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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Wie Russland den Krieg verdrängt

    Wie Russland den Krieg verdrängt

    Seit Wladimir Putin im Februar 2022 den Befehl zum Überfall auf die Ukraine gegeben hat, beschäftigt Beobachter im In- und Ausland eine Frage: Wie stehen die Menschen in Russland zu diesem Krieg? Umfragen haben in einer Diktatur nur begrenzte Aussagekraft. Nur sehr wenige sind überhaupt bereit, daran teilzunehmen. Und wenn für Kritik am Krieg hohe Strafen drohen, trauen sich viele Befragte nicht, ihre Ansichten frei zu äußern.

    Eine Gruppe engagierter Sozialforscherinnen und Sozialforscher aus Russland hat sich bereits 2011 zum Public Sociology Laboratory (PS Lab) zusammengeschlossen. Weil Umfragen nur unbefriedigende Antworten zur Haltung der Russen zum Krieg geben konnten, versuchten sie einen anderen Ansatz: Die Methode der teilnehmenden Beobachtung geht auf den polnischen Sozialanthropologen Bronislaw Malinowski zurück, der Anfang des 20. Jahrhunderts mehrere Monate auf den Trobriand-Inseln in der Südsee verbrachte, am Leben der Bewohner teilnahm und deren Gesellschaft in seinem Buch Argonauten des westlichen Pazifik beschrieb. Das Werk wurde zu einem Klassiker der Sozialanthropologie. Andere Forschende entwickelten die Methode der teilnehmenden Beobachtung weiter und wandten sie auch auf die eigenen Gesellschaften an.

    Im Sommer 2023 verbrachten Forscherinnen des PS Lab jeweils einen Monat in einer russischen Kleinstadt und führten ein wissenschaftliches Tagebuch über ihre Beobachtungen. Das Portal Re:Russia veröffentlicht die Beobachtungen aus einem Ort in der Oblast Swerdlowsk. In ihrem Feldtagebuch stellt die Beobachterin nüchtern fest: Jemand, der am 23. Februar 2022 eingeschlafen wäre und in Tscherjomuschkin im Herbst 2023 aufwachte, müsste sich ordentlich Mühe geben, um überhaupt zu merken, dass das Land sich im Krieg befindet.

    PARALLELES TSCHERJOMUSCHKIN. Gegenwart UND Abwesenheit DES KRIEGES IN EINER RUSSISCHEN PROVINZSTADT

    Über diesen Text

    Zu Beginn des Krieges war die wichtigste Frage für Experten, Politiker und Russen generell die nach den Merkmalen der Unterstützung für den Krieg: Wer unterstützt den Krieg, warum, und welchen Anteil machen diese Menschen an der Gesamtbevölkerung aus? Zwei Jahre später sind viele Bewohner Russlands unmittelbar vom Krieg betroffen. Weil sie an die Front müssen, Angehörige verlieren oder in grenznahen Gebieten Opfer von Beschuss werden. Derweil gewöhnen sich die Gesellschaft und die Wirtschaft an die Kriegswirklichkeit und passen sich an. Für Experten, Analytiker und das interessierte Publikum stellt sich damit eine neue Frage: Nehmen die Bewohner Russlands die Auswirkungen des Krieges auf ihr alltägliches Leben überhaupt wahr? Passen sie sich an das Geschehen an, und wenn ja, wie? Worüber freuen sie sich, womit sind sie unzufrieden?

    Umfragen und formalisierte Interviews allein sind nicht geeignet, die Frage zu beantworten, wie die Russen in dieser neuen Realität leben, von der der Krieg ein untrennbarer Teil ist. Dazu ist ein besonderer Forschungsansatz vonnöten, nämlich eine systematische teilnehmende Beobachtung. Wir wissen, dass Menschen brisante Themen untereinander ganz anders besprechen, als sie es Soziologen, also Fremden gegenüber tun würden. Trotz der vielen Risiken, die heute in Russland mit einem solchen Ansatz verbunden sind, war das Team von PS Lab mit seinem Projekt erfolgreich: Im Herbst 2023 fuhren die Mitglieder des Teams in drei russische Regionen – in die Swerdlowsker Oblast, in die Republik Burjatien und in die Region Krasnodar – und verbrachten dort jeweils einen Monat.

    Während ihrer ethnografischen Studien nahmen unsere Forscherinnen neben den Tiefeninterviews auch den öffentlichen Raum in den Städten in den Blick, und notierten, wie der Krieg sich dort niederschlägt. Sie besuchten öffentliche Veranstaltungen zum Krieg und zu patriotischen Themen, sprachen mit Taxifahrern, Verkäufern, Barmännern und mit Mitarbeiterinnen von Nagelstudios. Dabei fragten sie unschuldig, wie sich die „militärische Spezialoperation“ (russ. SWO) auf das Leben in der Stadt auswirke. Unmittelbar nach diesen Gesprächen hielten sie deren Inhalt sowie ihre Beobachtungen in ethnografischen Tagebüchern fest. Dadurch konnten neben den 75 Interviews mit Bewohnerinnen und Bewohnern dieser drei Regionen 698 Seiten (rund 330.000 Wörter) detaillierter Beobachtungen zum Alltag in Kriegszeiten und aus Gesprächen über den Krieg festgehalten werden, die in einer Atmosphäre stattfanden, die nicht durch eine Interview-Situation verfälscht wurde.

    In diesem Beitrag veröffentlichen wir eine Analyse der Daten, die auf einer dieser Reisen erhoben wurden. Die Stadt Tscherjomuschkin, von der die Rede sein wird, sucht man auf der Karte der Swerdlowsker Oblast vergebens. Der Name ist erfunden, doch die Stadt, die sich dahinter verbirgt, ist real. Auch alle anderen Namen in diesem Text wurden geändert.

    Irgendwo im Ural: Eine Stadtlandschaft zu Kriegszeiten

    Die Swerdlowsker Oblast gehört zu den zehn industriell am stärksten entwickelten Regionen Russlands. Jekaterinburg ist die viertgrößte Stadt des Landes, die Oblast ist mit 4,2 Millionen Einwohnern die fünftgrößte Region Russlands, wobei 86 Prozent der Bevölkerung in Städten leben. Den Daten der Statistikbehörde Rosstat zufolge betrug 2023 das mittlere Einkommen 53.300 Rubel [derzeit knapp 560 Euro], es liegt damit leicht über dem russischen Durchschnitt von 51.300 Rubel [535 Euro]. Der Anstieg des Realeinkommens betrug gegenüber dem Vorjahr 6,5 Prozent und war damit höher als in ganz Russland (5,6 Prozent).

    Die Stadt Tscherjomuschkin gibt es nicht. Die Forschenden haben sich den Namen ausgedacht, um sich und ihre Gesprächspartner zu schützen. Die Bilder zu diesem Text wurden in anderen russischen Kleinstädten aufgenommen / Foto © Mikhail Sinitsyn/Imago/Itar-Tass

    Einer Recherche von Washnyje istorii und dem Conflict Intelligence Team zufolge liegt der Anteil der Männer, die in die Armee einberufen wurden, in der Swerdlowsker Oblast mit rund 10.000 Personen etwa im russischen Durchschnitt. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums haben 12.500 Einwohner der Oblast 2023 einen Vertrag über einen Einsatz im Krieg gegen die Ukraine abgeschlossen; bis April 2024 waren es weitere 2500. Wer einen solchen Vertrag unterschrieb, bekam von der Oblastverwaltung einmalig 100.000 Rubel [etwas mehr als 1000 Euro] ausbezahlt. Ab Juni 2024 wurde diese Summe auf 400.000 Rubel [knapp 4200 Euro] erhöht, wie regionale Medien berichteten.

    Die Zahl der bestätigten Toten durch den Krieg liegt (nach Angaben eines Projektes von BBC und Mediazona) bei 1820. Damit rangiert die Region in Russland ganz oben, was zum Teil auf ihre hohe Bevölkerungszahl zurückzuführen ist (2,9 Prozent der russischen Gesamtbevölkerung). Auf die Region entfallen 3,4 Prozent aller bestätigten Toten.

    Auf dem Gebiet der heutigen Swerdlowsker Oblast befanden sich bereits Anfang des 18. Jahrhunderts die wichtigsten Bergbauunternehmen Russlands. Rund um diese Industrieunternehmen entwickelten sich Siedlungen und in weiterer Folge Städte. In einigen Industriestädten der Uralregion hat der Krieg beträchtliche Auswirkungen auf die Wirtschaft: Produktionsstätten, die sich in den vergangenen Jahren im Niedergang befanden, sind nun auf Kriegswirtschaft umgestellt worden. Die Nachfrage schnellte in die Höhe, die Löhne stiegen, was Fachkräfte aus ganz Russland anlockte.

    In Tscherjomuschkin, wo wir die Studie durchführten, ist all das jedoch ausgeblieben. Das stadtbildende Unternehmen ist bereits in den 1990er Jahren geschlossen worden. Tscherjomuschkin hat rund 12.000 Einwohner. Ein beträchtlicher Teil ist im öffentlichen Dienst angestellt und bekommt bescheidene Gehälter. Als vergleichsweise einträglich gilt eine Beschäftigung in der Zellulosefabrik. Nach Kriegsbeginn und Verhängung der Sanktionen brachen jedoch nach Aussagen unserer Gesprächspartner die Geschäfte in diesem Bereich ein, weil vorwiegend für den Export produziert worden war. Eine Fahrstunde von Tscherjomuschkin entfernt liegt eine recht große Strafkolonie. Einige Einwohner der Stadt arbeiten entweder selbst dort oder kennen Mitarbeiter oder Häftlinge persönlich. Sie wissen, was sich in der „Zone“ tut. Nachrichten über die Anwerbung von Häftlingen sind für viele Bewohner der Stadt nichts Besonderes.

    Laut Aussage der Einwohner ist Tscherjomuschkin nach regionalen Maßstäben ziemlich arm. In vielen Häusern gibt es keine zentralisierte Versorgung mit Wasser und Gas. Das Verlegen einer Wasserleitung kostet rund 100.000 Rubel [etwa 1000 Euro], was für viele unerschwinglich ist. Unsere Feldforscherin, die rund einen Monat in der Stadt verbrachte, hatte den Eindruck, dass Tscherjomuschkin der Gebäudestruktur, den Alltagsbedingungen und der sozialen Organisation nach stellenweise an ein großes Dorf erinnert.

    In der Stadt gibt es das klassische Repertoire von Orten und Einrichtungen, die in fast jeder russischen Stadt dieser Größe zu finden sind: einen zentralen Platz, ein Haus der Kultur, ein Museum, eine Kirche, einige Verwaltungsgebäude, Schulen und Kindergärten. In Tscherjomuschkin gibt es mehrere Cafés, Lebensmittel- und Haushaltswarengeschäfte, Apotheken und Schönheitssalons. Trotz ihrer geringen Größe kann man nicht sagen, dass die Stadt von der Welt abgeschnitten wäre: Es kommen recht oft Touristen hierher, die im Ural umherreisen.

    Stellt man sich jemanden vor, der in Tscherjomuschkin am 23. Februar 2022 einschläft und im Herbst 2023 aufwacht, würde dieser schwerlich merken, dass seit über anderthalb Jahren Krieg herrscht. Unsere Feldforscherin hat in den Wochen, die sie kreuz und quer durch die Stadt lief, nur selten Symbole entdeckt, die auf den militärischen Konflikt hinweisen: zwei, drei Autos mit Z-Aufklebern und patriotischen Parolen, zwei verblichene Flaggen an der Fassade des Hotels (eine mit einem Z, eine in den Farben des Georgsbandes), die aber kaum zu sehen sind. In der Stadt waren keine Werbetafeln für einen Dienst als Vertragssoldat und keine einschlägigen Symbole an den Türen staatlicher Einrichtungen zu sehen.

    Nach Aussage der Unternehmerin Tonja, die mit den Ereignissen in ihrer Stadt gut vertraut ist, sind in Tscherjomuschkin sichtbare Hinweise auf den Krieg im Laufe des letzten Jahres fast vollkommen verschwunden. Die Leute haben die Aufkleber von ihren Autos entfernt. Verabschiedungen von Soldaten, die an die Front fuhren, Begräbnisse und Trauerfeiern für Gefallene, die früher Aufmerksamkeit erregten, ziehen kein unbeteiligtes Publikum mehr an. Die Leute in der Stadt unterhalten sich seltener über den Krieg.

    Jemand hat das Wort „Wozu?“ an die Fassade eines Plattenbaus gesprüht / Foto © Mikhail Sinitsyn/Imago/Itar-Tass

    In Tscherjomuschkin gibt es praktisch keinen öffentlichen Raum. Das Café Ulybka (dt. Lächeln) ist wohl der einzige Ort dieser Art. Unsere Feldforscherin besuchte es täglich, um dort zu Mittag zu essen, am Notebook zu arbeiten oder sich mit Informanten zu treffen. Sie versuchte zwar nach Kräften mitzuhören, worüber an den Nachbartischen gesprochen wurde, bekam jedoch nur einmal Gespräche über den Krieg mit. Eine Gruppe von acht, neun festlich gekleideten Männern und Frauen hatte sich dort tagsüber getroffen, etwa 50 bis 55 Jahre alt. Wie sich später herausstellte, handelte es sich wohl um ein Klassentreffen.

    Als die Musik mal leiser wird, kann ich einen Trinkspruch verstehen: „Also – auf den Sieg!“, sagt eine der Frauen. Die anderen stimmen ein: „Auf den Sieg!“, „Auf den Sieg!“ Das Klirren der Gläser verklingt, eine andere Frauenstimme ist zu hören: „Und wann kommt er endlich, unser Sieg?“ Die Frage geht an einen großgewachsenen, schwergewichtigen Mann mit tiefer Stimme. Von seiner Antwort verstehe ich nur einzelne Worte: „Polen“, „Faschisten“, „NATO“. Nach dem Monolog erfolgt die Reaktion der Frau: „Ah, das heißt also, dass es noch lange dauern wird …“ Eine andere Frau schaltet sich in das Gespräch ein: „Als ich jung war, dachte ich immer: Wie schade, dass ich nicht während des Zweiten Weltkriegs gelebt habe – wie gern hätte ich eine Heldentat vollbracht! Jetzt denke ich: Was war ich doch für eine Idiotin! Jetzt weiß ich, dass ich das sicher nicht könnte.“ Wieder ist die Antwort des Mannes nicht zu verstehen. Nur, dass es jetzt um Prigoshin geht. Etwa zehn Minuten nach dem Toast „auf den Sieg“ wechselt das Gespräch zu Alltagsthemen; über Politik und den Krieg wird nicht mehr gesprochen.
    Ethnografisches Notizbuch, August 2023

    Es ist nur schwer abzuschätzen, inwieweit der beschriebene Fall exemplarisch ist. Möglicherweise wurde das Thema nur deshalb aufgegriffen und von einer ritualisierten Oberflächlichkeit auf eine konkretere Ebene verschoben („Und wann kommt er endlich, unser Sieg?“), weil am Tisch ein „Experte“ saß. Später stellte sich heraus, dass der Mann ein pensionierter Mitarbeiter des FSB war. Bezeichnend ist, dass das Thema Krieg mit Leichtigkeit aufgegriffen wurde und bei den Anwesenden zu keiner Anspannung führte. Genauso leicht wurde es aber auch fallengelassen, da es kein besonderes Interesse hervorrief und im Alltagsgeplauder versank.

    Während es praktisch keinen öffentlichen Raum in der Stadt gibt, wird die Seite eines lokalen Mediums auf Social Media rege zum Austausch genutzt. Wie Informanten berichten, haben sich die Menschen dort in der ersten Zeit nach Kriegsbeginn geäußert und über den Krieg diskutiert. Mit der Zeit allerdings wurden „unliebsame“ Kommentare und Posts (mitunter zusammen mit den Verfassern) schnell aus den Chats entfernt, wohl von einer Beamtin mit Administratoren-Status.

    Alewtina Nikiforowna, eine Rentnerin, die sich mit Putzen und als Haushaltshilfe ihr Einkommen aufbessert und zu unserer Feldforscherin Vertrauen fasste, erklärte, dass auf kritische Kommentare zum Krieg „losgegangen“ wurde. Die Verfasser wurden mit den üblichen Beleidigungen überschüttet (Ukrop). Außerdem erhielt ein Einwohner von Tscherjomuschkin eine nach örtlichen Maßstäben empfindliche Geldstrafe, weil er ein Video mit Anti-Kriegs-Botschaften geteilt hatte. Diese Nachricht sprach sich herum (die Soziologin hörte von mehreren Seiten davon), woraufhin die Bewohner der Stadt keine Kommentare oder Reaktionen auf Nachrichten mehr in den sozialen Netzwerken hinterließen.

    Andacht, Festzelt, Konzert. Öffentliche Veranstaltungen und institutionelle Unterstützung des Krieges

    In den ersten Monaten nach Kriegsbeginn und später, nach Verkündung der Mobilmachung im Herbst 2022, wurden in Tscherjomuschkin „patriotische“ und „Freiwilligen“-Veranstaltungen abgehalten, die der Heroisierung der „militärischen Spezialoperation“ (russ. SWO) und der Hilfe für die Front dienen sollten. Frisch eingezogene Soldaten wurden feierlich verabschiedet, für Bewohner der Stadt, die im Krieg gefallen waren, wurden öffentliche Beisetzungsfeiern abgehalten, das örtliche Museum veranstaltete Sammlungen, gemeinsam wurden Tarnnetze geknüpft und so weiter. Nach Aussagen von Informanten hat die Intensität dieser Veranstaltungen im Laufe des Jahres nachgelassen. Während unsere Feldforscherin in der Stadt war, konnten sich ihre Gesprächspartner an kein öffentliches Event aus den vergangenen Monaten erinnern, das mit dem Krieg zusammenhing.

    In Tscherjomuschkin gibt es keine Organisationen, die mit dem Krieg zu tun haben und permanent aktiv sind – weder Freiwilligenverbände, noch Zentren zur patriotischen Erziehung oder Spendensammelstellen für die Front. Gesellschaftliches Engagement kann sich nur auf der Basis bestehender Plattformen entfalten – des Kulturhauses, des Heimatkundemuseums, der Bibliothek, der Kirche, der Schule. Meist steht und fällt es mit dem Engagement Einzelner. So wurde der Soziologin zum Beispiel von einer Sammlung von Hilfsgütern für die Front berichtet, die der Museumsdirektor Pjotr Iwanowitsch organisiert habe. Als die Feldforscherin dort vorbeischaute, war von einer Sammlung nichts mehr zu sehen. Und im Interview erwähnte der Direktor die Sammlung mit keinem Wort.

    Von Ljubow Wassiljewna, einer Rentnerin, die in der Stadt häufig Veranstaltungen besucht, erfuhr unsere Feldforscherin, dass zu Beginn des Krieges das städtische Amt für Kultur- und Jugendpolitik halb freiwillige, halb erzwungene Spenden für die Front gesammelt habe: „Die von der ‚Kultur‘ sagten […]: Gebt so viel, wie ihr könnt“. Sie sprach über diese Initiative ohne Begeisterung und wie über etwas, das nicht mehr aktuell ist.

    Angesichts des allgemein gesunkenen Interesses am Krieg stach ein Bewohner der Stadt deutlich hervor, nämlich der Priester der örtlichen Kirche, Vater Konstantin. Er war vor kurzem an der Front gewesen, wo er Totenmessen abhielt und Soldaten segnete. In Tscherjomuschkin organisiert Vater Konstantin regelmäßig sogenannte Kriegerandachten. Entgegen den Erwartungen, ein Priester würde religiös argumentieren, sprach er gegenüber unserer Soziologin in weltlichen Worten und verwendete Klischees, die man aus dem Fernsehen kennt. So sprach er ernsthaft von den Gefahren durch „ausländische Agenten“ und „Vaterlandsverräter“. Auch die Priester zweier anderer Kirchen in benachbarten Dörfern ignorierten entweder alle Versuche, das Gespräch in eine religiös-dogmatische Richtung zu lenken, oder sie stemmten sich aktiv dagegen.

    Der Priester machte auf die Feldforscherin den Eindruck eines ideologisch überzeugten Verfechters des Krieges. Zumindest scheint sein öffentliches Engagement – die Andachten und die Reisen an die Front – einer persönlichen Begeisterung zu entspringen. Die Feldforscherin konnte zwei Andachten beiwohnen, die Vater Konstantin organisierte. Bei der ersten waren höchstens 15 Personen anwesend. Nach dem Gottesdienst erzählte der Priester kurz, wie er einen Monat an der Front verbrachte und Soldaten für den Kampf segnete. Er fügte hinzu, dass die sich alle „wacker halten und die Heimat verteidigen“, und dass sie „Gebete brauchen, Gott brauchen“.

    Bei der zweiten Andacht waren es doppelt so viele Besucher. Zur üblichen Gemeinde hatten sich Frauen gesellt, die nach Aussage von Darja, einer Pädagogin und aktiven Kirchgängerin, Angehörige gefallener Soldaten waren. Der Soziologin fiel auf, dass die Anwesenden Listen mit den Namen derjenigen in Händen hielten, für deren Heil gebetet werden sollte (allesamt Männer). Eine Liste trug die Überschrift: „Zivile Bewohner des Donbass“. Die einstündige Andacht endete mit einer Predigt von Vater Konstantin, in der er dazu aufrief „nicht nachzulassen“, „nicht nur an der Front zusammenzuhalten, sondern auch hier, in der Kirche“ und „möglichst viel zu beten, damit unsere Angehörigen lebend und gesund zurückkehren“. Schließlich sei der Sieg in der „heiligen militärischen Spezialoperation“ „mit uns“. Ethnografisches Notizbuch, September 2023

    Dadurch erzeugt Vater Konstantin zum einen in seinem Umfeld einen ideologisch aufgeladenen Raum. Andererseits zieht dieser Raum anscheinend nur einen begrenzten Kreis von immer denselben Leuten an. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Tscherjomuschkin nicht vom übrigen Russland, da insgesamt nur etwa neun Prozent der Bevölkerung mindestens einmal im Monat in die Kirche gehen.

    Vom ersten Tag an verfolgte die Feldforscherin die städtischen Bekanntmachungen und studierte eingehend Informationstafeln und Plakate. Sie erwartete, in Tscherjomuschkin die Früchte der massiven institutionellen Unterstützung für den Krieg zu finden. Als Erstes fand sie eine Ankündigung für den Film Swidetel (dt. Der Zeuge) im Kino des Kulturhauses. Es handelt sich hierbei um einen propagandistischen Film, der eine „alternative“ Sicht auf die Ereignisse in Butscha vermitteln und die Version in Zweifel ziehen soll, dass die Kriegsverbrechen dort von Soldaten der russischen Armee begangen wurden.

    In der Erwartung, etwas ethnografisch Wertvolles beobachten zu können, verlasse ich das Ulybka und gehe in Richtung Kulturhaus, das nicht weit entfernt steht. Es ist 17:55 Uhr, aber der Saal des Kulturhauses ist absolut leer. Ich frage die gelangweilte Kassiererin und erfahre, dass ich die Erste bin, die zur Vorstellung gekommen ist. Noch wurde keine einzige Karte verkauft. Ich setze mich auf die Bank gegenüber dem Eingang, aber die nächsten 15 Minuten kommt niemand. Ich frage bei der Kassiererin nach, ob das oft vorkommt. Sie meint: „Nicht oft, kommt aber vor.“ Ethnografisches Notizbuch, August 2023

    Bemerkenswert ist, dass auch eine weitere Filmvorführung (ein vom Kulturhaus angekündigter und organisierter Filmabend im Zelt auf dem Platz) auf ähnliche Weise nicht zustande kam. Die Soziologin wollte hingehen, weil ein propagandistischer Film auf dem Programm stand. Als sie jedoch auf den Platz kam, waren dort weder ein Zelt noch sonstige Anzeichen öffentlichen Lebens zu entdecken.

    Losungen zur Unterstützung der „Spezialoperation“ sind aus dem öffentlichen Raum verschwunden. Veranstaltungen mit patriotischer Agenda locken kaum Besucher an / Foto © Mikhail Sinitsyn/Imago/Itar-Tass

    Die größten Erwartungen der Soziologin galten dem Konzert zum Saisonauftakt im Kulturhaus mit dem Titel Wir lassen unsere Spezialoperateure nicht im Stich. Das Plakat für das „Benefizkonzert zur Unterstützung der Teilnehmer an der militärischen Spezialoperation“ war zwei Wochen zuvor ans schwarze Brett gehängt worden.

    In der Halle des Kulturhauses hängt gegenüber dem Eingang das Rohmaterial für ein Tarnnetz. Daneben versucht eine Frau in einer Art Tracht herauszufinden, wie das Knüpfen geht. Eine Gruppe Kinder, vielleicht 12 Jahre alt, sitzt auf den Sofas und spielt auf Tablets. Rechts vom Tarnnetz eine Schautafel mit Fotos von Uniformierten mit der Bildunterschrift ‚Vaterlandsverteidiger‘. Die meisten Fotos zeugen von patriotischen Aktionen: Schüler schreiben Briefe an Soldaten, Frauen knüpfen Netze und stopfen Socken, Männer in Tarnkleidung verladen Kisten mit Hilfsgütern in Autos. Auf einem der Fotos entdecke ich Vater Konstantin, der mit einem Dosenlicht posiert. Auf der anderen Seite eine Installation und eine Fotostrecke à la ‚russisches Bauernhaus‘ mit Samowar und Trachtenhemden. Eine Frau sitzt in einem roten Kleid und einem Kokoschnik vor einem Haufen Birkenreisig für die Sauna (anscheinend ein Workshop für das Binden von Birkenreisig).

    Im Saal die erste Nummer: Rund ein Dutzend Leute auf der Bühne, alle mit Mikrofon. Darunter der Leiter des Ensembles des Kulturhauses, eine Mitarbeiterin der Bibliothek und ein Schauspieler des örtlichen Theaters. Eine Komposition in Dur:

    Wir wünschen dir Liebe
    Wir wünschen dir Reichtum …
    Du bekommst deinen Stern,
    und genießt den ersehnten Sieg.
    Du bekommst deinen Stern,
    und genießt den ersehnten Sieeeeehieeg.
    Ethnografisches Notizbuch, September 2023

    Später stellte sich heraus: Das Lied heißt eigentlich Zum Geburtstag!, der Wunsch wird in der ersten Person Einzahl gesungen. Die Komposition wurde wohl wegen des Wortes „Sieg“, das in der letzten Zeile des Refrains langgezogen wird, als Eröffnungsnummer gewählt. Im Originaltext geht es übrigens nicht um einen Sieg auf dem Schlachtfeld, sondern um eine abstrakte individuelle Leistung des Geburtstagskindes. Das Bild, das auf der Bühne erzeugt wurde, erinnerte in keiner Weise an den Krieg oder andere aktuelle gesellschaftliche oder politische Ereignisse. Alle weiteren Stücke waren für Kulturhäuser in Russland typisch und wurden kaum an das Veranstaltungsthema angepasst.

    Die Moderatorin betritt die Bühne und verkündet feierlich: „Heute eröffnen wir mit Ihnen die Kultursaison. Und das ist der Moment von jenen zu sprechen, die sich ihr Leben nicht ohne Kunst vorstellen können und uns mit ihren Werken beglücken … Erlauben Sie mir, das größte und berühmteste Ensemble der Stadt vorzustellen, das Tanzensemble Feuervogel!“ In einer Pause zwischen zwei Stücken schaue ich mich um und versuche, in der Dunkelheit des Saales zu erkennen, was für Leute im Publikum sitzen. Die allermeisten sind Rentner. Einige jüngere Frauen sind wohl Mütter, deren Kinder bei dem Konzert mitmachen. Außerdem einige Frauen mittleren Alters, die wie Lehrerinnen oder Beamtinnen des Kulturamtes aussehen. Aller Wahrscheinlichkeit nach sind sie dienstlich auf der Veranstaltung.

    Nach Feuervogel treten noch einige Musikgruppen auf: Ehrfurcht, Singende Birken, Allegro … Das Repertoire besteht entweder aus Folklore bzw. russischer Volksmusik mit entsprechenden Kostümen und Videos, oder aus Schlagern (Evergreens aus der russischen und sowjetischen Schlagerwelt, schlecht vorgetragen). 
    Ethnografisches Notizbuch, September 2023

    Der einzige direkte Verweis auf die „militärische Spezialoperation“ kam von der Moderatorin ganz am Ende des Programms; er wurde aber auch nicht weiterentwickelt: 

    „Der heutige Abend steht unter der Devise: ‚Wir lassen unsere Spezialoperateure nicht im Stich‘. Das Konzert zur Eröffnung der Saison ist eine Benefizveranstaltung. Die gesamten Einnahmen fließen in die Unterstützung unserer Landsleute, die an der ‚militärischen Spezialoperation‘ teilnehmen. Wir bitten nun die Leiterin der Verwaltung für Kultur, Tourismus und Jugendpolitik der Stadtverwaltung Tscherjomuschkin, Walentina Subikowa, auf die Bühne!“ Entgegen meinen Erwartungen gab es auch in der Rede von Frau Subikowa nur einen indirekten Hinweis auf den Krieg („[…] den Ensembles möchte ich vor allem eines wünschen: künstlerischen Erfolg, neue Tänze, neue Lieder, neue Kompositionen. Ich wünsche allen Gesundheit, Gesundheit, Gesundheit! Und einen friedlichen Himmel über dem Kopf. Allen viel Glück!“). Ein Kindertanz mit Breakdance-Elementen schließt das Konzert ab. Die Kinder sind jetzt nicht mehr in russischer Tracht, sondern in Jeans und bunten T-Shirts. Das Lied heißt: ‚Vorwärts ihr Jungen, Verwegenen!‘…

    Alle verlassen das Kulturhaus. Nur am Fotostand bleiben zwei Frauen stehen. Sie reden über gemeinsame Bekannte, die sie auf den Fotos entdeckt haben.
    Ethnografisches Notizbuch, September 2023

    Während, wie gesagt, nach Aussagen von Gesprächspartnern unserer Feldforscherin in den ersten Monaten des Krieges in Tscherjomuschkin noch ganz unterschiedliche Veranstaltungen zur Unterstützung des Krieges stattfanden, blieben mit der Zeit nur die Unterhaltungsprogramme übrig. Diese berühren das Thema Krieg übrigens nur in den Titeln und Ankündigungen. Einige von ihnen existieren nur auf dem Papier. Andere unterscheiden sich kaum von Veranstaltungen, wie sie Bewohnern russischer Kleinstädte wohlbekannt sind. Und wieder andere, wie die beschriebenen Andachten, sind nur sehr schwach besucht und bleiben im Grunde eine Randerscheinung des gesellschaftlichen Lebens.

    Jemand, der am 23. Februar 2022 eingeschlafen wäre und in Tscherjomuschkin im Herbst 2023 aufwachte, müsste sich ordentlich Mühe geben, um seine Unkenntnis zu überwinden: Der Krieg ist in der Stadt nicht nur kaum spürbar, die Menschen reden auch nur selten davon, weder auf der Straße noch in den lokalen Kanälen der sozialen Netzwerke. Bei Veranstaltungen sind nur äußere Attribute des patriotischen Narrativs zu erkennen. Das Gefühl, dass der Krieg aus dem Alltag entschwindet, hat eine Informantin im Gespräch kurz und bündig zusammengefasst: „Wenn nicht immer wieder die Nachrichten von Toten und die Begräbnisse wären, könnte man glatt vergessen, dass Krieg ist.“ Die Aussage zeigt immerhin auch, dass der Krieg nicht komplett vergessen wird.

    Tod, Geld, Familie – der moralische Dreiklang einer Kleinstadt

    Einen Blick hinter die Alltagskulissen von Tscherjomuschkin verdanken wir Tonja, der wichtigsten Auskunftsperson unserer Soziologin. Die beiden kannten sich schon vor Beginn der Studie. Tonja ist eine junge Unternehmerin aus Tscherjomuschkin. Sie ist Eigentümerin des Schönheitssalons Stil und leitet gleichzeitig das erwähnte Café Ulybka. Tonja ist ein musterhaftes Mitglied der örtlichen Gesellschaft mit hohem sozialen Status und einem großen Bekanntenkreis. Die unterschiedlichsten Tscherjomuschkiner – vom Beamten über den Polizisten bis zur Hausfrau oder dem Fahrer – kommen ins Ulybka, um zu Mittag zu essen, Geburtstag zu feiern oder sich einfach zu unterhalten. Die älteren Stadtbewohner kennen Tonjas Eltern, die in der Stadt einen guten Ruf genießen. Wegen alldem ist Tonja überall im Ort hochangesehen. 

    Gleichzeitig ist Tonja ein Mensch mit „hauptstädtischem Background“: Ihre Hochschulbildung hat sie in Moskau erhalten, sie hat viele Freunde in Jekaterinburg, Sankt Petersburg und anderen Großstädten. Sie ist bei den tagesaktuellen Nachrichten immer auf dem neuesten Stand und liest alle wichtigen unabhängigen Medien. Im Kontakt mit anderen macht Tonja grundsätzlich keinen Hehl aus ihren oppositionellen Ansichten und ihrer Haltung gegen den Krieg, doch versucht sie diese auch niemandem aufzudrängen. Sie hält sich an die ungeschriebenen Gesetze des zwischenmenschlichen Umgangs, denen zufolge es eher nicht üblich ist, über Politik zu diskutieren. Im Gespräch mit anderen Bewohnern äußert sie immer wieder ihren Unmut über die Folgen des Kriegs (steigende Preise, drohende Einberufung ihrer Mitarbeiter und so weiter), spricht aber die Frage der moralischen, ethischen und politischen Rechtfertigung des Kriegs nicht an, weil sie weiß, dass sie nicht mit Verständnis rechnen kann. Wenn sie mit Vertretern der örtlichen Verwaltung zu tun hat, spart Tonja das Thema Krieg prinzipiell aus. 

    Tonja wurde in das Forschungsprojekt eingeweiht und zeigte sich sofort sehr interessiert. Dank ihrer Initiative und ihrer Position in der Gesellschaft konnte sie der Feldforscherin Zugang zu einem Kreis von Stadtbewohnern verschaffen, in dem ein freundschaftlicher Austausch im Alltag stattfand. Diese Menschen haben sich mit der Soziologin wohl gefühlt und ihr vertraut, obwohl sie eine Fremde war.                

    In den Gesprächen tauchten Themen rund um den Krieg selten von selbst auf. Öfter kam es vor, dass Tonja die Diskussion behutsam in die „nötige“ Richtung lenkte (zum Beispiel mit Fragen zu den damals aktuellen Nachrichten über Prigoshins Aufstand oder indem sie gemeinsame Bekannte an der Front erwähnte). Diese vorsichtigen Schritte zogen Gespräche über Themen rund um den Krieg nach sich. Einerseits verebbten diese wieder genauso leicht, wie sie begonnen hatten – die Beteiligten wechselten schnell zu anderen Themen. Es war klar, dass der Krieg in der Ukraine kein Thema war, das sie ständig beschäftigte. Andererseits hatten die Anwesenden immer etwas zu sagen, das auf die ein oder andere Weise mit dem Krieg in Zusammenhang stand. Im Gegensatz zu den Gründen und Zielen des Kriegs waren es vielmehr dessen Folgen und Auswirkungen, über die sie regelmäßig diskutierten.     

    Die Anzahl der Tscherjomuschkiner, die an die Front geschickt wurden, war nicht sehr hoch: Tonjas Bekannte zählten rund 20 Häftlinge auf, die aus der nahegelegenen Strafkolonie in den Krieg gezogen sind, rund 60 Einwohner wurden einberufen, weitere 20 meldeten sich freiwillig. Gleichwohl war jeder Tscherjomuschkiner wenn nicht direkt, so wenigstens über Eck mit jemandem bekannt, der aus dem Krieg zurückgekommen oder im Krieg gefallen war oder sich an der Front befindet. Insofern wurde jede Nachricht über einen Gefallenen, jede Einberufung oder Rückkehr aus dem Krieg allgemein bekannt. Tscherjomuschkin kennt keine Anonymität.    

    Im November 2022 warten frisch einberufene Soldaten am Bahnhof der Kleinstadt Jeworschino auf den Zug, der sie an die Front bringen wird. Anfangs war die Mobilmachung in Tscherjomuschkin ein wichtiges Gesprächsthema. Inzwischen hat die Stadtgesellschaft sich daran gewöhnt / Foto © Pavel Lisitsyn/Imago/SNA

    Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen vor allem Todesnachrichten über Bekannte. 

    „Aus unserer Verwandtschaft ist Wladik umgekommen. Den hat’s richtig zerfetzt. Wie war das noch? Im April ging’s los … Nein, es war März, als es ihn erwischte, aber zur Bestattung gebracht haben sie ihn erst im Juni“, erzählt Shanna, eine Krankenschwester im hiesigen Krankenhaus. Ethnografisches Tagebuch, August 2023 

    Der Tod eines Menschen kann kollektive Emotionen und Anteilnahme erzeugen, vor allem wenn ihn alle kannten und schätzten. Ein gutes Beispiel ist der Tod eines Lehrers, der einberufen wurde und sieben Tage, nachdem er Tscherjomuschkin verlassen hatte, im Sarg zurückkam, ohne überhaupt die Front erreicht zu haben. Der Tod des jungen Mannes, der mehreren Informanten zufolge wegen seiner menschlichen Qualitäten und seiner Liebe zu den Kindern „von allen vergöttert wurde“, war für die ganze Stadt eine Tragödie. Angeblich schluchzten die Trauergäste bei der Beerdigung vor Kummer und auch aus einem Gefühl der Ungerechtigkeit.

    „In Gesprächen äußern die Tscherjomuschkiner Bedauern über die Todesfälle – vor allem, wenn es darum geht, dass ganz junge Menschen in den Krieg geschickt werden. „Sie sind gerade mal mit dem Wehrdienst fertig“, ruft zum Beispiel die Nagelpflegerin Aljona. Ihre Kollegin Ljuda pflichtet ihr bei: „Sie schicken Kinder in den Krieg!“
    Ethnografisches Tagebuch, August 2023

    Solche Erwägungen lösen Kritik am militärischen Konflikt aus, wobei die Schuld an dessen Beginn abstrakten „Mächtigen dieser Welt“ zugeschoben wird, die ihre Ziele auf Kosten der einfachen Leute verfolgen. „Diese Arschlöcher haben einfach die Welt unter sich aufgeteilt! Und unsere Jungs müssen sterben, weil diese Scheißkerle sich nicht einig werden!“, resümiert Ljuda. Diese Kritik mündet jedoch nicht in eine Kritik an der russischen Regierung (die ja eigentlich die Entscheidung über die Mobilmachung getroffen hat). Und die Frage nach der Verantwortlichkeit konkreter Personen wird gänzlich ausgespart.  

    Als deutliche Antithese zum Krieg tritt das Paradigma der familiären Werte auf, in deren Licht die Kampfhandlungen definitiv verurteilt werden können. Die Rentnerin Ljubow Wassiljewna, die viele Jahre lang im Kulturzentrum gearbeitet hat, erinnert sich an den Tod eines anderen jungen Mannes, dessen Leiche nie in Tscherjomuschkin ankam: 

    „War ein netter Kerl, hat Akkordeon gespielt … Es gab nicht mal was zu beerdigen! Einen Kampfstiefel und ein Bein drin!“ Und sie wechselt sogleich vom persönlichen Charakter des Toten zu einem breiteren familiären Kontext, der für sie wichtig ist: „Die Mutter hatte nur den einen Sohn , sie hat ihn allein großgezogen, ohne Mann. Also, den Mann gab es schon irgendwo, aber sie waren getrennt. Ein einziger Sohn, und alt genug … Wenn er wenigstens einen Enkel hinterlassen hätte. Mädels, so ein Krieg ist wirklich was Furchtbares!“
    Ethnografisches Tagebuch, August 2023 

    Genau wie andere Gesprächspartnerinnen der Soziologin auch, erlebt Ljubow Wassiljewna den Krieg als Bedrohung für die Familie, und zwar auch auf ukrainischer Seite: „Ich frage mich, wo die ukrainischen Mädchen jetzt, wo schon so viele tot sind, noch ihre Bräutigame finden sollen? Woher die Männer nehmen, wenn sie alle im Krieg fallen?“ Dabei sprach Ljubow Wassiljewna während der Begegnung mit Tonja und unserer Feldforscherin mehrmals von der „Unterdrückung russischer Bewohner der Krim und des Donbass“ und zog sogar den auch für sie selbst wenig tröstlichen Schluss: Um den Krieg bald zu beenden, muss unbedingt Kyjiw erobert werden. („Also, wenn es die Kiewer Rus gab – dann nehmt doch endlich Kiew ein. Besetzt die Oblast Kiew und Kiew.“) Die Unversehrtheit der Familie ist allerdings eine so zentrale Frage für sie, dass in diesem Kontext sogar die Meinungsverschiedenheiten mit dem „Feindesland“ an Bedeutung verlieren und das propagandistische Narrativ in den Hintergrund tritt.  

    Der Krieg scheint fern und unsichtbar. In bestimmten Zusammenhängen, wird doch über ihn gesprochen: Wenn es um das Geld geht, das sich mit einem Einsatz verdienen lässt. Und wenn er Auswirkungen auf die Familien am Ort hat / Foto © Pavel Lisitsyn/Imago/SNA

    Ein weiteres wichtiges Thema, das unmittelbar mit dem Krieg zu tun hat, ist Geld und alles, was damit zusammenhängt – Sold, Vergünstigungen, Kompensationszahlungen, Anschaffungen). Die Bewohner des eher ärmlichen Tscherjomuschkin beschäftigt dieses Thema nicht weniger als Tod und Familie. Im Unterschied zu großen Städten sind Fragen von Einkommen und Ausgaben hier alles andere als privat. Wenn sich jemand ein neues Auto kauft, seine Wohnung saniert oder ein hohes Gehalt bezieht, dann weiß man das in der Stadt. Der Krieg hat in Tscherjomuschkin eine Menge solcher „Wirtschaftsnachrichten“ mit sich gebracht.

    Die Leute diskutieren rege darüber, wie man am Krieg verdienen kann: den Sold an der Front, das „Sarggeld“ und die Sozialleistungen. Tonjas ehemalige Mitschüler Artjom und Witja erinnerten sich bei einem Besuch bei ihr an gemeinsame Bekannte, die in den Krieg gezogen sind:

    „Michailow sagt: ‚Ich krieg 180.000 [etwa 1900 Euro], geil!‘.“ Die Krankenschwester Shanna erzählt Tonja, was sie von einem aus dem Krieg zurückgekehrten Bekannten gehört hat: „220.000 [etwa 2300 Euro] im Monat – Nebenkosten, alles bezahlt.“ 

    Tonjas Freund Kolja, der als Jugendlicher ein paar Jahre hinter Gittern saß, erzählte von einer jungen Bekannten, die es zu Reichtum gebracht hatte: Sie hatte einen Häftling geheiratet, den sie nur per Briefkontakt kannte, als der noch im Knast war. Bald hatte ihn die Söldnertruppe Wagner angeworben. 

    „Drei Monate hat er gekämpft, dann hat es ihn erwischt. Er war ein Heimkind, hat ihr alles sofort überschrieben. Sie hat sieben Millionen [73.000 Euro] bekommen. Und das für drei Tage, die sie ihn besucht hat!“, schloss Kolja lachend. 

    Abgesehen vom Einkommen sprechen die Tscherjomuschkiner auch darüber, was sie sich für diese „Kriegsgelder“ kaufen: Autos etwa oder Goldschmuck, den Sweta zufolge, einer Teilnehmerin an der „Frauenrunde“, „nur Leute kaufen, die Geld aus der Spezialoperation bekommen“. Ethnografisches Tagebuch, August/September 2023      

    Geld ist auch ein wichtiges Motiv, wenn über ethische und familiäre Konflikte gesprochen wird, die im Zusammenhang mit dem Krieg in Erscheinung treten. Ein Beispiel ist das Verhalten der Witwe des an der Front gefallenen Lehrers. Für das Sarggeld kaufte sie sich ein teures Auto, und schon einen Monat nach dem Tod ihres Mannes tanzte sie „ausgelassen“ (wie Zeugen es beschrieben) in der Diskothek. Der Fall der Witwe wurde auch von der Krankenschwester Shanna aufgegriffen, als diese bei Tonja vorbeischaute. Shanna erzählte, die Witwe würde als „Flittchen“ und als „Rumtreiberin“ gelten. Shannas Urteil unterschied sich von jenem der Gesellschaft: „Was soll sie denn sonst tun? Das Leben geht weiter, ist doch so.“ Ethnografisches Tagebuch, August 2023

    Ein vergleichbarer Fall wurde besprochen, als mehrere Frauen bei einer Mitarbeiterin des Schönheitssalons zusammensaßen. Die Nagelpflegerin Aljona erzählte von einer stadtbekannten Person: „Es gibt einfach solche Mädels à la Petrowa: Die hat sich für das Geld, das von ihrem Mann gekommen ist, eine Karre gekauft. Und in dieser Karre bumst sie ihren Liebhaber. Alle wissen das! Wenn er auf Fronturlaub ist, tut sie brav, hüpft und flattert um ihn rum, aber kaum ist er weg, geht es wieder rund.“  

    Über die Moral in „Kriegszeiten“ wird vor dem Hintergrund des Großen Vaterländischen Krieges geurteilt. Ljubow Wassiljewna nimmt den Krieg durch das Prisma ihrer sowjetischen Erziehung und ihrer Erfahrung in der Kulturarbeit wahr. Für sie ist „Krieg“ vor allem der „Große Vaterländische“. Und der beschäftigt sie vor allem als Thema, mit dem sie als Mitarbeiterin des Hauses der Kultur ihr ganzes bewusstes Leben lang zu tun hatte (sie wird noch immer bei Veranstaltungen der Stadt gebeten, Reden darüber zu halten, Gedichte über den „Großen Vaterländischen“ vorzutragen oder über den Krieg in Afghanistan). Im Gespräch mit Tonja und unserer Soziologin trug sie das Gedicht Offener Brief von Konstantin Simonow vor. Es erzählt von einer Frau, die nicht warten wollte, bis ihr Mann aus dem Krieg zurückkam, und sich einen anderen nahm. Bevor sie es las, rief Ljubow Wassiljewna: „Wobei dieses Gedicht auch heute noch aktuell ist! Auch jetzt ist Krieg, also ist es wieder aktuell.“ Nach dem Vortrag fügte sie hinzu: „Das ist von 1943, wenn ich mich nicht irre. Jetzt ist Krieg in der Ukraine. Mädchen, Ehefrauen, haltet aus! Benehmt euch nicht wie Schweine, die sich Geld überweisen lassen und inzwischen hier … In der Sowjetzeit, da wurde noch auf die Moral geschaut.“ Die konkreten Umstände des Kriegs in der Ukraine lösen sich vollkommen auf; der neue Krieg kommt gelegen, weil er diesem Gedicht wieder Frische verleiht.     

    Geld ist zweifellos ein Gradmesser des Erfolgs; da verwundert es nicht, dass sich daran moralische Dilemmata kristallisieren. Geld steht wiederum familiären Werten gegenüber. Meistens zweifeln die Gesprächspartnerinnen an der Zweckmäßigkeit der Einkünfte aus dem Krieg, die für die Familien zerstörerisch sind. Sie messen der Familie einen großen Wert bei. 

    Shanna zum Beispiel erklärt damit, warum ihr Bekannter nicht an die Front zurückwill: „Na ja, die Frau ist zu Hause, Kinder wollen sie auch. Ist ja nicht gesagt, dass er wieder zurückkommt. Oder er wird irgendwie verletzt und kann nur noch liegen, macht sich in die Hose. Und dann, wer braucht ihn dann noch?“ Shanna war es wichtig, das zu betonen: „Ich finde, kein Geld der Welt kann das Leben aufwiegen … Sogar wenn er umkommt und sie kriegen dieses Geld, ist das doch alles Bullshit – der Mensch ist weg.“ Ethnografisches Tagebuch, August 2023.

    Die Frauen, die zusammensaßen und über Krieg und Geld sprachen, kamen mehr oder weniger alle zu dem Schluss: „Das ist es nicht wert.“  

    „Geh lieber ins Sägewerk schuften“: kritische Töne und Gender-Debatten   

    Abgesehen von den Anschaffungen besprechen die Tscherjomuschkiner auch die kriegsbedingten Ausgaben, die den Soldaten und ihren Familien schwer auf den Schultern lasten – für Schutzwesten, Ausrüstung, Technik, Benzin und sonstige Ausstattung. Dass diese Ausgaben fällig werden, bestärkt sie in ihrer Meinung, dass die Einkünfte es nicht lohnten. Die Krankenschwester Shanna sagte auf Tonjas Frage, warum der Mann ihrer Freundin nicht in den Krieg gezogen sei, obwohl er da doch gut verdient hätte, dass es nichts bringe: „Sie müssen alles auf eigene Kosten kaufen, Ersatzteile, Schuhe …“ Ethnografisches Tagebuch, August 2023 

    Während der Frauenrunde fing Ljuda, eine Mitarbeiterin des Schönheitssalons, fast an zu schreien: „Ich sag dir jetzt mal was! Ich hab eine Bekannte, deren Sohn wurde eingezogen, und sie hat einen Kredit über 100.000 [1000 Euro] aufgenommen, um ihr Kind ordentlich auszurüsten!“ Ihre Kollegin Aljona pflichtete ihr bei:  Uns haben sie 180.000 abgenommen, 180.000 [1900 Euro]! Um das alles, diese ganze Ausrüstung zu kaufen!“ Ljuda fiel ihr ins Wort: „Verstehst du, die Eltern müssen selber die Schutzkleidung kaufen, Helme, Stiefel und diesen ganzen Scheißdreck, Handschuhe, alles!“ Ethnografisches Tagebuch, August 2023 

    Die Notwendigkeit, für die Ausrüstung Geld ausgeben zu müssen, empfanden die Sprecherinnen als unfair, und dieses Gefühl entlud sich bisweilen in kritischen Äußerungen über die Staatsmacht. Auf die vorsätzlich naive Frage der Soziologin an Ljuda und Aljona, warum einfache Menschen für den Krieg zahlen müssen, reagierte eine der beiden mit einem spitzen Kommentar: „Das fragst du mich? Frag doch die Regierung!“ Ethnografisches Tagebuch, August 2023

    Meistens begannen unsere Auskunftspersonen den Krieg dann zu kritisieren, wenn sie „Insider-Infos“ von Bekannten an der Front teilten, die nicht mit dem offiziellen, propagandistischen Bild der „militärischen Spezialoperation“ übereinstimmten. Der 30-jährige Witja, Mitarbeiter einer Autowerkstatt, erklärte den Anwesenden mit Feuereifer: „Was sie im Fernsehen sagen, ist nichts als gequirlte Scheiße! Die Jungs, die jetzt dort kämpfen, sagen, man dürfe bloß keinem glauben. Dass unser Verteidigungsministerium berichtet, unsere Verluste seien minimal – das ist alles Käse. Jeden Tag gibt es enorm viele Tote, auf deren Seite genauso wie auf unserer.“ Ethnografisches Tagebuch, September 2023 

    Nacherzählungen solcher Zeugenberichte „aus erster Hand“ zirkulieren ständig in der Stadt, sodass die Gesellschaft über die enormen Verluste auf beiden Seiten durchaus Bescheid weiß.        

    Die Situation des Kriegs macht für die Bewohner von Tscherjomuschkin die ukrainische Herkunft mancher Stadtbewohner auf unerwartete Weise aktuell. In der Frauenrunde wurde über eine Frau gesprochen, die nach den Ereignissen 2014 aus dem Donbas hierhergezogen war. Aus Aljonas und Marinas Sicht genießen solche Leute mit ukrainischem Pass großzügige Vergünstigungen: „Hypotheken und so, alles hat sie jetzt. Denen schenken sie alles, aber wir, wir müssen betteln, und dann? Nix!“ Bemerkenswert ist, dass sich die jungen Frauen ausschließlich für wirtschaftliche Aspekte interessierten, keine politischen oder ethnischen. In ihrer ganzen Zeit in Tscherjomuschkin hörte die Soziologin kein einziges Mal, dass jemand über Bewohner mit ukrainischen Wurzeln verächtlich oder misstrauisch sprach. Lediglich die „existenziellere“ Geldfrage veranlasste dazu, Ukrainer überhaupt als eigene Gruppe zu betrachten.         

    Witja und Artjom erwähnten in einer Männerrunde das Thema Ukraine auf ähnliche Weise. Sie sprachen darüber, wie teuer ein Gasanschluss für ein Grundstück in Tscherjomuschkin ist: „Gas ist in Russland die reinste Verarsche“, empörte sich Witja. „Die Hauptleitungen bauen sie ja, aber damit es zu dir nach Haus kommt – 200.000 [2000 Euro]“, fügte Artjom hinzu. „Aber drüben ist längst alles … Die Jungs, die jetzt im Krieg sind, erzählen: Alles voller Rohre, die ganze Ukraine!“, setzte Witja den Gedanken fort. „Auch in den Dörfern“, meinte Artjom, und Witja stimmte zu: „Ja, jedes Kaff hat sein Gas! Und das in der Ukraine!“ Ethnografisches Tagebuch, September 2023.

    Auf dieses überraschende Gefälle in den Lebensbedingungen reagierten die jungen Männer mit echter Empörung.  

    Für die meisten Tscherjomuschkiner ist „Politik“ selten Thema. Unsere Soziologin entdeckte bei ihren Gesprächspartnern ein ganzes Arsenal an Phrasen zur Abwehr „heikler“ Themen: „Lasst uns aufhören mit diesem Thema, mir reicht schon die ganze Politik im Fernsehen“, „Schluss damit, bloß nicht vom Krieg“. „Wir sind einfache Leute, wir verstehen nichts von Politik“ und so weiter. 

    Doch in Tscherjomuschkin gibt es auch Bewohner, die sich in dieser Hinsicht von der Mehrheit unterscheiden. Zum Beispiel Tonjas kleiner Kreis von oppositionell gestimmten Freunden: Pascha, der mit Autos handelt und oft nach Moskau fährt, und Kolja, ein charismatischer Typ, der in einer Besserungsanstalt für Kinder sozialisiert wurde. Der Abend mit ihnen unterschied sich deutlich von den anderen Zusammenkünften. Den Großteil der Zeit diskutierten die Anwesenden über politische Themen. Pascha, Kolja und Tonja tauschten sich über die jüngsten Nachrichten und Beiträge diverser oppositioneller Blogger aus. Für sie gehören solche Gespräche zum täglichen Leben, sie sind Teil ihrer Identität.    

    Übrigens sprechen auch jene Tscherjomuschkiner, die die Politik „im Fernsehen schon satt haben“, je nach sozialer und persönlicher Erfahrung in unterschiedlicher Weise über den Krieg. Zum Beispiel besteht bei der Betrachtungsweise ein Gender-Unterschied: In der „Männerrunde“ interessierten sich Witja, Artjom und Ljoscha intensiv für „technische Aspekte“ des Kriegs: Waffen, Transport, Ausrüstung, Ausstattung der Lager und in ihren Augen faszinierende Kampfepisoden. Sie tauschten sich über Inhalte von Videoaufnahmen von der Front aus, die sie sich des Öfteren ansehen, und stritten hitzig über Granaten, Kalaschnikows und MG-Nester. Für sie ist der Krieg wie eine TV-Serie mit betont „männlichen“ Merkmalen. Ethnografisches Tagebuch, September 2023       

    Die Frauen hingegen beschäftigt, wie bereits erwähnt, das Thema Familie, auf die sich die „Verlockungen des Kriegs“ zerstörerisch auswirken. Für sie ist der Krieg eine konkrete Bedrohung: Sie könnten ihre Männer oder Söhne verlieren. In der Frauenrunde wandte sich Ljuda aufgebracht an ihren Sohn (der zwar nicht an der Runde teilnahm, von dem aber alle Anwesenden wussten, dass er überlegte, in den Krieg zu ziehen): „Die gehen alle nur wegen dem Geld zur Armee. Einen Scheiß werd ich dich an die Front schicken!“ Aljona stimmte sofort ein: „Ich scheiß auf die verfickte Kohle! Die 200.000 verdien ich selber, dafür weiß ich dann, dass es mir an nichts fehlt und meine Familie gesund ist. Die Ohrringe kann ich mir selber kaufen, da hab ich lieber meinen Mann bei mir. Nie im Leben würd ich meinen Mann da hinschicken, in den sicheren Tod!“ 

    Die Gesprächsteilnehmerinnen üben sich in Solidarität, argumentieren gegen die vermeintliche „männliche“ Logik, dass Krieg leicht verdientes Geld bedeute. „Ihr geht wegen der Kohle? Was braucht ihr diesen Scheiß?“ Ljuda pflichtet bei: „Sie dackeln nur dem Geld hinterher. Mein Kind hat gesagt: Ich geh zur Spezialoperation. Aber ich sag ihm: Kommt gar nicht in die Tüte, nur über meine Leiche!“ Aljona schloss sich an und äffte die Männer nach: „‚Ich verdiene da mehr. Ich verdiene da 200.000, wieso sollte ich im Sägewerk schuften.‘ Tausendmal besser, du buckelst im Sägewerk!“ Ethnografisches Tagebuch, August 2023 

    Das parallele Tscherjomuschkin: Der „ausgeblendete“ Krieg und das Dilemma der Mittäterschaft 

    Sowohl die Beobachtungen unserer Soziologin als auch die Aussagen ihrer Gesprächspartner haben ergeben, dass die Menschen in Tscherjomuschkin vom Thema Krieg genug haben. In der Stadt weisen praktisch keine sichtbaren Zeichen mehr darauf hin. Die Stadtbewohner thematisieren den Krieg sowohl online als auch im direkten Kontakt zueinander seltener als früher. Auch die institutionelle Unterstützung des Krieges ist deutlich leiser geworden: Öffentliche Veranstaltungen finden entweder nur auf dem Papier statt oder sie sind auf eine formale Hülle reduziert. Sie haben ihren militärisch-patriotischen Inhalt verloren und lösen sich in gewohnten Formaten mit minimalen Anspielungen auf den aktuellen politischen Kontext auf.

    Seltene Ausnahmen in Form ideologisch aufgeladener Räume wie der Kirche stoßen nur bei einem beschränkten Kreis von immergleichen Gemeindemitgliedern auf Interesse. Die Situation ist heute eine andere als im ersten Kriegsjahr, als die Einbindung der Staatsbürger und die organisatorischen Bemühungen um eine „Solidarität mit der Front“ stärker waren.  

    Zugleich ist der Krieg im Leben der Kleinstadt im Hintergrund präsent. Nachrichten über Bekannte, die an die Front geschickt wurden oder dort gefallen sind, werden sofort zum Allgemeingut und sorgen für Resonanz. Der Tod von Einheimischen provoziert natürlich kollektive Emotionen. Zudem dringt der Krieg ständig in zentrale Lebenssphären ein, über die viel gesprochen wird: Familienverhältnisse und Einkommen. Die starken Sujets, die der Krieg im lokalen Leben erzeugt – vom Tod über Ehebruch bis hin zu Gehältern, Anschaffungen und den Verlust von Bekannten – bedeuten eine Herausforderung für die übliche Routine und stellen die Menschen vor neue moralische Dilemmata.   

    Je nach sozialem und persönlichem Hintergrund interessieren sich die Stadtbewohner für unterschiedliche Aspekte des Kriegs. Für einen kleinen Kreis von oppositionell eingestellten Tscherjomuschkinern stehen politische und mediale Ereignisse im Zentrum der Aufmerksamkeit und werden regelmäßig besprochen, während der Großteil der Leute sich im Gegenteil bemüht, Gespräche über Politik zu vermeiden.      

    Frauen sehen den Krieg als Bedrohung für die Gesundheit und das Leben ihrer Männer und Söhne. Junge Männer, die von Bekannten mit Nachrichten von den Kriegsschauplätzen versorgt werden, sind eher neugierig auf „interne Prozesse“ des Kriegs: Videos von Schusswechseln, Waffentypen, Transport, Verpflegung und so weiter. Ältere Generationen, die noch „sowjetische Kulturträger“ sind, sehen den aktuellen Krieg durch das Prisma tradierter Bilder vom Großen Vaterländischen Krieg. 

    Der hohe Sold und Prämien für Freiwillige und Vertragssoldaten erzeugen ein ganzes Feld von Themen, anhand derer über den Krieg gesprochen wird. Sie scheinen die Haltung zum Krieg jedoch nicht merklich zu beeinflussen. Einerseits sehen manche Männer den Krieg als Gelegenheit, Geld zu verdienen, vor allem, wenn das auf anderen Wegen schwierig oder unmöglich ist. Andererseits sind die Frauen, mit denen unsere Feldforscherin zu tun hatte, überzeugt, dass kein Geld der Welt den Tod im Krieg und die Zerstörung der Familie aufwiegen kann. 

    Die meisten unserer Gesprächspartner sind sich einig, dass die Leute entweder gezwungenermaßen in den Krieg ziehen (wenn sie eingezogen werden) oder wegen des Geldes, oder weil sie kein gutes Leben haben (wenn sie zum Beispiel nichts erreicht und keine Familie haben). Eine derartige Kritik lässt sie jedoch nicht an der Notwendigkeit und Unausweichlichkeit des Kriegs zweifeln, sie zieht auch keinen kritischen Blick auf das Vorgehen der russischen Regierung nach sich. Unangenehme Fragen zum „politischen“ Sinn des Kriegs wehren die meisten Gesprächspartner mit rhetorischen Plattitüden ab, die die Propaganda anbietet. Interessanterweise kommen diese Propagandamotive nicht zur Anwendung, wenn die Tscherjomuschkiner Probleme diskutieren, bei denen sie sich auskennen und die ihnen nahe sind. 

    Die Menschen in Tscherjomuschkin zeigen angesichts des Kriegs auf die eine oder andere Art Emotionen und klagen. Die Leute stoßen sich daran, dass im Krieg die Jungen sterben, und sind empört darüber, dass die Soldaten ihre Ausrüstung selbständig kaufen müssen: Waffen, Uniform, Proviant und Kleidung. Im Grunde würden alle unterschreiben, dass ein Krieg „schlecht“ und „schrecklich“ ist; manche Gesprächspartner räumten insbesondere ein, dass sie den Sinn dieses Kriegs nicht verstehen würden.

    Wie aus den Beobachtungen unserer Soziologin hervorgeht, sind Nachrichten über große Verluste im Krieg für die Stadtbewohner kein Geheimnis, und Beerdigungen von einberufenen und freiwilligen Soldaten aus Tscherjomuschkin gestatten es ihnen, sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen. Trotz der großen Bandbreite an Emotionen im Hinblick auf den Krieg sprechen nur überzeugte Gegner der „Spezialoperation“ über den Schaden und das Leid, das er der Ukraine und ihren Bewohnern zufügt. Für die meisten Russen, die den Krieg rechtfertigen und gleichzeitig über etliche seiner Aspekte klagen, ist Kritik am Krieg als Verbrechen gegen die Ukrainer nicht relevant. Mehr noch, eine solche Kritik bringt sie dazu, zur Vermeidung des Dilemmas ihrer Mittäterschaft das Vorgehen Russlands zu verteidigen.

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  • Kampf zurück ins Leben

    Kampf zurück ins Leben

    Wie finden ukrainische Kämpfer nach ihrem Armeedienst oder andere, die in russischer Gefangenschaft waren, den Weg zurück ins zivile Leben? Vor allem, wenn sie nach ihrem Einsatz an körperlichen oder psychischen Versehrungen und Traumata leiden und deswegen nicht in ihren alten Beruf zurückkehren können.

    Die Journalistin Iryna Oliinyk erzählt für das ukrainische Online-Medium Zaborona die Geschichte eines Betroffenen, der nach der Gefangenschaft einen beruflichen Neuanfang mit Hilfe des zivilgesellschaftlichen Projekts Heart of Asovstal schaffte, das auch Soldaten hilft, die im Frühjahr 2022 bei der Verteidigung des Asow-Stahlwerks in Mariupol im Einsatz waren. 

    Gefangenschaft und Neuanfang

    Hennadii Assheurow hat über 30 Jahre lang bei der Streifenpolizei von Mariupol gearbeitet. Was Krieg ist, wusste er schon seit 2014 sehr genau, denn seitdem befand sich sein Heimatdorf Hranitne an der Kampflinie. Im Februar 2022 sollte der Mann in den Ruhestand gehen. Er erinnert sich, dass am Abend des 23. Februar mit schwerem Beschuss begonnen wurde: Da gelang es den russischen Streitkräften, das Dorf abzuschneiden und einzukreisen. Wenige Tage später kamen Soldaten aus der sogenannten Donezker Volksrepublik und Luhansker Volksrepublik zu Hennadiis Haus und schnappten sich ohne Erklärung den Polizisten.

    „Meine Familie und ich konnten nicht fliehen, alles ging sehr schnell“, erinnert sich Hennadii im Gespräch mit Zaborona. „Als die Besatzer mich holten, wussten sie genau, wer ich war und was ich machte, sie haben nicht einmal das Haus durchsucht. Sie brachten mich zur örtlichen Polizeistelle, wo ich seinerzeit den Dienst angetreten hatte, aber dort wurde ich nicht lange festgehalten.“ 

    Dann ging es per Lastwagen in das besetzte Donezk: Zivilisten und Militärs zusammen, insbesondere vom Asow-Regiment und der Nationalgarde. Hennadii Assheurow berichtet, dass die Gefangenen hungerten und ihnen kein Wasser gegeben wurde. Während der Verhöre wurde Gewalt angewendet und psychologischer Druck ausgeübt. Einige Monate später wurde der Mann in die Strafkolonie in Oleniwka geschickt, wo er 40 Tage blieb.

     „Anfang Mai kam ich nach Oleniwka. Zu dieser Zeit war die Kolonie mit ukrainischen Gefangenen überfüllt, aber die Russen brachten weiterhin unsere Leute dorthin, die zu dieser Zeit aus dem Asowstal- und Illich-Werk kamen. Ich wurde viele Male verhört, sie versuchten, wenigstens kleine Hinweise zu bekommen, aber vergebens. Und sie konnten keine Anschuldigungen erheben. Am Ende setzten die Russen mich und über 20 Leute einfach vor die Tür und sagten: Ihr seid frei!“, behauptet der Mann aus Mariupol. Er erhielt eine Aufenthaltsbescheinigung in Oleniwka, aber um persönliche Gegenstände und Dokumente aus Donezk abzuholen, musste er 40 Kilometer zurücklegen. Und dann auf eigene Faust weiter in freies Gebiet. Nach seiner Freilassung hatte Hennadii Assheurow keine Ahnung, was er im zivilen Leben tun würde, da er aufgrund seiner Gesundheit und seines Alters nicht mehr zur Polizei konnte. Zusammen mit seiner Familie trat er in den Freiwilligendienst: Sie verteilten Lebensmittel an die Binnenvertriebenen. Das half, teilweise von den Gedanken an die Gefangenschaft und den Verlust der Heimat abzulenken, ergab aber keinen Plan für die Zukunft.

    „Ich wandte mich an die Organisation Heart of Asovstal, wo mir kostenlose Schulungen im IT-Bereich angeboten wurden. Eines der Arbeitsfelder, die ich wählen konnte, war Human Resources, also das Personalmanagement. Ich kommuniziere gerne und knüpfe gerne neue Kontakte und Beziehungen, also interessierte mich das. Schließlich haben sich die früheren Erfahrungen aus der Polizeiarbeit als nützlich erwiesen. Die Online-Schulung bei dem Unternehmen Dan.IT dauerte sechs Monate“, sagt Assheurow.

    So änderte der Mann sein Betätigungsfeld komplett: Im Alter von 55 Jahren begann er eine Karriere im Recruiting. Jetzt arbeitet Hennadii als Karriere-Mentor bei Heart of Asovstal: Nach dem Prinzip Peer-to-Peer hilft er den ehemaligen Kämpfern von Mariupol, eine interessante Richtung für Ausbildung und Umschulung zu wählen, und bietet umfassende Unterstützung bei der Arbeitsvermittlung. 

    Die Organisation „Heart of Asovstal“ unterstützt ehemalige Soldaten, den Weg zurück ins zivile Leben zu finden / Foto © Heart of Asovstal

    Psychologische Rehabilitation und Integration von Veteranen 

    Tausende ehemalige Soldaten und Kriegsgefangene haben nach ihrer Rückkehr ins zivile Leben Schwierigkeiten: Wie soll man sich an das zivile Leben anpassen und in die Gesellschaft integrieren, fragt die Psychologin Natalja Schewtchenko. Ihr zufolge sind für die effektive Integration von Kriegsdienstleistenden in aller erster Linie die Stabilisierung des psychischen Zustandes und die Aufarbeitung der mit dem Krieg verbundenen Traumata notwendig.

    „Die Veteranen spüren das besonders nach Verletzungen. Und dabei es geht nicht unbedingt um die Amputation von Gliedmaßen. Es gibt viele unsichtbare Verletzungen: Schädeltrauma, Gedächtnisverlust, Konzentrationsschwäche, die Gliedmaßen sind nicht voll funktionsfähig oder es gibt Rückenprobleme. Für solche Menschen ist es sehr schwierig, sich vorzustellen, wo sie in Zukunft arbeiten und was sie tun können“, sagt die Psychologin von Heart of Asovstal. — Dies sei insbesondere für Soldaten über 40 Jahre ein Problem. „Sie glauben nicht, dass sie lernen und umschulen können.“ 

    Der Spezialistin zufolge dauert die psychologische Rehabilitation mindestens drei Monate. Eine der größten Herausforderungen bestehe darin, Veteranen bei der Überwindung von Folgen einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) zu helfen.

    „Die Veteranen versuchen in der Regel einfach, ihre Kriegserfahrungen loszuwerden, indem sie alles verdrängen, was mit ihnen geschehen ist. Psychologen versuchen, ihnen dabei zu helfen, das, was sie durchgemacht haben, zu akzeptieren und zu lernen, damit zu leben. Außerdem haben die Veteranen einen geschärften Sinn für Gerechtigkeit, also werden sie durch alles getriggert, was mit dem normalen zivilen Leben außerhalb des Krieges zu tun hat. Wenn Menschen sich entspannen und irgendwo hingehen und das Leben genießen und woanders geht der Krieg weiter, ist das für sie wie zwei Parallelwelten“, bemerkt Natalja Schewtschenko. Die Verteidiger von Mariupol können von Heart of Azovstal umfassende Unterstützung im Rahmen der psychologischen Rehabilitation erhalten. Man kann sich einer Therapie in einem individuellen Format oder während des Gruppenunterrichts unterziehen.

    „Wir führen eine sehr effektive Form der psychologischen Rehabilitation für Soldaten durch — das ist Dekompressionstherapie und körperliche sowie psychische Erholung, die sehr gute Ergebnisse zeigt“, erklärt Shewtschenko. „Wir arbeiten mit kleinen Gruppen von zwölf ehemaligen Soldaten und bringen sie in Rehakliniken, wo Psychologen zweimal täglich Gruppentherapie mit ihnen machen – hauptsächlich Kunst- und Reittherapie. So schaffen wir eine Gemeinschaft und zeigen Veteranen, dass sie nicht allein mit ihren Problemen sind, sondern unter anderen Veteranen, die auch diesen Weg hinter sich haben.“

    „Die Veteranen versuchen in der Regel einfach, ihre Kriegserfahrungen loszuwerden, indem sie alles verdrängen, was mit ihnen geschehen ist.“ – Soldat in ukrainischer Uniform (Symbolbild) / Foto © IMAGO/Pond5 Images

    Demobilisierung und die Perspektiven

    Auch wenn es auf dem ukrainischen Arbeitsmarkt derzeit in vielen Branchen an Arbeitskräften mangelt, sind einige Arbeitgeber nicht bereit, demobilisierte Soldaten einzustellen, betont Natalja Slynko, Inhaberin der Consulting Firma Talent Match. Die Expertin erklärt, dass dies teilweise darauf zurückzuführen ist, dass die Arbeitgeber nicht wissen, wie sie mit Veteranen umgehen sollen und dass sie nicht bereit sind, deren Bedürfnisse zu berücksichtigen. Dazu gehört vor allem die Schaffung spezieller Arbeitsplätze für die Bedürfnisse der Veteranen gemäß den gesetzlichen Anforderungen, die von den Unternehmen eingehalten werden müssen. Ein Soldat wird in der Regel aus Gründen der körperlichen oder geistigen Gesundheit demobilisiert, so dass er ein ärztliches Attest und einen Nachweis für Rehamaßnahmen hat. Dort sind insbesondere die Arbeitsbedingungen festgelegt, die bei der Einstellung eines Veteranen zu berücksichtigen sind.

    „Der Arbeitgeber ist verpflichtet, einen besonderen Arbeitsplatz zu schaffen – so sagt es das Arbeitsrecht. Dies gilt ausnahmslos für alle Veteranen, die über eine Bescheinigung der Medizinischen und Sozialen Expertenkommission (MSEC) verfügen. In diesem Dokument sind die Bedingungen festgelegt, die erfüllt sein müssen, damit die Rechte eines Veteranen nicht verletzt werden“, betont Natalja Slynko. „Normalerweise sind diese Bedingungen sehr individuell, aber manchmal widersprechen sie dem, was eine Person körperlich tun kann. Für einen Arbeitgeber ist es äußerst schwierig, einen Arbeitsplatz zu schaffen, der der Beschreibung in der Bescheinigung entspricht. Außerdem drohen den Unternehmen hohe Bußgelder, wenn sie diese gesetzlichen Vorgaben nicht einhalten.“

    Ausbildung und Schulung von Veteranen

    Laut Natalja Slynko sind heute nur große ukrainische Unternehmen und Firmen sozial orientiert und bereit, demobilisierte Soldaten umzuschulen und anzustellen. Und das gilt nur für Personen, die zuvor schon in dem jeweiligen Unternehmen gearbeitet haben, denn in vielen Fällen haben die Arbeitgeber diesen Arbeitsplatz nicht neu besetzt. Die Expertin macht darauf aufmerksam, dass es auf dem Arbeitsmarkt fünf bis sieben solcher Unternehmen gibt, die den Veteranen wirklich helfen, sich an ein neues berufliches Umfeld anzupassen – dafür gibt es spezielle Programme. 

    „Ich weiß mit Sicherheit, dass Ukrsalisnyzja viel in dieser Richtung tut, weil man dort den größten Prozentsatz an mobilisierten Mitarbeitern unter den ukrainischen Unternehmen hat. Solche Unternehmen finden einen neuen Arbeitsplatz innerhalb ihrer Strukturen und schulen den Veteranen entsprechend um. Sie haben ein Zentrum für die Schulung und Zertifizierung von Mitarbeitern, und sie tun dies auf eigene Faust und auf eigene Kosten“, sagt die Recruiterin. „Es gibt auch andere Unternehmen, die ehemaligen Soldaten helfen, einen neuen Beruf innerhalb der Strukturen zu finden, aber dies wird durch Mentoring und Beratung von Kollegen umgesetzt.“

    ORGANISATION FÜR DIE UNTERSTÜTZUNG VON VETERANEN

    Das Projekt Heart of Azovstal läuft seit Februar 2023, um Soldaten zu unterstützen, die seit Beginn der groß angelegten Invasion der Russischen Föderation an der Verteidigung von Mariupol teilgenommen haben. Seitdem erhielten etwa 6000 Verteidiger der besetzten Stadt im Rahmen der Rehabilitation umfassende Hilfe nach ihrer Gefangenschaft. 

    Laut Tetjana Kuchozka, ebenfalls bei Heart of Azovstal beschäftigt, bekommen die Soldaten nach ihrer Entlassung mit Hilfe des Projekts eine langfristige physische und psychische Behandlung. Die NGO hilft Veteranen auch bei einer schnellen Anpassung an das zivile Leben, insbesondere bietet sie drei Optionen an: 

    • eine kostenlose Ausbildung oder Besuch von Kursen an Hochschulen der Ukraine
    • einen Arbeitsplatz der jeweiligen Fachrichtung mit der Möglichkeit der Aus- und Weiterbildung
    • Gründung eines eigenen Unternehmens.

    „Im Rahmen unseres Zukunftsprogramms werden derzeit 145 ehemalige Soldaten ausgebildet, um neue berufliche Fähigkeiten zu erlernen oder ihre Qualifikationen zu erweitern. Das sind vor allem Berufe im Bereich IT und Cybersicherheit sowie Fahrerberufe“, sagt Tetjana Kuchozka. Im Umschulungsprozess durchläuft ein Soldat alle Phasen mit Unterstützung eines Psychologen und eines beruflichen Mentors. Letzterer ist notwendig, um dem Veteranen zu helfen, aus den verschiedenen Berufen eine interessante und vielversprechende Richtung zu wählen, in der er sich erfolgreich einbringen kann. Der Mentor hilft auch dabei, die militärische Erfahrung im Lebenslauf korrekt und für den Arbeitgeber verständlich und überzeugend darzustellen.

    „Während des Projekts haben wir festgestellt, dass Soldaten und andere Militärangehörige über sehr gute Managementfähigkeiten verfügen, die im zivilen Leben benötigt werden“, sagt die NGO-Vertreterin. „Sie haben auch Erfahrung mit der Arbeit in Krisensituationen und Kenntnisse in militärischer Dokumentation.“ Nach der Demobilisierung seien die Veteranen oft verwirrt und gestresst, denn der Dienst an der Front und das zivile Leben seien eben zwei verschiedene Welten. Nach einer Weile würden die Veteranen von Unsicherheit erfasst: „Oft können sie aufgrund von Verletzungen und dem sich verschlechternden Gesundheitszustand nicht mehr das gleiche tun wie vor dem Krieg.“

    Hennadii Assheurow, beruflicher Mentor bei Heart of Azovstal, analysiert die Bedürfnisse, Fähigkeiten und Präferenzen jedes Kandidaten, um ein interessantes Tätigkeitsfeld anbieten zu können. Seiner Meinung nach können sich die ehemaligen Kämpfer von Mariupol in vielen Bereichen erfolgreich verwirklichen, indem sie ihre militärischen Vorerfahrungen nutzen. „Nach der Rückkehr ins zivile Leben hat man den Wunsch, sich in demselben Bereich weiterzuentwickeln, in dem man vor der russischen Invasion gearbeitet hat. Die meisten ehemaligen Soldaten lebten und arbeiteten in Mariupol. Daher binden wir im Rahmen des Projekts unsere Partnerunternehmen ein und suchen nach einem neuen Arbeitsplatz. Zu den beliebtesten gehören Sicherheitsdienste, weil die Jungs wissen, wie man mit Waffen umgeht und Befehle befolgt.“

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  • „Das war der letzte Tag, an dem ich meinen Sohn sah“

    „Das war der letzte Tag, an dem ich meinen Sohn sah“

    Der Krieg hat viele Eltern in der Ukraine vor schwerste Entscheidungen gestellt: Auf der einen Seite steht der natürliche Wunsch nach Sicherheit für die eigenen Kinder und sich selbst. Auf der anderen Seite steht oft das Bedürfnis, die eigene Heimat im Überlebenskampf nicht im Stich zu lassen. Und das geltende Kriegsrecht, das wehrpflichtigen Männern im Alter von 18 bis 60 Jahren die Ausreise nur in Ausnahmefällen gestattet. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine haben nach aktuellen Angaben der UNO rund sechs Millionen Menschen aus der Ukraine – vor allem Frauen und Kinder – Zuflucht im europäischen Ausland gefunden. 

    „Meine Familie plant heimzukehren. Denn es gibt kein Ausreiserecht für den Vater, der seine Kinder sehen möchte, der will, dass sie Ukrainer bleiben und seine Familie nicht zerbricht. Ich habe gesehen, wie viele gute Familien nach 2022 über die Entfernung einfach aufgehört haben, eine Familie zu sein. Ich will nicht, dass das mit meiner Familie passiert.“ Das sagt Olexii Erintschak, ein Buchhändler aus Kyjiw. 

    Walerija Pawlenko hat für das ukrainische Portal Texty.org.ua drei Geschichten von Familien gesammelt, die der Krieg getrennt hat. Ein Text über Väter, die das Aufwachsen ihrer Kinder nur über das Handy verfolgen können, über Reisen in die unsichere Heimat und über Ängste vor Entfremdung und den Verlust der Identität.

    Am Bahnhof von Lwiw im Westen der Ukraine warten vor dem Krieg flüchtende Menschen auf die Abfahrt des Zuges / Foto © Ty O Neil/ZUMA/imago-images

    Wenn man das Gesetz bricht, um den Sohn zu sehen

    Kurz vor der groß angelegten Invasion ließen sich Ihor (alle Namen in dieser Geschichte wurden auf Wunsch des Mannes geändert) und seine Frau Olena scheiden, zogen aber ihren Sohn Sascha weiterhin gemeinsam groß. Im Januar 2022 beschlossen sie, das Kind aus Kyjiw in die Westukraine, nach Lwiw, zu bringen. Nach dem Beginn der Invasion kam Ihor nach.

    Am 24. Februar wurde bekannt, dass die Russen mehrere Militäreinheiten in der Region Lwiw angegriffen hatten, und Anfang März starteten sie Raketenangriffe auf Lwiw und das Truppenübungsgelände Jaworiw. Der Westen der Ukraine war kein sicherer Ort mehr, sodass Olena sich entschloss, mit ihrem Sohn ins Ausland zu gehen.

    Ihor unterstützte diese Entscheidung, damit sein Sohn in Sicherheit war: „Ich wollte nicht, dass mein Kind ständig in diesen stressigen Umständen lebt, in der ständig Sirenen ertönen und vor dem Fenster Geschosse explodieren.“

    Sascha und seine Mutter gingen nach Polen, und Ihor merkte, dass er seinen Sohn sehr vermisste. Fast ein Jahr später fand er, wie er es nennt, einen halblegalen Weg, um ins Ausland zu fahren, und verbrachte drei Wochen mit seinem Sohn.

    Später kamen seine Frau und sein Sohn in die Ukraine, um den Vater in die Armee zu verabschieden

    „2022 war für mich ein sehr angsteinflößendes Jahr. Ich fühlte mich schuldig, weil ich nicht in der Armee war, mir kam es vor, als würde ich irgendeinen Blödsinn machen. Am Ende des Jahres war ich schon fast so weit und wollte in den Krieg ziehen. Mir war klar, dass ich meinen Sohn vielleicht für lange Zeit nicht sehen würde. Als sich also die Gelegenheit ergab, ins Ausland zu fahren, habe ich sie ergriffen“, sagt Ihor.

    Ein paar Monate später kamen seine Frau und sein Sohn zu Ihor in die Ukraine, um Saschas Geburtstag zu feiern und den Vater in die Armee zu verabschieden.

    In den zweieinhalb Jahren des großen Krieges hat Ihor seinen Sohn nur viermal gesehen und schätzt diese Begegnungen sehr.

    „Wir telefonieren sehr oft, aber solche Gespräche sind halt nur so lala. Früher hat er mir einfach seine Spielsachen gezeigt, aber jetzt frage ich ihn, wie es im Kindergarten war, wie es seinen Freunden geht, was zu Hause so los ist. Ich verbringe gerne Zeit mit ihm: spielen, lesen, irgendwohin gehen, irgendwelche Aktivitäten. Wenn wir uns sehen, sind wir jeden Tag unzertrennlich: Wir gehen auf den Rummel, in Museen, immer zusammen“, erinnert sich Ihor.

    „Ich finde es furchtbar, dass mein Kind größer wird, sich verändert, und ich es nicht sehe. Er ist ein sehr interessanter Junge, und ich würde das alles gerne mit ihm erleben.“

    Unsere Gesellschaft wird noch lange nach Kriegsende traumatisiert und verstört sein

    Ihor sagt, er sei sich nicht sicher, ob sein Sohn in die Ukraine zurückkehren wird. Er möchte, dass der Junge in einem ruhigen Umfeld aufwächst.

    „Natürlich war ich traurig, dass er die Ukraine verlassen hat. Aber Sascha spricht weiterhin Ukrainisch und weiß, dass er Ukrainer ist, obwohl er bereits Polnisch gelernt hat. Im Herbst wird er auf eine polnische Schule gehen, er hat dort schon Freunde. Ich verstehe, dass ein Umzug, besonders während des Krieges, für Kinder schwierig ist. Ich weiß nicht, was als nächstes passieren wird, denn es scheint mir, dass unsere Gesellschaft noch lange nach Kriegsende traumatisiert und verstört sein wird.“

    „Wir verlassen die Ukraine zum letzten Mal“

    Olexii Erintschak, Gründer der Kyjiwer Buchhandlung Sens, fand sich in einer ähnlichen Situation. Er bereitete sich auf die Invasion vor: Seine Frau und seine Söhne Orest und Oles hatten Tickets für eine Ausreise aus der Ukraine am 26. Februar 2022. Aber die Invasion begann, und er musste seine Familie mit dem Auto zur Grenze bringen.

    Olexii sagt, dass er anfangs beruhigt war, als seine Familie im Ausland war: Er konnte sich auf die Arbeit und den Freiwilligendienst konzentrieren und musste sich keine Sorgen um seine Söhne und seine Frau machen. Er hat sich sogar daran gewöhnt, allein zu sein – er arbeitet hauptsächlich von zu Hause aus, also lenkt ihn niemand mehr von der Arbeit ab.

    Ich fühle mich einsam, ich vermisse den körperlichen Kontakt mit meiner Familie

    Aber mit der Zeit setzt ein solches Leben zu: „Es ist zermürbend, wenn man nach Hause kommt und alles, was man noch hat, ist, wieder zu arbeiten oder einen Film anzusehen. Ich fühle mich einsam, ich vermisse den körperlichen Kontakt mit meiner Familie.“

    Aber das Schwierigste für Olexii ist, dass er verpasst, wie seine Kinder aufwachsen.

    „Meine Kinder sind gerade in einer so interessanten Phase – die Jungs sind sechs und acht Jahre alt, es zeigen sich individuelle Eigenschaften bei ihnen. Und ich bin meiner Frau sehr dankbar, dass sie mir ständig Videos schickt, dank derer ich interessante Momente aus ihrem Leben ansehen kann, oder sie erzählt mir davon.

    Ich wäre gerne jetzt ein Vorbild und ein Vater für meine Söhne

    Aber die Geschichten von diesen Momenten zu hören und ein Zeuge von ihnen zu sein, sind zwei Paar Schuhe. Ich wäre gerne jetzt ein Vorbild und ein Vater für meine Söhne. Ich habe doch nicht eine Familie gegründet, wenn sie dann irgendwo weit weg ist, ich bin doch kein Seemann“, scherzt Olexii.

    Und auch die Jungs vermissen ihren Vater sehr. Olexii erinnert sich: Als er die Kinder unmittelbar nach Beginn der Invasion wegbrachte, war ihnen nicht klar, dass sie so lange von ihrem Vater getrennt sein würden. Während Olexii fuhr und versuchte, die Tatsache zu begreifen, dass ein vollumfänglicher Krieg begonnen hatte, spielten seine Söhne hinten im Auto auf dem Tablet. Aber schon bei den nächsten Treffen weinten Orest und Oles, als die gemeinsame Zeit mit ihrem Vater zu Ende ging.

    „Nach einem dieser Treffen fuhr ich zurück nach Kyjiw, und auf dem Weg dorthin spielte sich ein langer Monolog in meinem Kopf ab. Ich wägte ab, ob ich alles richtig mache, zweifelte, ob ich überhaupt das Richtige tue, weil ich jetzt nicht mehr bei meiner Familie bin“, erinnert sich Olexii. Er und seine Frau diskutierten viele Monate lang, ob die Kinder in die Ukraine zurückkehren sollten, denn es ist ja ein großes Risiko.

    Es waren schließlich die Kinder, die nach der letzten Zusammenkunft der Familie auf ukrainischem Boden im April dieses Jahres dazu beitrugen, die Zweifel zu zerstreuen.

    „Ich brachte die Kinder zum Zug und fuhr nach Hause. Danach erzählte mir meine Frau, dass der jüngste Sohn beim Einsteigen in den Zug nach Polen sagte: „Dies ist das letzte Mal, dass wir die Ukraine verlassen“, erinnert sich Olexii.

    In ein paar Monaten werden Olexiis Kinder und seine Frau endlich nach Hause zurückkehren.

    „Ich muss cool sein für meinen Sohn“

    Hlib, der dritte Held unseres Artikels, hat eine dramatischere Geschichte. In den ersten Tagen der vollumfänglichen Invasion waren er und seine Familie von den Russen umzingelt und seine Stadt konnte sehr schnell besetzt werden. Ihm, seiner Freundin Julia (Name geändert) und seinem Sohn gelang es auf wundersame Weise, aus der Einkesselung zu entkommen – die Familie fuhr mit dem Auto an einen sichereren Ort.

    Auf dem Weg hielt er bei seinen Eltern an, aber seine Freundin bestand darauf, dass sie noch weiter weg müssten. Das Paar hatte schon vor der Invasion eine schwierige Beziehung gehabt, aber während dieser stressigen Zeit verschlechterte sich die Situation. Julia stritt sich mit Hlibs Eltern und beschuldigte ihn, ihr das Kind wegnehmen zu wollen.

    Das war der letzte Tag, an dem ich meinen Sohn sah

    „Sie packte ihre Sachen, schnappte sich den Sohn und ging einfach weg. Dann riefen mich ihre Freunde an und sagten, sie habe die Pässe vergessen. Ich brachte ihnen die Pässe. Ich versuchte, mit meinem Sohn zu sprechen, aber aus irgendeinem Grund war er mir gegenüber sehr feindselig. Das war der letzte Tag, an dem ich ihn sah“, erinnert sich Hlib.

    Danach war die Verbindung zu seiner Freundin fast abgebrochen. Julia ging ins Ausland und sprach nicht mehr mit Hlib. Er erfuhr nur durch gemeinsame Bekannte, was mit seinem Sohn geschah.

    „Ich erfuhr, dass die Stadt, in der sie leben, ein Postamt hat, also beschloss ich, meinem Sohn blindlings ein Paket zu schicken. Sie nahm es an, ohne zu reagieren. Ich schickte noch ein paar Pakete und versuchte von ihr zu erfahren, was meinem Sohn gefällt, damit ich es ihm zum Geburtstag schenken konnte. Aber alles, was ich bekam, waren die Worte ,Er hat Sommersprossen auf der Nase‘“, meint Hlib.

    Ich vermisse die Atmosphäre in seinem Kinderzimmer, die Art und Weise, wie er mir Dinge ins Ohr sagte

    Er erzählt, dass es anfangs sehr schwer für ihn war: „Ich ging durch die Stadt und erinnerte mich, wo mein Sohn und ich spazieren gegangen waren, wo er geschrien und dem Echo seiner Stimme gelauscht hatte. Einmal sah ich in der Stadt ein anderes Kind auf dem Roller meines Sohnes – es war sehr schmerzhaft. Ich vermisse die Atmosphäre in seinem Kinderzimmer, wenn er schlief, unsere gemeinsamen Morgen als Familie, die Art und Weise, wie er mir Dinge ins Ohr sagte, was sehr lustig war, weil es mich kitzelte.“

    Hlib sagt, dass er eine Seite erstellt hat, auf der er Briefe an seinen Sohn verfasst, in der Hoffnung, dass er sie eines Tages sehen wird. Er hat sich lange Vorwürfe gemacht, den letzten Streit immer wieder in seinem Kopf durchgespielt und überlegt, was er hätte ändern können. Aber dann fand er, dass er in den Augen seines Sohnes nicht erbärmlich wirken wollte.

    „Eines Tages stellte ich mir vor, dass er mich plötzlich anruft und ich fange an, mich bei ihm zu beschweren, ihm zu sagen, wie sehr ich mich nach ihm sehne, und ihn mit dieser Lawine von Gefühlen überschütte. Aber das sind zu starke und schmerzhafte Emotionen für ein Kind, das hält er nicht aus. Das war für mich der Ansporn, mich zum Besseren zu verändern. Jetzt erzähle ich auf dieser Seite nicht über mein Leben und schreibe nicht, wie traurig ich bin, wie ich es früher getan habe, sondern schreibe ein paar Witze, nehme Märchengeschichten auf, etwas Positives.

    Ich weiß, dass meine Situation nicht einzigartig ist“, sagt Hlib. „Und ich möchte allen, die sich in einer ähnlichen Lage befinden, einen Rat geben: Seid cool für Eure Kinder. Sportlich, interessant, lustig. Seid die beste Version von Euch selbst. Kinder mögen keine jammernden Erwachsenen, das interessiert sie einfach nicht.“


    Der ukrainische Originaltext wurde unter Creative-Commons-Lizenz (CC BY 4.0) veröffentlicht.

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  • Elite unter Verdacht

    Elite unter Verdacht

    Es war eine simple Idee, die bis heute großen Erfolg hat: Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hob die US-Regierung ein akademisches Austauschprogramm aus der Taufe, dass es besonders begabten Studierenden und Forschenden aus der ganzen Welt erlauben sollte, einige Zeit an einer amerikanischen Hochschule zu verbringen. Allerdings unter einer Bedingung: Die jungen Wissenschaftler müssen nach Abschluss des Programms wieder zurück in ihre Herkunftsländer gehen. Die USA wollten nicht die klügsten Köpfe abwerben. Vielmehr sollten die Stipendiaten zur Entwicklung ihrer Heimatländer beitragen – und wohl auch etwas vom Geist der freien Forschung und Wissenschaft in die Welt tragen.

    Seitdem hat das Fulbright-Programm mehr als 50 Nobelpreisträger hervorgebracht. 20 Alumni brachten es bis zum Außenminister. Einer wurde sogar Generalsekretär der Vereinten Nationen (der Ägypter Boutros Boutros-Ghali). Sogar im Kalten Krieg schickte die Sowjetunion talentierte Nachwuchsforscherinnen und -forscher an Hochschulen des Klassenfeindes. Doch Anfang 2024 erklärte die russische Regierung das Institute of International Education (IIE), den Träger des Fulbright-Programms, zur unerwünschten Organisation. Russinnen und Russen, die da bereits in den USA studierten oder eine Zusage für ein Stipendium hatten, fürchten sich jetzt vor der Rückkehr in ihre Heimat. 

    Blick auf das Hauptgebäude der Moskauer Staatlichen Lomonossow-Universität / Foto © Mikhail Tereshchenko/TASS Publication/imago-images

    „Der Bewerbungsprozess für das Fulbright-Programm dauert ungefähr ein Jahr. Er verläuft in fünf Runden, aus denen man jeweils ‚rausfliegen‘ kann. Insofern ist das Ergebnis langersehnt und natürlich auch beflügelnd“, erinnert sich Irina Perfilowa, die heute an der University of Tennessee studiert.    

    Irinas Fach ist untypisch für das Fulbright-Programm: Sie ist eine der Ersten, die mit einer sportlichen Studienrichtung teilnehmen darf – Sport für Menschen mit Behinderungen. 

    „Ich hatte einen genauen Plan, wie ich später in Moskau an meinem Thema weiterarbeiten wollte, und ich wusste auch, warum ich dafür zunächst in die USA musste“, sagt sie.  

    Vom Prestigeprogramm zur unerwünschten Organisation

    Am 11. April 1972 unterzeichneten die USA und die UdSSR ein Abkommen über die Zusammenarbeit in Wissenschaft, Technik, Bildung, Kultur und anderen Bereichen. Diese bilaterale Zusammenarbeit überdauerte lückenlos den Kalten Krieg und sein Ende. Heute erstreckt sich das Fulbright-Programm auf 160 Länder. Derweil ist seine Geschichte in Russland nach einem halben Jahrhundert vor Kurzem abgerissen.       

    „Das erste Alarmsignal war für mich das Gesetz über ausländische Agenten“, erzählt Irina. „Den Status eines ausländischen Agenten kann man bekommen, wenn man aus dem Ausland Finanzierung erhält. Im Rahmen des Fulbright-Programms bekommen wir ein Stipendium – also Geld aus dem Ausland. Mittlerweile genügt sogar schon ‚Einfluss aus dem Ausland‘. Aber was bedeutet das? Wenn wir zum Beispiel hier studieren – ist das Einfluss aus dem Ausland?“

    Laut Irina steht in dem offiziellen Vertag, den die Stipendiaten unterschreiben, dass sie nach ihrer Teilnahme das amerikanische Fulbright-Programm in Russland auf dem Gebiet von Kultur und Bildung vertreten werden. 

    Das birgt die Gefahr, auf die Liste der ausländischen Agenten zu geraten. Und da ausländische Agenten keine Bildungsarbeit leisten dürfen, können die Fulbright-Alumni ihr erworbenes Wissen nicht weitergeben. So können viele von ihnen die Projekte, die sie sich vor ihrem USA-Aufenthalt vorgenommen haben, gar nicht mehr umsetzen. 

    Das nächste Signal im Leben der Fulbright-Stipendiaten war die Äußerung des Chefs des russischen Auslandsgeheimdienstes Sergej Naryschkin im Januar 2024: Das Fulbright-Programm versuche zusammen mit einer Reihe anderer US-amerikanischer Programme, die massenhaft in den Westen geflüchtete systemkritische Opposition zu ersetzen und die Studierenden zu „Stützpfeilern der fünften Kolonne zu machen“. Und am 7. März überreichte das Außenministerium der Russischen Föderation dem Botschafter der USA ein offizielles Schreiben mit der Aufforderung, jegliche Vermittlungstätigkeit von drei Non-Profit-Organisationen einzustellen – darunter das Institute of International Education (IIE), den Träger des Fulbright-Programms. Am selben Tag wurde das IIE zur in Russland unerwünschten Organisation erklärt. Am 29. März beendete das IIE die Tätigkeit des Fulbright-Programms in Russland, um eine Verfolgung der russischen Bewerber zu vermeiden. Allerdings befinden sich gegenwärtig über 100 Stipendiaten in den USA. Sie setzen ihre Zusammenarbeit mit dem IIE und dem ebenfalls in den USA ansässigen Austausch Programm Cultural Vistas fort. Gemäß ihren Verträgen und ihren Visa der Kategorie J-1 sollten sie bald nach Russland zurückkehren: rund 30 von ihnen in den nächsten Monaten, die anderen innerhalb der nächsten Jahre.

    Das Fulbright-Programm ist keine Ausnahme. Daniil Kirsanow, ein weiterer Stipendiat, ist der Meinung, die russische Regierung setze auch Teilnehmer anderer Austauschprogramme unter Druck – sowohl russisch-amerikanischer Programme als auch russisch-europäischer.

    Zuhause warten Strafen

    Eine russische Anwältin, die nicht namentlich genannt werden möchte, sagt, dass die Rechtspraxis in Russland momentan schwer einzuschätzen sei. Allerdings sei die Wahrscheinlichkeit, dass die Fulbright-Stipendiaten als ausländische Agenten klassifiziert würden, hoch. Wobei die Strafe für eine Zusammenarbeit mit der unerwünschten Organisation IIE, die das Fulbright-Programm finanziert, zunächst gar nicht so hoch erscheint: ein Bußgeld von 5000 bis 15.000 Rubel [ca. 50 bis 150 Euro]. Wie die Juristin anmerkte, sind Verfahren, die einzig und allein die Zusammenarbeit mit einer unerwünschten Organisation betreffen, selten: der Papierkrieg ist enorm, die Strafe mickrig.      

    Doch kann ein Bußgeld wegen einer Zusammenarbeit mit IIE leicht den Anstoß zu einem größeren Verfahren geben. Wenn gegen einen ausländischen Agenten zwei Bußgelder verhängt wurden, so genügt das, um ein Strafverfahren gegen ihn einzuleiten, und dann droht eine Haftstrafe. Haben Sie Materialien von Doshd, Radio Swoboda oder Meduza weiter verbreitet? Haben Sie Geld an unerwünschte Organisationen überwiesen? Haben Sie sich irgendwann pro-ukrainisch geäußert oder an ukrainische Organisationen gespendet? Viele unserer Gesprächspartner, die sich heute in den USA befinden, gestehen ein, genau das getan zu haben. Das heißt, sie müssen mit einem Strafverfahren rechnen. 

    „Noch gibt es wenige Strafverfahren, das ist eher zur Einschüchterung“, erklärte die Anwältin. „Konkret wegen Zusammenarbeit mit dem IIE gibt es bisher noch gar keine Verfahren. Insofern werden die Teilnehmer des Programms – zumindest bis auf Weiteres – mit hoher Wahrscheinlichkeit ohne Konsequenzen zurückkehren können.“

    Sowohl unsere Juristin als auch die Kuratoren des Fulbright-Programms empfehlen den Stipendiaten im Vertrauen, die Teilnahme an diesem Prestigeprogramm lieber nicht zu erwähnen. Selbst in Bewerbungsgesprächen mit seriösen Arbeitgebern sollte man sie besser verschweigen. 

    Einige Geschichten, die uns erzählt werden, lassen um die Zukunft einzelner Fulbrighter fürchten. Violetta Sobolewa zum Beispiel, die derzeit an der City University of New York in pädagogischer Psychologie promoviert, hat sich früher für Nawalnys Organisation engagiert und in amerikanischen Medien seinen Tod kommentiert. Irina Perfilowa ihrerseits engagierte sich für die russische LGBT-Community.       

    Den Zwang zur Rückkehr aussetzen?

    Viele russische Fulbrighter würden deshalb gern in den USA bleiben und dort arbeiten. Aber die Regeln für das Visa J-1 und der Vertrag, den sie geschlossen haben, verpflichten sie, für mindestens zwei Jahre nach Russland zurückzukehren (die so genannte Zwei-Jahres-Regel). 

    Diese Regel wurde nicht umsonst aufgestellt: Normalerweise werden Austauschprogramme zu gleichen Teilen von den USA und einem Partnerland finanziert. Die Zwei-Jahres-Regel ist eine Art Garantie dafür, dass der Stipendiat in sein Herkunftsland zurückkehrt und sein erworbenes Wissen an andere weitergibt. Doch Russland hat sich an der Finanzierung nie beteiligt, die Kosten für die Ausbildung übernahmen die USA und die jeweiligen Universitäten.   

    Wir baten Julia Paschkowa, die sich bei der Kanzlei Lux Law auf Migrationsrecht spezialisiert hat, um ihre Einschätzung zur Situation mit dem J-1 Visum. Sie bestätigt, dass die Fulbright-Stipendiaten für mindestens zwei Jahre in ihr Heimatland zurückkehren müssen: „Die Einwanderungsbehörden nehmen diese Regel sehr ernst“.

    Julia Paschkowa nennt aber auch Möglichkeiten, die Zwei-Jahres-Regel zu umgehen:

    Ein Schreiben vom Partner-Land (in diesem Fall also von der russischen Regierung), das den Austauschstudenten von seiner Pflicht befreit, für zwei Jahre zurückzukehren. Dieser Antrag muss vom State Department und von der US-Einwanderungsbehörde USCIS beglaubigt werden. Laut Daniil Kirsanow haben russische Fulbrighter versucht, so ein Schreiben zu bekommen:   

    „Die Antwort auf unsere Anfrage war, dass Russland sich finanziell nicht an diesem Projekt beteiligt habe und es daher nicht als vollwertiges Austauschprogramm zu betrachten sei“, erklärt er. „Aus ihrer Sicht ist die Teilnahme russischer Studierender und Wissenschaftler am Fulbright-Programm eine private Initiative, mit der die russische Regierung nichts zu tun habe, weswegen sie auch keinen derartigen Verzicht bescheinigen könne. Theoretisch hätte die russische Fulbright-Filiale das Verzichtsschreiben verfassen können – als Organisation, die vonseiten Russlands die Verträge unterzeichnet. Aber diese wurde als Projekt der unerwünschten Organisation IIE geschlossen.“ 

    Die zweite Möglichkeit wäre eine Einladung einer US-Bundesbehörde. Also die Teilnahme an einem Projekt, an dem die US-Regierung interessiert ist. Für junge Spezialisten sei die Aussicht darauf gering, gibt Julia Paschkowa zu bedenken.      

    „Wenn alles wahr wäre, was russische Medien über angebliche Spione berichten, dann wäre es nicht so schwer, auf diesem Weg ein Visum zu bekommen“, scherzt Kirsanow bitter. „Aber ich kenne keinen einzigen Fall, in dem ein Fulbrighter diese Ausnahme hätte nutzen können.“

    Schließlich bliebe noch ein Antrag auf politisches Asyl. Doch das Prozedere dafür ist langwierig: Zuerst muss man der Einwanderungsbehörde Beweise vorlegen, dass man verfolgt wird. Diese leitet den Fall ans US-Außenministerium weiter, das die finale Entscheidung trifft. Einen Asylantrag hält die Anwältin Paschkowa jedoch für den aussichtsreichsten Weg. Allerdings fügt sie hinzu, dass dafür hypothetische Bedrohungen nicht ausreichen – man muss beweisen, dass man bei einer Rückkehr nach Russland persönlich gefährdet wäre.      

    Asyl kommt nicht für jeden infrage

    „Wir stehen vor einer simplen Wahl: Entweder wir kehren zurück nach Hause, wo wir eingesperrt oder vor Gericht gestellt werden können. Oder wir bemühen uns um ein Studentenvisum“, sagt Daniil Kirsanow. „Das Problem ist erstens, dass zu dem Zeitpunkt, als der neue Status des IIE bekannt wurde, die Bewerbungsfristen für das PhD-Studium bereits abgelaufen waren. Außerdem ist ein Studentenvisum keine endgültige Lösung des Problems, es stellt die Zwei-Jahres-Regel nur auf Pause. Manche von uns haben versucht, ein Arbeitsvisum zu bekommen, aber erfolglos. Sogar jene, die während ihres USA-Aufenthalts geheiratet haben, stehen vor diesem Dilemma, denn eine Eheschließung ändert nichts an der Verpflichtung, für zwei Jahre nach Russland zurückzugehen.“       

    Die meisten Fulbrighter, die wir für ein Gespräch gewinnen konnten, ziehen jetzt entweder ein Promotionsstudium in Betracht (das kommt nur für jene in Frage, die das ohnehin vorhatten) oder ein weiteres Master-Studium oder ein Post Academic Training – ein Praktikum nach dem Studium. Allen ist klar, dass das nur temporäre Lösungen sind, mit denen man aber in den USA die Zeit überbrücken kann, um Asyl zu beantragen und zu warten, bis das Asylverfahren abgeschlossen ist.

    Wir baten auch das Institut für internationale Bildung in Moskau um einen Kommentar. Dort versicherte man uns, man bemühe sich, den Kontakt zu den Projektteilnehmern aus Russland aufrechtzuerhalten und sie möglichst ausführlich zu beraten. 

    Natürlich hat das IIE sich redlich bemüht, etwas gegen die Zwei-Jahres-Regel zu unternehmen. Zum Beispiel hat es angeboten, den Programmteilnehmern den Umzug in ein Drittland zu bezahlen und nicht auf eine Rückkehr nach Russland zu bestehen. 

    „Der Umzug in ein Drittland bedeutet nicht nur ein Flugticket“, betont Irina Perfilowa, „man braucht auch ein Visum, muss eine Arbeit suchen und eine Wohnung finden, für all das braucht man vor allem in der ersten Zeit Geld. Wir haben in den USA zwar ein Stipendium bekommen, aber das war nicht so hoch, dass wir etwas hätten zurücklegen können. Keiner von uns hat Ersparnisse, und die Unterstützung durch Angehörige ist in einer Zeit, in der alle russischen Bankkarten im Ausland blockiert sind, auch nicht realistisch. Ich bezweifle, dass das ein realistischer Plan ist.“   

    Einer der Fulbrighter gesteht, dass er das Gefühl hat, das IIE, Cultural Vistas und das US-Außenministerium würden die Fulbright-Stipendiaten im Regen stehen lassen und dem Problem ausweichen.

    „Ich habe den Eindruck, sie sind sich der Risiken nicht bewusst, denen wir ausgesetzt sind, wenn wir nach Russland zurückkehren. Ihre Unterstützung beschränkt sich momentan auf Auskunft und Beratung, aber das ist nicht genug“, sagt Kirill Schabalin. 

    „Es ist nicht so, dass sie uns nicht glauben würden. Aber wenn ich von diversen Strafprozessen erzähle oder von Fällen absolut willkürlicher Rechtsprechung, dann sind sie immer sehr schockiert. Die Leute können sich einfach nicht vorstellen, was in Russland los ist“, sagt Daniil Kirsanow. 

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  • „Wenn man dich Propaganda nennt, dann berührt dich das emotional“

    „Wenn man dich Propaganda nennt, dann berührt dich das emotional“

    Es macht einen Unterschied, ob jemand über ein Land schreibt oder aus diesem heraus berichtet – insbesondere, wenn dieses Land das eigene ist und sich im Krieg befindet: In einer Kolumne für die Ukrajinska Prawda berichtet die ukrainische Journalistin Alina Poljakowa über einen Austausch mit Kolleginnen und Kollegen in europäischen Redaktionen, über typische Fragen zu Korruption und Pressefreiheit in der Ukraine sowie das Schreiben über die Heimat im Überlebenskampf.

    Journalisten berichten im März 2022 über die Folgen eines Beschusses der Stadt Wassylkiw bei Kyjiw / Foto © Imago, NurPhoto

    In den letzten anderthalb Monaten habe ich mit meinen ukrainischen Kollegen 18 Redaktionen ausländischer Medien in sechs europäischen Ländern besucht und mit mehr als hundert ausländischen Kollegen gesprochen.

    Wir wurden gefragt: „Wie können wir die Berichterstattung über die Ukraine in unseren Medien verbessern?“ oder „Auf welche anderen Themen sollten wir die Aufmerksamkeit lenken?“ Sie boten uns an, etwas gemeinsam zu machen, und haben uns für die Arbeit gedankt. 

    An anderer Stelle wurden komplexe und wichtige Fragen aufgeworfen, auf die ich weiter unten eingehen werde, und wieder woanders wurde Propaganda beklagt.

    Korruption in der Ukraine

    Beginnen wir mit den Fragen. Zur Korruption in der Ukraine wurden am häufigsten Fragen gestellt. Definitiv war diese Frage in allen drei deutschen Redaktionen zu hören.

    Meine Kollegen und ich haben es sogar geschafft, einen internen Witz darüber zu machen, denn in jeder dieser Redaktionen mussten wir das Gleiche wiederholen: Alle Recherchen zur Korruption in der Ukraine in den letzten gut zwei Jahren wurden von ukrainischen Journalisten veröffentlicht – man denke nur an die Eier für 17 Hrywnja oder an die türkischen Jacken. Und, vor allem: Es hatte Konsequenzen. Die Leute verloren ihre Positionen. 

    Als wir gefragt wurden, ob es deswegen interne Konflikte gebe, ob solche Stücke während des Krieges publiziert werden sollen, waren sich alle einig, dass das Thema behandelt gehört, wenn es gesellschaftlich wichtig ist und die Situation im Land verbessern kann.

    Natürlich wurde auch nach Verfolgung gefragt: etwa die Überwachung von Journalisten von Bihus.info und Einberufung als Rache für die Journalisten von Slidstvo.info. Unsere internen Angelegenheiten sind nicht so intern, was übergangslos zur nächsten Frage führt. 

    Meinungsfreiheit

    Auch das Thema Meinungs- und Pressefreiheit in der Ukraine stand ganz oben. Nicht zuletzt wegen der beiden oben beschriebenen Fälle. 

    Stellenweise klang es auch ein wenig ungläubig: „Könnt ihr überhaupt während des Kriegsrechts über alles schreiben?“ Wo sich herauslesen ließ: „Können wir Euch, den ukrainischen Medien, vertrauen?“ Auch das Thema Objektivität tauchte mehr als einmal auf. 

    Aber seltsamerweise fühlen sich die Medien in der Ukraine meiner persönlichen Wahrnehmung nach während des Krieges freier an als in Ungarn ohne den Krieg. Zwei der drei Medien, die wir dort besucht haben, hatten ihren Sitz in gemieteten oder gekauften Wohnungen, weil es für sie schwierig ist, überhaupt ein Büro zu mieten. Und Geschichten wie die über UMH und Kurtschenko trifft man dort oft an. 

    Obwohl wir noch viel vor uns haben, wenn wir uns beispielsweise an den Telemarathon oder die Situation mit Ukrinform erinnern.

    Verhandlungen

    Am Vorabend des Friedensgipfels [am 15./16. Juni in der Schweiz – dek] gab es viele Fragen über Frieden und Verhandlungen. „Unsere Leser wollen wissen, wohin das alles führt“, hieß es. 

    Also, ich würde auch gerne wissen, wohin das führt. Aber bisher mussten wir in jeder Redaktion, in der das gefragt wurde, über Minsk 1, Minsk 2 und die „Position der Stärke“ als einzig möglicher Option für die Ukraine sprechen, in der die Ukraine in solche Verhandlungen eintreten kann. Vorausgesetzt, dass auch Russland das will. Russland zeigt jedoch keine Anzeichen der Bereitschaft dazu, sondern versucht nur, so viel wie möglich zu zerstören. 

    Reisen in die besetzten Gebiete

    Was in den besetzten Gebieten passiert, ist sowohl für ausländische als auch für ukrainische Medien von Interesse. Der einzige Unterschied ist, dass es für ukrainische Journalisten einfach unmöglich ist, dorthin zu fahren, weil wir wissen, was das für Folgen haben kann. Einige ausländische Journalisten fragen sich, ob es für sie möglich ist.

    Im Laufe der Gespräche sind wir zu dem Schluss gekommen, dass die überwiegende Mehrheit von ihnen nicht gegen die Gesetze der Ukraine verstoßen will, und genau das würde passieren, wenn sie zum Beispiel von Russland aus auf das Territorium der Krim einreisen würden, was jetzt die einzige Option ist.

    Sie würden auch ihre Russland-Korrespondenten nicht dorthin schicken (die sie immer noch haben), weil sie verstehen, dass die Realität und das, was sie vor Ort zeigen dürfen, sehr unterschiedlich sein kann. So geschehen zum Beispiel bei dem Journalisten des ZDF.

    Nicht synchron

    Und obwohl wir in den meisten Fällen mit allen eine gemeinsame Basis und eine gemeinsame Sprache fanden, selbst als es um „gute Russen“ (!) ging, kamen unsere Meinungen in einigen Fällen nicht überein.

    Das anschaulichste Beispiel ereignete sich auf einem Diskussionspanel mit einem spanischen Fotografen, der acht Jahre lang den Einmarsch Russlands in die Ukraine einen „Bürgerkrieg“ genannt hatte, während er auf der Krim und im Donbas fotografierte, dem aber 2022 anscheinend alles klar wurde.

    Die Gedanken, die er in dem ihm eigenen Ton weiter äußerte, veranlassten mich und meine Kollegen schließlich, den Raum zu verlassen, was er mit den Worten kommentierte: „Das ist es, was Propaganda von Journalismus unterscheidet.“

    Wenn man dich Propaganda nennt, dann berührt dich das emotional.

    In solchen Momenten möchte ich gerne sehen, wie diese Leute arbeiten würden, wenn der Krieg in ihr Land kommt.

    Denn es ist eine Sache, nach Libyen, Syrien oder in die Ukraine zu fahren, um eine Pulitzer-Preis-würdige Geschichte zu finden.

    Eine andere Sache ist es, Berichterstattung über die Folgen des Beschusses deiner Heimatstadt zu machen, von Orten zu berichten, an denen deine Freunde möglicherweise getötet worden sind, Kollegen in den Krieg zu verabschieden und Freunde und Verwandte zu begraben.

    Ein bisschen spät zum „Tag des Journalisten“, und dennoch möchte ich meinen ausländischen Kollegen danken, die weiterhin über den Krieg in der Ukraine berichten, und natürlich unseren ukrainischen Kollegen, die einfach keine andere Wahl haben.

    Unsere Aufgabe ist es, die Wahrheit lauter zu schreien als die russische Propaganda schreit.

    Machen wir also weiter.

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  • Spiel mit dem Verwerflichen

    Spiel mit dem Verwerflichen

    Wegen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine wurden russische Fußballvereine und die Nationalmannschaft von allen europäischen und internationalen Wettbewerben ausgeschlossen. So durfte die Sbornaja auch nicht an der Qualifikation zur EM, die aktuell in Deutschland stattfindet, teilnehmen. Der russische Fußball ist also isoliert. Dennoch spielten über 50 ausländische Spieler in der abgelaufenen Saison in der höchsten Spielklasse des Landes (die mal wieder Zenit St. Petersburg für sich entscheiden konnte). 

    Das russische Online-Medium The Insider hat sich diese Spieler im Fußball (und im Eishockey) genauer angeschaut und recherchiert, dass Spieler aus dem Ausland bei russischen Clubs auch eine Anstellung finden, obwohl gegen sie ermittelt wird. 

    Orenburgs Jordhy Thompson feiert sein Tor gegen den FK Rostow. In seiner Heimat Chile ist er wegen häuslicher Gewalt angeklagt / Foto © IMAGO/ITAR-TASS/Erik Romanenko

    Ein Chilene, der seine Freundin brutal geschlagen haben soll

    Im Januar 2024 verpflichtete der Fußballclub FK Orenburg den 19-jährigen Linksaußen Jordhy Thompson vom chilenischen Verein CSD Colo-Colo. Der Fußballer wird in seiner Heimat des versuchten Totschlags beschuldigt. Im November 2023 hatte die ehemalige Partnerin Thompsons, Camila Sepúlveda, bei der Polizei Anzeige erstattet: Der Fußballer soll sie in betrunkenem Zustand aus Eifersucht grausam geschlagen haben. Auch soll er versucht haben, sie zu erwürgen. Das war nicht das erste Mal: Im vergangenen Frühjahr hatte Camila den Fußballer zwei Mal gewalttätiger Übergriffe beschuldigt. 

    Am 6. November 2023 wurden gegen den vielversprechenden Stürmer 45 Tage Haft verhängt. Die wurden nach einigen Tagen in Hausarrest umgewandelt. Am 19. Dezember erreichten Thompsons Anwälte, dass diese Sicherungsmaßnahme für ein halbes Jahr ausgesetzt wurde, wobei der Beschuldigte das Land gegen eine Kaution von 100 Millionen Peso (rund 105.000 Euro) verlassen konnte. Bereits am 3. Januar 2024 verkündete Orenburg, dass die Papiere über seinen Wechsel als Leihspieler unterschrieben sind.

    Im Januar, mitten in der Winterpause der russischen Premjer Liga, wurde der Fall Jordhy Thompson heftig diskutiert. Auslöser war ein höchst merkwürdiges Statement von Dmitri Andrejew, dem Sportdirektor von Orenburg. Der ehemalige Fußballer, der gleich nach seinem Karriereende 2019 zum Clubmanager aufstieg, wurde direkt gefragt, ob der Verein nicht von der Vorgeschichte des Chilenen irritiert sei.

    Das war aber keineswegs der Fall:

    „Eine dunkle Seite bei Thompson? Wer hat die nicht? Von den Problemen mit der Freundin haben wir gehört. Sie reden so, als ob er zwanzig Frauen plattgemacht hätte. Wir machen uns um das Ansehen von Orenburg keine Sorgen. Wem passiert das nicht? Wir haben ihn nicht unter die Lupe genommen. Uns war klar: Wenn es nicht die Probleme mit seiner Freundin gegeben hätte, hätten wir uns einen solchen Spieler nicht leisten können. Als er in diese Lage geraten war, haben wir alles drangesetzt, ihn zu bekommen“, führte Andrejew in einem Interview für Sport24 aus.

    Hätte es keine Probleme mit dem Gesetz gegeben, hätte sich Thompson sicher bei Colo-Colo weiterentwickeln können. Oder er hätte sogar mit dem Wechsel in eine stärkere europäische Liga liebäugeln können, wie sein ehemaliger Trainer Gualberto Jara meint, der mit Thompson im Jugendbereich des chilenischen Spitzenclubs gearbeitet hat. Im Gespräch mit The Insider bestätigte ein Experte, der in Spanien zum Staff von Racing Santander und Rayo Vallecano gehörte, dass Thompson dieses Potenzial hat.

    Jewgeni Jeremjakin, Präsident des Clubs und stellvertretender Generaldirektor von Gazprom Förderung Orenburg, räumte im Januar ein, dass ihm die Sache mit dem neuen Spieler trotzdem Sorgen bereitet: „Deswegen leihen wir ihn erstmal bis zum Saisonende aus. Und werden ihn erziehen.“

    Für den FK Orenburg, der die ganze Saison ums Überleben in der russischen Premjer Liga kämpfte, bedeutet Thompson zweifellos eine Verstärkung: Er stand bei allen Spielen in der Startelf und erzielte zwei Treffer (einen davon im russischen Pokal). The Insider hat beim FK Orenburg nachgefragt. Bis zur Veröffentlichung des Artikels ist keine Antwort eingegangen.

    Ein Niederländer, der bei einem Verkehrsunfall den Tod eines Kindes verschuldete 

    Rai Vloet, Legionär bei Ural Jekaterinburg, wurde im April 2023 in den Niederlanden zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, weil er angetrunken einen Verkehrsunfall verursachte, bei dem ein vierjähriges Kind starb. Sein Wagen hatte auf dem Weg zum Amsterdamer Flughafen Schiphol das Fahrzeug einer Familie mit zwei Kindern gerammt. Eines der beiden Kinder erlag seinen schweren Kopfverletzungen. Der Unfall ereignete sich am 14. November 2021. Vloet leugnete anfangs hartnäckig, dass er am Steuer saß (ein Freund war mit ihm im Wagen). Dann stritt er ab, dass er viel zu schnell gefahren war. Die Ermittlungen ergaben, dass sein Fahrzeug vor dem Aufprall eine Geschwindigkeit von 203 Stundenkilometern hatte. Der Alkoholpegel der beiden Männer lag beim Doppelten des Grenzwerts. Es stellte sich heraus, dass die beiden von einer Party zur nächsten unterwegs waren.

    Anfangs versuchte Vloets Bekannter, mit einer Falschaussage die Schuld auf sich zu nehmen. Letztendlich sagten aber beide wahrheitsgemäß aus. Die Verteidigung hob darauf ab, dass das getötete Kind nicht angeschnallt war. Vor dem tödlichen Unfall hatte Vloet, der bei PSV Eindhoven ausgebildet wurde, einem der erfolgreichsten Vereine des Landes, in der Eredivisie, der höchsten niederländischen Liga gespielt. Bei Heracles Almelo, das im Mittelfeld rangiert, war er einer der Führungsspieler. Nach dem Prozess gegen ihn meldeten sich aktive Fans des Clubs zu Wort: Sie bekräftigten, dass es beschämend und unmöglich sei, ihn aufs Feld zu schicken, als ob nichts gewesen wäre. Selbst, wenn die Berufung noch laufe. Danach nahm Heracles die gleiche Haltung ein. Vloet wurde vom Training suspendiert und verkündete im Januar 2022, dass er nicht mehr für die Mannschaft spielen werde.

    Um nicht ohne Spielpraxis und Gehalt dazusitzen, fand er einen neuen Job in Kasachstan: Astana FK verpflichtete ihn ablösefrei. Dort wusste man bestens über die Situation Bescheid. Innerhalb der Mannschaft war das Thema aber tabu, erläuterte der Sportdirektor von Astana FK, Igor Pawljuk, gegenüber The Insider. Er war seinerzeit leitend in der Verwaltung tätig. Für Ural Jekaterinburg, das den schillernden und umstrittenen Holländer im September 2022 für 250.000 Euro verpflichtete, spielten moralische Fragen überhaupt keine Rolle. Das hatte der Vizepräsident des Clubs, Igor Jefremow, seinerzeit eingeräumt. In der YouTube-Show Das ist Fußball, Bruder erinnerte sich der nun schon ehemalige Mitarbeiter von Ural:

    „Wenn du die Situation nicht kennst, stellt sich die Frage: Warum spielt dieser Spieler in Kasachstan? Wir haben uns mit der Situation beschäftigt und alles diskutiert. Als Vloet bei Ural unterschrieb, hatte es noch keine Entscheidung des Gerichts gegeben. Ich sage ganz ehrlich: Die moralische und ethische Seite wurde überhaupt nicht erörtert.“

    Auf die Frage der Moderierenden, ob das in Ordnung sei, bemerkte Jefremow: „Sagen wir mal so: Gibt es wirklich viele Leute, die in ihrem Leben immer nüchtern hinterm Steuer sitzen?“ Und er fasste zusammen: „Wir diskutieren diese Situation hier jetzt länger, als wir sie damals diskutiert haben.“ Der Anwalt des Fußballers Erik Thomas kommentierte die Lage, indem er das Offensichtliche aussprach: „Es ist nicht so interessant, in Kasachstan oder Jekaterinburg zu spielen, wenn du Europa gewohnt bist. Aber kein einziger europäischer Club wollte ihn bei sich sehen.“

    Sowohl der frühere Anwalt des Fußballers als auch der ehemalige Vizepräsident von Ural, Igor Jefremow, behaupteten: Sobald das abschließende Urteil nach der Berufung feststeht, wird sich Vloet nicht mehr verstecken und in den Niederlanden seine Strafe verbüßen. Ihren Aussagen zufolge ist der Spieler bereit für eine Gefängnisstrafe, wie lang sie auch sein mag. The Insider hat bei Ural Jekaterinburg nachgefragt. Bis zur Veröffentlichung des Artikels ist keine Antwort eingegangen.

    Ein Niederländer, der mit Kokain handelte

    Der aufsehenerregendste Kriminalfall im russischen Fußball steht allerdings nicht mit einer Verstärkung eines Clubs in Verbindung, sondern mit einem Abgang. Der Niederländer Quincy Promes, Führungsspieler bei Spartak Moskau, saß bis zuletzt noch in einem Gefängnis in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE), und zwar wegen eines Auslieferungsantrags aus den Niederlanden. Im vergangenen Sommer war Promes dort zu anderthalb Jahren verurteilt worden, weil er seinen Cousin im Laufe eines Streits in der Familie mit einem Messer verletzt hatte. Im Winter kamen wegen Kokainschmuggels sechs Jahre hinzu. Zwischen diesen Verfahren besteht allerdings keine Verbindung. Die Ermittlungen wegen Drogenschmuggels hatten bereits 2018 begonnen, während der Konflikt mit dem Cousin erst 2020 erfolgte.

    Quincy Promes war schon 2014 zu Spartak gewechselt und wurde dort nicht nur zu einem Star, sondern zu einer echten Legende. Er war 2017 Mitglied der Mannschaft, die die Meisterschaft holte, zum ersten Mal nach 16 Jahren. Im Mai 2023 wurde er zum besten Stürmer des Clubs in der postsowjetischen Vereinsgeschichte. Und er wurde zum erfolgreichsten ausländischen Torschützen der russischen Ligageschichte.

    Es gab einen dritten Vorfall mit Promes, der an sich relativ unbedeutend war. Doch ohne diesen Fall wäre er wohl nicht hinter Gittern gelandet. In der Winterpause 2023-2024 flog Quincy in den Urlaub nach Dubai (in der Europäischen Union wollte er sich nicht sehen lassen, weil er in Abwesenheit wegen des Angriffs auf seinen Cousin verurteilt worden war). Dort hatte er mit einem Mietwagen einen Unfall mit einem Bus verursacht und war vom Unfallort geflüchtet. Bald darauf flog er nach Moskau, um danach mit Spartak ins Trainingslager in die Emirate zurückzukehren. Dem Verein hatte er dabei nichts von dem Unfall erzählt.

    Das Urteil von sechs Jahren Gefängnis wegen des Drogenschmuggels wurde am 14. Februar bekannt, als Promes sich mit Spartak in den Emiraten aufhielt. Zwei Wochen später wurde er nicht in den Flieger seines Vereins gelassen, der ihn zurück nach Russland bringen sollte. Das erfolgte aufgrund der Rechtsverletzung in den Emiraten. Der Grenzschutz der Emirate hatte die Informationen zur Flucht vom Unfallort erhalten. Bald schon wurde die niederländische Seite aktiv. In den Emiraten ging ein Auslieferungsantrag ein, und der Fußballer wurde festgenommen. Ende März berichtete De Telegraaf, Promes habe ein Gerichtsverfahren zu erwarten. Bis zu einer Entscheidung über die Auslieferung bleibe er unter gewöhnlichen Bedingungen in Haft. In seiner Zelle, die für sechs Personen ausgelegt ist, sitzen rund 20 weitere Häftlinge. Am 17. Mai wurde berichtet, dass der Fußballer auf Kaution freigelassen wurde, die Emirate aber nicht verlassen darf.

    Aus den niederländischen Ermittlungen geht hervor, dass für Promes zwei Lieferungen Kokain aus Brasilien im Hafen von Antwerpen eintrafen mit einem Gesamtgewicht von 1362 Kilogramm. Die Ware war als Meersalz in Säcken getarnt. Nach Angaben der Ermittler hatte der Spieler von Spartak 200.000 Euro investiert, um sechs Millionen herauszuholen. Promes hatte Komplizen (darunter seinen Onkel), stand aber an der Spitze dieser Miniorganisation. Daher wurde für ihn das höchste Strafmaß von allen gefordert. „Allem Anschein nach hält sich Promes für unantastbar, sei es in Russland oder in anderen Ländern. Mich würde interessieren, wie ein erfolgreicher Fußballer sich derart in Verbrechen verstricken konnte“, zitiert die NL Times den Staatsanwalt.

    Spartak verweist die ganze Zeit auf das laufende Berufungsverfahren und löst den Vertrag mit Promes nicht auf. RBK zufolge ist es für den Club juristisch möglich, den Vertrag zu kündigen: Als er 2021 unterzeichnet wurde und die Ermittlungen zum Angriff auf seinen Cousin schon bekannt waren, hatte Spartak eine Klausel darüber eingefügt, dass der Vertrag ohne weitere gegenseitige Ansprüche aufgelöst werden kann, falls der Spieler nicht mehr für die Mannschaft spielen kann.

    Höchstwahrscheinlich wird Promes nicht mehr für Spartak spielen, auch wenn der Vertrag bis Juni nächsten Jahres läuft. Wenn der Unfall mit dem Mietwagen nicht gewesen wäre, hätte er wahrscheinlich mit der Mannschaft nach Russland zurückfliegen und weiter in der Premjer Liga spielen können. Aus Russland hätte man ihn wohl kaum an die Niederlande ausgeliefert. Darauf wies gegenüber The Insider Andrej Morosow hin, ein Anwalt der Kanzlei Feokistow und Partner: „Die Entscheidung über eine Auslieferung trifft praktisch die Generalstaatsanwaltschaft. Das ist ein außerordentliches Verfahren, weswegen eine Auslieferung aus politischen Motiven erfolgen kann (oder eben nicht erfolgen kann).“

    Bereits vor seiner Inhaftierung in Dubai hatte Promes wohl versucht, sich durch eine russische Staatsangehörigkeit abzusichern. Vor einem Jahr wurde bekannt, dass ihm Spartak dabei half. Das russische Sportministerium verweigerte jedoch wegen des laufenden Gerichtsverfahrens seine Mitwirkung. Wenn der Niederländer die russische Staatsangehörigkeit erhalten hätte, wäre er auf russischem Hoheitsgebiet in Sicherheit gewesen, weil Russland seine Staatsangehörigen nicht ausliefert. Übrigens droht Promes auch in Russland ein Strafverfahren, nämlich wegen systematischer Nichtzahlung von Steuern. Dem Portal Mash zufolge schuldete er dem Finanzamt 397.000 Rubel, bevor er zum Trainingslager in die Emirate flog.

    Ein Amerikaner, der Polizisten angriff

    Im Sommer 2023 unterzeichnete SKA Petersburg, einer der Spitzenclubs der Kontinentalen Eishockeyliga (KHL), finanziert von Gazprom, einen Vertrag mit Alex Galchenyuk, einem US-Amerikaner belarussischer Herkunft. In seiner Jugend hatte er einen russischen Pass und eine Einladung in die russische Sbornaja. Galchenyuk lehnte jedoch sowohl eine Nominierung wie auch den Pass ab. Er war dann aber genötigt, über Angebote aus Russland nachzudenken, nachdem der gerade erst unterschriebene Vertrag mit den Arizona Coyotes aus der National Hockey League aufgelöst wurde.

    Mitte Juli letzten Jahres war Galchenyuk wegen eines Angriffs auf Polizisten verhaftet worden. Er war mit seinem Vater mit einem BMW in einen Unfall verwickelt. Der Wagen war gegen den Bordstein geraten und hatte ein Verkehrsschild und ein Auto daneben beschädigt. Als die Polizei am Unfallort eintraf, fand sie den Eishockeyspieler einige Meter vom Wagen liegend betrunken vor. Bei der Festnahme leistete er Widerstand, wurde grob und drohte den Polizisten. Auf einem später in Umlauf gebrachten Video der Polizeikameras ist deutlich zu hören, was Galchenyuk den Polizeibeamten sagte: „Ist dir klar, dass ich dich einfach absteche? Die Kehle schneide ich dir durch … Du weißt, dass ich Abramowitschs Nummer habe… Und ihr alle seid am *** … Lass mich aus dem Wagen, sonst werden alle eure Kinder, alle eure Frauen, alle eure Töchter sterben. Ein Anruf von mir, und ihr seid tot“. Darüber hinaus erlaubte er sich rassistische Äußerungen gegenüber einem der Polizisten.

    Der Spieler entschuldigte sich später öffentlich, doch gab es bereits keinen Weg zurück in die NHL. In solchen Fällen bieten die Clubs den Betroffenen gewöhnlich einfach keinen Vertag mehr an, zumindest bis zu einer Rehabilitierung. Galchenyuk erhielt nun Angebote aus Russland, wobei er sich für SKA Petersburg entschied. Roman Rotenberg, der Cheftrainer von SKA und gleichzeitig dessen Vizepräsident und stellvertretender Vorsitzender des Direktorenrats (sowie Sohn des Geschäftsmanns Boris Rotenberg), war begeistert, dass Galchenyuk sich für seinen Club entschied: „Wir sind froh, dass ein Hockeyspieler von diesem Niveau zu uns gestoßen ist. Wie man so sagt, ein Gottesgeschenk. Weil es ganz und gar nicht einfach ist, einen solchen Spieler zu bekommen.“ 

    Und bei der Vorstellung des neuen Spielers erklärte Rotenberg noch vor den Fragen zu dem Vorfall: „Alex passt rundum in unser System. Von den menschlichen Qualitäten her wie auch als Spieler.“ Auf Nachfragen von The Insider an SKA über die Vertragsunterzeichnung und die Zukunft von Galchenyuk gab es keine Antwort.

    Was die Sportfunktionäre sagen

    Der Fall Quincy Promes verlangt in Bezug auf den Zustrom von Spielern mit Reputationsproblemen nach einer Stellungnahme führender Vertreter des russischen Fußballs. Maxim Mitrofanow, Generaldirektor des Russischen Fußballverbandes erklärte auf die Frage nach dem Image der russischen Premjer Liga als einer Liga von Kriminellen, dass man die russische Meisterschaft so nicht bezeichnen könne und fügte hinzu: „Das ist eher eine Frage an die Arbeitgeber. Hier entscheidet jeder selbst, ob er bereit ist, mit einem Menschen zusammen zu arbeiten, der eine Straftat begangen oder nicht begangen hat.“ Und der Chef der Premjer Liga Alexander Alajew formulierte es nach einer Mahnung daran, dass bis zum Ende des Berufungsverfahrens niemand als Verbrecher bezeichnet werden dürfe wie folgt:

    „Wenn die Schuld eines Spielers bewiesen ist, kann er nicht mehr in der Premjer Liga spielen. Fußballer sind ein Vorbild für Kinder; für meinen Sohn ist Promes ein Heiliger. Wir verfolgen die Situation von Promes und von Vloet mit Hilfe von Juristen. Wir können ihnen nicht verbieten zu spielen. Wir werden verfolgen, wie die Sache ausgeht. Aber Menschen, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind, sollten kein Teil der Liga sein. Das ist meine Meinung.“

    Juristische Instrumente, um Verträge mit solchen Spielern zu verbieten, gibt es weder bei den Ligen (der Premjer Liga und der KHL), noch bei den Verbänden.

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  • „Wenn Böses im Namen des ganzen Landes getan wird, kann man nicht schweigen“

    „Wenn Böses im Namen des ganzen Landes getan wird, kann man nicht schweigen“

    Seit seiner Jugend beschäftigt Wladimir Kara-Mursa der Widerstand gegen Diktaturen. Als junger Journalist drehte er Dokumentarfilme über das Leben sowjetischer Dissidenten. Später setzte er sich in Washington für die Verabschiedung des sogenannten Magnitski-Gesetzes ein, das Sanktionen gegen russische Politiker und Beamte vorsieht, wenn sie an Menschenrechtsverletzungen beteiligt waren. Er überlebte zwei Giftanschläge, die mutmaßlich vom selben FSB-Kommando verübt wurden, das auch den Anschlag auf Alexej Nawalny begangen haben soll. Im April 2023 verurteilte ein Moskauer Gericht Wladimir Kara-Mursa wegen der „Verbreitung von Falschinformationen über die russische Armee“, der „Mitwirkung bei einer unerwünschten Organisation“ und wegen „Hochverrats“ zu 25 Jahren Straflager.
    Kara-Mursa hat immer offen darüber gesprochen, dass er Kraft und Mut für seine Arbeit aus dem Glauben schöpft. Das christliche Portal Mir Vsem (dt. Friede sei mit euch) hat ihn gefragt, wie er seinen Glauben in der Haft praktizieren kann und wie er die Rolle der Russisch-Orthodoxen Kirche im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine beurteilt.

    Der Oppositionspolitker Wladimir Kara-Mursa vor Gericht in Moskau im Oktober 2022 / Foto © Sergei Bobylev/IMAGO/ITAR-TASS

    Mir Vsem: Sie sind jetzt schon zwei Jahre hinter Gittern. Wie hat sich diese Zeit auf Ihr Selbstverständnis als Christ ausgewirkt, und auf Ihr Verhältnis zum Glauben und zur Kirche? 

    Wladimir Kara-Mursa: Mein Verhältnis zum Glauben und mein Selbstverständnis als Christ haben sich nicht verändert. Und das gilt auch für das Verhältnis zur Kirche. Aber natürlich setze ich die Kirche weder mit ihrem Verwaltungsapparat gleich noch mit einzelnen Amtsträgern, auch nicht mit den höchstgestellten. Das hat mich Vater Georgi Edelstein gelehrt, ein sehr weiser und lauterer Mensch und, wie ich finde, ein wirklicher christlicher Geistlicher. Er betont immer – auch in seinen Büchern und in unserem gemeinsamen Film Die Pflicht, nicht zu schweigen von 2019 –, dass man die Kirche Christi nicht nach dem Verhalten einzelner Personen beurteilen darf, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihrem Namen auftreten. Diese Personen können sich sehr unwürdig verhalten, aber das macht nicht das Wesen des Glaubens und der Kirche aus. Auch heute sind in meinen Augen die verfolgten Priester, die ihre Stimmen gegen Krieg, Blutvergießen und Brudermord erheben, diejenigen, die das eigentliche Wesen des Christentums und der Orthodoxen Kirche zum Ausdruck bringen – und nicht die kirchlichen Würdenträger, die ihnen deswegen verbieten, Gottesdienste abzuhalten und ihnen das Amt aberkennen. Diese verfolgten Geistlichen, die, um mit Martin Niemöller zu sprechen, nicht bereit sind, „auf menschliche Anordnung hin das zu verschweigen, was Gott uns zu sagen gebietet“, retten heute meiner Ansicht nach die Ehre der Russisch-Orthodoxen Kirche. 

    Sie standen vor der Entscheidung zwischen Ihren Prinzipien, die Sie in die Opposition geführt und schließlich ins Gefängnis gebracht haben, und dem nachvollziehbaren Wunsch, das zu vermeiden und Ihren Angehörigen Leid zu ersparen. Ist Ihnen die Wahl schwergefallen?

    Es gibt ein großartiges Buch von Ljudmila Ulitzkaja. Es heißt Die Dichterin und ist dem Andenken an die Lyrikerin Natalja Gorbanewskaja gewidmet, mit der sie befreundet war. Gorbanewskaja nahm im August 1968 an der Demonstration der Sieben teil – sieben Menschen [sic!], die auf dem Roten Platz gegen den sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei protestierten. Ulitzkaja schreibt über sie: „Sie wollte Gott keinen Kummer machen. Sie war keine Heldin, sie war nicht auf Märtyrertum und Probleme aus. Sie hatte einfach keine andere Wahl.“ Das trifft es sehr genau. In solchen Zeiten, in denen Böses im Namen des „ganzen Volkes“, des „ganzen Landes“ getan wird, kann man nicht schweigen, sich abwenden, ignorieren – denn das würde bedeuten, dass all diese Taten auch in meinem Namen begangen werden. Deshalb gab es keine Wahl – Schweigen wäre für mich eine Form der Zustimmung gewesen. Und aus sicherer Entfernung zu reden, entspricht nicht meiner Vorstellung von der Verantwortung eines Politikers, der in der Öffentlichkeit steht. Aber Sie haben ganz recht damit, nach den Angehörigen zu fragen. Die Familien der politischen Gefangenen haben an dieser Last viel schwerer zu tragen als wir selbst. 

    Mir ist es leider nicht möglich, den Gottesdienst zu besuchen

    Haben Sie die Möglichkeit, die Gefängniskirche zu besuchen oder einen Geistlichen zu sprechen? Wie läuft das ab? Nehmen Sie an den Sakramenten teil?

    In den beiden Straflagern, zwischen denen ich in Omsk hin- und her verlegt werde gibt es zwar Kirchen, aber als „böswilliger Regelverletzer“, der im internen Lagergefängnis eingesperrt ist, darf ich sie nicht aufsuchen – so wie ich mich generell nicht auf dem Gelände des Lagers bewegen und keinen Kontakt zu anderen Häftlingen aufnehmen darf. Deshalb ist es mir leider nicht möglich, den Gottesdienst zu besuchen. Wenn ich beichten und das Abendmahl empfangen will, muss ich einen schriftlichen Antrag beim Leiter der Kolonie stellen. Dann sucht mich ein Geistlicher in Begleitung von Mitarbeitern des Föderalen Strafvollzugsdienstes FSIN auf und vollzieht die Sakramente – entweder direkt in der Zelle oder in einem Dienstgebäude, zum Beispiel in der Sanitätsabteilung. 
    Nach dem Strafgesetzbuch haben Gefangene das Recht, einen Geistlichen ihrer Wahl kommen zu lassen, damit sie auch im Gefängnis die Möglichkeit haben, Verbindung zu ihrem Seelsorger zu halten. Das ist sehr wichtig, doch bisher habe ich diese Möglichkeit nicht nutzen können. Im Moskauer Gefängnis hat mich Vater Alexej Uminski regelmäßig besucht, und im Winter wurden die nötigen Verwaltungsmaßnahmen in Gang gesetzt, damit er hierher kommen kann. Aber um die Weihnachtszeit wurde er dann wegen seiner Antikriegshaltung des Amtes enthoben, und ich erhielt von der Bezirksverwaltung des FSIN eine Absage. Der Rat und die Unterstützung eines Seelsorgers sind für mich schon im normalen Alltag sehr wichtig, und umso mehr im Gefängnis. 

    Können Sie in der Zelle beten? Und wie reagieren die Zellengenossen darauf? 

    Ich bete täglich, in der Regel morgens und zur Nacht. Alle Gebete verrichte ich hier nur still für mich und nur in der Zelle. Seit meiner Verlegung nach Sibirien im letzten Frühherbst befinde ich mich permanent in Einzelhaft, deshalb stellt sich die Frage nach den Zellengenossen nicht.

    Die innere Freiheit zu sagen, was du denkst, ist ungeheuer wichtig, und niemand kann sie uns nehmen

    Es ist immer wieder zu hören und zu lesen, Freiheit sei etwas Inneres, man könne sich auch im Gefängnis frei fühlen. Das klingt gut, aber stimmt es auch?

    In gewissem Sinn stimmt es tatsächlich. Wie ich gehört – oder besser gesagt, in einem Brief gelesen – habe, ist kürzlich ein Sammelband mit Schlussworten politischer Gefangener erschienen. Sie wurden eingesperrt, weil sie sich in Russland öffentlich gegen den Krieg ausgesprochen haben (Anm. der Redaktion: Es geht um den Band Golosa rossiiskogo soprotiwlenija, dt. Stimmen des russischen Widerstands). Und vielen fällt auf, dass sich diese Menschen, die im Gefängnis sitzen, viel freier und offener äußern als diejenigen, die einstweilen in Freiheit sind. So war es auch schon zu Sowjetzeiten: Die Dissidenten sagten vor Gericht Dinge, für die alle andern sofort ins Gefängnis gekommen wären, denn sie waren ja schon dort. Diese innere Freiheit, die Freiheit zu sagen, was du denkst, ist ungeheuer wichtig, und niemand kann sie uns nehmen. Aber die körperliche Unfreiheit in Raum und Zeit, die Tatsache, dass du nicht die Freiheit hast, bei deiner Familie zu sein, spürst du hier jeden Tag und jede Minute. Und das ist sehr belastend. 

    Erleben Sie die Unfreiheit als Prüfung für Ihren Glauben?

    Es wäre unlauter, wenn ich das vollkommen verneinen würde. Im Großen und Ganzen nein. Aber meine Gedanken und Gefühle haben sich über die letzten gut zwei Jahre gewandelt. Auch wenn ich weiß, dass alles Gottes Wille ist, wie im Buch des Propheten Jeremia (29,11) geschrieben steht, dass nur der Herr weiß, was er mit jedem von uns vorhat, und dass Kleinmut für einen Christen Sünde ist, so ist es nicht immer leicht, gegen die rein menschlichen Empfindungen der Ungerechtigkeit, Verzweiflung und Schwermut anzukämpfen. Vor allem, wenn man die ganze Zeit völlig allein ist. Und man trägt seine Prüfung nicht immer mit der geschuldeten Demut.

    Ich möchte gern glauben, dass alles, was im Leben mit uns geschieht, seinen Sinn hat

    Der Priester und Märtyrer Wassili Sokolow schrieb seinen Angehörigen 1922 aus dem Gefängnis: „Jedes Leiden gereicht dem Menschen und seiner unsterblichen Seele zum Vorteil.“ Glauben Sie, dass das, was Sie zurzeit durchmachen, gut für Ihre Seele ist?

    Ich bin diesem Gedanken bei Menschen, die die Erfahrung der Gefangenschaft gemacht haben, häufig begegnet. Alexander Solschenizyn hat im Archipel GULAG geschrieben, er habe im Gefängnis seine „Seele großgezogen“ und es dafür gesegnet, dass es in seinem Leben gewesen ist. Im Moment kann ich Ihnen nicht antworten: „Ja, das ist es, was ich empfinde.“ Ich möchte gern glauben, dass alles, was im Leben mit uns geschieht, seinen Sinn hat. 

    Haben Sie Zugang zu christlicher Literatur? Was lesen Sie gerade, was haben Sie in den beiden letzten Jahren gelesen?

    Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich in Freiheit wenig in der Heiligen Schrift gelesen habe. Aber während der Haft habe ich alle fünf Bücher Mose, die vier Evangelien, die Apostelgeschichte und einige weitere Bücher der Bibel gelesen, aus dem Alten und Neuen Testament. Die Bergpredigt, die für mich den Kern des Christentums darstellt, habe ich immer wieder gelesen und lese sie weiterhin. Ich bin mit sieben Jahren Christ geworden. Damals bat ich meine Mutter darum, getauft zu werden. Das war Ende der 1980er Jahre, noch zur Zeit der Sowjetunion. Seither spielt der Glaube eine große Rolle in meinem Leben. Und es ist mir wichtig, jetzt, im fünften Jahrzehnt meines Lebens, bewusst und reflektiert die Bibel zu lesen und die Entscheidung, die ich im Alter von sieben Jahren getroffen habe, nochmals zu bekräftigen. 

    Es gibt die russische Gefängnisregel: „Glaube nicht, fürchte dich nicht, bitte um nichts.“ Passt das zu einem gläubigen Menschen?

    Im Verhältnis zu Gott natürlich nicht, in keinem dieser drei Punkte. Aber die Regel bezieht sich ja nicht auf das geistliche Leben der Gefangenen. Als praktischer Ratschlag für das Überleben im Gefängnis hat sie nichts an Aktualität verloren.

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  • Verstka, gesprochen Wjorstka

    Verstka, gesprochen Wjorstka

    Auf den russischen Großangriff auf die Ukraine folgte in Russland eine bis heute andauernde Welle der Repressionen – vor allem auch gegen unabhängige Medien, von denen zahlreiche ihren Betrieb einstellen oder ins Exil gehen mussten. Gleichzeitig begünstigten Schock und Empörung auch die Gründung einer Reihe neuer Onlinemedien wie The New Tab, die Novaya Gazeta Europe oder Cherta, die meist aus dem sicheren Ausland und mit anonymen Korrespondentinnen und Korrespondenten vor Ort arbeiten. Eines davon ist Verstka. Auf dem Blog Inymi slowami des US-amerikanischen Kennan Institutes erzählt die Chefredakteurin Lola Tagajewa die Gründungsgeschichte ihres Mediums, das auch für dekoder zu einer wichtigen Quelle geworden ist.

    „Viel Geld werden wir nicht verdienen, wenn überhaupt welches; doch eins weiß ich sicher – es wird schwierig. Für Medien ist es immer schwierig. Vor allem jetzt.“ So also klang das Traumangebot, das ich Marianna Luschnikowa, der zukünftigen Marketingchefin von Verstka, im März 2022 schickte.

    Marianna und ich hatten gerade unsere ersten Trainings auf den Markt gebracht. Durchaus erfolgreich. Das letzte war für die Niederlassung einer transnationalen Firma gewesen, deren Produkte in jedem Haus zu finden sind, in dem es Babys gibt. Von dem Geld für dieses Training lebten Marianna und ich vier Monate lang, bis Einkünfte von Verstka kamen.

    Ein Start ohne große Ressourcen und prominenten Namen

    Warum rede ich gleich über Geld? Weil ich fast keines hatte. Und Medien haben ohne Geld keine Chance. Also, richtige Medien, nicht das private Blog von Lola Tagajewa. Ein Blog wollte ich nicht, und Gott sei Dank ließ ich die Finger davon. 

    Also, das Geld. Verstka hat seit letztem Jahr über 30 Mitarbeiter, und ich habe eine ungefähre Vorstellung von unserem Jahresbudget. Doch damals hatten wir im Grunde nur zwei Monatsgehälter für drei Journalisten. Einen halbwegs prominenten Namen, mit dem ich Sponsoren hätte ködern können, hatte ich auch nicht. Viel hatte ich also nicht, nur die Gewissheit: Etwas anderes als Journalismus kann ich jetzt nicht machen. Ich bin nicht die Einzige, die seit dem 24. Februar [2022 – dek] wie benommen ist.

    Zu dem Zeitpunkt war ich seit drei Jahren damit glücklich, nicht mehr journalistisch zu arbeiten, und wollte eigentlich gar nicht zurück. Ich bin politische Journalistin und Redakteurin in den 2010er Jahren gewesen: Damals mündete unsere Hoffnung auf Modernisierung unter Medwedew allmählich in Chroniken von Gerichtsprozessen. Meine Kündigung begründete ich damit, dass das Politikressort zur Apokalypse geworden sei. Damals hatte ich noch keinen Schimmer … Doch ich wollte sehen, dass meine Arbeit etwas bringt. Also wandte ich mich einem Bereich zu, den der Staat noch nicht so brutal unterdrückte – Problemen der Geschlechterungleichheit und der häuslichen Gewalt.   

    Ich hatte keine Rückkehrpläne und lehnte alle Jobangebote von Medien ab. Doch 2022 begann der Krieg, und es gab [in Russland – dek] fast keine Medien mehr, die darüber  hätten berichten können. Alle waren geschlossen, geflüchtet, übten Selbstzensur. Im März wurden direkt vor meinen Augen mit besonderem Zynismus Medien vernichtet, für die ich mal gearbeitet hatte: Doshd, Novaya Gazeta – und auf RBC wurde es immer schwieriger, etwas zwischen den Zeilen zu lesen. Ich wusste nicht, dass der Journalismus am Ende trotz allem überleben würde. 

    Ich hatte großes Mitleid mit den Ukrainern und allen, die durch den Krieg leiden mussten

    Ich sah zu, wie Medien geschlossen wurden, und es fühlte sich an, als würden Mauern fallen und Bollwerke einstürzen, die für viele ein sinnvolles Weltbild beschützt hatten, und als würden Massen propagandistischer Untiere die letzten bei Verstand gebliebenen menschlichen Wesen endgültig auffressen. Außerdem hatte ich großes Mitleid mit den Ukrainern und allen, die durch den Krieg leiden mussten. 

    Ich habe es nicht so in Erinnerung, dass ich unbedingt ein eigenes Medium wollte. Eher zerrte dieses Gefühl von Ungerechtigkeit an mir, das ein „Ich habe nicht wirklich Lust“ plattwalzt und zu einem „Es muss“ macht. Damals dachte ich auch noch, dass es statt Journalismus nur noch Streams geben würde. Fast alle machten Streams, und viele sahen sie sich auch an, muss man zugeben. Das Ergebnis war eine Art kollektiver Gruppenpsychotherapie, gemischt mit Gesprächsjournalismus. Mir fällt es leichter, psychisch gesund zu bleiben, wenn ich mich als Reaktion auf Stress Hals über Kopf in die Arbeit stürze, statt mit anderen darüber zu sprechen und mir Sorgen zu machen.

    Außerdem hatte ich Fragen, auf die ich keine Antworten fand. Zum Beispiel, was aus diesen Müttern und Ehefrauen wurde, die die Straße nach Kabardino-Balkarien im Kauskasus blockiert hatten, um zu herauszukriegen, was mit ihren in der Ukraine verschollenen Söhnen und Ehemännern passiert war. Nichts außer einer kurzen Nachricht in einem Telegram-Kanal war über ihre Aktion zu finden. Ich wollte aber wissen, wie es nach ihrer Festnahme weitergegangen war und ob sich die Geschichte der „Soldatenmütter“ der 1980er und 1990er Jahre wiederholen könnte, die ihren Kindern nicht nur in die Kampfzonen hinterherfuhren, sondern zu einer starken Kraft gegen den Krieg wurden. Insofern war einer der ersten Texte bei Verstka dieser Protestaktion gewidmet.   

    Da ich sowohl mit Medien als auch mit Start-ups Erfahrung hatte, schätzte ich die Schwierigkeiten, die uns bevorstanden, zwar hoch ein, aber lösbar. Jetzt sage ich mir: „Du hattest keinen blassen Schimmer, Lola. Wenn du das gewusst hättest, hättest du nämlich die Finger davon gelassen.“

    Doch damals war es mir enorm wichtig, Journalismus zu betreiben, soweit ich es mir eben leisten konnte. Wenn nur ein wichtiger Text pro Monat zu schaffen ist, dann soll es eben nur einer sein. Wenn mehr geht – umso besser. Man kann nicht einfach stillsitzen und nichts tun. Dafür ist jetzt nicht die Zeit.  

    Es gibt wenig, das ich bei der Arbeit so sehr mag wie Fakten. Mit Fakten ist es einfach. Im Gegensatz zu Interpretationen lassen sie dich nie dumm aussehen. Wie ich die Entwicklung von Verstka anlegte, sieht man daran, dass ich dafür meinen eigenen Telegram-Kanal mit gut vierzig Followern hergab, weil ich nicht mit einem neuen Account ganz bei Null anfangen wollte. Der Channel hieß Swobodnyje slowa Loly Tagajewoi (dt. Lola Tagajewas freie Worte) – und auf Telegram heißt Verstka noch immer: svobodnieslova. Die Überzeugung, dass diese vierzig Leute, die mich in ihrer Panik hinzugefügt hatten, als Facebook Mitte März 2022 als extremistisch eingestuft wurde, irgendwie wichtig sind für den Start meines Projekts – das illustriert am besten, wie wenig Ressourcen wir hatten.   

    Der Glaube an eine Idee wiegt viel mehr als ein Startkapital

    Die ersten Autoren waren leicht gefunden – ich postete auf Facebook: Wer möchte bei mir als Journalist oder Journalistin arbeiten? Ich weiß nicht, wieso diese Leute – tolle Autoren, die noch immer für Verstka schreiben – das Vertrauen hatten, dass das ohne Geld und mit einem Planungshorizont von zwei Monaten etwas werden könnte (sie hätten mich ja auch für eine Stadtirre halten können). Vielleicht strahlte ich eine unverwüstliche Sicherheit aus, hier und jetzt das Richtige zu tun. Heute weiß ich hundertprozentig, dass der Glaube an eine Idee und die daraus entstehende Energie viel mehr wiegt als ein Startkapital. Mit Glauben und Energie findet sich das nötige Geld, aber wenn der Glaube fehlt, dann bleiben auch die Entwicklungsperspektiven nebulös. Auch wenn das wie ein Insta-Post über erfolgreichen Erfolg klingt.   

    Wir wollten ungefähr Mitte Mai starten, aber am 25. April schrieb ich spätabends um zehn in den Chat: Morgen früh um sieben geht es los. Wir hatten nichts fertig, weder die Website noch die Social-Media-Auftritte. Dafür hatten wir eine Story, bei der ich mir sicher war: Selbst wenn wir sie handschriftlich auf Zettel schreiben, fotografieren und über meine privaten Accounts posten, ist das der beste Start. Es war die Geschichte einer Mutter in einer Kleinstadt, die die Großbuchstaben Z von den Fenstern des Kindergartens heruntergerissen hatte, in den ihre Söhne gingen. Gefühlt alle meine Kontakte teilten das Video mit ihr, aber keiner wusste, wie diese Heldin hieß. Sie war eine dieser namenlosen Heldinnen des Widerstands, die wir so dringend brauchten und über die wir mehr erfahren wollten. Anja Ryshkowa machte sie ausfindig und interviewte sie. Schon in den ersten 24 Stunden hatten wir zweitausend Abonnenten auf Telegram, und den Text, den wir zunächst nur auf Telegram posteten und erst später auf die Website brachten, lasen hunderttausend Menschen. Mein Redakteurinnen-Gespür hatte mich nicht getäuscht.      

    Ich hatte mir keine festen Ziele gesteckt, wie viele Follower es werden sollten und was ich erreichen wollte – um mich nicht auch noch mit eigenen Erwartungen unter Druck zu setzen. Ich überlegte so: Wenn das Projekt Erfolg hat, werden wir auch Unterstützung für seine Weiterentwicklung bekommen, und alles wird gut. Wenn es aber nichts wird, dann hab ich selbst keine Lust auf so ein Medium. Und ich hatte Glück. 

    Das erste Journalistinnen-Team von Verstka erwies sich als stark. Und ich habe nie geglaubt und glaube immer noch nicht, dass man heutzutage beim Launch eines Medienprojekts auf eine spezielle, geheimnisvolle Nische abzielt, für die man Ressourcen und Mühe investiert. In einer Situation, in der zielgruppenspezifische Werbung keine Option ist und die sozialen Medien kahlgeschlagen sind, erreicht man am Anfang nur Follower, die einem Kollegen zur Verfügung stellen. Also muss man auf Zitierbarkeit setzen. Andere Möglichkeiten sehe ich für ein Medienprojekt ohne Namen und ohne Geld nicht. Nur exklusives Material! Wer braucht ein Nachrichten-Rewrite auf einem kleinen Channel, wenn es Meduza gibt? Und immer der Zeit und den Themen voraus sein, bloß nicht den anderen hinterherhecheln. Das war ein gutes Training für das redaktionelle Gespür – welcher Text wird morgen gebraucht? Was wird am ehesten geteilt und zitiert? Welches gesellschaftliche Interesse ist am Entstehen? Wir mussten die Themen vorgeben, nicht ihnen nachlaufen.              

    Verstka hat alle Kräfte gebraucht, aber auch viel zurückgegeben. Ich weiß gar nicht, was einer Chefredakteurin mehr Freude macht – zuzusehen, wie talentierte, aber noch kaum bekannte Journalisten zu Stars werden, oder mitzubekommen, wie Texte den Nerv des Publikums treffen. 

    Eine weitere richtige Entscheidung war, dass die Marketingchefin schon da war, bevor wir an die Öffentlichkeit gingen und es irgendein Team gab, so dass einer die Sache lenken konnte. Mit diesem Tipp erspart man sich viel Geld: Ein fähiger Marketingchef aus dem Business ist die Rettung der Redaktion. Einen Text als solchen braucht keiner. Daher halte ich mich an folgende Regel: Wenn der Text keine Nachricht enthält, die automatisch Verbreitung findet, dann schaltet sich die Distributionsabteilung ein und sucht nach Wegen, wie das Material möglichst viele Leser erreicht. Wir können es uns finanziell nicht leisten, den Verstka-Channel für nur tausend Abonnenten zu betreiben, auch nicht für hunderttausend. 

    Im ersten Jahr ernährte sich Verstka von meiner Lebenskraft. Wahrscheinlich auch von der Kraft anderer, die mit mir zusammen dieses Projekt angefangen hatten. Eineinhalb Jahre später war ich ausgelaugt von dieser pausenlosen „Plasmaspende“ und stellte mir die ehrliche Frage: Hätte ich es schonender angehen können? Die ehrliche Antwort war: Nein. Ein Projekt ohne Geld und Namen hätte ohne diesen fulminanten Start keine andere Chance gehabt, in einer so schwierigen Zeit zu überleben und relativ groß zu werden. Wenn wir klein angefangen hätten, hätten wir jetzt vielleicht an die zehntausend Abonnenten. Und die Redaktion bestünde immer noch aus ein paar wenigen Mitgliedern. Wäre ich dann glücklicher und gesünder? Vielleicht. Aber diese Frage hat sich damals nicht gestellt. Der Krieg hat alles verändert.      

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  • Antisemitismus in der Sowjetunion

    Antisemitismus in der Sowjetunion

    Der russische Angriffskrieg hat nicht nur große Flüchtlingsbewegungen in der Ukraine ausgelöst, auch aus Russland selbst sind Hunderttausende geflohen, die den Krieg ablehnen und Repressionen fürchten. Darunter sind viele Jüdinnen und Juden: Die israelische NGO Jewish Agency for Israel zählte allein im Jahr 2022 mehr als 43.600 Immigranten aus Russland – fünf Mal mehr als im Vorjahr. Der Oberrabiner von Moskau, Pinchas Goldschmidt, rief im Dezember 2022 die Juden in Russland zur Flucht auf und warnte vor einem wachsenden Antisemitismus: „Wenn wir auf die russische Geschichte zurückblicken, sah man, wann immer das politische System in Gefahr war, dass die Regierung versuchte, die Wut und Unzufriedenheit der Massen auf die jüdische Gemeinde umzulenken“, sagte er dem Guardian. Zuvor hatte Russlands Außenminister Sergej Lawrow Behauptungen seiner Regierung, die von einem jüdischen Präsidenten regierte Ukraine sei ein „faschistischer Staat“, damit gerechtfertigt, auch Hitler habe „jüdisches Blut“ gehabt und gesagt, „die schärfsten Antisemiten sind in der Regel Juden“. Unbekannte legten dem ehemaligen Chefredakteur des inzwischen geschlossenen liberalen Radiosenders Echo Moskwy einen Schweinekopf vor die Wohnung und klebten ein Wappen der Ukraine mit der Aufschrift „Judensau“ an seine Tür. Im Juni 2022 leitete das russische Justizministerium ein Verbotsverfahren gegen die Jewish Agency ein.

    Noch 2018 hatte in einer Umfrage des unabhängigen Lewada-Zentrums im Аuftrag des Jüdischen Weltkongresses in Russland eine Mehrheit der Befragten Jüdinnen und Juden erklärt, der Antisemitismus sei im Vergleich zu Sowjetzeiten weniger geworden. Aber auch in der Sowjetunion wechselten sich Phasen, in denen Juden Hoffnungen mit dem sozialistischen Staat verbanden ab mit Perioden, in denen sie diskriminiert wurden und in großer Zahl das Land verließen.

    Larissa Bogoras (1929–2004) ist uns heute zu Recht als eine unerschütterliche sowjetische Dissidentin und Menschenrechtsaktivistin bekannt. Mitte der 1960er Jahre engagierte sie sich für ihren damaligen Ehemann Juli Daniel, indem sie heimlich bei den Gerichtsverhandlungen mitstenographierte, bei denen der Schriftsteller angeklagt war. Im Januar 1968 informierte Bogoras mit einem Tamisdat-Appell die internationale Öffentlichkeit über einen Schauprozess gegen Alexander Ginsburg und drei weitere Dissidenten. Im August desselben Jahres protestierte sie auf dem Roten Platz mit sechs weiteren Personen gegen die militärische Niederschlagung des Prager Frühlings. 

    Im Gegensatz zu ihren politischen Aktivitäten ist Bogoras Auseinandersetzung mit ihrer jüdischen Herkunft wenig bekannt. Anfang der 1970er Jahre schrieb sie einen Essay mit dem Titel Fühle ich mich dem jüdischen Volk zugehörig?. Darin kam sie zu dem Schluss, dass sie sich nicht als Jüdin fühle, ebenso wenig aber als Russin oder Sowjetbürgerin: „Ich bin eine Fremde in diesem Land. Vielleicht spüre ich das alles nicht so deutlich, aber ich bin mir dessen bewusst.“1 

    Bogoras fünfseitiger Essay ist nicht nur ein besonderes individuelles Zeugnis einer Sowjetbürgerin jüdischer Herkunft. Er ist zugleich eine bemerkenswerte Analyse über den widersprüchlichen Umgang des Vielvölkerstaates mit seinen jüdischen Bürgerinnen und Bürgern, sowie über den Antisemitismus im Land, der zu unterschiedlichen Zeiten verschiedene Formen annahm. Anhand dieses Textes lassen sich die besonderen sowjetisch-jüdischen Erfahrungen zwischen politischem Aufbruch und anschließender Enttäuschung, staatlichem und gesellschaftlichem Antisemitismus, sowie dem ständigen Kampf um partikulare und universale Rechte nachzeichnen.

    Große Hoffnung

    Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges setzten viele nichtreligiöse Jüdinnen und Juden große Hoffnung auf den neuen sozialistischen Staat. Dieser Glaube an das Neue rührte aus der Lebenserfahrung unter zaristischer Herrschaft. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts fanden im Zarenreich immer wieder grausame antisemitische Pogrome statt und der Staat erließ zahlreiche antijüdische Gesetze. Viele derjenigen, die ihre jüdische Zugehörigkeit durch die jiddische Sprache und Kultur ausdrückten oder sich in ihrer Umgebung assimilierten, suchten deshalb einen politischen Ausweg in den revolutionären Bewegungen. Vom sowjetischen Staat erhofften sie sich eine Verbesserung der eigenen Lebenssituation, und tatsächlich schienen sich nach der Februarrevolution einige ihrer Erwartungen zu erfüllen: Sowohl die kurzzeitig existierende ukrainische Regierung, die provisorische Regierung in Petrograd als auch die darauffolgenden Bolschewiki verurteilten antisemitische Gewalttaten, die es zu jener Zeit besonders auf ukrainischem Territorium gab. Zudem schafften die neuen Regierungen die antijüdischen Gesetze ab.2  

    Zur Gruppe jüdischer Revolutionäre gehörten auch Bogoras Eltern. Als Bürgerkriegsteilnehmer, Parteimitglieder und aktive Genossen profitierten auch sie zunächst vom neuen Staat.3 Nach der Revolution war es ihnen möglich, die kleinstädtische jüdische Umgebung Richtung Charkiw zu verlassen. Dabei ließen sie auch die jiddische Sprache und Kultur hinter sich. Bogoras verweist in ihrem Essay darauf, dass sie in ihrer Vorschulzeit ausschließlich ukrainisch sprach. Jiddisch hörte sie erstmals im eigenen Elternhaus, als während des Zweiten Weltkriegs ein aus der Westukraine evakuierter Bekannter ihre Mutter besuchte.

    Anders als von einigen marxistischen Theoretikern vorhergesagt, verschwanden im realsozialistischen Staat die antisemitischen Vorurteile nicht. Larissa Bogoras erfuhr in der russischen Schule von ihren Mitschülerinnen und Mitschülern, dass sie jüdisch war und sich dadurch in scheinbar unvorteilhafter Weise unterscheiden würde. In ihrem konkreten Fall vermischten sich die antisemitischen Vorurteile mit einer weiteren negativen Zuschreibung: Ihr Vater war während des Großen Terrors unter dem Vorwurf angeblicher „trotzkistischer Tätigkeit“ festgenommen worden. Damit teilte sie mit vielen anderen Mädchen das Schicksal, Tochter eines sogenannten Volksfeindes zu sein.

    Russifizierung der Gesellschaft

    Zeitgleich zum Terror betrieb die politische Führung in den 1930er Jahren eine Russifizierung der Gesellschaft. In den Anfangsjahren der Sowjetunion hatte sich die Idee der nationalen Selbstbestimmung auch positiv auf die Förderung der jiddischen Sprache und Kultur ausgewirkt. Jetzt wurden diese Schritte vollständig zurückgenommen. In den Gebieten Ostpolens, die gemäß den im Hitler-Stalin-Pakt getroffenen Vereinbarungen von der Sowjetunion okkupiert wurden, mussten die polnischen Jüdinnen und Juden ebenfalls eine brutale Sowjetisierung durchlaufen. Zynischerweise fand die sowjetische Führung erst unter der größten militärischen Bedrohung wieder zu einem etwas liberaleren Umgang mit den ethno-kulturellen und religiösen Minderheiten zurück:4 Wenige Monate nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion wurde ein Jüdisches Antifaschistisches Komitee gegründet. Vorderste Aufgabe der staatlich kontrollierten Organisation war es, unter dem Eindruck der Judenvernichtung und des deutschen Ostfeldzuges jüdische Interessensvertretungen auf der ganzen Welt über die existenzielle Gefahr für alle Jüdinnen und Juden im östlichen Europa aufzuklären und diese als Unterstützer für die Sowjetunion zu gewinnen. Unter der jüdischen Bevölkerung des Landes führte die Gründung des Komitees abermals zu großen Hoffnungen, die nach dem Krieg jedoch erneut enttäuscht werden sollten. 
    Antisemitische Stereotypen waren in der sowjetischen Gesellschaft auch zu Kriegszeiten weit verbreitet. Nicht zuletzt trug hierzu die von den Deutschen hervorgerufene rassistische Betonung der sogenannten Nationalitätenfrage bei. Obwohl zahlreiche Jüdinnen und Juden in der Roten Armee gegen Deutschland kämpften, bestand auf Seiten der nichtjüdischen Bevölkerung ein antisemitisch geprägter Blick fort. Jüdinnen und Juden wurden entweder als hilflose Opfer der deutschen Vernichtungspolitik oder als „Drückeberger“ wahrgenommen, die sich vor dem Krieg versteckten. Bogoras verweist diesbezüglich auf einen zeitgenössisch gängigen antisemitischen Ausspruch: „[Der Russe] Iwan kämpft für Abraham, doch [der Jude] Abraham versteckt sich in der zentralasiatischen Stadt Taschkent.“

    Repression gegen „Kosmopoliten“

    Mit dem Beginn des Kalten Krieges nahmen Stalin und seine Gefolgsleute die zaghaften innenpolitischen Liberalisierungstendenzen aus der Kriegszeit zurück. Ebenso war der Spätstalinismus von staatlich orchestrierten antisemitischen Kampagnen geprägt: Im November 1948 wurde das Jüdische Antifaschistische Komitee verboten und anschließend zahlreiche ehemalige Mitglieder der Organisation verhaftet und ermordet. Die Verfolgung war Teil einer Kampagne gegen sogenannte „Kosmopoliten“. Die Kontakte ins Ausland, die während des Krieges noch gefördert wurden, wertete der Staat jetzt als Beleg für illoyales Verhalten gegenüber der Sowjetunion. Wenige Monate vor Stalins Tod begann mit der sogenannten „Ärzteverschwörung“ eine weitere antisemitische Kampagne: Ein erfundenes Komplott von mehrheitlich jüdischen Medizinern, deren Verfolgung erst mit dem Tod des grausamen Diktators im März 1953 endete.5  

    Stigmatisierungen

    Diese antisemitischen Kampagnen waren für sowjetische Jüdinnen und Juden eine Zäsur. Der sowjetische Staat, der sich bei seiner Gründung gegen den Antisemitismus des Zarenreichs gewandt und zumindest seit Juni 1941 den Nationalsozialismus erbittert bekämpft hatte, ließ selbst jüdische Intellektuelle ermorden: Eine Wendung, die in der jüdischen Bevölkerung zu einer Angst vor der Unberechenbarkeit der Staatsführung und einem irreparablen Vertrauensverlust führte. 

    Zwar sollte sich ein vergleichbarer Ausbruch staatlicher antisemitischer Gewalttaten nicht wiederholen, bestehen blieben jedoch weniger offensichtliche Ausgrenzungsmechanismen. Jüdinnen und Juden wurden von hohen Parteiämtern und Direktionsposten ferngehalten und bei der Vergabe von Studienplätzen und der Besetzung von Professuren benachteiligt. Der Eintrag „jüdisch“ unter Punkt fünf im sowjetischen Pass zog fast immer negative Folgen im Alltag und Berufsleben nach sich. Ebenso gab es wiederkehrende antireligiöse Kampagnen, die auch das Judentum betrafen, sowie einen staatlich geförderten Antizionismus. Dass darüber hinaus auch der alltägliche Antisemitismus fortbestand, verdeutlicht ein Beispiel aus Bogoras Dissidententätigkeit: Als sie mit ihren sechs Mitstreiterinnen und Mitstreitern im August 1968 auf dem Roten Platz gegen die militärische Niederschlagung des Prager Frühlings demonstrierte, beschimpften die umstehenden Passanten sie nicht nur pauschal als antisowjetisch, sondern auch als Juden.6 

    Bogoras 1973 veröffentlichte Reflektionen über die eigene jüdische Herkunft passen in die frühen 1970er Jahre. Sowjetische Jüdinnen und Juden suchten in dieser Zeit nach Strategien im Umgang mit der Diktatur und der fortwährenden Diskriminierung. Viele ertrugen die Situation wie sie war und versuchten das eigene Leben so gut es ging fortzusetzen. Andere orientierten sich „zurück“ zum Judentum und gründeten im Untergrund jüdische, oftmals zionistische Gruppierungen. Ziel ihrer Mitglieder war es entweder, jüdisches Leben in der Sowjetunion aufzubauen oder nach Israel auszuwandern.7 Dagegen verwies die Menschenrechtsaktivistin Bogoras auf eine dritte Strategie: Für sie stand der universale Wert der Gleichheit über jeglicher national-kultureller Zugehörigkeit. Sie kämpfte dafür, nicht als Jüdin, sondern als Mensch wahrgenommen zu werden. Sie kämpfte für eine Gesellschaft, in der die nationalen und religiösen Zugehörigkeiten keine Rolle bei der Bewertung des Gegenübers spielen sollten: ein gesellschaftliches Ideal, das bis heute auf der ganzen Welt unerreicht ist. 

    Perestroika

    Angst vor Pogromen und einem neuerlichen gewalttätigen Ausbruch von Antisemitismus erfuhren die sowjetischen Jüdinnen und Juden abermals während der Perestroika. Der amerikanische Politikwissenschaftler Zvi Gitelman wies seinerzeit darauf hin, dass die knapp eineinhalb Millionen sowjetischer Jüdinnen und Juden durch die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen zwar mehr kulturelle und religiöse Freiheiten genossen als zu jeder anderen Zeit seit 1948. Zugleich verstanden sie ihre Lebenssituation aber auch als so gefährdet wie nie zuvor seit dem Spätstalinismus.8  

    Die neu errungene Rede- und Pressefreiheit hatte auch zu einer Reihe von antisemitischen Verlautbarungen und Publikationen geführt; russische Nationalisten und Rechtsextremisten gründeten eigene Parteien. Für diese Gruppierungen benennt Gitelman vier Hauptnarrative des Antisemitismus: (1) jüdische Illoyalität zur Sowjetunion und im Speziellen zu Russland, (2) jüdische Dominanz in höheren Positionen, (3) jüdische Privilegien, die sich exemplarisch durch ein spezielles Recht zur Emigration ausdrücken würden, sowie (4) die Vorstellung davon, dass Jüdinnen und Juden die Wurzel allen gesellschaftlichen Übels seien. Vier antisemitische Motive, die sowohl Kontinuitäten in die russländisch-sowjetische Vergangenheit, als auch in die russische Gegenwart aufweisen. 

    Dass die Angst vor Pogromen innerhalb der jüdischen Bevölkerung während der Perestroika so verbreitet war, hat auch mit der jüdischen Erfahrung zu tun, dass in Umbruchs- und Krisenzeiten aufgrund der Schwäche des Staates Pogrome ausbrechen. Glücklicherweise geschah zu Beginn der 1990er Jahre nichts dergleichen. Dessen ungeachtet war der grassierende Antisemitismus ein wesentlicher Grund für die große jüdische Auswanderungswelle aus dem sich im Zusammenbruch befindenden Riesenreich. 

    Bogoras blieb und kämpfte auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in Russland für die universalen Menschenrechte und eine Gesellschaft, in der die nationalen und religiösen Zugehörigkeiten keine Bedeutung mehr haben sollten. Bereits zu Beginn der 1970er Jahre hatte sie betont, dass sie sich keine andere Heimat als Russland vorstellen könne: „Ich bin an die Farben, den Geruch und das Rauschen der russischen Landschaft gewöhnt, ebenso wie an die russische Sprache und den Rhythmus der russischen Poesie. Alles andere ist für mich fremd. Selbst die Krim ist für mich exotisch.“9


     
    1. Bogoraz, Larisa (1973): „Do I feel I belong to the Jewish People?“, in: Voronel, Alexander/Yakhot, Victor (Hrsg.): I am a Jew. Essays on Jewish Identity in the Soviet Union, New York, S. 60–64, hier S. 64 ↑ ↩︎
    2. vgl. Slezkine, Yuri (2006): Das jüdische Jahrhundert, Göttingen und Jacobs, Jack (2018): Auf ein Neues: Juden und die Linke, in: Börner, Markus u. a. (Hrsg.): Judentum und Arbeiterbewegung: Das Ringen um Emanzipation in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Berlin/ Boston, S. 7–31 ↑ ↩︎
    3. bzgl. Larissa Bogoras Eltern siehe: Daniel, Aleksandr (2004): Larisa Bogoras ist tot – eine Biographie ↩︎
    4. vgl. Nesselrodt, Markus (2019): Dem Holocaust entkommen: Polnische Juden in der Sowjetunion, 1938–1946, Berlin/ Boston ↩︎
    5. vgl. Grüner, Frank (2008): Patrioten und Kosmopoliten: Juden im Sowjetstaat 1941–1953, Köln u. a. ↩︎
    6. vgl. Gorbanevskaya, Natalia (1972): Red Square at Noon, New York u. a., S. 27–41 ↩︎
    7. vgl. Ro’i, Yaacov (Hrsg., 2012): The Jewish Movement in the Soviet Union, Washington ↩︎
    8. vgl. Gitelman, Zvi (1991): Glassnost, Perestroika and Antisemitism, in: Foreign Afffairs 70 (1991) 2, S. 141–159 ↩︎
    9. Bogoraz, Larisa (1973): „Do I feel I belong to the Jewish People?“, in: Voronel, Alexander/Yakhot, Victor (Hrsg.): I am a Jew. Essays on Jewish Identity in the Soviet Union, New York, S. 60–64, hier: S. 63 ↩︎

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