstaatlicht, also beschlagnahmt wird. In der Stadt wird gerade eine sogenannte flächendeckende Inventur durchgeführt. Legt der Eigentümer einer Immobilie der Besatzungsregierung nicht innerhalb von dreißig Tagen seine Dokumente für die Wohnung vor, „verliert er das Recht auf Nutzung“. 

    Bewohner, die ihr Zuhause durch die Kampfhandlungen verloren haben, demonstrieren und fordern die ihnen versprochenen Wohnungen: „Das Haus, in dem wir viele Jahre gewohnt haben, existiert nicht mehr. Man hat uns hängen lassen: Man gibt uns keine Wohnungen, man verspricht sie uns nicht einmal mehr. Helfen sie uns, Wladimir Wladimirowitsch! Sie sind der Garant der Verfassung!“

    Ein Video von den Protesten in der Stadt zeigt eine Frau mit einem Zettel in der Hand, sie redet aufgeregt, verhaspelt sich: „Das ist unser Haus auf der Artjoma 88. Dreißig Jahre haben wir da gewohnt. Und im Februar 2022 wurde es dem Erdboden …“ Sie kommt ins Stocken. Jemand aus der Menge spielt ihr einen Euphemismus zu: „Es hat gelitten.“ Sie korrigiert sich: „… hat unser Haus während der Kampfhandlungen gelitten.“

    „Jetzt sind alle auf der Straße gelandet“, schließt sie, wie um sich zu entschuldigen. „Die Volksrepublik Donezk schränkt unsere Rechte ein und verstößt damit gegen die russische Verfassung.“

    Straßenszenen aus Mariupol. Der russische Dienst Yandex tilgt zerstörte Gebäude aus seinen Karten. Ein Aktivist in Israel dokumentiert jede Ruine und jedes Grab in der Stadt. / Fotos © Mediazona

    Eine Karte der verschwundenen Häuser

    Ihre Pläne, Mariupol wieder aufzubauen, hatte die russische Regierung schon am 24. März 2022 bekanntgegeben, als die Kämpfe um die Stadt noch tobten. Seit dem Herbst 2022 verschwinden von den Karten des Anbieters Yandex zunehmend Einträge von zerstörten Häusern.

    Aber auf einer anderen Karte gibt es diese Häuser noch. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine sorgt Witali Stutman dafür, ein Social-Media-Experte aus Israel. Die Zahl der Häuser auf der Karte wächst, mit den genauen Adressen helfen ihm nicht selten auch die Einwohner Mariupols.

    „Bisher sind 2000 Wohnhäuser verzeichnet“, erzählt Stutman. „Nicht alle sind komplett verschwunden, manche sind beschädigt oder die Ruinen stehen noch. Außer den Wohnhäusern finden sich dort an die hundert andere Gebäude: 55 Schulen, 16 Kindergärten, 15 Hochschulen, 20 Krankenhäuser, 16 Kirchen. Und noch knapp hundert Restaurants, Geschäfte, Hotels und so weiter.“

    Im Oktober 2022 hat das Zentralnstitut für Stadtplanung im Auftrag des russischen Bauministeriums einen Plan für den Wiederaufbau Mariupols bis 2025 erarbeitet, der von The Village veröffentlicht wurde. Laut Prognosen des Instituts soll die Stadtbevölkerung von Mariupol bis zum Jahr 2025 von 212.000 auf 350.000 anwachsen. Ganz oben, unter „prioritäre Aufgaben“, ist in diesem Plan der „Wiederaufbau von Wohnobjekten wie Einfamilienhäusern und Wohnblöcken in Leichtbauweise“ verzeichnet. Gefolgt von städtischer Infrastruktur und „der Wiederherstellung und dem Erhalt von Grünflächen“. In dem Bauvorhaben findet sich auch das Theater, in dem bei den russischen Luftangriffen vom 16. März 2022 unterschiedlichen Angaben zufolge zwischen 12 und 600 Zivilisten ums Leben kamen. Vizepremier Marat Husnullin versicherte, das Theater werde bis Ende 2024 wiederaufgebaut.

    Alle Baumaßnahmen in Mariupol werden von einem Unternehmen mit der Bezeichnung Zentraler Auftraggeber im Bausektor geleitet. Im März 2023 veröffentlichte die Firma einen Bericht mit der Gesamtzahl der Gebäude, die zum Abriss bestimmt sind: 407. Davon waren 321 wie berichtet bereits abgerissen worden. An weiteren 1829 Objekten sollten „Sanierungsarbeiten“ durchgeführt werden. Nach Angaben von Bumaga ist der Wert der Aktiva des Unternehmens Zentraler Auftraggeber im Jahr 2022 um 182 Prozent gestiegen. Im Dezember gab das Unternehmen an, 20.000 Bauarbeiter aus allen Teilen Russlands seien nach Mariupol gekommen.

    Im Dezember 2022 zählte die Agentur Associated Press auf Satellitenaufnahmen vom besetzten Mariupol über 10.300 Gräber, die seit Beginn des russischen Angriffs hinzugekommen waren. Auf Witali Stutmans Karte sind über 400 Gräber eingezeichnet; außerdem die Orte, an denen die Menschen umkamen, mit Fotos. Viele befinden sich in den Innenhöfen der Häuser, wo nun gebaut wird. Niemand weiß, ob die sterblichen Überreste der Opfer vor den Bauarbeiten auf einen Friedhof umgebettet wurden. 

    „Nicht anzünden! Dieses Haus ist bewohnt“ hat jemand an die Fassade eines Gebäudes in Mariupol geschrieben. Auf dem Zaun steht „Hier wohnen Menschen“. / Fotos © Mediazona

    „Bei meiner Rückkehr war ich moralisch erschüttert.“ Bericht eines Bauarbeiters

    „Für mich war das in gewisser Hinsicht eine wirklich traumatische Erfahrung“, gibt Michail aus Nowosibirsk im Gespräch mit Mediazona zu. Von Oktober bis Dezember 2022 war er Hilfsarbeiter auf der Baustelle des Hotels Drushba – heute ist es ein Wohnheim für Mariupols Stadtbewohner, die ihre Wohnung verloren haben.

    „Als ich wieder zu Hause war, stand ich unter Schock, ich war moralisch erschüttert von dem, was ich gesehen habe“, erzählt Michail. „Wir haben weder etwas zu essen noch eine Unterkunft bekommen. Die Erfahrung war außerdem traumatisch, weil die Stadt aus ausgebrannten Ruinen bestand, und die Stadtbewohner uns von ihren schrecklichen Verlusten erzählten, die der Preis für ihre ‚Befreiung‘ waren, um die sie nie gebeten hatten, glaube ich.“ 

    Damals reiste Michail schon seit einem Jahr per Anhalter durch Russland und verdiente sich auf Baustellen etwas dazu. Er hatte gehört, dass Mariupol eine gute Möglichkeit sei, auf dem Bau etwas Geld zu machen.

    „Ein Justizangestellter hat mich nach Mariupol mitgenommen. Bei der Baustelle Drushba hat er mich rausgelassen; dort habe ich mich mit ein paar Leuten unterhalten und erfahren, dass sie Arbeit haben“, erinnert sich Michail. „Sie haben mir angeboten, gleich am nächsten Tag anzufangen. Ich weiß gar nicht, ob ich denen meinen Pass gezeigt habe. Ihre Pässe habe ich, glaube ich, auch nicht gesehen. Die haben nur gefragt: ‚Also los?‘, und mich zu sich nach Hause mitgenommen, wo ich schlafen konnte.“

    Das Haus in Guglino, einem Dorf in der Nähe, mietete die Bauarbeiterkolonne für 10.000  Rubel [100 Euro – dek] monatlich. Anfangs gab es weder Strom noch Wasser. Michail verdiente 2000 Rubel [20 Euro – dek] am Tag; er machte alles Mögliche: Verladen, Malern, Spachteln, Putzen. Für welche Firma er in Mariupol arbeitete, weiß er gar nicht. 

    „Unser Vorarbeiter hat auf verschiedenen Baustellen mit zwei unterschiedlichen Firmen zusammengearbeitet: TechnoStroi aus Petersburg und RosKomStroi aus Moskau“, erinnert sich Michail. „Drushba müsste zu der Moskauer Firma gehört haben.“

    Die Webseite des Moskauer Bauunternehmens RosKomStroi wurde seit 2018 nicht aktualisiert, die dort angegebene Telefonnummer funktioniert nicht. Das Unternehmen TechnoStroi wird von Iwan Oryntschuk geleitet, einem Geschäftsmann aus Sankt Petersburg. Im November vergangenen Jahres wurde er von der Regierung „für den Wiederaufbau“ Mariupols ausgezeichnet. 

    „Sehr geehrte Abgeordnete, das, was Petersburg dort leistet, ist eine Heldentat“, sagte Oryntschuk bei der Verleihung. „Ich habe mittlerweile mehr als fünf Monate in Mariupol verbracht. Wir werden alle unsere Aufgaben erfüllen, wir tun es jetzt schon. Sankt Petersburg wird Mariupol wiederaufbauen – so ein Team macht das Unmögliche möglich.“

    Knapp eine Woche später wurde er verhaftet, weil er auf staatlichen Baustellen 70 Millionen Rubel [etwa 700.000 Euro – dek] veruntreut haben soll. 

    Schätzungen zufolge sind bei der Belagerung der Stadt im Frühjahr 2022 mehr als 80.000 Menschen ums Leben gekommen. Viele Leichen werden noch in den Trümmern ihrer zerstörten Wohnungen vermutet. / Fotos © Mediazona

    „Bis heute hausen sie in Kellern.“ Wie die Menschen in Mariupol leben

    Um neuen Wohnraum zu bekommen, muss man bei der Stadtverwaltung der Besatzungsregierung von Mariupol Unterlagen seiner zerstörten Immobilien vorlegen. 

    „Viele haben diese Unterlagen nicht: Als die Stadt beschossen wurde, mussten sich die Menschen in Sicherheit bringen, da haben sie nichts mitgenommen“, erzählt Nikolaj Ossytschenko, der ehemalige Chef des TV-Senders in Mariupol. Er verließ die Stadt am 15. März 2022, betreibt aber immer noch einen Telegram-Kanal und hält nach eigenen Angaben Kontakt zu den Menschen, die vor Ort geblieben sind. 

    „Schon im vergangenen Jahr veröffentlichte die Stadtverwaltung der Besatzer Mariupols erste ‚Listen verlassenen Wohnraums‘ und brach leerstehende Wohnungen auf“, erzählt Ossytschenko. Meldet sich der Eigentümer nicht innerhalb von 30 Tagen nachdem seine Wohnung auf so einer Liste aufgetaucht ist bei der Stadtverwaltung, und legt die Dokumente für die Wohnung vor, wird diese für „herrenlos“ erklärt und „verstaatlicht“.
    „Im letzten Jahr war es noch möglich, sich von einem Nachbarn bestätigen zu lassen, dass die Wohnung dir gehört – das geht jetzt nicht mehr. Jetzt musst du persönlich da sein oder dich von einem russischen Notar vertreten lassen“, erklärt Ossytschenko.

    Aber manchmal helfen selbst die Dokumente für eine Wohnung nicht. Alexandra Borman ist Waise. Zwölf Jahre hatte sie darauf gewartet, dass ihr eine Wohnung zugeteilt wird. Ein Jahr vor dem russischen Angriff hatte sie endlich eine Wohnung im Haus Nr. 29 auf der Uliza Geroitscheskaja (dt. Heldenstraße) bezogen. Da brach der Krieg aus. 

    „Wir verließen unser Haus, und noch am selben Tag wurde es von einer Rakete getroffen, es ist sofort halb eingestürzt“, erzählt sie Mediazona. „Jetzt wohnen wir in einem kleinen Haus in dem Bezirk Mirny, seit vier Tagen haben wir keinen Strom, die Heizung funktioniert nicht, der Ofen auch nicht. Es sind zwei Grad Celsius im Haus, dabei habe ich zwei Kinder.“

    „Das zerstörte Haus blieb lange als Ruine stehen“, erzählt Alexandra. In der Zwischenzeit hat sie alle Unterlagen zusammengetragen: den Wohnbescheid, die Meldebescheinigung, den Vertrag für die Sozialwohnung. Trotzdem wurde ihr Antrag auf eine neue Wohnung abgelehnt. Ohne Begründung. 

    Nikolaj Ossytschenko erzählt, dass als Erstes Beamte von der Besatzungsregierung und zugereiste Bauarbeiter in Mariupol Wohnungen bekämen, die „Unterbringung der einfachen Leute“ sei zweitrangig. Manche Stadtbewohner brachte man in Notunterkünften unter – in diesen Wohnheimen leben sie bis heute, obwohl ihnen zugesichert wurde, das sei eine vorübergehende Lösung. 

    „Es gibt Menschen, die immer noch in Kellern leben“, berichtet Ossytschenko. „Eine Freundin erzählte mir, dass sie mit ihrer Mutter, einer alten Frau, seit anderthalb Jahren in einem Keller wohnt. Ihr Haus wurde zerbombt, sie kann nirgendwo anders hin. Sie wollte wissen, wie teuer es ist, aus Mariupol in die Ukraine auszureisen. Sie sagt, noch einen Winter im Keller überstehen sie nicht.“

    „Da ist alles vollkommen im Arsch.“ Warum nicht alle Bezirke wiederaufgebaut werden

    „Die Besatzungsregierung lässt allem voran das Zentrum und die Bezirke am Stadtrand Richtung Donezk und Saporishshja wiederaufbauen, was natürlich kein Zufall ist“, sagt Ossytschenko.

    „Das sind die Richtungen, aus denen die Gegenoffensive kommen könnte – deswegen wurden sie mit Wohnblöcken zugebaut“, erklärt er. „Aber wenn man die russischen Medien verfolgt, gibt es fast gar keine Berichte über das linke Ufer. Da ist nämlich alles vollkommen im Arsch. Das linke Ufer liegt am nächsten an Russland dran, da waren die heftigsten Gefechte, aus der Richtung hat Russland Mariupol überfallen. Dort liegt fast alles in Trümmern.“

    Oleg war Abgeordneter des Stadtrates, mit der neuen Regierung in Mariupol hat er die Zusammenarbeit verweigert. Er erzählt Mediazona, auf dem Morskoi Boulevard am linken Ufer seien fast alle Häuser abgerissen worden – knapp vier Kilometer entlang der Küste. 

    „Ich denke, da kommen Luxusbauten hin, aber bisher wurde am linken Ufer noch kein einziges Haus gebaut“, sagt er. „Der ganze Bezirk bestand fast nur aus Chruschtschowki. Ein paar wenige stehen noch, auf denen prangen Schriftzüge wie: Wir wollen wieder nach Hause.“ 

    Derweil wächst in Russland das Interesse an Immobilien in Mariupol. Auf YouTube gibt es „Room Tours“ durch die zerstörten Häuser, veröffentlicht werden sie vom Propaganda-Kanal Mirnyje (dt. Die Friedlichen).

    „Vom Balkon hat man eine fabelhafte Aussicht, kommt mit, ich zeige es euch“, sagt in einem dieser Videos eine Maklerin namens Natalja, während sie den Blick von der einstürzenden Decke abwendet und sich ihren Weg durch die zerstörten Möbel in der bombardierten Wohnung bahnt. 

    „Stellen Sie sich das mal vor, ein Bezirk wurde dem Erdboden gleichgemacht und man gibt den Menschen gar nichts“, entrüstet sich Oleg. Als Beispiel führt er das berühmte Haus mit der Uhr an, das 2022 beschädigt und bald darauf abgerissen wurde. Im Juli gab die Stadtverwaltung bekannt, dass die Wohnungen in dem neuen, rekonstruierten Haus mit der Uhr zum Verkauf stünden. Anzeigen in den sozialen Netzwerken zufolge kostet eine Einzimmerwohnung in dem noch nicht fertig gebauten Haus fünf Millionen Rubel [50.000 Euro – dek], für zwei Zimmer bezahlt man achteinhalb Millionen. Oleg ist sich sicher: „Einheimische können sich diese Wohnungen nicht leisten, auch nicht auf Kredit – in der Stadt gibt es keine Arbeit.“  

    Dabei sind die Wohnungen im Haus mit der Uhr längst verkauft, teilte das Büro des Bauunternehmens PKS-Development auf Anfrage von Mediazona mit. Laut dem Sales Manager sind nur noch Wohnungen im neunstöckigen Nachbarhaus verfügbar, das auch noch gebaut wird. 

    „Wir vergeben alle Wohnungen zu gleichen Konditionen“, hieß es in der Stellungnahme des Bauunternehmens. „Als Bauunternehmen sind wir nicht für Entschädigungen zuständig, wir bauen Häuser. Mit Entschädigungsfragen beschäftigt sich die Lokalverwaltung.“ 

    „Die Besatzungsregierung hat nicht die Mittel, um die Stadt vollständig wiederaufzubauen“, sagt Oleg. „Öffentliche Verkehrsmittel funktionieren nach wie vor nicht, obwohl die prorussische Lokalpresse das Gegenteil behauptet. Gleichzeitig boomt der Immobilienbau durch private Investoren.“

    „Es kommen Lkws aus Taganrog oder Rostow mit fertigen Zimmern auf der Ladefläche“, beschreibt Oleg das modulare Bauen. „Das sind Kästen mit Löchern für die Fenster, die werden aufeinandergestapelt, verschraubt, die Übergänge verspachtelt. Eins zwei drei – schon hat man Häuser.“

    Nach einem heftigen Sturm Ende November veröffentlichen ukrainische Nutzerinnen in Sozialen Netzwerken allerdings Bilder vom abgerissenen Dach eines solchen Neubaus im Westen Mariupols. „So viel zur Qualität“, war der Kommentar zum Post.

    „Nach dem Sturm im November blieben 3500 Haushalte in Mariupol ohne Strom“, teilte der stellvertretende Bürgermeister Oleg Morgun mit. „Privathaushalte waren mehr als zehn Tage lang vom Stromnetz abgeschnitten, manche Bezirke sogar bis Ende Dezember.“

    Im März 2023 besuchte Wladimir Putin das besetzte Mariupol. Er war auch in Newski, dem Neubau-Bezirk. Als er sich mit den Leuten auf der Straße unterhielt, rief eine Frauenstimme im Hintergrund etwas, das viele später als „Das ist alles gelogen. Das ist alles nur zum Schein“ erkannten. Diese Sequenz wurde aus dem Beitrag auf der Kreml-Webseite entfernt. Genau wie eine andere, in der ein älterer Herr zu Putin sagt, er habe „mit 70 Jahren alles verloren“. „Jetzt hat er wieder alles“, korrigierte ihn sofort eine Nachbarin mit nervösem Lachen. 

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    Die Leere, die Nawalny hinterlässt

    Alexej Nawalny wurde heute in Moskau beerdigt. Zum Trauergottesdienst im Bezirk Marjino und zur anschließenden Beisetzung auf dem Borissowski-Friedhof kamen Zehntausende Menschen. Hunderttausende verfolgten die Ereignisse online im Livestream. Auf Telegram nimmt die inzwischen im Exil lebende russische Journalistin Olga Beschlej Abschied – von Nawalny und einem Teil ihrer Lebensgeschichte.

    So wie hier in Sankt Petersburg fanden in ganz Russland spontane Gedenkveranstaltungen für Alexej Nawalny statt. Auch zu seiner Beerdigung kamen zehntausende Menschen / Foto © IMAGO / ZUMA Wire

    die erste politische Erschütterung in meiner Jugend war der Mord an Anna Politkowskaja: Ich war damals gerade erst fürs Studium nach Moskau gezogen, und Politkowskaja war für mich ein Beispiel an journalistischem Mut und beruflicher Hingabe

    ich weiß noch, wie ich mit einer Freundin Blumen zu ihrem Haus auf der Lesnaja Straße brachte, und schon damals war da dieses starke Gefühl von Verlorenheit und Verstörtheit

    ich hatte nicht den geringsten Zweifel, dass der Mord im Interesse der Regierung organisiert worden war, und ich dachte voll Besorgnis an die Zukunft des von mir gewählten Berufs

    der Mord an Boris Nemzow war in anderer Art ein Schlag: Boris Jefremowitsch war oft in der Redaktion der Zeitschrift, bei der ich arbeitete, wir hatten oft telefoniert und sogar zusammen Korrekturen an seinen Artikeln vorgenommen

    ich kannte ihn oberflächlich, aber ich kannte ihn

    und bis heute wünsche ich, ich könnte die Fotos von der Großen Moskwa-Brücke ungesehen machen

    nach dem Tod von Alexej Nawalny lebe ich in innerer Taubheit: ich sage, schreibe, tue was, aber kann meine Gefühle weder benennen noch beschreiben 

    ein riesiger Teil meines Lebens war mit Nawalny verbunden: journalistische Arbeit bei Demonstrationen, Berichterstattung bei Wahlkampagnen und Strafprozessen

    ich hatte die Möglichkeit politisch teilzuhaben, weil Nawalny, Nemzow, Jaschin (und viele andere Menschen, die ich jetzt nicht aufzähle, an die ich aber natürlich denke) Politik gemacht haben in einem unfreien Land, trotz allem und ungeachtet dessen

    ich glaube, dass es in Russland Änderungen zum Besseren geben wird: das Regime wird zusammenbrechen

    aber das Russland, von dem ich geträumt habe, wird es nicht mehr geben: Menschen, mit denen ich Wandel und Zukunft assoziiert habe, wurden entweder ermordet oder verlieren im Lager ihre Gesundheit oder sind auf der ganzen Welt verstreut, und mir ist bewusst, dass nicht alle zurückkommen wollen oder können

    es wird etwas anderes

    meine Hoffnung ist stark wie nie und ich unterstütze sie in den Menschen um mich herum, denn das ist es, was jeder von uns tun kann im Gedenken an Alexej Nawalny und die anderen Opfern des Regimes – die Hoffnung bewahren, nicht verzweifeln, einander Mut machen

    ja, irgendwas tun! Egal was

    für den Erhalt der Zivilgesellschaft, die Wahrung unserer Werte und den Zusammenhalt der Menschen

    doch zusammen mit Nawalny ist ein Teil von mir heute vergangen

    und von ihm nehme ich Abschied

    an dieser Stelle ist jetzt Leere

    doch nicht für immer 

    ja, es wird etwas anderes kommen

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    Interview: Deutsche Alternativmedien und russische Propaganda

    Die Landschaft der sogenannten Alternativmedien in Deutschland floriert. Oft bedienen sie Narrative, die aus dem Kreml stammen: Der Westen habe Russland einen Verteidigungskrieg aufgezwungen, die NATO betreibe in der Ukraine Geheimlabore zur Herstellung von Biowaffen … dekoder hat mit der Kommunikations­wissenschaftlerin Arista Beseler gesprochen. Sie beschäftigt sich damit, wie Alternativmedien funktionieren und inwieweit Russland darin involviert ist.

    In Kooperation mit dem Magazin Compact veranstaltet die AfD im Feburar 2023 in München eine Demonstration gegen die ihrer Meinung nach putinfeindliche deutsche Politik / Foto © Sachelle Babbar/IMAGO/ZUMA Wire

    dekoder Was sind alternative Medien?

    Arista Beseler: Ich richte mich da nach der derzeitigen Standarddefinition von Holt, Figenschou und Frischlich: Alternative Medien sind solche, die sich klar vom Mainstream abgrenzen. Das kann über Meinungen zu großen Themen passieren, aber auch über formale Aspekte wie Organisationsstruktur, Finanzierung oder Hierarchien. Im deutschsprachigen Raum gehören dazu zum Beispiel die NachDenkSeiten, Compact, reitschuster.de, Tichys Einblick oder der Anti-Spiegel.

    In Meinungsumfragen geben 53 Millionen Deutsche an, regelmäßig Nachrichten zu konsumieren. Wie groß ist das Publikum der alternativen Medien? 

    Das ist schwer zu sagen, weil die Anzahl der Seitenaufrufe auf den alternativen Plattformen jeden Monat extrem variiert. Es kann sein, dass ein Medium einen Hit-Artikel veröffentlicht, der viel geteilt wird und in der ganzen Alternativ-Landschaft zirkuliert. Dann gibt es in dem Monat eine Million Leser:innen, aber im nächsten kann es wieder auf wenige Zehntausende absacken. Im Unterschied zu den etablierten Medien akquirieren und informieren die Alternativen ihre Leser:innen auch viel über soziale Medien, manche haben nicht einmal eine Website, die wenigsten verfügen über Printausgaben. Sie werden eher ergänzend zu traditionellen Blättern gelesen, insbesondere zu Regionalzeitungen, nicht stattdessen. Dabei hilft auch, dass die meisten alternativen Plattformen keine Paywall haben. Sie finanzieren sich über Spenden oder Online-Shops. 
    In meiner Untersuchung zu der monatlichen Reichweite der Websites habe ich mich auf die Daten von Similarweb gestützt, bei Sozialen Netzwerken bietet die Follower- und Abonnentenzahl eine Orientierung hinsichtlich der Reichweite. 

    Daten vom 14. Juni 2022. Monatliche Reichweite der Websites laut Similarweb, Follower- und Abonnentenzahl auf Sozialen Netzwerken. Zusammenstellung: Beseler, Toepfl

    Und was zeichnet diese Plattformen aus?

    Oft scheint es sich dabei um die Privatprojekte einer Person zu handeln, dazu gibt es dann regelmäßige Gastbeiträge. In vielen Fällen – wie bei reitschuster.de oder bei Neues aus Russland von Alina Lipp – erwecken diese Seiten den Eindruck eines persönlichen Blogs oder Tagebuchs mit Meinungsbeiträgen. Das macht sie natürlich auch sehr nahbar, obwohl fraglich ist, ob hier wirklich der ganze Aufwand alleine geschultert wird. Die Aufnahmen von Lipp beispielsweise sind oft zu gut, als dass sie ohne professionelles Team entstanden sein könnten. Eine weitere Gemeinsamkeit ist, dass die Betreiber:innen sich zu Wahrheitssucher:innen stilisieren, deren Meinung nicht vom Staat kontrolliert wird. 

    Viele der Portale äußern sich sehr putinfreundlich und rechtfertigen den russischen Krieg gegen die Ukraine. Gibt es denn direkte Verbindungen nach Russland?

    Es gibt drei Arten von Verbindungen: organisatorisch, medial und persönlich. Die meisten davon sind medial, folgen also aus gegenseitigen Verlinkungen, Werbung und Gastbeiträgen und -auftritten. Die NachDenkSeiten etwa haben unter anderem einen Beitrag dazu verfasst, wie man mittels VPN die Sperre von RT Deutsch umgehen kann. Diese Art der sehr öffentlichen Unterstützung trifft auf 9 der 20 von mir analysierten Medien zu. Danach folgen organisatorische Strukturen, also Förderung eines Portals aus kremlnahen Quellen. Dazu zählt laut Medienberichten zum Beispiel Compact, das mit dem russischen Propagandaorgan Institute of Democracy and Cooperation kooperiert. Zudem tritt Compacts Chefredakteur Jürgen Elsässer häufig im russischen Fernsehen auf und hat auch schon mit RT zusammengearbeitet. Auch Ken Jebsen (bürgerlicher Name Kayvan Soufi-Siavash), der die Plattform Apolut betreibt, kooperierte etwa laut NDR-Podcast Cui bono: WTF happened to Ken Jebsen? mit dem russischen Propagandaorgan RT Deutsch. Ein anderes Beispiel ist Florian Warweg, der Ex-Online Chefredakteur von RT Deutsch, der nun Redakteur bei den NachDenkSeiten ist. Dieses Medium bezeichnen einige als das Hausblatt von Sahra Wagenknecht, der wiederum ebenfalls nicht selten vorgeworfen wird, Kreml-Narrative zu bedienen. Insgesamt sind auch die persönlichen Verquickungen zum Kreml in deutschsprachigen Alternativmedien sehr eng.

    Unterstützen die Alternativmedien uneingeschränkt alle russischen Positionen, sind sie also sozusagen ein erweiterter Propaganda-Arm, oder gibt es da auch Abweichungen?

    Insgesamt ist der Support sehr abhängig vom jeweiligen Thema. Beim Thema Gendern etwa springen die Alternativmedien gerne auf den Zug der „traditionellen Werte“ auf. Hier gibt es große inhaltliche Schnittmengen zwischen der Kreml-Propaganda und der Ausrichtung von Alternativmedien. Der Kreml setzt auf eine Ideologie der Ablehnung von progressiven Werten: Das „verfaulte Gayropa“ sei scheinheilig und verlogen und so weiter. Ähnliches lässt sich auch in den Alternativmedien finden mit ihrer Kritik am Umweltkonsens, Gleichstellung, oder mit ihren Abgesängen auf den Westen. Überschneidungen gibt es auch zwischen Anti-Establishment-Themen, Antiamerikanismus und Verschwörungserzählungen. In der Frage, ob man die Ukraine im Krieg unterstützen soll, gehen die Meinungen jedoch stark auseinander. Boris Reitschuster, die Junge Freiheit und Tichys Einblick verurteilen den Krieg und stehen auf der Seite der Ukraine. Reitschuster ist außerdem ein vehementer Kritiker von Putin und seinem System. Er hat sich damit bei seinen Leser:innen offenbar unbeliebt gemacht, seine Abonnent:innenzahlen auf Telegram sind laut Correctiv zurückgegangen, nachdem er den russischen Angriffskrieg verurteilt hat. Vielleicht hängt er sich auch deswegen immer noch an Corona auf, um das Thema Ukraine zu umschiffen.

    Warum kooperieren die Alternativmedien mit dem Kreml? Geht es da um ideologische Gemeinsamkeiten oder eher ums Geschäft?

    Es sind vermutlich eher pragmatische Entscheidungen, mit dem Kreml zu kooperieren. Da geht es dann vor allem ums Finanzielle, gar nicht unbedingt darum, dass man so ein großer Russlandfreund ist. Die Themen kommen gut beim Publikum an, generieren Klicks. Untereinander sind die Alternativmedien sehr gut vernetzt und beliefern sich gegenseitig mit Materialien. Sie bilden einen eigenen kleinen Kosmos. Im Gegenzug profitiert der Kreml davon, dass Compact und Co nicht direkt mit Russland assoziiert werden. Das gibt seiner Propaganda hier in Deutschland mehr Glaubwürdigkeit.

    Die Kreml-Nähe der Alternativmedien ist also mehr Opportunismus als Ideologie. Trifft das auch auf die Leser zu? 

    Es ist denkbar, dass beides zutrifft: Die Leser:innen der Alternativmedien denken vielleicht: Die machen alles falsch da oben, ich hätte lieber einen starken Anführer wie Putin, der würde uns niemals ein Tempolimit auferlegen oder uns zum Gendern zwingen. Wer eher traditionelle oder konservative Werte vertritt, bekommt den Eindruck, dass liberale Errungenschaften wie die gleichgeschlechtliche Ehe oder der Ausbau des Sozialstaats Deutschland schlechter machen. Solche Narrative werden zwar vor allem von rechtsorientierten Personen getragen. Aber auch Leute, die sich auf dem ganz linken Spektrum verorten, können Russland unterstützen – siehe Sahra Wagenknecht. Da greift dann nicht selten das Prinzip „der Feind meines Feindes ist mein Freund“. Wer also kritisch gegenüber den USA oder Joe Biden eingestellt ist, findet in Russland eine Art Zweck-Verbündeten. In den traditionellen Medien finden diese Menschen ihre „kritischen“ Ansichten nicht wieder, also greifen sie zu vermeintlichen Alternativen. Dazu kommt nicht selten wohl auch das Gefühl der Müdigkeit, zu bestimmten Themen immer wieder dasselbe zu lesen.

    Der rechte und linke Rand scheinen in ihrem Russland-Bild Gemeinsamkeiten zu haben. Stimmt hier also die Hufeisentheorie?

    Die Personen, die solche Plattformen betreiben, wissen, dass sie an beiden Enden des Spektrums andocken können. Ken Jebsen zum Beispiel – als Aktivist der sogenannten Querfront – verbreitet sowohl sehr linke als auch sehr rechte Narrative. 2017 sollte er einen Literaturpreis erhalten, da waren auch viele Politiker:innen der Linken eingeladen – auch wenn die Partei dem Ereignis sehr gespalten gegenüberstand und die Preisverleihung letztendlich platzte. Gleichzeitig hetzt Jebsen gegen E-Autos und behauptet, die aktuellen Demonstrationen gegen Rechtsextremismus seien „von oben inszeniert“. Auch bei Wagenknecht finden sich sowohl linke als auch rechte Standpunkte. 

    Wagenknecht kommt offenbar auch in Teilen der gesellschaftlichen Mitte an. Stoßen die Alternativmedien in der Mitte auch auf Resonanz? 

    Ja, absolut. Da sind Otto Normalverbraucher:innen, die sich selbst oft politisch mittig verorten. Sie sind mit ihrem Alltag aktuell einfach unzufrieden: Alles wird teurer, komplizierter, man fühlt sich nicht mehr wahrgenommen oder einem gefällt nicht, in welche Richtung die Politik geht. Diese Unzufriedenheit können die Propagandamedien aufgreifen, um damit Hass zu schüren. Diese Mitte ist aber kein stabiler Ort: Ständig müssen neue Probleme mit den alten Ressentiments bedient werden, um die Dynamik am Laufen zu halten. Diese These, dass sich hauptsächlich Ungebildete von Verschwörungsrhetorik beeinflussen lassen, halte ich für falsch. Auch sehr gebildete Personen sind Teil dieses Publikums. In der Querdenkerszene, bei der AfD und so weiter sind auch Personen mit Doktortitel und sogar Professor:innen. Meine aktuelle Hypothese ist, dass die vielleicht denken, dass sie über den Dingen stehen und deshalb die Verschwörung als einzige „durchschauen“ können.

    Was könnte die Attraktivität der Plattformen senken?

    Aufklärungsarbeit ist das Wichtigste. Prebunking ist eines der erfolgreichsten Mittel, um Desinformation zu entschärfen. Das funktioniert so, dass man im Vorhinein bestimmte Propaganda-Narrative erklärt und sagt, warum das Propaganda ist und was diese Narrative auslösen sollen. Wenn die Personen dann „in freier Wildbahn“ diesen Narrativen ausgesetzt sind, sollen sie dazu in der Lage sein, diese zu erkennen und zu wissen: Aha, der Seite kann ich nicht vertrauen – zum Beispiel, weil Russland sie finanziert. Mehr Transparenz wäre auch wichtig. Man muss sehr lange buddeln, bis man versteht, wie diese ganze Landschaft von Alternativmedien überhaupt funktioniert, wie groß der russische Einfluss ist. Das gilt vor allem für die extreme Minderheit, die nur noch Alternativmedien konsumiert und gar nichts mehr aus den etablierten Massenmedien mitbekommt. Es wäre wichtig, diese Personen wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Da hilft es nicht, zu sagen: „Diese Leute mit ihren Aluhüten sind verloren, da kann man nichts mehr machen“. Diese Menschen haben ernsthafte Ängste vor der Zukunft, Existenzsorgen, und sie fühlen sich von der Gesellschaft ausgeschlossen. Sie flüchten sich in diese Propaganda, weil sie ihnen Trost bietet.

    Interview: Alexandra Heidsiek

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