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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Christlicher Untergrund

    Christlicher Untergrund

    Die Russisch-Orthodoxe Kirche ist ein wichtiger Stützpfeiler des Putin-Regimes. Patriarch Kirill rechtfertigt den russischen Überfall auf die Ukraine als „Heiligen Krieg“ und ehrt den Chefpropagandisten Dimitri Kisseljow mit einem Orden. Der Klerus unterstützt diesen Kurs mehrheitlich. Priester reisen mit wundertätigen Ikonen an die Front. Viele waren früher selbst Offiziere der russischen Armee. Es gibt aber auch in der Russisch-Orthodoxen Kirche Einzelne, die ihrem Gewissen folgen und es ablehnen, das obligatorische Gebet für den Sieg zu sprechen. Angehörige des Klerus, die sich offen gegen den Krieg aussprechen, riskieren viel. Von Deutschland aus versuchen Glaubensbrüder, sie zu unterstützen.  

    Der Fotograf Vadim Braydov hat einige von ihnen in ihren neuen Gemeinden in Deutschland und den Niederlanden besucht und sie für OVD-Info porträtiert. Er selbst ist im Frühjahr 2022 mit Unterstützung von Reporter ohne Grenzen aus Russland geflohen und lebt jetzt in Köln. 

    „Flieht! Hier gibt es keinen Gott mehr!“ 

    Ein Birkenwäldchen, wie es viele gibt in Russland. Es liegt aber im Grenzgebiet zwischen Deutschland und den Niederlanden. Hier geht Pater Andrej Kordotschkin häufig spazieren / Foto © Vadim Braydov
    Ein Birkenwäldchen, wie es viele gibt in Russland. Es liegt aber im Grenzgebiet zwischen Deutschland und den Niederlanden. Hier geht Pater Andrej Kordotschkin häufig spazieren / Foto © Vadim Braydov

    „Im Koordinatensystem dieses faschistischen Regimes sehe ich für mich keinen Platz[…] Passen Sie auf sich auf, und auf Ihre Familie. Es wird niemandem leichter ergehen, wenn Sie eine Geldstrafe erhalten oder ins Gefängnis wandern. Flieht! Hier gibt es keinen Gott mehr.“ Damit endet die Videobotschaft des Priesters Nikolai Platonow. Nach diesem Clip wurde er beschattet. Er selbst rechnete mit „Bettelsack und Kerker“, aber er fand Beistand. OVD-Info sprach mit den Begründern eines Projektes, das Priestern der Russisch-Orthodoxen Kirche hilft, die wegen ihrer Haltung gegen den Krieg zu leiden haben. Und mit Menschen, die dort Hilfe fanden. 

    Vater Nikolai ist ein ehemaliger Priester der Diözese Tscheljabinsk. Er postete seinen Antikriegsclip, als er schon in Armenien war, nämlich am 16. April 2022. Darin erklärt der Priester, er habe selbst um Entlassung gebeten, weil er nicht mehr länger zum Krieg schweigen konnte. Nach dem Video werde „die kirchliche Obrigkeit mich aufgrund irgendeines schändlichen Paragrafen entfernen wollen“. 

    „Ich erinnere mich sehr genau an den Tag nach Kriegsbeginn“, erzählt er. „Mein Vater hat am 25. Februar Geburtstag. Es war der letzte Tag, an dem wir uns gesehen haben. Seit mehr als zwei Jahren habe ich jetzt schon keinen Kontakt mehr zu meinem Vater und meinem Bruder. Für sie bin ich ein Verräter. Mir war damals noch nicht klar, dass der Einmarsch zu hunderttausenden Toten führen würde, mir war aber klar, dass man von mir verlangen würde, die Soldaten zu segnen, damit sie in einen verbrecherischen Bruderkrieg ziehen. Ich verstand, dass der Diktator endgültig den Verstand verloren hat und es Zeit ist, sich einen Reisepass zu besorgen. Was ich dann auch machte.“ 

    Die Gemeinde von Vater Nikolai in Tscheljabinsk war klein. Er kannte alle Mitglieder persönlich. Er versuchte mit jenen zu reden, die den Einmarsch unterstützten. Er traf aber, so formuliert er es, „auf eine absolute Ablehnung der Bergpredigt Christi“. Es gab allerdings auch solche, die durch das Geschehen genauso erschrocken waren wie er. Es dauerte nicht lange, da riefen ihn Bekannte aus dem Bergwerks– und Metallurgie–Kombinat Tominski an, das seine Kirche unterstützt hatte. Sie warnten ihn, dass eine Aktion in Vorbereitung sei, und man ihm die Priesterwürde entziehen werde. 

    „Die Zeit lief. Der Reisepass war fertig. Ich verabschiedete mich von der Gemeinde und setzte mich ins Flugzeug“, erinnert sich Platonow. 

     

    Videobotschaft des Priesters Nikolai Platonow, aufgezeichnet im Frühjahr 2022 

    So kam er nach Armenien. Nach dem Video wurde ihm sofort untersagt, Gottesdienste abzuhalten. Und er bekam Drohungen: Andrej Remisow, der stellvertretende Generaldirektor des Tominski-Kombinats, schrieb ihm, nannte ihn ein hinterhältiges Arschloch und verlangte das Geld zurück, das das Kombinat für den Bau der Kirche gespendet hatte. 

    „Remisow sagte, dass ich es bereuen werde, und dass er mir das nie verzeiht“, erinnert sich Platonow. „Er forderte, dass ich das Video aus dem Netz nehme. Stattdessen habe ich seine Drohungen veröffentlicht.“ 

    Später erzählten ihm Bekannte, dass ihn an seiner neuen Wohnung gewisse Leute gesucht hätten. Er musste mit einer fremden SIM-Karte leben und in Jerewan ständig umziehen. „Drei Monate habe ich in Armenien gelebt“, sagt der Priester. „Dann bin ich zurückgekehrt, weil ich kein Geld mehr hatte und meine Mutter krank geworden war. Mir war aber klar, dass ich nicht lange bleiben konnte. Schon am Flughafen hielten sie mich zwei Stunden lang fest. Sie veranstalteten eine zusätzliche, strengere Überprüfung, fragten: ‚Warum bist du zurückgekommen?‘…“ 

    Doch auch in Russland hörte er nicht damit auf, Videos gegen den Krieg aufzunehmen und seine Haltung öffentlich zu äußern. Er wurde nun beschattet. Unbekannte folgten dem Priester und fotografierten ihn aus einem Auto heraus, wenn er ans Fenster trat. 

    „Ich habe mir eine Wohnung genommen und bin praktisch nicht mehr auf die Straße gegangen. Egal, in welches Geschäft ich ging, immer wurde ich ‚begleitet‘ “, erzählt er. „Menschenrechtler, die ich kenne, sagten mir, das sei ein Anzeichen dafür, dass ich bald verhaftet werde. Ich bereitete mich innerlich auf das Gefängnis vor, weil in Russland für ähnliche Äußerungen schon andere Priester verurteilt wurden. Es gab aber auch jene, die mich überredeten, nicht zu warten, bis ich eingesperrt werde.“ 

    „Die Menschen konnten überhaupt nicht verstehen, was das für einer ist: ein Priester, der den Krieg ablehnt… Das gibt’s doch gar nicht!“ 

    Nikolai Platonow war der erste Schützling der neuen Organisation Mir Vsem [dt. „Friede für alle“ oder auch „Der Friede sei mit euch“]. Sie entstand im Oktober 2023 und hilft Dienern der Kirche, die wegen ihrer Ansichten verfolgt werden oder schlichtweg die Ideologie des Staates nicht teilen. Das Projekt wurde von drei Männern und einer Frau gegründet: den Priestern Andrej Kordotschkin und Walerian Dunin-Barkowski, dem Musiker Pawel Fachrtdinow und der Journalistin Swetlana Neplich-Tomas. 

    „Die Menschen konnten überhaupt nicht verstehen, was das für einer ist: ein Priester, der den Krieg ablehnt… Das gibt’s doch gar nicht! Also mussten wir aller Welt erklären: Doch, das kann sehr wohl sein!“, erklärt Dunin-Barkowski. 

    Vater Walerian Dunin-Barkowski spendet während eines Gottesdienstes der orthodoxen St. Nikolaus–Gemeinde in Düsseldorf die Heilige Kommunion / Foto © Vadim Braydov
    Vater Walerian Dunin-Barkowski spendet während eines Gottesdienstes der orthodoxen St. Nikolaus–Gemeinde in Düsseldorf die Heilige Kommunion / Foto © Vadim Braydov

    Vater Walerian dient als Priester in einer Düsseldorfer Kirche des Erzbistums der orthodoxen Gemeinden russischer Tradition in Westeuropa. Vor Empfang der Priesterwürde war er Mitglied einer Menschenrechtsorganisation, die unter anderem Aktivisten half, humanitäre Visa zu erlangen. 

    „2023 sprach mich eine der Leiterinnen dieser NGO an: ‚Wir haben da einen Priester und wissen nicht, was wir mit dem machen sollen. Es gibt Stiftungen, die Journalisten, Aktivisten und Künstlern helfen. Aber was sollen wir mit euren Popen tun? Sie sind doch einer, kümmern Sie sich bitte darum‘…“ erinnert sich Walerian. Der Priester, um den es ging, war Nikolai Platonow. 

    Nach diesem Gespräch begann Vater Walerian, Aktivisten zu suchen, die russischen Priestern helfen. Es stellte sich jedoch heraus: Das tut niemand.“

    Vater Walerian schwenkt in seiner privaten Kapelle das Weihrauchfass / Foto © Vadim Braydov
    Vater Walerian schwenkt in seiner privaten Kapelle das Weihrauchfass / Foto © Vadim Braydov

    „Der Krieg, die Morde, die Besetzung fremden Landes – Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal Menschen erklären muss, dass das etwas Böses ist“ 

    Vater Nikolai Platonow, mit dem die Geschichte von Mir Vsem begann, erhielt kürzlich in Frankreich politisches Asyl, wurde wieder in die Priesterwürde erhoben und möchte jetzt seinen Dienst in der Kirche fortsetzen. Er ist jetzt Priester der Orthodoxen Kirche der Ukraine.

    „Ich war der Meinung und bin es weiterhin, dass es meine pastorale Pflicht ist, meine Haltung deutlich zu machen“, sagt er. „Es ist unsere Pflicht, dem Bösen offen entgegenzutreten. Denn wie sagte Maximus Confessor doch: ‚Über die Wahrheit zu schweigen kommt ihrer Leugnung gleich.‘ Der Krieg, die Morde, die Besetzung fremden Landes – Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal Menschen erklären muss, dass das etwas Böses ist.“ 

    Es gibt aber auch andere Geschichten bei Mir Vsem – allerdings mit tragischem Ausgang: Sie haben mit den besetzten Gebieten der Ukraine zu tun. Vater Feognost Puschkow ist ein Priester der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche (Moskauer Patriarchat) aus dem Ort Markiwka in der Oblast Luhansk, das 2022 von den russischen Streitkräften besetzt wurde. Die Hilfe des Projektes hat er ausgeschlagen. Er ist seit 2014 offen gegen die russische Invasion in die Ukraine aufgetreten. Er unterhält einen Blog und einen YouTube-Kanal.  

    Am 20. Juni schrieb er auf seinem Telegram-Kanal: „Mir geht es miserabel, Zittern und Husten in der Brust. Habe eine Tablette gegen meinen Blutdruck genommen. Die Polizei hat mich vorgeladen…“. 

    Fast sieben Stunden später ein weiterer Post: „Ich bin im Krankenwagen. Die wollen mich in der Polizei einsperren… Ich steh zwischen Leben und Tod… Helft, wer kann. Meine Mutter überlebt das nicht! Es bleibt mir nur Selbstmord…“ 

    Seitdem schweigt sein Kanal.

    Vater Feognost Puschkow / Foto ©: Telegram-Kanal „Stein, den die Bauleute verworfen haben

    „Man hätte ihn natürlich sofort da rausholen müssen“, sagt Vater Walerian niedergeschlagen. „Die Polizeibehörden [der „Volksrepublik Luhansk“] haben ihn geschnappt, zwei Wochen schon gibt es keinerlei Nachricht von ihm, und wir haben keine Ahnung, wo er ist. So etwas passiert in den besetzten Gebieten; dort herrscht völlige Gesetzlosigkeit. Wir hätten ihm gern geholfen, aber jetzt bleibt uns nichts anderes mehr übrig, als die gesamte zivilisierte Welt auf die Situation aufmerksam zu machen. Er hat nur noch seine bettlägerige Mutter, die er als einziger pflegte. Was mit der wird, wissen wir nicht. Die Situation ist mehr als fürchterlich.“ 

    „Wenn der Priester zu einem Beamten und zu einem Teil der Staatsmaschine wird, dann stimmt etwas nicht“ 

    Ich kenne noch einen anderen Priester, der war früher fast schon das Klischee von einem Popen: ein rundlicher, gütiger Vater. Er hat 50 Kilo abgenommen, während er im Keller saß. Weil der einzige Ort, wo man sich vor den Bombenangriffen verstecken konnte, der Kirchenkeller war. Ein Jahr hat er dort verbracht, jetzt ist er dünn wie ein vertrockneter Stängel, nur die Augen sind noch so groß wie früher. Er war wie der Priester aus dem Märchen über den Popen und seinen Arbeiter Balda; jetzt wirkt er wie ein fastender Mönch aus den Heiligenbüchern. Er hat sehr vielen Menschen geholfen. Er hat den Keller nicht verlassen, ging nicht nach draußen, kümmerte sich um die Kranken, weil er rund um die Uhr seinen Dienst versah.“ 

    Vater Walerian Dunin-Barkowski ist studierter Physiker, war früher Musiker und arbeitet neben seiner Tätigkeit als Seelsorger als IT-ler. Er sagt, dass es in Westeuropa nicht üblich ist, sein Geld ausschließlich durch den Dienst als Priester zu verdienen. Alle Priester haben auch noch eine weltliche Arbeit: „Das ist im Christentum nichts Neues: Der Apostel Paulus hat ebenfalls gearbeitet. Es ist eher so, dass das System nicht stimmt, wenn der Priester zu einem Beamten und zu einem Teil der Staatsmaschine wird.“ 

    Vater Walerian Dunin-Barkowski beim Gebet in seiner Kapelle / Foto © Vadim Braydov
    Vater Walerian Dunin-Barkowski beim Gebet in seiner Kapelle / Foto © Vadim Braydov

    Ihm zufolge gibt es unter Physikern viele Gläubige, auch solche, die in den Priesterstand eingetreten sind. Weil der Mensch, „wenn er die Welt zutiefst ergründet, früher oder später versteht, dass sie mit physikalischen Gesetzen allein nicht gänzlich beschrieben werden kann. Und dass das geistliche Leben in diesem Sinne nicht nur an die Geisteswissenschaften grenzt, sondern auch an die Physik und die Biologie.“ Auch unter den Unterstützten von Mir Vsem gibt es einen Priester, der Astronom ist. 

    „Der Beginn des Krieges war ein tiefer Schock – nicht nur für unsere ukrainischen Gemeindemitglieder, sondern auch für die russischen“ 

    Vater Walerian ist mit seiner Familie vor sechs Jahren nach Deutschland gekommen, aus politischen Gründen: „Mein Sohn war in der Organisation von Alexej Nawalny aktiv“, erzählt er. Unsere ganze Familie hat Alexej Anatoljewitsch Nawalny unterstützt. Ich habe viele Bekannte in Nawalnys Stiftung zur Korruptionsbekämpfung und war Freiwilliger in einem seiner Stäbe. 2018 drohten sie meinem Sohn, meiner Frau und mir selbst mit Strafverfahren. Da wurde uns klar, dass wir gehen müssen.“ 

    Auch Andrej Kordotschkin lebt jetzt in Deutschland. Er hat einen Bachelor in Theologie an der Universität Oxford gemacht und einen Magister im gleichen Fach an der Universität London. Nach 2002 wurde er Priester und diente als Vorsteher einer Gemeinde der Russisch-Orthodoxen Kirche in Madrid. Die Gemeinde war klein und national sehr gemischt; die meisten waren Ukrainer. Im Laufe von zwanzig Jahren wurde eine Kirche gebaut; die Gemeinde ist gewachsen. 

    Vater Andrej Kordotschkin in einem T-Shirt der russischen Rockband DDT. Er betreut jetzt eine kleine Gemeinde in Tilburg in den Niederlanden, die von Gläubigen verschiedener Nationalitäten besucht wird / Foto © Vadim Braydov
    Vater Andrej Kordotschkin in einem T-Shirt der russischen Rockband DDT. Er betreut jetzt eine kleine Gemeinde in Tilburg in den Niederlanden, die von Gläubigen verschiedener Nationalitäten besucht wird / Foto © Vadim Braydov

    „Der Beginn des Krieges war ein tiefer Schock – nicht nur für unsere ukrainischen Gemeindemitglieder, sondern auch für die russischen“, erinnert sich Kordotschkin. „Im Laufe der ersten Tage und Wochen wurde klar, dass es nicht nur um einen Einmarsch auf das Territorium eines anderen Staates geht, sondern auch um tiefgreifende und schnelle Veränderungen auf dem Gebiet Russlands. Die Gesetze wurden zielstrebig verändert und machten jetzt praktisch jede kritische Haltung zum militärischen Vorgehen zu einem Verbrechen. 

    Auch in meiner Gemeinde kam es zu einer Spaltung. Allerdings verlief die nicht nach nationaler Zugehörigkeit. Sie war sehr viel tiefgehender und komplexer: Es gab in unserer Gemeinde Ukrainer, die die russische Regierung unterstützten. Und es gab auch eine Reihe von Russen, die nicht für den Einmarsch waren.“ 

    Nicht nur in Russland werden Priester verfolgt. Es gibt auch im Ausland Gemeinden, die dem Moskauer Patriarchat unterstellt sind 

    Nach Informationen der Zeitung Nowaja Gazeta Europe haben seit dem 24. Februar 2022 bis zum Mai dieses Jahres 59 Priester wegen ihrer Haltung gegen den Krieg Repressionen von Seiten der Russisch-Orthodoxen Kirche oder des Staates erlitten. Und diese Zahl wächst. Von Seiten der Kirche wurde den Priestern untersagt, den Gottesdienst zu feiern, sie wurden ihrer Priesterwürde enthoben und aus den Reihen der Kirche entfernt. Von Seiten des Staates wurden ihnen wegen „Diskreditierung“ der Armee Geldstrafen auferlegt oder Strafverfahren gegen sie eröffnet. Priester wurden nicht nur in Russland verfolgt: Es gibt auch im Ausland Bistümer und Gemeinden der Russisch-Orthodoxen Kirche, die dem Moskauer Patriarchat unterstellt sind.  

    Vater Andrej hat zwanzig Jahre in der Kirche der Heiligen Maria Magdalena in Madrid gedient. Im Februar 2023 wurde ihm für drei Monate untersagt, Gottesdienste zu zelebrieren. Und im Herbst reichte Kordotschkin dann ein Gesuch über die Entlassung aus dem Dienst ein. 

    „Da ich nach Beginn des russisch-ukrainischen Krieges öffentlich auf eine Art Stellung bezogen habe, die mit der von der russischen Regierung verkündeten Position unvereinbar war, musste ich meine Gemeinde in Spanien Ende letzten Jahres verlassen“, berichtet er. 

    Jetzt befindet sich Vater Andrej nicht mehr unter der Jurisdiktion des Moskauer Patriarchats, sondern unter der des Patriarchen von Konstantinopel. Seine Gemeinde befindet sich in den Niederlanden. 

    „Das Jüngste Gericht erwartet jeden“ 

    Gottesdienst der orthodoxen St. Nikolaus–Gemeinde in Düsseldorf. Die Gemeinde ist in der katholischen Sankt Josephskapelle im Stadtzentrum untergekommen / Foto © Vadim Braydov
    Gottesdienst der orthodoxen St. Nikolaus–Gemeinde in Düsseldorf. Die Gemeinde ist in der katholischen Sankt Josephskapelle im Stadtzentrum untergekommen / Foto © Vadim Braydov

    „Das Jüngste Gericht erwartet jeden. Keine irdische Macht, kein Arzt, kein Wächter bewahrt vor diesem Gericht. In der Sorge um die Rettung jedes Menschen, der sich als Kind der Russisch–Orthodoxen Kirche begreift, wünschen wir nicht, dass jemand vor dieses Gericht tritt und mit einem mütterlichen Fluch belastet ist. Wir erinnern daran, dass das Blut Jesu Christi, das der Erlöser für das Leben der Welt vergoss, im Sakrament der Eucharistie von jenen, die mörderische Befehle erteilen, nicht zum Leben, sondern zu ewiger Pein empfangen wird. Wir sind in Trauer um die Prüfungen, denen unsere Brüder und Schwestern in der Ukraine ohne Schuld unterzogen werden.“ 

    Das ist ein Auszug aus einem offenen Brief russisch-orthodoxer Priester „mit einem Aufruf zur Versöhnung und Beendigung des Krieges“. Initiiert wurde der bereits am 1. März 2022 veröffentlichte Brief von Andrej Kordotschkin. Bis heute haben ihn 293 Geistliche unterzeichnet, auch Vater Walerian. 

    „Was soll man mit Menschen tun, die die Fakten leugnen? Für sie beten, weil sie fehl gegangen sind und der Lüge folgen“ 

    „Ganz zu Beginn haben wir noch nicht verstanden, was vor sich geht. Es gab ja keine massenhafte Verfolgung von Priestern“, sagt er. „Dass wegen der Haltung gegen den Krieg Verbote ausgesprochen werden, Gottesdienst zu feiern oder die Priesterwürde entzogen wird, hatte noch nicht begonnen. Das begann alles 2023. Anfangs gab es spontanen Protest von Priestern, die sagten, dass der Krieg den Geboten, der Heiligen Schrift und dem Willen Gottes widerspreche. Es sei Frevel und Gotteslästerung, den Krieg mit geistlichen Begründungen zu rechtfertigen. Es gibt Menschen, die einen Krieg begonnen haben, und es gibt einen Staat, der den Krieg entfesselt hat. Es gibt Fakten, die das belegen. Was soll man mit Menschen tun, die die Fakten leugnen? Für sie beten, weil sie fehl gegangen sind und der Lüge folgen.“ 

    Einige russische Priester predigen aggressiv den Krieg. Andrej Tkatschow zum Beispiel, der von einem heiligen Krieg spricht und sagt, wenn es den Krieg nicht geben würde, „wären wir alle zugrunde gegangen“. Oder Artemij Wladimirow, der im Fernsehsender Sojus von einer „wundersamen Heilung“ eines chinesischen Soldaten im Krieg erzählt, wo seinen Worten zufolge „der Chinese und seine Familie den orthodoxen Glauben annahmen und Jünger der Russisch-Orthodoxen Kirche wurden.“ 

    „Es gibt aber auch das direkte Gegenteil“, sagt Vater Walerian: „Menschen, die ihrem Bekenntnis folgen und offen ihre Haltung gegen den Krieg kundtun. Sie gehen praktisch den Weg des Kreuzes und der Leiden. Es gibt viele Menschen, die fernab in den Regionen der Kirche dienen, etwa einer meiner Freunde. Er unterstützte nicht den Krieg und hat keinerlei Illusionen. Er ist mit Ukrainern befreundet und will das auch bleiben. Allerdings ist er noch nicht so weit, sich heldenhaft zu bekennen. Ihm ist klar, dass er dort, wo er sich jetzt befindet, mit seinen Möglichkeiten helfen kann und wird daher nicht in eine offene Konfrontation gehen. 

    Er verliest zwar das Gebet über die Heilige Rus. Er versucht aber, in seinen Predigten nicht über Politik zu sprechen und niemanden zu etwas aufzurufen. Menschen wie diesen Freund kann ich nicht verurteilen. Das steht mir nicht zu, schließlich befinde ich mich in Sicherheit. Ich weiß, dass es in seinem Herzen kein Hass gegen die Ukraine und die Ukrainer gibt. Es stimmt, aus geistlicher Sicht sollte er das Gebet nicht lesen. Ich hoffe aber, dass der Herrgott ihm verzeiht.“ 

    „Wir legen Zeugnis davon ab, dass sich nicht alle dem Teufel verschrieben haben“ 

    Vater Walerian und Vater Andrej feiern regelmäßig den Gottesdienst in ihrem Düsseldorfer Exil in der St. Josephskapelle / Foto © Vadim Braydov
    Vater Walerian und Vater Andrej feiern regelmäßig den Gottesdienst in ihrem Düsseldorfer Exil in der St. Josephskapelle / Foto © Vadim Braydov

    Die Gründer des Projekts Mir Vsem sammeln über die Plattform Saodno (dt.: Gemeinsam) Mittel für die Priester und helfen bei der Erlangung europäischer Visa für diejenigen, die das Land verlassen wollen. Diese sind, den Worten der Priester zufolge, jedoch in der Minderheit. Mit Erlaubnis der Priester werden ihre Geschichten auf der Internetseite von Mir Vsem veröffentlicht, in der Rubrik Bekenner

    „Einigen ist es sehr wichtig, dass ihre Haltung gegen den Krieg öffentlich wird“, sagt Vater Walerian Dunin-Barkowski. „Wir veröffentlichen ihre Beiträge, wir geben ihnen eine Stimme. Unter jedem unserer Videos und Posts schreiben die Leute: ‚Wir haben ja nicht gewusst, dass es noch eine Geistlichkeit gibt, die den christlichen Prinzipien treu ist.‘ 

    Für uns ist es eine existenzielle Frage: Wir legen Zeugnis davon ab, dass sich nicht alle dem Teufel verschrieben haben, sondern in diesen schweren Zeiten weiterhin ihren Glauben predigen. Für uns ist wichtig, dass diese Flamme in ihnen nicht erlischt, dass sie ihrerseits Menschen inspirieren, ihre Gemeinde, die sie nicht im Stich lässt. Dadurch bewahren wir dieses Licht des Friedens und der christlichen Liebe.“ 

    Vater Wadim Perminow ist 48 Jahre alt. 27 Jahre schon trägt er die Robe. Er hat das Priesterseminar Tomsk absolviert. Nach der Schule hat er eine Weile als Tischler gearbeitet, bevor er dort eintrat. Wadim war Vorsteher einer orthodoxen Kirche in Kuibyschew (Oblast Nowosibirsk). Er ist einer der Priester, die sich weigerten, das Gebet über die Heilige Rus zu verlesen. Am 3. Juli wurde bekannt, dass ihm der Gottesdienst untersagt wurde. 

    „Im März 2022 erging aus dem Patriarchat die Anordnung an alle Gemeinden über die verpflichtende Verlesung des Gebets über die Wiederherstellung des Friedens während der Gottesdienste, und wir haben gebetet“, erzählt er. „Und bereits im September ersetzte der Patriarch Kirill es durch das Gebet über die Heilige Rus. Im ersten Gebet wurde Frieden erbeten, im zweiten jedoch der Sieg.“ 

    „Es ist unchristlich, vom Herrgott den Sieg in einem Bruderkrieg zu erbitten. Das wäre so, als ob Kain Gott um Hilfe bittet, während er dabei ist, seinen Bruder Abel zu erschlagen“ 

    Den Worten des Priesters zufolge wussten die Gemeindemitglieder praktisch nichts über das neue Gebet, einige vermuteten allerdings etwas. Es gab ja Meldungen, dass Priester wegen ihrer Haltung gegen den Krieg ihrer Priesterwürde enthoben wurden. Einmal kamen Angehörige russischer Soldaten zu ihm und baten, dass regelmäßig für diese gebetet werde. Perminow war einverstanden, wandte aber ein, dass das kein Gebet für den Sieg der einen und die Niederlage der anderen sein werde. Vielmehr werde es um die schnellstmögliche Rückkehr der Soldaten zu ihren Familien und die Genesung der Verwundeten gehen. 

    „Es ist unchristlich, vom Herrgott den Sieg in einem Bruderkrieg zu erbitten. Das wäre so, als ob Kain Gott um Hilfe bittet, während er dabei ist, seinen Bruder Abel zu erschlagen“, erklärt er. „Die Laien haben auf das Geschehen überwiegend so reagiert, wie es ihnen der Fernseher eintrichterte. Der ist hier stärker gewesen als das Evangelium. Ich habe nicht versucht, jemanden umzustimmen. Psychologen sagen, dass das nicht möglich ist, wenn jemand durch Propaganda vergiftet ist und weiter damit gefüttert wird. Das wäre genau so, als wolle man einem nichtgläubigen Menschen beweisen, dass es Gott gibt.“ 

    Vater Wadim glaubt, dass irgendjemand aus der Gemeinde ihn denunziert hat. Als das Bistum im Frühjahr einen neuen Bischof bekam, lud dieser den Priester zum Gespräch vor. Perminow zufolge sei der Bischof dabei laut geworden und habe „merkwürdige Fragen“ gestellt: Warum er und seine ältesten Söhne nicht in der Armee gedient hätten? Warum seine Eltern keine echten, vollwertigen Kirchgänger seien, wo doch die Familie von der Gemeinde einen Unterhalt erhält, der über dem Existenzminimum liege? Warum er das Gebet des Patriarchen über den Sieg nicht verlese? Und schließlich, ob er gleichgeschlechtliche Ehen unterstütze? 

    Vater Wadim Perminow will seine Heimat nicht verlassen. In seiner Gemeinde in Kuibyschew in Sibirien darf er nicht mehr Gottesdienst feiern / Foto: istories, YouTube
    Vater Wadim Perminow will seine Heimat nicht verlassen. In seiner Gemeinde in Kuibyschew in Sibirien darf er nicht mehr Gottesdienst feiern / Foto: istories, YouTube

    „Es wurde mir verboten, Gottesdienste abzuhalten, den Segen zu spenden und das Kreuz zu tragen. Mehr ist ihnen wohl nicht eingefallen“ 

    „Zu meinen Argumenten, dass der Unterhalt eines Priesters nach der Anzahl der zu versorgenden Familienmitglieder berechnet wird, lachte er mir nur ins Gesicht“, erinnert sich Vater Wadim. „Auf jedes Familienmitglied entfallen rund 25.000 Rubel, das ist etwas mehr als das Existenzminimum in der Oblast Nowosibirsk. Der Bischof hielt das für ungerechtfertigten Luxus.“ 

    Es kam der Moment, dass Perminow auf Druck des Bischofs einfach den Mund hielt. Nach dem Gespräch wurde er in ein Dorf versetzt. Dann schrieb der Priester eine offizielle Weigerung, „für den Sieg in einem Bruderkrieg zwischen orthodoxen Christen zu beten“. 

    „Als ich der Metropolie Nowosibirsk und dem Patriarchat die offizielle Weigerung schrieb, dieses verfehlte Gebet des Patriarchen zu verlesen, fuhr ich noch weiterhin in die neue Gemeinde. Und dann trat der Diözesenrat des Bistums zusammen. Ich war beim Rat nicht dabei, da ist mir die Gesundheit wichtiger… Dort wurde ich freigestellt, es wurde mir verboten, Gottesdienste abzuhalten, den Segen zu spenden und das Kreuz zu tragen. Mehr ist ihnen wohl nicht eingefallen“, sagt er. 

    Im Bistum erklärte man, dass Perminow der Gottesdienst verboten wurde, weil er „seine Vollmachten als Kirchenvorsteher missbraucht“ und „einen unberechtigt großen Unterhalt“ bezogen habe. Weiter hieß es: „Ja, es gab einen Moment, dass Besucher der Kirche sich zu Wort meldeten, weil Vater Wadim das Gebet über die Heilige Rus nicht gelesen hat. Es gab Äußerungen von ihm, die sich gegen die ‚militärische Spezialoperation‘ richteten. Das war aber nur eine der Fragen. Nicht die wichtigste.“ 

    Im Text des Erlasses über das Gottesdienstverbot für Vater Wadim ist weder von Unterhalt noch von Missbrauch der Vollmachten die Rede: „Sie werden von den Pflichten des Vorstehers der Kirche des Heiligen Sergius von Radonesh im Dorf Ubinskoje (Oblast Nowosibirsk) entbunden, aus den Reihen des Bistums entlassen, und Ihnen wird die Feier der Heiligen Liturgie untersagt, weil Sie sich geweigert haben, den kanonisch festgelegten Gottesdienst zu halten und die Pflichten eines Kirchenvorstehers zu erfüllen.“ 

    „Üblicherweise wird in derartigen Erlassen nicht als Grund genannt, dass das Gebet über die Heilige Rus nicht gelesen wurde. Es wird auf mangelnden Gehorsam gegenüber der kirchlichen Obrigkeit oder disziplinarische Gründe verwiesen“, sagt Perminow. „Im Erlass über die Versetzung in eine dörfliche Gemeinde wurde überhaupt kein Grund genannt; einfach eine Versetzung ohne Angabe von Gründen. 

    Im Dorf Ubinskoje [wo sich die neue Gemeinde befand] habe ich den Unterhalt nur einmal erhalten: 30.000 Rubel für die ganze Familie. Eine entlegene dörfliche Gemeinde ist nicht in der Lage, eine Familie mit mehreren Kindern mit finanziellem Unterhalt zu versorgen. Daher konnte ich an Werktagen die Kirche nicht aufsuchen und versuchte in der Stadt, in einem weltlichen Beruf Geld zu verdienen. Ich habe mich nicht geweigert, Gottesdienste abzuhalten, wie dort geschrieben steht. Wir haben zusammen mit den Gemeindemitgliedern gebetet, die heiligen Gaben empfangen, Oblaten backen gelernt. Ich habe getauft, Trauermessen gelesen, die Strafkolonie besucht.“ 

    „Solidarität gibt genauso viel Kraft wie das Gebet“ 

    Wie Vater Walerian berichtet, verlieren die meisten Priester, die mit Verboten belegt sind, ihren Lebensunterhalt. Die Mehrheit von ihnen braucht Zeit, einen neuen Beruf zu erwerben und ein weltliches Leben zu beginnen. In dieser Phase hilft Mir Vsem. So geschah es auch mit Wadim Perminow. 

    „Auf der Internetseite von Mir Vsem gab es einen Artikel über einen mit Verboten belegten Priester; da habe ich in den Kommentaren geschrieben: ‚Mich hat man gestern auch entlassen und unter Verbot gestellt‘ “, erzählt Wadim darüber, wie er das Projekt kennenlernte. „Vater Andrej Kordotschkin bat mich in seiner Antwort, meine Geschichte zu erzählen. Auch Vater Walerian schrieb mir, der Mitbegründer der Organisation. Daraufhin hatte ich etwa 400 neue Abonnenten auf meinem Telegram-Kanal. Ich hatte noch nie derartige Worte der Unterstützung gehört. Eine solche Solidarität gibt genauso viel Kraft wie ein Gebet. Ich habe ein wenig finanzielle Unterstützung bekommen, weswegen mich die ‚Patrioten‘ schon des Verrats und der Käuflichkeit beschuldigt haben.“ 

    Vater Walerian meint, das größte Problem seien jene, die Priester, die gegen den Krieg sind, denunzieren: „Das Umfeld ist das Problem: Gibt es dort einen Judas, einen Verräter, oder nicht? In dieser Hinsicht hat sich seit 2000 Jahren nichts geändert.“ 

    Vater Andrej Kordotschkin hat die Organisation Mir Vsem gegründet, weil es sonst niemand gab, der Priester unterstützte, die von ihrer Kirche verstoßen wurden / Foto © Vadim Braydov
    Vater Andrej Kordotschkin hat die Organisation Mir Vsem gegründet, weil es sonst niemand gab, der Priester unterstützte, die von ihrer Kirche verstoßen wurden / Foto © Vadim Braydov

    Von offiziellen Vertretern der Russisch-Orthodoxen Kirche erhalten die gegen den Krieg eingestellten Priester keine Unterstützung. Nach dem offenen Brief erklärte Wachtang Kipischidse, der stellvertretende Vorsitzende der Abteilung des Moskauer Patriarchats für die Beziehungen der Kirche zur Gesellschaft und den Medien, dass in dem Schreiben mit dem Aufruf eine Gefahr enthalten sei, weil die Unterzeichner versuchen, „Konflikte zu schüren“. 

    „Die Kirche wird nicht Teil einer politischen Opposition werden, weil sie jenseits der Politik steht. Sie befindet sich auf der Seite des Volkes, sie befindet sich auf der Seite jener, denen sie ihre pastorale Fürsorge gewähren muss. Und unter diesen Menschen stehen Militärangehörige nicht an letzter Stelle“, erklärte er. 

    „Wenn gesagt wird, die Popen mischen sich in die Politik ein, ist das oft ein schlecht maskierter Versuch, den Menschen den Mund zu verbieten.“ 

    Vater Andrej Kordotschkin widerspricht dem: „Die Kirche ist keine Partei, wo die da oben im Namen der da unten sprechen. In ihr haben alle eine Stimme: Priester wie Laien, und auch jene Leute, deren Ansichten von der offiziellen Position abweichen. Es gibt die verbreitete Ansicht, dass die Kirche sich nicht in die Politik einmischen dürfe.  

    Wenn wir von Politik als Kampf um die Macht sprechen, so kann die Kirche in diesem Spiel natürlich nicht als Akteur auftreten. Wenn wir aber von Politik als aktiver Beteiligung am Leben des Landes sprechen, und von der Kirche nicht nur als einer administrativen Struktur, sondern einer Gemeinschaft von Menschen, so gibt es keinerlei Grund, warum die Menschen nicht am Leben ihres Landes teilhaben sollen. Wenn gesagt wird, die Popen mischen sich in die Politik ein, ist das oft ein schlecht maskierter Versuch, den Menschen den Mund zu verbieten.“ 

    In der Kirche sollten alle eine Stimme haben, Priester wie Laien, findet Vater Andrej / Foto © Vadim Braydov
    In der Kirche sollten alle eine Stimme haben, Priester wie Laien, findet Vater Andrej / Foto © Vadim Braydov

    Der Priester meint, dass die Russisch-Orthodoxe Kirche bereits gespalten sei. Es gebe dort keine „totale Unterstützung für die Diktatur und den Krieg, obwohl der offizielle Diskurs mit dem des Staates übereinstimmt.“ Das werde längst nicht von allen Laien und Priestern geteilt. Eines der Ziele des Projektes Mir Vsem bestehe darin, das zu zeigen. Damit nicht nur die bekannten, öffentlich auftretenden Priester zu Wort kommen, sondern auch jene fernab in den Regionen. Allerdings bitten viele von ihnen, da sie sich weiterhin in Russland befinden, dass ihre Namen und Lebensgeschichten nicht genannt werden. Sie wollen nicht unter noch größeren Druck von Seiten kirchlicher oder staatlicher Institutionen geraten. 

    „Ich bin von der Standhaftigkeit derjenigen beeindruckt, die uns aus abgelegenen Regionen schreiben“, sagt Andrej Kordotschkin. „Diese Menschen können nicht mit Medienpräsenz und damit auch nicht auf größere Unterstützung rechnen. Joseph Brodsky erinnerte sich, wie er im Zug in ein Dorf bei Archangelsk unterwegs war, wohin er wegen ‚Schmarotzertums‘ verschickt wurde. Dabei traf er einen Menschen, der mit ihm verlegt wurde. Das war ein Bauer, der wegen einer Nichtigkeit verurteilt worden war. Brodsky schreibt, dass niemand dessen Namen kannte und deshalb niemand ihm je helfen konnte. 

    Für einen Priester in der Provinz ist es schwierig, für sich und seine Familie eine andere Unterhaltsquelle zu finden. Und es sind Menschen, die oft nicht zu einer Emigration bereit sind. Sie haben eine große Familie, viele Kinder, und sie können sich nicht so recht vorstellen, in einem anderen Land zu leben. Ihr Mut begeistert mich. Diesen Leuten helfen wir über die Plattform Saodno.“ 

    Die Organisation ist jetzt dabei, sich als juristische Person in Deutschland registrieren zu lassen. Die Gesprächspartner von OVD-Info berichten, dass keiner der Gründer der Organisation Geld für seine Arbeit bekommt, und dass das Projekt in dieser Zeit auch keine Fördermittel erhielt. Es lebt von privaten Spenden. 

    Eine vertraute Hierarchie 

    „Es hat sich herausgestellt, dass der Fernseher stärker ist als das Evangelium“, sagt Vater Wadim Perminow resigniert. In der St. Nikolaus-Gemeinde in Düsseldorf hat die Heilige Schrift noch Wirkung / Foto © Vadim Braydov
    „Es hat sich herausgestellt, dass der Fernseher stärker ist als das Evangelium“, sagt Vater Wadim Perminow resigniert. In der St. Nikolaus-Gemeinde in Düsseldorf hat die Heilige Schrift noch Wirkung / Foto © Vadim Braydov

    „Leider kamen in den 2000er Jahren, als die Personalstärke der Streitkräfte zurückgefahren wurden, kamen viele ehemalige Offiziere des Militärs zur Kirche“, erzählt Walerian. Die haben ein System des Gehorsams verinnerlicht: Was der Chef sagt, das ist richtig. Die sind nur sehr schwer von etwas anderem zu überzeugen: Der Patriarch sagt, man müsse für den Krieg sein, also sind sie für den Krieg. Für sie ist das eine vertraute Hierarchie: Es gibt Generäle und den Oberkommandierenden. Ich kenne viele Priester, die ehemalige Militärs sind. Viele von ihnen unterstützen tatsächlich die „militärische Spezialoperation“ und „unsere Jungs“. Das ist für sie ganz selbstverständlich. Nur haben sie übersehen, dass das absolut dem Evangelium widerspricht.“ 

    Andrej Kordotschkin erinnern die Repressionen im heutigen Russland zum Teil an die Situation in der Sowjetunion: „Erinnern wir uns nur an markante Figuren wie Vater Alexandr Men: Wenn die Menschen damals nicht zu Protesten auf die Straße gingen, bedeutete das absolut nicht, dass sie den Diskurs teilten, unter dem sie sich befanden. Der kirchliche Untergrund, den es in der UdSSR gab, den gibt es auch jetzt. Es ist noch nicht genug Zeit vergangen, um zu vergessen, wie man das macht.“ 

    Vater Wadim Perminow, dem Mir Vsem seit kurzem hilft, hat bereits angefangen, eine Umschulung zu machen. Nachdem er in das Dorf kam, hat er werktags Arbeit gesucht. Sonntags fuhr er über hundert Kilometer mit dem Auto seines Vaters zu den Gottesdiensten. Seine Familie hat kein eigenes. So ging es bis zum Verbot. Die Familie hat fünf Kinder. Sie haben nicht vor, das Land zu verlassen. 

    „Ob ich mich vor 2022 mit dem politischen Geschehen beschäftigt habe? Natürlich!“, sagt er. „Ich war Anhänger von Solowjow, Kisseljow und Skabejewa. Ich habe keine einzige Sendung verpasst. Als ich aber dann mal einen Recherchefilm von Alexej Nawalny sah, habe ich den Fernseher für immer ausgeschaltet. 

    Ich erinnere mich an die Meldung, dass russische Truppen die Grenze zur Ukraine überschritten haben. Das konnte ich für mich im Kopf nicht klarkriegen, habe aber geschwiegen. Mein Schweigen war nicht mit Angst verknüpft. Die ganze Zeit versuchte ich, die Informationen zu verarbeiten, war Beobachter. Mit den Gemeindemitgliedern habe ich das nicht diskutiert und vom in meinen Predigten bat ich nur um eines, nämlich den Fernseher auszuschalten. Weil die Gemeindemitglieder über eine unerklärliche Gereiztheit und Schlafstörungen klagten.“ 

    Von den Priestern haben nur drei angerufen und ihn unterstützt. Sein geistlicher Vater war nicht dabei. Perminow führt weiter seinen Telegram-Kanal Kainsker Pavillon

    „Die Gemeindemitglieder verhalten sich wie immer und überall. Sie werden laut, sie klagen, und dann gewöhnen sie sich an alles. Auf die Frage ‚Wie geht’s?“ würde ich mit einer Zeile von Puschkin antworten: ‚Mir ist so schwer und leicht ums Herz, licht ist mein Schmerz‘.“

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  • Hass im Donbas

    Hass im Donbas

    Dieses Warum beschäftigt mindestens Europa seit mehr als zehn Jahren: Warum haben russische Propaganda, Geld und Waffen in den ukrainischen Donbas-Regionen Donezk und Luhansk so viel stärker verfangen als in anderen Gebieten? Es kann nicht nur an der russischen Sprache oder dem früher hohen Anteil der sich als Russen identifizierenden Menschen liegen, betonen ukrainische Wissenschaftler und Publizisten. Denn dies trifft auch auf Teile der Regionen Odesa, Charkiw und Saporischschja zu.  

    Vielmehr sei schon der Begriff eines vermeintlich homogenen Donbas’ ein Teil der (pro-)russischen Propaganda, während die gesamte Region vielfältiger sei, sich im ländlichen Raum viel mehr ukrainische Traditionen und Sprache sowie Minderheiten wie etwa die griechische Gemeinschaft fänden. Das Warum-im-Donbas erklären sie mit einer besonders aggressiven Propaganda, die eine laute Minderheit zum Volkswillen erhebt.  

    Wie sich das genau entwickelt hat, skizziert auch Konstantin Skorkin: In seinem Artikel für die russischsprachige Ausgabe von The Moscow Times beschreibt er die Ursprünge und Entwicklungsstufen der russischen Einmischung in die politische Entwicklung der ostukrainischen Regionen bis zum Beginn des Kriegs 2014. Der Journalist Skorkin stammt selbst aus Luhansk und berichtet seit Jahren aus seiner Heimat, später aus Moskau, mittlerweile aus dem westlichen Ausland über den Donbas. 

    Graffiti mit dem Schriftzug Noworossija und PTN und den Farben der sogenannten Volksrepublik Donezk © ZUMA Press / Imago

    Dem Krieg im Donbas ab 2014 ist eine jahrelange mediale Hassspirale vorausgegangen. So sehr der Euromaidan selbst auch polarisiert haben mag, ohne ein schrittweise gefestigtes ideologisches Fundament hätte es nie zu diesem durch Russland militärisch unterstützten Separatisten-Aufstand kommen können. Der Donbas wird in die Geschichtsbücher eingehen als Paradebeispiel: So erzeugt man künstlich einen bewaffneten Konflikt – durch Missbrauch lokalpatriotischer Bewegungen und medialen Hass. 

    Bergmann im Donbas statt Bürger der Ukraine  

    Beim Referendum 1991 stimmte noch die Mehrheit der Bewohner des Donbas für die ukrainische Unabhängigkeit – jeweils fast 84 Prozent in den Oblasten Donezk und Luhansk. Doch diese anfängliche Unterstützung wich schnell einer wachsenden Unzufriedenheit. Dafür gab es mehrere Gründe:  

    Erstens litt der Donbas stärker als andere Regionen unter dem Zusammenbruch der sowjetischen Wirtschaft. Viele Unternehmen hier waren stark auf den gesamtsowjetischen Absatzmarkt ausgerichtet und erwiesen sich als ineffizient für den geöffneten Weltmarkt.  

    Zweitens spielte – aufgrund der industriellen Prägung der Region [die viele Arbeiter aus allen Teilen der Sowjetunion in die industriellen Zentren des Donbas’ brachte – dek] – die sowjetische Ideologie eine große Rolle. Später erfasste die verarmte Bevölkerung dann schnell eine UdSSR-Nostalgie. Bis 2004 galten die meisten Sympathien dort der Kommunistischen Partei der Ukraine.  

    Drittens: Es überwiegt eine russischsprachige Bevölkerung mit einer verwaschenen Identität, die stärker in einem lokalen oder beruflichen Selbstverständnis wurzelt – „Wir aus dem Donbas“, „Wir Bergleute“ – als in einer Identifikation mit der Gesamtukraine. Ebenso in Bezug auf Russland. 

    Der japanisch-amerikanische Historiker Hiroaki Kuromiya, der sich auf den Donbas spezialisiert, bezeichnete die Region einmal als „Problemkind“ von Kyjiw und Moskau. 

    Was lockt den Donbas gen Osten? 

    Bereits in den späten 1980er Jahren strebten im Donbas erste Organisationen eine Autonomie oder sogar Abspaltung der Region von der Ukraine an, etwa die Internationale Bewegung des Donbas in Donezk oder die Volksbewegung der Region Luhansk – häufig unterstützt von lokalen Gruppen der Kommunistischen Partei, die versuchten, ein Gegengewicht zur ukrainischen national-demokratischen Bewegung zu schaffen. Sie blieben jedoch eine marginale Kraft, die nach der Gründung der unabhängigen Ukraine wieder verschwand.  

    Mit der Stabilisierung der sozioökonomischen Lage des Landes ging dieser regionale Separatismus zurück, verschwand aber nie völlig. 

    Mit der Zeit aber nutzten die lokalen Eliten die zunehmende Unzufriedenheit der Bevölkerung für ihre Zwecke: Während der Bergarbeiterstreiks 1993/94 forderten sie unter anderem die Schaffung einer ostukrainischen Autonomie und die Erhebung des Russischen zur Amtssprache. Es gab sogar ein regionales Referendum zu diesen Fragen, dessen Ergebnisse jedoch nie offiziell anerkannt wurden. Mit der Stabilisierung der sozioökonomischen Lage des Landes ging dieser regionale Separatismus zurück, verschwand aber nie völlig. 

    Später räumten die Donbas-Aktivisten selbst ein, dass der wichtigste Faktor für das Scheitern der ersten Abspaltungsversuche die fehlende externe Unterstützung durch Russland gewesen sei. In den Beziehungen zwischen Kyjiw und Moskau war in den 1990er Jahren eher die Krim der Zankapfel. Erst 2004 änderte sich die Situation dramatisch. 

    Wahlen, Angst und Hass im Donbas 

    Da standen sich bei den Präsidentschaftswahlen der regierungsnahe Kandidat Viktor Janukowytsch, ehemaliger Gouverneur der Oblast Donezk, und Oppositionskandidat Viktor Juschtschenko gegenüber. Die Kandidaten verkörperten zwei gänzlich unterschiedliche Entwicklungsrichtungen der Ukraine: Juschtschenko setzte sich für eine europäische Integration ein, während Janukowytsch sich an Russland orientierte.  

    Der Kreml machte Juschtschenko das Leben schwer: Ein Trupp Polittechnologen unter der Leitung von Gleb Pawlowski reiste nach Kyjiw. Da Juschtschenko in den westlichen Regionen der Ukraine mehr Unterstützung genoss, setzte Janukowytschs Stab unverfroren auf eine Spaltung des Landes, indem er den russischsprachigen Südosten gegen den national ausgerichteten Westen ausspielte. 

    Die Propaganda machte aus Viktor Juschtschenko – einem gemäßigt liberalen Banker mit einer Leidenschaft für ukrainische Geschichte – einen radikalen Nationalisten. Als Juschtschenko dann zu einem Treffen mit Anhängern nach Donezk kam, erwarteten ihn in den Straßen riesige Plakate, die ihn in Nazi-Uniform zeigten. 

    Ein regionaler Fernsehsender in Luhansk zeigte zweiminütige Hass-Sendungen à la Orwell.  

    Die Flut der „schwarzen“ Negativ-PR nahm nach Beginn der Proteste auf dem Maidan im Herbst 2004, die als Orangene Revolution in die Geschichte eingehen sollten (Orange war die Wahlkampffarbe Juschtschenkos), noch weiter zu. Während die landesweiten Medien nach und nach auf die Seite der Revolution wechselten, verbreiteten die von Janukowytsch-Anhängern kontrollierten regionalen Fernsehsender in den südöstlichen Regionen Hass und Propaganda.  

    So zeigte beispielsweise ein formell staatlicher regionaler Fernsehsender in Luhansk zweiminütige Hass-Sendungen à la Orwell: Protestierende Ukrainer wurden mit wilden Tieren und Nazis verglichen. Bilder vom Maidan wurden zu einer suggestiven Videosequenz zusammengeschnitten. „Da wurden heulende Wölfe gezeigt, marschierende Militäreinheiten, eine Gottesanbeterin in Angriffshaltung, springende Affen, Obst, das im Zeitraffer verfaulte“, erinnert sich ein Luhansker Journalist. Viele zweifelten schon damals, ob solch ausgefeilte Beispiele hybrider Kriegsführung wirklich von einem Provinzsender produziert werden konnten. 

    Gleichzeitig wurden lokale Oppositionelle massiv unter Druck gesetzt. So wurde [Ende November 2004 – dek] Juschtschenkos Hauptquartier in Luhansk angegriffen. Einige Tage später ging eine Gruppe angeheuerter Hooligans mit Baseballschlägern auf eine „orange“ Kundgebung im Zentrum von Luhansk los. Im Grunde wurde im Donbas 2004 eine Strategie angewandt, die 2014 landesweit ausgeweitet wurde: Ihr Ziel war organisiertes Chaos und Polarisierung. 

    Trotz allem: Juschtschenko gewann die Wahlen, Janukowytsch verlor. 

    Die Spaltungsideen nahmen neue Formen an. Am 28. November 2004 fand in Sewerodonezk (Oblast Luhansk) ein Kongress mit Lokalpolitikern statt, auf dem eine neue autonome Südost-Republik konzipiert wurde – ihre vorgesehenen Grenzen deckten sich übrigens mit dem vom Kreml 2014 verkündeten Konzept Noworossija (dt. Neurussland). Am Kongress nahm auch der damalige Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow teil. Russische Sender, die im russischsprachigen Teil der Ukraine traditionell beliebt waren, präsentierten diesen Kongress als Ausdruck des Volkswillens.  

    Vom Maidan zum Euromaidan – eine Eskalation  

    Den Sieg des ersten Maidan fasste der Kreml als existenzielle Bedrohung auf. Der amerikanische Politikwissenschafter Paul D’Anieri schrieb, die orange Revolution habe der Erwartung vieler Russen, die Ukraine würde eines Tages doch „wieder heimkommen“, einen Dämpfer verpasst und ihren möglichen, unwiederbringlichen Verlust vor Augen geführt. Daher erhielten von nun an alle prorussischen und separatistischen Bewegungen im Donbas jede größtmögliche Unterstützung vonseiten Moskaus. Der Donbas gilt seitdem – wie die Krim – als Vorposten des russischen Einflusses. 

    Einschlägige Organisationen schossen wie Pilze aus dem Boden – wie Donezkaja respublika (dt. Donezker Republik) in Donezk, Molodaja gwardija (dt. Junge Garde) in Luhansk. Trotz ihrer verfassungsfeindlichen Rhetorik drückten die regionalen Behörden ein Auge zu und förderten sie sogar heimlich. Alle diese Organisationen bekamen Unterstützung von ultrarechten Bewegungen in Russland, die wiederum vom Kreml gesteuert wurden – allen voran von Alexander Dugins Eurasische Union. Pawel Gubarew, später Mitbegründer der selbsternannten „Donezker Volksrepublik“, ließ sich in Lagern der Russischen Nationalen Einheit ausbilden.  

    Die Region wurde von einer massiven Propagandawelle überschwemmt, die den lokalen Donbas-Patriotismus über den gesamtukrainischen Patriotismus setzte und ständig die angeblich besonderen Beziehungen des Grenzgebiets zu Russland unterstrich. So wurde zum Beispiel in Luhansk ein Denkmal für „die Opfer der UPA“, errichtet. Dabei waren OUN–UPA praktisch nie im Donbas aktiv gewesen (abgesehen von episodischen Ausflügen, die Vertreter dieser Organisation während des Zweiten Weltkriegs unternahmen). Das war eine zutiefst propagandistische Geste. Sie zielte darauf ab, die Bewohner des Ostens und des Westens, die die dunklen Kapitel der ukrainischen Geschichte auf unterschiedliche Weise wahrnehmen, gegeneinander aufzuhetzen.  

    Eine Partei provoziert medialen Schlagabtausch 

    Zur wichtigsten Plattform dieser spalterischen Ideen entwickelte sich die Partei der Regionen, die im Donbas praktisch ein Machtmonopol innehatte. Der Rat der Oblast Luhansk beschloss zum Beispiel das regionale Programm Patriot Luganschtschiny (dt: Patriot des Luhansker Landes), in dem eine ganze Reihe kultureller Symbole aus Sowjetzeiten als Alternative zum nationalen Projekt der Ukraine präsentiert wurden.  

    Solche lokalen Bemühungen stützten sich auf Beistand aus Russland: Regelmäßig fanden im Donbas runde Tische zu Themen wie „Föderalisierung des Landes“ [als Kontra-Forderung gegen den Euromaidan – dek] oder „Schutz der russischen Bevölkerung“ statt, an denen immer auch Gäste aus Moskau teilnahmen. Die Stiftung Russki Mir (dt. Russische Welt) eröffnete in Luhansk eine Filiale.  

    Die über die Jahre entstandene Entfremdung des Donbas und das hohe Maß an Identifikation mit der Region boten diesen polittechnologischen Übungen eine gute Angriffsfläche. 2014 verstanden sich laut einer Studie der Luhansker Nationalen Universität 35,8 Prozent der Bevölkerung der Oblaste Donezk und Luhansk in erster Linie als Bewohner ihrer Region, während sich nur 28,1 Prozent als ukrainische Staatsbürger fühlten. Ein weiterer beliebter Identitätsmarker war die Antwort „Sowjetmensch“ mit 14,4 Prozent.  

    Zur Verstärkung dieser Spaltung übten sich Wortführer der Partei der Regionen in einer Rhetorik der feindseligen und diskriminierenden Sprache. Der Regionen-Politiker Nikolaj Lewtschenko aus Donezk sagte: „Ukrainisch ist die Sprache der Folklore. Wenn Russisch Amtssprache ist, dann gibt es einfach keine Notwendigkeit mehr, Ukrainisch zu sprechen. […] Seien wir doch realistisch. Die zweite Amtssprache ist lediglich pro forma. In der Ukraine soll es nur eine Amtssprache geben, nämlich Russisch.“ Sein Kollege Juri Boldyrew formulierte es noch radikaler: „Ich bin dafür, dass die Ukraine Galizien loswird. Wenn man Galizien aus meinem Land entfernt und die echte Ukraine mit dem Donbas und der Krim übrig lässt, dann wird sie jenes erste [und echte] Russland sein […] Galizien ist eine Geschwulst am Leib der Ukraine.“  

    Darauf folgte eine Welle negativer Reaktionen aus der patriotischen ukrainischen Intelligenzija und von Vertretern des westlichen Teils der Ukraine. Diese Konfrontation verhärtete sich besonders nach Janukowytschs erfolgreicher Revanche bei den Präsidentschaftswahlen 2010, die er größtenteils den Wählerstimmen aus dem Süden und Osten zu verdanken hatte.  

    Durch ihr Misstrauen, ihre Geringschätzung und Verachtung gegenüber der Bevölkerung und Kultur des Donbas‘ hatte Russland leichtes Spiel.

    Der prominente ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch, gebürtig aus Iwano-Frankiwsk, erklärte 2010, die Ukraine solle eher den Donbas und die Krim abschütteln, deren Bevölkerung die Ukraine fremd sei. Sein mit dem Schewtschenko-Preis ausgezeichneter Kollege Wassyl Schkljar schlug noch schärfere Töne an: „Wenn die Nation krank ist und dieses Territorium nicht verträgt, nicht verdauen kann, dann ist es besser, sich davon zu verabschieden.“  

    Der Historiker Hiroaki Kuromiya sieht darum auch bei den ukrainischen Intellektuellen einen Teil der Schuld an der ukrainischen Spaltung: „Durch ihr Misstrauen, ihre Geringschätzung und Verachtung gegenüber der Bevölkerung und Kultur des Donbas‘ – als ob das, sozusagen, die unzivilisierten Hinterhöfe der Ukraine wären –, hatte Russland leichtes Spiel.“ 

    So verstärkte sich die Spaltung. Bis kurz vorm Euromaidan Russlands Bemühungen praktisch offene Formen annahmen: Im September 2013 fuhr Putins Berater Sergej Glasjew nach Luhansk zu einer bizarren Parade prorussischer Kräfte, nämlich einer Konferenz über die Perspektiven der Ukraine, der Eurasischen Zollunion beizutreten. Die Veranstaltung wurde von Viktor Medwedtschuks Bewegung Ukrajinski wybor (dt. Ukrainische Wahl) organisiert. Viele der Delegierten sollten ein halbes Jahr später zum aktiven Kern der selbsternannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk gehören. 

    Wichtigster Destabilisierungsfaktor: Russland 

    Im Laufe eines Jahrzehnts hatte sich im Donbas immer mehr Hass angestaut. Feindselige Rhetorik und eine Politik der Polarisierung führten zu einem bewaffneten Konflikt. Dabei trafen unterschiedliche Faktoren aufeinander: Politiker und Intellektuelle, die aus einem Zwiespalt politisches Kapital schlagen wollten, alte Traumata und Komplexe, Probleme bei der Entwicklung des ukrainischen Staates. Doch der schwerwiegendste Destabilisierungsfaktor war eine externe Macht: Putins Russland. Ohne dessen Einmischung hätten sich selbst die heftigsten Spannungen zwischen Kyjiw und dem Donbas, zwischen Osten und Westen gelöst – nämlich im Zuge der Evolution einer vielfältigen ukrainischen Gesellschaft. 

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  • „AntifaschiZmus“ – Früher linker Straßenkampf, heute Kriegsfront

    „AntifaschiZmus“ – Früher linker Straßenkampf, heute Kriegsfront

    Zur Geschichte der linken Subkulturen im postsowjetischen Russland gehört viel Gewalt: von Straßenschlachten gegen brutale Neonazis bis zur zunehmenden Verfolgung durch den staatlichen Sicherheitsapparat. Der Krieg bietet den Antifa-Veteranen von damals nun eine Chance weiterzukämpfen. Viele nutzen sie und melden sich zur ukrainischen Armee, andere aber gehen für Russland an die Front. 

    Das russische Online-Portal no Future hat sich die Gewaltgeschichte der Antifa-Szene genauer angeschaut und mit einigen selbsterklärten Antifaschisten über ihre Motivation gesprochen, teils Seite an Seite mit russischen Neonazis in den Krieg gegen die Ukraine zu ziehen. 

    Collage mit Bildern von Antifaschisten und ihren rechtsextremen Gegnern in Straßenkämpfen in Russland seit dem Zerfall der Sowjetunion, Illustration © Pascha Barli/no Future
    Collage mit Bildern von Antifaschisten und ihren rechtsextremen Gegnern in Straßenkämpfen in Russland seit dem Zerfall der Sowjetunion, Illustration © Pascha Barli/no Future

    Kaum jemand erinnert sich noch an die Antifa-Ära der 2000er und 2010er Jahre. Die Antifa selbst ist gealtert, hat sich Kredite und Bauchspeck zugelegt oder sitzt immer noch im Knast. Die mit Mutters billigem Haarspray aufgestellten Irokesen, der Straight-Edge-Lifestyle, die Nebelgranaten, die in die Stadtverwaltung von Chimki flogen, weil man den örtlichen Park abholzen wollte, die Demos im Moskauer Zentrum unter Antifa-Parolen wie „Nein zu Faschismus aller Art, vom Hinterhof bis zur Regierungsmacht“ – all das existiert nur noch in ihrer Erinnerung. Genau wie die Straßenkämpfe und bewaffneten Zusammenstöße mit Neonazis, die eingeschlagenen Schädel und toten Genossen, die wildesten Hardcore-Konzerte und die Bullen, die am Ende doch sämtliche Subkulturen plattgemacht haben.  

    Noch vor ein paar Jahren hörte man die Alt-Antifa sagen, das alles würde der Vergangenheit und einer fernen Jugend angehören, als alles noch einfacher, klarer, eindeutiger war: Die Einen schlachten Nicht-Russen ab und schüren Fremdenhass, die Anderen setzen sich zur Wehr und helfen den Schwachen. Manchmal unter Einsatz ihres Lebens. Doch der Krieg in der Ukraine hat nicht nur entlang der „Kontaktlinie“ für ein Aufflammen von Mord und Gewalt gesorgt, sondern auch auf Russlands Straßen. Wobei heute nicht mehr alles so klar und eindeutig ist. So manche, die vor 15 Jahren noch für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und gegen Faschismus protestiert haben, ziehen heute in den Krieg, um Ukrainer zu töten.  

    Anna Worobjewa hat für no Future mit selbsterklärten Antifaschisten – im Text sind alle Namen geändert – darüber gesprochen, warum sie Seite an Seite mit Neonazis in Schützengräben gegen sogenannte „Ukronazis“ kämpfen und darin nichts Schlechtes sehen.

    Irokesen, Hakenkreuze und Blut auf dem Asphalt 

    Eine kleine Kreisstadt an der Wolga. Eine verlassene Bauruine. Anfang der 2010er Jahre. Die Wände vollgeschmiert mit Hakenkreuzen, ein ebenso geformtes Lagerfeuer. Jeden Abend versammeln sich hier um die 30 Leute in schwarzen Bomberjacken mit orangefarbenem Innenfutter (so erkennt man im Kampf schneller die eigenen Leute) und Hosen mit heruntergelassenen Hosenträgern (ein Zeichen für Kampfbereitschaft), in DocMartens, Springerstiefeln oder Billigtretern vom Markt mit weißen Schnürsenkeln (heißt: Ich habe Nicht-Russen auf dem Gewissen). 

    Hier werden Attacken geplant: Wer ist als nächstes dran? Das „Schlitzauge“ vom Gemüsestand oder der obdachlose Usbeke, der auf der Bank am Bahnhof schläft? Jeden Tag konnte man zusammengeschlagene „Nichtarier“ auf den Straßen finden. Hier kloppte man sich mit den hiesigen Informellen, Alternativen, einer Handvoll Jugendlicher mit Irokesenschnitt, die bei den Zusammenstößen unweigerlich unterlegen waren und danach blutüberströmt nach Hause krochen. 

    Die Alternativen nannten sich Antifaschisten, oder kurz: Antifa. Eines Tages, nach einer weiteren Niederlage, baten die jungen Antifas die älteren und stärkeren um Unterstützung. Am Tag darauf fuhr im Morgengrauen ein nicht mehr ganz neuer Neuner [Lada – dek] an der Bauruine vor. Ein paar Typen mit Schlagstöcken und Leuchtpistolen stiegen aus. Ein Skinhead im „Ich bin Russe“-Shirt kam auf sie zu. Die Männer aus dem Neuner umzingelten ihn, zogen ihm das Shirt aus, verdrehten seine Arme, zerrten ihn unter Schlägen ins Auto und fuhren los. 

    Der Lada hält an, die Antifas springen raus, die Schlacht beginnt.  
    „Ich-bin-Russe“ muss vom Auto aus zuschauen und die nächsten Adressen verraten. 

    Der erste Halt ist ein normaler Innenhof. An einem Hauseingang rauchen drei. Allesamt kahlrasiert. Der Neuner hält an, die Antifas springen raus, die Schlacht beginnt. „Ich-bin-Russe“ muss vom Auto aus zuschauen und die nächsten Adressen verraten. Den ganzen Tag kreuzen sie so durch die Wohnviertel. Als es dunkel wird, bringen sie den „Führer“ zur Baustelle zurück. Bei der großen Versammlung, die dort geplant war, tauchen nach dem Streifzug nur wenige Leute auf, die die Antifa sogleich mit Schüssen aus den Leuchtpistolen und Schlagstöcken begrüßt. Der „Führer“ bettelt inzwischen um Gnade. Die Antifas lassen ihn erst gehen, nachdem er sich vor der Kamera entschuldigt und versprochen hat, dass er „nie wieder andere Leute belästigen und die Antifa beleidigen wird“. 

    Antifa schlägt zurück, bis Silowiki kommen 

    Einer jener jungen Antifas damals war Denis Chromow. Er ist in der Kreisstadt aufgewachsen und schon als Teenie zu der Clique gestoßen. Die nach außen hin so gefährlich wirkenden Punks verbrachten ihre Zeit meist mit harmlosen Dingen, besprühten Wände mit Antifa-Slogans, kochten und verteilten vegane warme Mahlzeiten an Obdachlose. Diese Aktion hieß Essen statt Bomben. So protestierten Antifaschisten in aller Welt gegen Krieg und Autoritarismus. Außerdem gingen sie viel auf Konzerte. Kein Gig lief ohne Angriffe bewaffneter Neonazis ab. Die wurden auch „Bones“ genannt, vom englischen „Bonehead“, das als „Glatze“ oder auch „Volltrottel“ übersetzt werden kann. 

    Die Bones bewarfen die Antifa mit Steinen und Flaschen, verdroschen sie mit allem, was sie finden konnten, sprühten ihnen Pfefferspray in die Augen. Sie machten weder vor Messern noch vor selbstgebauten Bomben halt. 

    Ende der 2000er Jahre verübten Neonazis bis zu 500 Morde im Jahr. Die Subkultur der Pazifisten begann sich zu organisieren und zu wehren, bis sie selbst gefährliche Straßenbanden hervorbrachte. Genau die wurden schließlich mit dem Begriff Antifa assoziiert. Die Bewegung entstand also als Reaktion auf die Aggression der Rechtsradikalen, die in den 2000er Jahren unkontrolliert im ganzen Land wütete.  

    Irgendwann übernahmen die Antifaschisten selbst die Initiative; mindestens ein Neonazi wurde dabei getötet. Innerhalb der Bewegung wurde die Gewalt verurteilt, aber Iwan Chutorskoi, genannt Kostolom (Knochenbrecher) – ein bekannter Antifa, der seinen Spitznamen dem erfolgreichen Einsatz in Straßenkämpfen verdankte – befand, es sei besser „jetzt als Unmensch zu gelten, als später vor der Tür zur Gaskammer über die richtige Taktik zu diskutieren“. 2009 wurde Chutorskoi am Eingang seines Hauses durch einen Genickschuss getötet. 

    Anfang der 2010er hörten die Schlägereien praktisch auf.  
    Es gab niemanden mehr, der sich hätte prügeln können. 

    Denis Chromow dagegen machte sich zu seinen Antifa-Zeiten keine Gedanken über Humanismus. Er ging regelmäßig „Glatzen klatschen“ und hielt das für den einzig richtigen Weg. Parallel schloss er die Berufsschule ab, verlobte sich, nahm in Moskau einen Schicht-Job auf dem Bau an.  

    Anfang der 2010er Jahre dann hörten die Schlägereien praktisch auf. Es gab schlichtweg niemanden mehr, der sich hätte prügeln können: Die Silowiki hatten in dem Straßenkrieg zwischen Neonazis und Antifa bald eine handfeste Bedrohung erkannt und waren dazu übergegangen, die Einen wie die Anderen konsequent einzubuchten

    Wohin mit dem Hass der Antifa-Veteranen? 

    Die Frage war nun: Wohin mit der ganzen Energie und all den Überzeugungen? Die Einen verfielen dem Alkohol, die Anderen – so wie Denis – gingen in die politische Opposition. „Ich bin nach Moskau zu den ‚Märschen der Millionen‘ gefahren, lernte dort Anarchisten und Antifas kennen“, erzählt Chromow. „Ich hab schon als Kind die ganze Ungerechtigkeit der herrschenden Klasse, der Sicherheitsorgane usw. kapiert. Ich hatte Hass auf die jetzige Regierung, das ganze Regime. Wirklichen Hass.“ 

    Den Krieg im Donbas [ab 2014 – dek] hat Chromow dann so ähnlich verstanden wie die Straßenschlachten mit den Neonazis: Mutige, knallharte Jungs organisieren sich und kämpfen gegen „Glatzen“, die sie allein deshalb vernichten wollen, weil es sie gibt. „Ich hatte dann im Fernsehen gesehen, dass Neonazis die Zivilbevölkerung angreifen und dass die Leute sich zu Bürgerwehren zusammenschließen und dagegenhalten. Also habe ich mich auch dazu entschlossen … Na, wegen der Faschos, Nationalisten halt, weiß nicht …“, erinnert sich Denis. Er fuhr im Herbst 2014 als Freiwilliger in den Donbas – ohne Vertrag, ohne Wehrpass, ohne ärztliches Attest, ohne Geld. Er war 20 Jahre alt. 

    Denis wurde der Drohnenaufklärung zugeteilt. Er soll feindliche Stellungen aufspüren und deren Koordinaten an die Artillerie übermitteln.  

    „Männer wie wir“ und „Vögel des Todes“ 

    Auf dem Laptop erscheint ein Bild: rechteckige Felder mit grünen Waldflächen. Über den Wäldern blinken blaue Symbole, dort sind Handys aktiv. Wenn es drei oder mehr sind, ist das eine „Anhäufung“. Eine Anhäufung im Wald bedeutet Schützengräben und Unterstände: Erdbunker, in denen die Soldaten an forderster Front leben. Um einen Treffer zu landen, muss man nun möglichst nah ran, dorthin, wo man vom Artilleriedonner fast taub wird. Dann einen guten Startplatz suchen, eine Wiese vom Gestrüpp befreien, eine möglichst ebene Fläche für besseren Halt schaffen. Dann bastelt man den „Vogel“ zusammen, schraubt die drei Meter langen Flügel an und den Schweif, legt einen Fallschirm hinein, um ihn später sicher zu landen, wenn das Ziel erledigt ist. Außen, vorne oder unten trägt der „Vogel“ eine Kamera, ein Wärmesichtgerät und einen Fotoapparat. Die Koordinaten der Handy-Signale werden an die Artillerie übermittelt. Die beschießt dann die Bunker mit Grad (Hagel, Mehrfachraketenwerfer – dek] oder Haubitzen wie der D-30er. Aus der Vogelperspektive sieht man, wie dicker Rauch aus den Schützengräben quillt, Bretter in die Luft fliegen, eine Hose sich in einem Baum verfängt. Man hört wildes Geschrei, einer ist bis zum Hals mit Erde verschüttet, aus einem anderen pulsiert eine Blutfontäne. Einem drittem hat es den halben Körper weggerissen.  

    „Wir wurden ganz nah bei den Ukropy abgesetzt, und dann ging die Arbeit los. Wir ließen den Vogel fliegen, holten ihn zurück, gaben die Koordinaten an die Artillerie weiter. Die machen ihren Job, wir schicken den Vogel wieder los und bestätigen“, berichtet Denis. 

    Ich weiß es bis heute nicht. Aber ich glaube, ich hab das Richtige gemacht.

    „Und waren dort Nazis?“ 

    „Ich persönlich habe eigentlich keine gesehen … So eingefleischte wie die in Mariupol bei Asowstahl gab es da nicht [Die Rede ist hier von der Brigade Asow, die die russische Propaganda als „Nazis“ bezeichnet, für die ukrainische Seite sind sie die „Verteidiger Mariupols“ – No Future]. Dort kämpfen Männer wie wir, die wurden dorthin abkommandiert. Der Staat hat gesagt, die Donezker Volksrepublik will sich illegal abspalten usw. Die sind genauso kämpfen gegangen wie die Jungs, die nicht mehr zur Ukraine gehören wollten.“ 

    „Hast du den Sinn verstanden? Warum bist du dahin gegangen?“ 

    „Das kann ich nicht beantworten, ich weiß es bis heute nicht. Aber ich glaube, ich hab das Richtige gemacht. Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich wieder als Freiwilliger hinfahren. Mit denselben Jungs.“ 

    Solche wie Denis werden von vielen Antifas als „Z-niki“ „Watniki“ und „Raschisten“ bezeichnet. Der Großteil der Bewegung unterstützt im Krieg die Ukraine, einige haben sich sogar den Ukrainischen Streitkräften angeschlossen. 

    „Ich will Action“ 

    Igor Schmelew, der früher auch bei Straßenschlachten gegen Skinheads mitmischte, erklärt das damit, dass die meisten Beteiligten jung und auf Action aus gewesen seien. „Viele sind zur Antifa gekommen, weil sie den Kick suchten. Später hing die Position davon ab, welche Vorlieben man hatte. Die Einen sympathisierten mit der Ästhetik der Republiken [gemeint sind die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk und ihre von Russland unterstützten und ausgerüsteten „Volksmilizen“ – dek], die gegen die ‚neonazistische Bandera-Junta‘ [Ausdruck der russischen Propaganda für die legitime ukrainische Regierung – dek] aufbegehrten. Anderen war die Ästhetik des Volksaufstands näher, der die Regierung gestürzt hatte und nun sein Land gegen das imperialistische Russland verteidigt“, sagt Schmelew. „Manche finden im Krieg einfach sich selbst, einen Lebenssinn. Manche glauben aufrichtig an dieses ganze Zeug. Welchen Sinn hat es da, sie vom Gegenteil überzeugen zu wollen?“ 

    Für die Antifaschisten, die für Russland kämpfen, gehört auch die proukrainische Antifa an die Front – vom Sofa aus könne ja jeder klug daherreden. Einer von ihnen ist Wadim Krasnow. Er nimmt in Kauf, dass er an der Front seine ehemaligen Kumpels erwischen könnte. 

    „Man kann viel erzählen, wenn der Tag lang ist. Sollen sie doch zur ukrainischen Armee gehen, wenn sie sich trauen.“ 

    „Das tun sie doch. Du könntest also auch Antifa aus Wolgograd oder Kaliningrad treffen …“ 

    „Tja, dann haben sie Pech gehabt.“ 

    Propaganda trifft Mitleid 

    Wadim hat im Herbst 2023 einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium unterschrieben. In den wilden 2000ern war er zur Antifa gegangen, weil er „die Nazis nicht hinnehmen“ wollte. Als die Silowiki später für Ordnung gesorgt hatten, distanzierte er sich von der Subkultur und wurde Elektriker in einer kleinen russischen Provinzstadt. 

    Die Ereignisse von 2014 im Donbas betrachtet Wadim als „Säuberungsaktionen durch ukrainische Nationalisten“ [ein beliebtes und weltweit verbreitetes Narrativ der (pro-)russländischen Propaganda – dek]. „Das war quasi der Anfang. Wir müssen jetzt die russischsprachige Bevölkerung mit der Waffe beschützen. Wir haben nur auf die Situation reagiert. Acht Jahre haben wir gewartet, und dann ist endlich was passiert“, sagt Krasnow. Als seine Heimatstadt 2022 beschossen wurde, zog er in den Krieg. „Ich habe begriffen, dass ich selbst 700 Kilometer von der Front entfernt nicht mehr sicher wäre. Es war ein spontaner Impuls“, erklärt er. 

    Zunächst diente Wadim als stellvertretender Stabschef eines Panzerbataillons bei Kreminna. „Fünf Kilometer von uns stand Asow. Aber ich habe keine ‚Asowzy‘ gesehen. Die ukrainische Armee besteht nicht nur aus Nazis. Leider haben sie dort Leute mobilisiert, die nicht freiwillig dort sind, die genauso wenig auf diesen Krieg vorbereitet waren, irgendwelche Pazifisten, also Leute, die nicht kämpfen können und wollen. Die wurden eingezogen und hatten keine Wahl. Ich habe solche Leute gesehen. Sie waren verängstigt, weinten. Das ist ein schrecklicher Anblick. Für solche Menschen empfinde ich keinen Hass, nur Mitleid“, sagt Krasnow. 

    „Was ist das Schlimmste am Krieg?“ 

    „Die Toten.“ 

    „Auf unserer Seite?“ 

    „Ganz egal, auf welcher Seite. Auf unserer, auf der ukrainischen. Ich weiß, dass man jeden toten ukrainischen Soldaten feiern muss, aber ich kann mich nicht freuen. Ich könnte ihm nicht die Ohren abschneiden oder irgendwas in dieser Richtung, oder seinen Anblick genießen.“  

    „Warum muss man jeden toten ukrainischen Soldaten feiern?“ 

    „Weil er mich nicht mehr umbringen kann. In diesem Sinne. Ist doch klar, dass ich das gut finde.“ 

    Langeweile in der Kriegsbürokratie 

    In den ersten Monaten war Wadim nicht im Kampfeinsatz, sondern kümmerte sich in der dritten Verteidigungslinie im Hauptquartier um Papierkram. Er sagt, er habe sich den Krieg wie einen Blockbuster vorgestellt, aber in Wirklichkeit war es nur ein Hin- und Herschieben von Dokumenten. 

    Der bürokratische Aufwand ist enorm: Auszahlung von Militärgehältern, Transport von Lebensmitteln und Granaten zu den Stellungen. Und von den Stellungen kommen die Toten zurück. Sie werden von der Front in Säcken geliefert, manchmal direkt in die Einheit, wo sie identifiziert werden müssen. Aus den zerbombten Panzern werden die Leichen an Seilen herausgezogen. Mit geschwollenen, dunkelvioletten Beinen, die in grotesken Winkeln verdreht sind, die Uniformen zerfetzt. Die schwarzen Nasenlöcher, Ohren und Münder mit einer dicken Blutkruste verklebt. Manchmal gibt es nur noch Asche und Knochen, manchmal auch gar nichts: Ein Panzer brennt wie eine Fackel, und wenn die Munition explodiert, werden die Menschen aus dem Fahrzeug geschleudert und bleiben auf Stromleitungen oder Dächern der benachbarten Häuser hängen. 

    Zwei Monate nach unserem Gespräch schrieb mir Wadim, er habe einen Antrag auf Versetzung in eine Sturmkompanie gestellt. 

    „Warum willst du da hin?“ 

    „Ich will Action.“ 

    „Hast du keine Angst?“ 

    „Ein bisschen vielleicht. Aber ich langweile mich hier zu Tode.“ 

    „Und wenn du ohne Beine im Krankenhaus liegst, und der mobilisierte Ukrainer, mit dem du, wie du sagst, Mitleid hast, im Sarg? Macht das dann Spaß?“ 

    „Vielleicht bin ich frustriert oder so. Ich weiß nicht. Mein Leben war echt ziemlich langweilig. Ich will irgendwie nützlich sein. Von jemandem gebraucht werden.“ 

    Wadim ist jetzt seit Monaten verschwunden. Er antwortet nicht auf Nachrichten, auf Telegram war er „zuletzt vor langer Zeit online“. Drei Monate vor Erscheinen dieses Texts habe ich zum letzten Mal von ihm gehört: 

    „Haben sie deinen Antrag genehmigt?“ 

    „Ja, ich bin versetzt worden.“ 

    „Und, Schluss mit Langeweile?“ 

    „Das kannste laut sagen …“ 

    Von „No Putin, No War“ zur Söldnertruppe Wagner 

    „Wir leben einfach in einer anderen Welt als die Zivilbevölkerung. Vor allem die, die lange an der Front sind. Das verändert das Denken. Und manchmal verstehen wir euch nicht mehr richtig. Wir sind froh, wenn wir noch leben. Und wenn wir von einem Einsatz lebendig wiederkommen, wenn sogar niemand verletzt wurde – weder man selbst, noch ein Kamerad – dann ist das das Größte. Und ihr sitzt einfach rum und beschwert euch“, sagt der Antifaschist Sergej Sashin.  

    In seiner „Straßenkampfzeit“ war Sergej oft aktiv auf Neonazis losgegangen, hatte in einer Punk-Band gespielt. 2014 sprach er sich noch öffentlich für den Maidan und die ukrainische Antiterroroperation aus, demonstrierte mit „No Putin, no War“-Plakaten. „Ich habe Leute unterstützt, die für die Freiheit und für Veränderungen zum Besseren waren. Die Fortschritt wollten. Ist doch super, oder? Nur, was bringt’s im Endeffekt? Das ging vom Regen in die Traufe. Nur, dass die Traufe noch schlimmer war“, sagt Sashin. „Warum haben die Donezker überhaupt rebelliert? Na, fahrt doch mal hin und seht euch an, was sich da seit dem Ende der Sowjetunion getan hat. Gar nichts nämlich! Ich bin vor 2014 in Kyjiw gewesen – da war alles superschick renoviert. Die anderen Städte auch: Tipptopp saniert! Nur Donezk, Luhansk, der ganze Osten, der das Land ja ernährt hat, der hat die Riesenarschkarte gezogen.“  

    Anstelle einer Armee erwartete sie ein Trüppchen Kosaken und Offiziere, die tagsüber soffen und sich abends prügelten. 

    2015 ist Sergej als Freiwilliger in den Donbas gefahren. Er war in eine „krasse Gang“ diverser Antifas geraten, die an die Front wollten, und ist einfach mitgezogen. Gefechte erlebte er aber keine: Anstelle einer Armee erwartete sie ein Trüppchen Kosaken und Offiziere, erzählt Sashin, die tagsüber zusammen soffen und sich abends prügelten. Sashin blieb zwei Wochen. Anfangs wartete er noch darauf, dass Waffen verteilt würden, dann reichte es ihm. Er packte seine Sachen und fuhr nach Hause.  

    2022 zog er wieder in den Krieg: Zuerst schloss er einen Vertrag mit der Gruppe Wagner, dann mit einer anderen Söldnertruppe, deren Namen er nicht nennen will. Auf die Frage, ob er Menschen getötet habe, antwortet Sergej: „Wahrscheinlich schon.“ 

    Im August 2022 kämpfte Sergej bei Saizewe, 20 Kilometer südöstlich von Bachmut. Die Russen bereiteten ihren Vormarsch vor, es gab schwere Grabenkämpfe, die Wagner-Truppe stürmte Positionen der ukrainischen Streitkräfte. Am 22. September wurde Sergej bei einem solchen Sturm schwer verwundet, musste lange behandelt werden, zog dann aber wieder an die Front.

    „Ich war eigentlich immer gegen Krieg gewesen, aber wenn er, wie man so sagt, nun schon mal da ist – sorry, da gibt es kein ‚Aaaa, ich will keinen Krieg!‘ mehr. Die Fahne schwenken, das ist für’n Arsch. Das machen nur Debile.“  

    „Aber wenn Krieg ist, heißt das doch nicht, dass man unbedingt daran teilnehmen muss?“ 

    „Wie soll man ihn sonst beenden?“ 

    „Darüber könnten wir uns stundenlang unterhalten. Wie hast du dich für die russische Seite entschieden? Du hast sicher keine Münze geworfen?“ 

    „Sorry, aber ich bin in Russland geboren, das ist mein Land … Das war sozusagen nicht meine Entscheidung.“  

    Der Gute, der Böse und der Nazbol 

    Sergej ist Anarcho-Nationalist. Er ist gegen den Staat, aber für die Nation. Mitte der 2010er Jahre war er bei der nationalistischen Bewegung Narodnaja wolja (dt. Volkswille). Dort herrschte die Auffassung, dass zur Nation nur die Arbeiterschaft, die Werktätigen gehören. Die Parasiten an der Spitze, die sich auf deren Kosten bereichern, seien Volksverräter. Die Anarcho-Nationalisten unterstützten lokale Proteste, positionierten sich öffentlich gegen die Staatsmacht, wollten sie stürzen. Manche Antifas waren der Meinung, dass in ihrer Bewegung für solche Leute kein Platz sein sollte – sie seien zwar anarchistisch eingestellt, aber doch zu sehr rechts. 

    Die Antifa war allerdings nie eine politische Bewegung, sondern eher eine Plattform, auf der sich Leute ganz unterschiedlicher Anschauungen versammelten: Kommunisten, Sozialisten, Marxisten, Anarchisten und sogar Nationalisten. Alle waren auf die eine oder andere Weise gegen Kapitalismus, gegen autoritäre Herrschaft, gegen Ungleichheit und Diskriminierung. Für manche von ihnen war die Unterstützung für Russland im Krieg eine Frage der Ideologie.  

    „Für mich ist Nationalismus die Liebe zur Heimat, zum eigenen Land. Das ist gut und richtig. Ich lebe in diesem Land, ich liebe die Menschen hier. Alle meine Mitbürger. Ich wünsche mir für alle Wohlergehen. Gleichzeitig will ich aber auch nicht, dass es anderen schlecht geht. Ich finde nicht, dass Russen, Weiße oder wer auch immer besser sind als Mexikaner, Amerikaner oder sonst jemand – das wäre dann schon Nazismus, wenn du nämlich deine Nation über alle anderen stellst. Das ist bescheuert, totaler Blödsinn“, sagt ein anderer Antifa namens Oleg Kotow, der sich selbst als Nationalbolschewik bezeichnet. Kurz: Nazbol.

    Ich bin lieber ein Watnik als so ein doppelzüngiger Abschaum

    Deren Losung ist: „Russland ist alles! Der Rest ist nichts!“ Sie finden, dass alle Territorien mit russischsprachiger Bevölkerung an Russland angegliedert werden sollen. Oleg fährt öfter mit den Interbrigady 2022 in den Donbas, einem militanten Flügel der nationalbolschewistischen Partei Das andere Russland E. W. Limonows. Er sieht keinen Widerspruch darin, gleichzeitig Antifa und Nationalist zu sein. Er hat sich schon mit Bones geprügelt und für Tierschutz eingesetzt. Szeneinternes Geplänkel zum Thema „Wer ist die echte Antifa“ interessiert ihn nicht. Seit fast anderthalb Jahren bringt er humanitäre Hilfe in das Dorf Toschkowka in der Oblast Luhansk, das von der russischen Armee kontrolliert wird. „Ich bin lieber ein Watnik als so ein doppelzüngiger Abschaum“, meint Kotow. „Die Leute haben nichts zu essen, sie frieren in ihren zerstörten Häusern, weil sie keinen Strom, kein Gas und kein Wasser haben. Manchen muss man eben helfen, wo man kann, die müssen einem leidtun, auf die anderen können wir alle scheißen.“  

    In Toschkowka ist kein Stein auf dem anderen geblieben. Das Dorf wurde schon ab 2014 beschossen, und seit Juni 2022 hält es die russische Armee besetzt. Im Herbst brachte Oleg zum ersten Mal Kissen und Decken hin, Taschenlampen und Generatoren zur Stromerzeugung, damit die Menschen in ihren Häusern ohne Dach den Winter überleben konnten.  

    „Wir helfen auch den freiwilligen Kämpfern. Aber vor allem den Mobilisierten – ihr wisst ja, wie das bei uns läuft mit der Ausstattung der Mobiki. Die werden ohne Schutzwesten gleich in den Sturm geschickt, gehen dort allesamt drauf. Das sind doch meine Nachbarn, auch ein entfernter Verwandter von mir wurde eingezogen“, sagt Oleg. „Zu denen kannst du doch nicht sagen: ‚Pech gehabt, du bist kein Freund, keiner von uns, du bist nur ein Raschist, ein Faschist.‘ Nach Kasachstan flüchten wollte er nicht, das würde seiner Erziehung widersprechen. Ihm muss man doch helfen, ihn unterstützen, den kann man doch nicht im Stich lassen.“ 

    V wie ReVolution 

    „Wie sieht es bei uns überhaupt mit Nazis aus? Gibt es noch welche?“, frage ich Oleg. 

    „Natürlich gibt es noch welche. Rennen doch genügend Sieg-Heil-schreiende Kids voller Aufnäher rum, so als Straßen- und Subkultur.“ 

    „Aber finden Sie nicht, dass auch der Kreml einen Rechtsdrall hat? Wir haben ja den Sänger Shaman, der da singt: ‚Ich bin Russe, ich gebe nicht auf. Ich bin Russe, mit dem Blut meines Vaters‘ …“ 

    „Das ist widerlich. Mein Sohn kommt jetzt in die zweite Klasse, die hatten da auch schon diese ‚Gespräche über Wichtiges‘ und so, müssen irgendwelche Lieder lernen. Wie eine Parodie auf die Oktjabrjata, also so Brigaden, bei denen sie mitmachen sollen, aber das ist pure Idiotie. Die Pioniere waren stolz, Pioniere zu sein. Heute gibt es leider absolut keinen Grund, stolz zu sein.“  

    „Wie soll man damit umgehen?“ 

    „Keine Ahnung, ich bin ja kein Politiker. Hab noch nicht mal drüber nachgedacht. Zuerst muss der Krieg vorbei sein, erst danach kann man bei uns was Ordentliches aufbauen.“ 

    Ein Antifaschist mit dem Spitznamen „Communist Sam“ sagt: „Im Fall einer Niederlage wird es in Russland keine Revolution geben, findet euch damit ab! Wenn Russland verliert und schwächer wird, oder schlimmer – wenn es auseinanderfällt, dann entsteht auf unserem Gebiet, auf dem aktuellen Territorium des russischen Staates, ein ‚weißes Afrika‘. Im Vergleich zu dem, was dann passiert, werden uns die Neunziger wie ein Muster an Ordnung und Rechtsstaatlichkeit vorkommen. Ich will Russland rot sehen, weil Russland stark genug sein muss, um die Revolution zu erleben, sie zu verteidigen und ihr Bollwerk zu werden. Friede den Hütten, Krieg den Palästen! Ich diene der Sowjetunion.“ 

    Schützengräben sind der beste Ort für Gespräche über Politik, der Krieg ist ein unbestelltes Feld für revolutionäre Agitation.

    Sam ist der Meinung, momentan könne von einer Revolution keine Rede sein, weil die Arbeiter mit ihrer Situation zufrieden seien. Solange genug Brot da sei, würden sich die Massen nicht zum Aufstand erheben. Er sagt, die Schützengräben seien der beste Ort für Gespräche über Politik, und nennt den Krieg ein „unbestelltes Feld“ für revolutionäre Agitation: „Da bist du in einem Kollektiv, in dem du dich beweisen kannst. Und dann bedeutet deine Meinung auf einmal etwas für Leute, die gestern noch über nichts anderes als ihr täglich Brot nachgedacht haben. Dann ist es auch an der Zeit zu fragen, wozu und warum wir überhaupt da sind. Man darf sich für seine Kraft nicht schämen, man darf keine Angst haben, sie einzusetzen.“ 

    Fraglich bleibt, ob diejenigen, in die Sam den Keim der Revolution säen möchte, diese dann noch erleben werden. 

    Am Ende das Blut im Schützengraben 

    Denis Chromow ist nicht mehr erreichbar. Beim letzten Gespräch Mitte Februar 2024 sagte er, dieser Bericht sei „vielleicht das Letzte, was je über mich erscheinen wird“. Denn Chromow ist krank. 

    Er hat sich 2014 an der Front mit Tuberkulose angesteckt. Das erfuhr er vom Arzt in der Musterungsbehörde. Drei Jahre später zog er wieder in den Krieg. Er sagt, im Zivilleben konnte er nicht zu sich finden. „Es hat mich da hingezogen, und Punkt. Wahrscheinlich ist das wie eine Droge. Wenn du mit den Jungs zusammen im Schützengraben sitzt, wenn du unter Beschuss handeln musst, wenn alle mit demselben Löffel essen, keine Ahnung … Man hilft einander. Und zwar nicht aus irgendeinem Eigeninteresse, sondern aus reiner Kameradschaft. Hier draußen musst du dich ständig mit Arbeit und wegen der Kohle rumplagen, mit den sauren Visagen der Chefs, den ätzenden Kollegen. Na ja, hab ich gedacht, was soll ich machen? Ich musste wieder hin“, erzählte Denis. Er nahm Medikamente, die wirkten aber nicht: Das Röntgenbild war unverändert. Um wieder an die Front zu kommen, besorgte er sich ein fremdes, gesundes Bild.  

    Beim zweiten Einsatz kämpfte Denis acht Monate lang für die Donezker Volksrepublik. Dann kehrte er nach Hause zurück, weil es ihm nicht gefallen habe: „Da ist nichts mehr wie früher. Lauter hirnrissige Befehle, die Waffen waren der reinste Schrott, und dieses ‚das [die Waffen – dek] könnt ihr euch im Gefecht besorgen’, fickt euch. Die Stabsoffiziere tun nichts anderes als sich den Wanst vollzufressen und zu ficken, was ihnen über den Weg läuft. Du kommst fix und fertig zurück, hast zwei Tage nicht geschlafen, aber meinst du, dann ist Ruhe? Denkste, sie brummen dir irgendeine Kacke auf. Sagt mal, habt ihr sie noch alle?“, sagt Chromow. 

    Danach schlug sich Denis irgendwie durch: Er verlegte Stromleitungen und Parkettböden, bekam mit seiner Freundin einen Sohn. Er fühlte sich gesund, bis auf einen schleimigen Auswurf: Kaum hatte er den abgehustet, setzte sich der nächste Klumpen in der Kehle fest. Als er zum dritten Mal an die Front wollte, wusste er bereits, wo er ein manipuliertes Röntgenbild bekommen würde.  

    Seinen ersten offiziellen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium unterzeichnete Denis am 10. August 2023, doch er blieb nicht bis zum Schluss. Eines Tages wurde er „gestrichen“ und bei Luhansk direkt aus dem Schützengraben geholt. Davor hatte er einen Monat lang mit seinem Zug im Wald Gräben geschaufelt und auf Befehle von oben gewartet. Sein Tagesablauf sah so aus: Nachts im Schlafsack auf gefrorener Erde liegen, von früh bis spät mit der Schaufel hacken. „Wie ein verfickter Maulwurf“, schimpft Denis, „und für wen, wozu? Einfach, um die Soldaten zu schikanieren.“  

    Als er zum ersten Mal Blut auf dem Boden sah, dachte er, es käme von einem Zahn. Dann stieg das Fieber, er stützte sich schweißgebadet auf die Schaufel, konnte nicht mehr. Er sagte allen, er sei einfach völlig fertig. Kein Wort von der Tuberkulose. Mit jedem Tag wurde der Husten stärker, das Blut immer mehr. Ein Röntgenbild, das Denis im Krankenhaus in Rostow am Don machen ließ, zeigte riesige Entzündungsherde in der Lunge. Er wurde in seine Heimatstadt geschickt und musste Bedaquilin nehmen, ein Tuberkulosepräparat neuerer Art. Denis sagt, es sei das stärkste Medikament, das es gibt.  

     Wer soll denn noch auf die Straße gehen, wenn die Hälfte tot auf dem Schlachtfeld liegt?

    In den Krieg wird er nie wieder ziehen. Selbst wenn er wollte, würde er mit seiner Diagnose nicht genommen. Denis will aber auch gar nicht: „Ich hatte einfach eine Überdosis Zombieglotze und wollte dieses Abenteuer. Und dann war ich da ganz in diesen Zusammenhalt der Männer eingetaucht. Aber das war einmal, jetzt ist alles ganz anders.“  

    Am meisten ärgert sich Denis über den Staat. Und er findet, dass es für die Russen keinen Ausweg gibt. „Ich habe sehr viel darüber nachgedacht. Erinnerst du dich an den Bolotnaja-Platz? An die ‚Märsche der Millionen‘. Ich war selber dabei, als so wahnsinnig viele Leute in Moskau demonstriert haben. Und dann auf einmal der Maidan. Und im Fernsehen immer nur: Krieg! ‚Da seht ihr, was ihr habt von euren Umstürzen!‘ Und dann kamen heimlich, still und leise die Demonstrationsgesetze, wo es verboten ist, was verboten ist … Weil ihnen klar war, diesen Arschlöchern, dass das Volk sich echt zusammentut und sie so langsam die Kontrolle verlieren. Und dann haben sie alles so eingefädelt: Ihr habt es nicht anders gewollt – dann kämpft eben und geht drauf dabei. Diese dummen Wichser – die Freiwilligen und Vertragssoldaten –, die kapieren nicht, dass das nichts als ein verdammter Fleischwolf ist. Um solche wie uns loszuwerden, die bei den ‚Märschen der Millionen‘ mitmarschiert sind – damit wieder alles schön still ist. Wer soll denn noch auf die Straße gehen, wenn die Hälfte tot auf dem Schlachtfeld liegt? Ich bin enttäuscht, echt.“ 

    Zum Abschied bat uns Denis, seinen Namen nicht zu nennen, weil er für das, was er im Interview gesagt hat, eingebuchtet und als „Vaterlandsverräter“ gelten würde: „Sorgt bitte dafür, dass ich wenigstens zum Schluss noch meine Ruhe habe.“  

    Seitdem herrscht Funkstille. 

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  • „Die Belarussen müssen verstehen, dass unsere Zukunft von uns selbst abhängt”

    „Die Belarussen müssen verstehen, dass unsere Zukunft von uns selbst abhängt”

     

    Belarussische Freiwillige kämpfen schon seit 2014 auf Seiten der Ukraine, mittlerweile sind es so viele, dass sie ihre eigene Einheit unter der ukrainischen Armeeführung haben: das Kastus Kalinouski-Regiment

    Was bringt Belarussen dazu, sich diesem Kampf im Nachbarland anzuschließen und ihr Leben aufs Spiel zu setzen? Welche Konsequenzen hat dies für sie selbst, aber auch für ihre Familien in Belarus? Die ukrainische Journalistin Anhelyna Straschkulytsch hat einen freiwilligen Soldaten getroffen: Pawel Schurmei ist ein ehemaliger belarussischer Ruderer, der 2004 und 2008 für sein Land an den Olympischen Spielen teilnahm. Dem Online-Medium Ukraijanska Prawda hat Schurmei, der mittlerweile Kommandant des Kalinouski-Regiments ist, in Charkiw seine Geschichte erzählt.  

    Meine Mutter ist im August 2022 gestorben. Leider konnte ich mich nicht verabschieden 

    Die Frage, ob ich für die Ukraine in den Kampf ziehe oder nicht, stellte sich für mich im Februar 2022 gar nicht. Ich habe mich von klein auf für Geschichte interessiert. Die meisten Bücher, die ich darüber las, behandelten die Geschichte der UdSSR. Zum Großfürstentum Litauen, das Gebiet des heutigen Belarus, gab es nur ganz wenig im Sinne von: „Unterjocht von den polnischen und litauischen Feudalherren strebte das belarussische Volk einen Bund mit dem brüderlichen Russland an“.

    Mit der Zeit bekam ich mehr Wissen und ich begriff, dass alles, was ich früher gelesen hatte, eine Lüge war. Die sowjetische Macht hatte versucht, die belarussische Geschichte zu vernichten. Wir sollten nur von unserem „großen Bruder“ wissen, der alles für uns entschied: unser Schicksal, unser Leben, unseren Weg. 

    Bereits zu Beginn der russischen Aggression im Jahr 2014 überlegte ich, mich der ukrainischen Armee anzuschließen, tat es aber nicht, weil ich mir um meine Mutter in Belarus Sorgen machte. Das war ja eine Einbahnstraße. Die belarussischen Freiwilligen, die sich der Verteidigung der Ukraine anschlossen, konnten nicht mehr nach Hause zurückkehren. 2022 konnte ich nicht mehr anders, als für die Ukraine in den Krieg zu ziehen. Und nicht etwa wegen meiner ukrainischen Frau und die Familie – diese Horde muss einfach in die Schranken gewiesen werden. Die Russen waren schon in der Ukraine. Sind einfach einmarschiert, als wären sie da zu Hause. Haben Türen eingetreten, Menschen in die Knie gezwungen, ihnen Waffen an die Köpfe gehalten, Frauen, Mütter, Kinder vergewaltigt und umgebracht. Man hätte diese Wilden schon viel früher aufhalten müssen. 

    Ich war seit dem 24. Februar 2022 nicht mehr in Belarus. Meine Mutter ist im August 2022 gestorben. Leider konnte ich mich nicht von ihr verabschieden. Ein paar Tage nach Beginn des großangelegten Kriegs bin ich aus den USA nach Polen geflogen und am 1. März in Warschau gelandet. Im dortigen belarussischen Zentrum versammelten sich Freiwillige. Belarussen im Warschauer Exil halfen mir, Ausrüstung und Medikamente zu besorgen. Polnische Sportruderer organisierten einen Kleinbus für mich, mit dem wir in die Ukraine fuhren. Bereits am Abend des 8. März kamen wir in Kyjiw an. 

    Wer seine Muttersprache nicht lernen will, lernt die Sprache der Unterdrücker 

    Am nächsten Tag verkündeten die belarussischen Freiwilligen die Gründung des Kastus-Kalinouski-Bataillons. Der Kommandant Jorik forderte alle auf, sich einen Kampfnamen auszusuchen. Hätte ich nicht Dzjadzka (dt. Onkel) genommen, hätte ich Babaj (dt. Waldgeist) geheißen. Aber das ist mir erst später eingefallen. Heiße ich also „Onkel“. Wenigstens nicht Tante. (lacht) Ich bin in einer großen Familie aufgewachsen und hatte viele Onkel. Sie waren kaum älter als ich, aber ich nannte sie trotzdem Onkel. Daraufhin begannen sie auch, mich Onkel zu nennen. So ist dieser Spitzname entstanden. 

    Zu Beginn waren die belarussischen Freiwilligen zusammen mit einer Einheit der Territorialverteidigung von Asow in Kyjiw stationiert. Man wollte uns nicht sofort als Kanonenfutter in den Kampf schicken, sondern ließ uns zuerst ein mehrwöchiges Anfänger-Training absolvieren. Nur wenige von uns hatten militärische Erfahrung, aber wir gaben uns Mühe, alles so schnell wie möglich zu lernen. Ich habe gute physische Voraussetzungen dafür, mit einer schweren Waffe zu laufen. So wurde ich MG-Schütze. Ich bekam ein leichtes Maschinengewehr und wurde zu meinem ersten Einsatz nach Irpin geschickt – das war zwischen 20. und 30. März. 

    Wir verbrachten dort sechs Tage. In der Region Kyjiw erlebte ich etwas, das ich nie vergessen werde. Zusammen mit einem ukrainischen Soldaten sollte ich ein Gebäude bewachen, aber nach einer halben Stunde starb er vor meinen Augen. Er wurde in der Leistengegend verletzt und verblutete innerhalb weniger Minuten. 

    Ende März kehrten wir aus Irpin zurück. Am nächsten Morgen unterschrieben wir unsere Verträge für den Dienst in den Streitkräften der Ukraine. In unserer Einheit bemühen wir uns, belarussisch zu sprechen. Wer seine Muttersprache nicht lernen will, lernt die Sprache der Unterdrücker. Dass ein Teil der belarussischen Bevölkerung die Landessprache nicht spricht, ist die Folge der systematisch auf die Vernichtung der Identität abzielenden russischen Politik. Russland versucht, alles Nationale auszurotten, damit seine Panzer problemlos durch unser Land rollen können. 

    Pawel Shurmei, Kommandant des Kalinouski-Regiments / Foto © privat
    Pawel Shurmei, Kommandant des Kalinouski-Regiments / Foto © privat

    Lukaschenko ist ein Leibeigener Putins. Putins Regime hat Belarus okkupiert, und Lukaschenko hat seine Heimat verkauft, um an der Macht zu bleiben. Solange Lukaschenko an der Macht ist, wird die Ukraine in Gefahr sein. Denn am 24. Februar 2022 fuhren von Belarus aus Militärkolonnen in die Ukraine ein. Raketen wurden von belarussischem Boden aus abgefeuert. Am Anfang schrie Lukaschenko: „Kyjiw in drei Tagen“. Ich glaube, er hätte sich dem Krieg angeschlossen, wenn Putin schnell Erfolg gehabt hätte. Und er wäre zur Parade der Russen in Kyjiw gekommen. Aber als er sah, dass Russland vorerst scheiterte, mischte er sich lieber nicht ein und wartete ab, wohin das Ganze führen würde. Er versucht, auf mehreren Hochzeiten gleichzeitig zu tanzen, aber das kann sich jeden Moment ändern. Zudem kann Russland ihn jederzeit gegen einen angenehmeren Leibeigenen austauschen. Lukaschenko ist ein Monster, das sich alle Optionen offenhalten will, um so lange wie möglich an der Macht zu bleiben. Und solange er an der Macht ist, ist die Ukraine nicht vor Panzern und Raketen aus dem Norden sicher. Das Training russischer Soldaten und die Stationierung russischer Atomwaffen auf belarussischem Gebiet sind zumindest dazu da, den Ukrainern, Europäern und der NATO Angst einzujagen. Und im schlimmsten Fall dazu, die Ukraine oder Litauen von belarussischem Gebiet aus mit taktischen Kernwaffen anzugreifen. 

    Wenn wir gefragt werden: „Wollt ihr Kalinouski-Kämpfer den Krieg etwa nach Belarus bringen?“, verneinen wir das natürlich. In der Ukraine sehen wir, was Krieg bedeutet, im Gegensatz zu Lukaschenko und seinen Generälen, die der Meinung sind, die alles nur für ein Spiel halten. Indem sie sich in Putins Leibeigenschaft begeben haben, haben sie Belarus in eine Lage gebracht, in der das Volk erleben kann, was Krieg bedeutet. 

    In Wahrheit war Lukaschenkos Position 2020 mehr als wackelig 

    Wenn die Belarussen denken, es hänge nicht von ihnen ab, riskieren sie, den Krieg am eigenen Leib zu erfahren. Nach der Präsidentschaftswahl in Belarus 2020 war das Volk irrtümlich der Meinung, die Situation im Land mit friedlichen Protesten ändern zu können. Die Menschen hofften, Lukaschenko und der ganzen Welt zeigen zu können, dass er keine Mehrheit hinter sich hat. Aber die Leute müssen kapieren, dass nichts im Leben gratis ist. Sie müssen endlich den entscheidenden Schritt tun. Der kann sie die Freiheit kosten, die Gesundheit, das Leben, aber ohne diesen Schritt wird nichts passieren. Die Ukraine ist an diesem Punkt angelangt. Ich weiß nicht, ob die Belarussen schon verstanden haben, dass in Belarus ohne Blutvergießen leider keinen Machtwechsel geben kann. 

    In Wahrheit war Lukaschenkos Position 2020 mehr als wackelig. Eine Woche nach den Wahlen stattete er einer belarussischen Fabrik einen Besuch ab. Die Arbeiter schrien ihm entgegen: „Hau ab! Du kannst uns mal!“ Lukaschenko reagierte schockiert: „Wie kann das sein? Wie könnt ihr so was sagen?“ Manche denken, dass Russland damals bereit war, seine Truppen nach Belarus zu schicken, um die Proteste niederzuschlagen. Aber dann wäre diese Geschichte ganz anders verlaufen. Die Belarussen müssen verstehen, wenn sie nach dem Prinzip leben: „Das hängt nicht von mir ab, das geht mich nichts an, das ist nicht meine Entscheidung“, dann werden die Entscheidungen tatsächlich von anderen getroffen. 

    In unserer Einheit sind viele Freiwillige, denen das Jahr 2020 im Bezug auf die Situation in Belarus und den russischen Einfluss auf Belarus die Augen geöffnet hat. Damals wanderten viele von ihnen in die Ukraine aus und schlossen sich später den Ukrainischen Streitkräften an. In meinem Leben gab es noch einen bezeichnenden Moment. Ich hatte in Belarus einen Freundeskreis, in dem ich einer der Jüngsten war. Viele meiner Freunde hatten in der Sowjetarmee gedient. Sie waren mit Lukaschenko immer unzufrieden, fanden aber Putin ganz in Ordnung. Nach 2014 fingen unsere Treffen oft friedlich an, es kam aber dann fast zu Schlägereien. Auch wenn sie es nicht ganz ernst meinten, nannten sie mich „Ukro-Yankee-Schwein“ und „Bandera-Jude“. Aber nach 2020 verstanden fast alle – acht bis neun von zehn Leuten – dass Putin noch schlimmer als Lukaschenko ist. Sie haben es am eigenen Leib erfahren. 

    Wissen Sie, wenn man überlegt, wieso man für den Nachbarn kämpfen soll, muss man sich bewusst machen, dass man selbst als Nächster dran ist. Es gibt eine Redewendung: „Jedes Volk hat den Führer, den es verdient“. Das trifft leider auch auf Belarus zu. Belarus ließ sich 1994, als nach dem Zerfall der Sowjetunion alle Stabilität, medizinische Versorgung und anständige Löhne forderten, von einem Kolchosendirektor die Ohren vollschwafeln: „Ich hole alles zurück. Ihr werdet alles haben.“ Tja, seit mehr als 30 Jahren „haben wir alles“ … 

    In Belarus herrscht derzeit ein rechtsstaatlicher Bankrott 

    Die Familien der belarussischen Freiwilligen, die für die Ukraine kämpfen, sind in Gefahr. Sobald der belarussische Geheimdienst von so etwas erfährt, fängt es an mit Hausdurchsuchungen, die Familien werden verhört und strafrechtlich verfolgt, es werden Anklagen erhoben, Eigentum wird konfisziert, sie werden gezwungen sich vor der Kamera von ihren Familienmitgliedern loszusagen – und diese Videos werden im Fernsehen gezeigt. Sogar die Eltern oder die 70-, 80-jährigen Großeltern unserer Jungs und Mädels werden zu Verhören geladen. 

    Die Repressionen in Belarus sind brutal. Die Freiwilligen können Anrufe vom Handy des Vaters oder der Mutter bekommen, und dann zeigt man ihnen, wie diese gefoltert werden – wie man ihnen die Fersen verbrennt oder sie schlägt. Sie können mit den Menschen absolut alles machen, können sie sogar totschlagen, ohne dass ihnen etwas passiert. In Belarus herrscht derzeit ein rechtsstaatlicher Bankrott. Unabhängigen Rechtsanwälten wurde die Lizenz entzogen. Man kann sich keinen rechtlichen Beistand mehr holen. In Belarus ist es immer sehr brutal zugegangen, aber seit 2020 haben sich die Repressionen noch weiter verschärft. 

    Die belarussischen Freiwilligen stehen unter besonderer Beobachtung der Geheimdienste. Denn oppositionelle bewaffnete Verbände sind für Lukaschenko die Gefahr Nummer 1. Die belarussische Führung hat große Angst vor dem Kastus Kalinouski-Regiment. Deshalb haben Lukaschenkos Agenten es besonders im Visier. Im März 2023 wurde ich in Belarus angeklagt – „wegen Extremismus und der Teilnahme an den Kampfhandlungen auf der Seite der Ukraine“. Und Anfang Juni 2024 in Russland. Wie ich davon erfahren habe? Im März letzten Jahres bekam ich plötzlich Anrufe von meinen Bekannten, die mir gratulierten und sagten, ich sei nun ein Belarusse mit Gütesiegel. Bei uns gibt es einen Witz: Wenn du in Belarus vor Gericht kommst, hast du alles richtig gemacht.  

    Später begannen mir Journalisten zu schreiben und baten mich zu kommentieren, baten mich um Stellungnahmen und fragten, wie es mir gehe. Wie soll es mir schon gehen? Wir sitzen hier beisammen, unterhalten uns, und jeden Moment kann eine Rakete einschlagen. Was soll eine Anklage in Belarus oder Russland schon ändern? Manchmal scherze ich, dass ich gerade nicht persönlich nach Russland fliegen kann, deshalb schicke ich stattdessen eine Drohne. 

    Die Belarussen müssen verstehen, dass unsere Zukunft von uns selbst abhängt. Es hat keinen Sinn, darauf zu warten, bis die Ukraine, Europa oder Amerika unser Schicksal entscheiden. Wir sind selbst die Herren unserer Zukunft. Geholfen wird nur denen, die kämpfen. 

    Weitere Themen

    FAQ #5: Welche Rolle spielt eigentlich Belarus im Ukraine-Krieg?

    Spiel mit der Atomangst

    „Hier sterben Menschen, und ich soll zu Hause sitzen?”

    Die unglaubliche Revolution

    „Vielen Dank ist nicht genug, um ein neues Leben zu beginnen“

    „Wie kann es sein, dass man die Sprache seiner Heimat nicht beherrscht?“

    „Die Repressionen lassen nicht nach“

    Greift Lukaschenko in den Krieg ein?

    Vom Maidan bis zur Angliederung – eine Chronik

  • „Unser liebster, wundervoller Don Quichote“

    „Unser liebster, wundervoller Don Quichote“

    Am 27. Juli verstarb in einem Untersuchungsgefängnis in Birobidschan der 39-jährige russische Pianist, Schriftsteller und Antikriegs-Aktivist Pawel Kuschnir, offizielle Todesursache: Folgen eines fünftägigen trockenen Hungerstreiks. Verhaftet wurde Kuschnir wegen seines YouTube-Kanals mit vier Videos und fünf Abonnenten. Der Vorwurf lautete „öffentliche Anstiftung zu Terrorismus“.


    In den Medien tauchte der Name Kuschnir erst nach seinem Tod auf. Bis dahin waren seine Geschichte und die Umstände der Verhaftung der breiten Öffentlichkeit unbekannt gewesen.   


    Katya Kobenok hat mit Angehörigen von Pawel Kuschnir und Menschenrechtsaktivisten gesprochen. Auf Takie Dela erzählt sie, was für ein Mensch er war und warum es niemandem gelungen ist, seinen Tod zu verhindern.
     

    Pawel wurde Ende Mai 2024 verhaftet. Ein Post in einem inoffiziellen Telegram-Kanal der Silowiki dazu lautete: „‚Gerechtigkeitskämpfer‘ hat sich um Kopf und Kragen geredet.“ 

    „Experten zufolge hat der Angeklagte genug für ein Strafverfahren wegen Anstiftung zu Terrorismus von sich gegeben. Der Paragraf sieht bis zu sieben Jahre Haft vor“, hieß es in dem Post weiterhin. Kuschnir habe „regelmäßig Material veröffentlicht, in dem er zum gewaltsamen Sturz der Verfassungsordnung der Russischen Föderation durch Revolution aufrief.“ 

    In Wirklichkeit hatte Pawel einen YouTube-Kanal mit vier Videos, in denen er das herrschende Regime in Russland kritisierte. Zum Zeitpunkt der Verhaftung hatte der Kanal fünf Abonnenten. 

    Pawel Kuschnir ist in Tambow geboren und aufgewachsen, studierte an der Rachmaninow-Musikhochschule in Tambow und am Tschaikowski-Konservatorium in Moskau. Nach seinem Abschluss war Kuschnir sieben Jahre lang Pianist an der Philharmonie in Kursk und drei Jahre an der Philharmonie in Kurgan. 2014 verfasste er einen dystopischen Roman mit dem Titel Russkaja Nareska (Russischer Aufschnitt). Seit 2022 war Kuschnir Pianist an der Philharmonie in Birobidschan

    Seine berühmteste Aufnahme ist ein Zyklus aus Rachmaninows 24 Präludien, den der Musikwissenschaftler Michail Kasinik mit den folgenden Worten lobte: „Kuschnirs Interpretation der 24 Präludien – was so schon mal niemand macht, weil diese Präludien aus verschiedenen Zeiten und Werken stammen – ist kristallklar. Der Zyklus zeichnet die Entwicklung von Rachmaninows Ideen nach, die Kuschnir von allen Überlagerungen und Volkstümlichkeiten befreit hat.“ 

     
    Kuschnirs Aufnahme des Zyklus aus Rachmaninows 24 Präludien, Tambow, 2010

    Olga Schkrygunowa, Pianistin, enge Freundin 

    „Pascha Kuschnir ist tot. Unser liebster, wundervoller Don Quichote, ein Kämpfer bis zum letzten Atemzug. Ich will daran glauben, dass der Tod nur den Besten vorbehalten ist“, schrieb Olga auf Facebook

    „Von klein auf war er für sein unglaubliches musikalisches Gehör bekannt. Für mich war er immer ein Genie, sowohl als Mensch als auch als Musiker. Ein genialer Idealist, der keine Kompromisse kannte. Ein Kämpfer für die Liebe, die Kunst und die Freiheit“, berichtet sie. 

    2022, noch vor seinem Umzug nach Birobidschan, habe Pawel überall in der Stadt Flyer mit Friedensaufrufen aufgehängt. Er sei schon vor seiner Verhaftung mehrmals in den Hungerstreik getreten, in der Hoffnung, dass sich auch andere dieser friedlichen Form des Protests anschließen würden. Sein längster Streik habe 100 Tage gedauert, sei jedoch von der breiten Masse unbemerkt geblieben. 

    Anton Wesselowski, Journalist aus Tambow, Freund 

    „Zuerst dachte ich, sie hätten ihn in der U-Haft ermordet. Dann hörte ich die offizielle Version mit dem Hungerstreik. Ich halte das durchaus für möglich: Pascha hatte einen starken Willen und feste Prinzipien. 

    Am 9. Mai 2023, noch vor seiner Verhaftung, hatte Pawel auf Facebook angekündigt, in den Hungerstreik zu treten. Er forderte das Ende des Kriegs, die Abschaffung des Regimes und Freiheit für alle politischen Gefangenen. Seine Freunde in Tambow versuchten, ihn davon abzuhalten, andere hofften das Beste und dachten, er würde die Idee von alleine aufgeben. 

    Nach seiner Verhaftung im Mai 2024 griff er dann zu radikalen Mitteln: Zunächst hat er Nahrung verweigert, dann auch Wasser. Jetzt fragen viele, warum niemand davon gewusst hat. Unsere heutige Realität war für Pascha unerträglich, er wollte auf diese Weise ein Ultimatum setzen. Es gibt Dutzende Menschen, die sich gegen den Krieg aussprechen, aber so radikal war in letzter Zeit niemand. Pascha hat immer vom Kampf gegen das Böse in der Welt und den Faschismus in sich selbst gesprochen. 

    Er war ein stiller Mensch, aber seine Taten waren laut. Er konnte zwei Monate lang verschwinden, um sich auf ein Konzert vorzubereiten, und dann ein ewig langes Stück aus dem Kopf spielen. 

    Paschas Statements hatten immer Strahlkraft und konnten jemanden verändern oder bekehren. Mir war immer bewusst, wie wertvoll der Kontakt mit Pascha ist, ich habe ihn oft zu diversen Veranstaltungen eingeladen. Seine Aktionen haben immer polarisiert, aber sie waren immer konzeptuell begründet, selbst wenn es sich um spontane Performances handelte. 2010 haben seine Freundin und er zum Beispiel einen Flashmob gegen die Hitze veranstaltet, bei dem sie bei 40 Grad in Winterklamotten durch die Stadt gezogen sind. 

    Im selben Jahr hat Pascha seine Gedichte bei einer Literaturveranstaltung auf Na’vi gelesen, der Sprache im Film Avatar, die er sich beigebracht hatte. Hin und wieder verschwand er in der Versenkung, um zu schreiben und zu üben. Warum er immer wieder umgezogen ist, weiß ich nicht genau. Er interessierte sich für neue Orte, ist viel gereist. 

    Seine Freunde traf er, wenn er nicht gerade arbeitete oder mit Auftritten durchs Land tourte. Seit Ende der 2010er Jahre hat sich Pascha kaum noch in seiner Heimatstadt blicken lassen. Zum letzten Mal habe ich ihn 2018 gesehen.“ 

     

    Beethoven, Konzert für Klavier und Orchester Nr. 5 Es-Dur op. 73; Mendelssohn Sinfonie Nr. 3 in a-Moll op. 56

    Marina Shemtschugowa, ehemalige Studentin, Konzertbesucherin 

    „Ich habe zusammen mit anderen Studierenden und Pädagogen häufig Pawels Konzerte besucht. Das war vor acht, neun Jahren. Damals war er Pianist an der Kursker Philharmonie und gab regelmäßig Solokonzerte oder beteiligte sich an anderen musikalischen Projekten.  

    Manchmal kamen Freunde von mir mit, denen die Welt der akademischen Musik ansonsten fremd ist. Heute weiß ich, was für ein Privileg und Geschenk es für uns alle war, Pawel spielen zu hören.  

    Ich kann mich erinnern, wie wir nach den Vorlesungen zur Musikgeschichte zum Konservatorium eilten, um Pawels Interpretationen von Chopin, Schubert, Purcell, Scarlatti und Bach zu lauschen.  

    Pawel war eine besondere, einprägsame Erscheinung: hager, ein wenig gebückt, in sich gekehrt.  

    Er spielte gerne Barock und Romantik, war ein couragierter und feinfühliger Musiker, der jedes Stück durch sich hindurchließ. Er suchte immer seinen persönlichen Zugang, auch zu berühmten Werken. Zum Beispiel unterschied sich seine Interpretation von Chopins 24 Präludien von der Tradition: Er wählte mal ein langsameres, mal ein schnelleres Tempo, fügte Pausen ein und veränderte somit die Wirkung.“ 

    Irina Michailowna, Mutter  

    „Pascha ist in einer Musikerfamilie geboren: Ich bin Musikwissenschaftlerin, Paschas Vater, mein Mann, hat an einer Musikschule Kinder unterrichtet. Er ist 2020 gestorben. Pawels Großvater väterlicherseits war Gesangslehrer und Intendant des Volksbildungshauses der Oblast Tambow, wo er einen Kriegsveteranenchor leitete.  

    Pascha wuchs in der Welt der Musik auf und ging früh darin auf. Die Liebe zur Musik hat er mit der Muttermilch aufgesogen, könnte man sagen.  

    Am liebsten mochte er die Komponisten der Romantik, vor allem Schumann. Pascha spielte gerne seine Fantasie in C-Dur, die Sinfonischen Etüden und die Kinderszenen. Auch Chopin schätzte er sehr, und von den russischen Komponisten – Rachmaninow. Pascha gab manchmal Konzerte mit allen seinen 24 Präludien. Und wie er spielte! Sehr expressiv, er hatte ein tiefes Verständnis für die Musik. 

    Ich bin jetzt 79, am 5. Dezember werde ich 80. Paschas Tod ist ein schwerer Schlag für mich, ich weiß nicht, ob ich meinen 80. Geburtstag noch erleben werde.“ 

    „Extremer Protest“ 

    Vor Gericht habe Pawel Kuschnir keine Verteidigung und keinen Rechtsbeistand gehabt, erzählt die Menschenrechtsaktivistin Olga Romanowa. Im Nachhinein hätten die Menschenrechtler erfahren, dass Pawel ein Anwalt an die Seite gestellt worden war, der sich „überhaupt nicht um seinen Mandanten gekümmert“ habe. 

    „Er starb zu einem Zeitpunkt, als andere politische Häftlinge befreit wurden. Sein Fall ist nicht der erste und wird leider auch nicht der letzte sein“, beklagt sie.     

    Bei Weitem nicht alle könnten sich einen Anwalt leisten, erklärt die Juristin Olga Sadowskaja von Komanda protiw pytok (Team gegen Folter): Die Menschenrechtler hätten erst von Pawels Tod erfahren und nicht schon von seinem Hungerstreik, als sie ihm noch hätten helfen können.  

    Ihr zufolge hätten die Menschenrechtsaktivisten heute keinerlei Zugang zum System des Strafvollzugs (FSIN). Niemand bekomme Zutritt zu einer Untersuchungshaftanstalt, einer Strafkolonie oder einem Gefängnis. Diese Umstände hätten dazu geführt, dass die Informationen über Pawel zu spät nach außen gelangt seien: erst, als er bereits tot war.  

    „Wir hätten es wissen müssen. Der Staat hätte uns unterrichten und Zugang zu ihm verschaffen müssen“, betont Sadowskaja. 

    Sie ist überzeugt, dass Kuschnirs Tod im direkten Zusammenhang damit steht, dass Menschenrechtlern der Zugang zu den Haftanstalten verwehrt werde. Früher hätten sich die Häftlinge an die Obschtschestwennaja nabljudatelnaja komissija (Gesellschaftliche Beobachterkommission) wenden können, deren Kontakte in den Gefängnissen und Straflagern an den Wänden gehangen hätten. Heute gebe es das alles nicht mehr, sagt sie.     

    „Die ONK hat früher regelmäßig Strafkolonien und Untersuchungsgefängnisse besucht, und wenn das immer noch so wäre, hätten wir früher von Pawel erfahren und dieses Problem angehen können: Wir hätten ihn überreden können, den Hungerstreik zu beenden, hätten durchsetzen können, dass er in ein richtiges Krankenhaus kommt, hätten die Medien eingeschaltet“, erklärt Sadowskaja. 

    Der frühere Zugang zu den Informationen hätte ihm das Leben retten können, ist sie sich sicher.  

    „Keiner der Menschenrechtsaktivisten hat von ihm gewusst – das lässt sich in der Datenbank von OWD-Info überprüfen, die eine der größten ist. Von diesem Hungerstreik wusste niemand außer den Mitarbeitern des Untersuchungsgefängnisses.“ 

    Ein trockener Hungerstreik sei eine extreme, kurzzeitige Form des Protests, bei der nicht nur die Nahrung, sondern auch Wasser verweigert werde, erklärt Sadowskaja. Normalerweise sterbe man in acht bis zehn Tagen an Dehydrierung, wenn nicht schon früher an Organversagen. „Das ist ein qualvoller Tod, begleitet von geistiger Verwirrung, Wahnstörungen und Halluzinationen“, fügt sie hinzu.     

    Nach internationalen Standards gelte eine Zwangsernährung bei Hungerstreik aus Protest nicht als Folter, wenn sie zum Ziel habe, das Leben der betreffenden Person zu retten.  

    „Mir ist nicht bekannt, ob Pawels Hungerstreik eine Form des Protests war oder er wirklich sein Leben beenden wollte. Wenn es eine Protestaktion war, dann hatte die Gefängnisverwaltung ab dem Zeitpunkt, wo sein Leben in Gefahr war, die Pflicht, lebensrettende Maßnahmen zu ergreifen“, erklärt Sadowskaja.  

    Auch bei anderen politischen Gefangenen bestehe eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass niemand die Gefängnisleitung über einen eventuellen Hungerstreik informieren würde. „Niemand hat ihren Zustand im Blick. Ich hoffe, dass Pawels Geschichte für andere Häftlinge Signalwirkung hat und sie davon abhält, ihn nachzuahmen. Das ist nicht nur lebensgefährlich, sondern bedeutet den sicheren Tod“, betont sie.      

    Davon, dass an Kuschnirs Tod das Personal der Haftanstalt mindestens erhebliche Mitschuld trägt, ist auch die Menschenrechtsaktivistin und Vorsitzende des Komitees Grashdanskoje sodejstwije (Zivile Zusammenarbeit) Swetlana Gannuschkina überzeugt. Für sie bedeutet Kuschnirs Tod auch den Verlust eines Mitstreiters. „Ich habe ihn nicht gekannt und zum ersten Mal von ihm gehört, als er nicht mehr lebte. Das weist darauf hin, dass Menschenrechtsverteidiger bei Weitem nicht von allen wissen, die sich gegen den Krieg aussprechen, sich für Menschenrechte einsetzen und deshalb in Russland strafrechtlich verfolgt werden. Das soll uns allen eine Lehre sein. Wir müssen lernen, nicht nur berühmten, prominenten Persönlichkeiten unsere ständige Aufmerksamkeit zu schenken“, bilanziert Gannuschkina. 

    Weitere Themen

    Das russische Strafvollzugssystem

    FAQ #8: Warum regt sich in Russland so wenig Protest?

    Protest und Widerstand gegen den Krieg

    „Natürlich habe ich Angst, vor allem um meine Kinder“

    „Wir stehen das gemeinsam durch“

  • „Wir stehen das gemeinsam durch“

    „Wir stehen das gemeinsam durch“

    Beim größten Gefangenenaustausch seit dem Kalten Krieg kamen Ende Juli 2024 insgesamt 16 Personen aus russischer Haft frei (einer davon – der Deutsche Rico Krieger – saß in Belarus im Gefängnis). Die Angaben darüber, wie viele politische Gefangene noch in Zellen und Straflagern festgehalten werden, gehen auseinander: Die belarussische Menschenrechtsorganisation Wjasna zählt gegenwärtig fast 1400 politische Gefangene in Belarus. Das Zentrum zum Schutz der Menschenrechte von Memorial zählt nur Fälle, die von den eigenen Experten untersucht und nach den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention bewertet wurden. Demnach sind gegenwärtig mehr als 340 Menschen in Russland aus politischen Gründen in Haft und mehr als 430 Personen wegen ihrer religiösen Überzeugung,  

    Die Organisation OWD-Info, die eng mit Memorial zusammenarbeitet, dokumentiert Festnahmen und Strafverfahren mit politischem Hintergrund. Ihrer Zählung nach laufen Stand August 2024 in Russland fast dreitausend solcher Verfahren.  

    Von den Repressionen betroffen sind aber nicht nur die Angeklagten und Verurteilten selbst. Auf dem Portal Bereg schildern Angehörige politischer Häftlinge, wie sie die Trennung erleben, wie sich ihr Leben veränderte und wie sie auf ein Wiedersehen warten: 

    • Jegor Balasejkin, 18 Jahre alt, sechs Jahre Lagerhaft. Der damals 16 Jahre alte Gymnasiast wurde am Abend des 28. Februar 2023 bei dem Versuch festgenommen, ein Rekrutierungsbüro in Brand zu stecken. 

    • Dmitri Skurichin, 49 Jahre alt, anderthalb Jahre Lagerhaft. Der Betreiber eines Einkaufsladens in einem kleinen Ort in der Leningrader Oblast hatte sich am 24. Februar 2023, dem Jahrestag des Überfalls auf die Ukraine, vor seinem Geschäft niedergekniet und ein Plakat gehalten: „Vergib uns, Ukraine!“. Das deutete das Gericht als „Diskreditierung der Streitkräfte“. Skurichin war seit vielen Jahren politisch aktiv, unter anderem als Abgeordneter im regionalen Parlament. Seit der Krim-Annexion protestierte er immer wieder gegen den Krieg gegen das Nachbarland. Ende Juli 2024 wurde er aus der Haft entlassen, nachdem er seine Strafe vollständig abgesessen hatte. 

    • Boris Kagarlizki, 65 Jahre alt, fünf Jahre Lagerhaft. Der linke Soziologe betrieb einen beliebten YouTube-Kanal. Dort hatte er nach einer Explosion auf der Krim-Brücke im Oktober 2022 ein Video mit dem Titel „Explosive Grüße an den Brücken-Kater“ veröffentlicht. Ein Kater, der den Bauarbeitern zugelaufen war, wurde zuvor von russischen Staatssendern als Maskottchen der Brücke gefeiert. Kargalizki wurde am 12. Dezember 2023 zunächst zu einer Geldstrafe verurteilt. In der Berufungsverhandlung im Februar 2024 verwandelte das Gericht die Geldstrafe in Lagerhaft.  

    Tatjana Balasejkina 

    Mutter von Jegor Balasejkin 

    Jegor war immer ein sehr guter Junge. Wahrscheinlich denken viele, wenn ich das sage: „Natürlich, die Mama. Was soll sie sonst auch sagen?“ Aber es ist wirklich so. Er hat nie Ärger gemacht, hat nie gequengelt. Ich habe ihm vorgelesen, seit er auf der Welt ist, und er hat sich so sehr daran gewöhnt, dass wir, wenn er im Kindergarten oder in der Schule krank wurde, uns dann zuhause mit Büchern hinsetzten. Man konnte sich mit ihm immer einigen: Wollte er zum Beispiel im Geschäft ein Auto, habe ich ihm immer erklärt, dass wir das kaufen können, wenn mein Gehalt ausbezahlt wird, und er hat deswegen nie einen Aufstand gemacht. 

    Wir haben es geschafft, ein sehr warmherziges und vertrauensvolles Verhältnis zu unserem Sohn aufzubauen. Er hat uns nie hintergangen. Immer war er offen und ehrlich, wohl, weil er wusste, dass er von niemandem wegen einer Fünf oder wegen eines Energydrinks nach der Schule mit den Kumpels bestraft würde. Wir haben ihn nie physisch bestraft, er hat nie in der Ecke gestanden. Ich denke, er hatte das Gefühl, dass seine Eltern zu ihm stehen, und das hat zu einem vertrauensvollen Verhältnis geführt. Er hat mir immer alles erzählt, selbst intime Dinge, als er körperlich erwachsen wurde. Wir haben über seine erste Verliebtheit geredet, darüber, mit wem er im Gymnasium gut klarkommt und mit wem nicht. Wenn Jegor aus der Schule kam, zog er seinen Mantel aus, und setzte sich immer gleich an den Küchentisch und erzählte, wie sein Tag war. 

    Als Jegor geboren wurde, verstand ich, dass er keine Erweiterung von mir ist, sondern ein eigenständiger kleiner Mensch mit seinen Wünschen, Interessen, mit guter oder schlechter Laune. Diese Wahrnehmung unseres Kindes half uns, das Verhältnis aufzubauen, das wir jetzt [wo er in Haft ist] haben. Obwohl er seit 15 Monaten von uns getrennt und nicht erreichbar ist, scheint mir, dass unsere Beziehung noch stärker geworden ist. Wir vertrauen einander jetzt noch mehr. 

    Jegor Balasejkin bei einer Reise im Schlafwagen / Foto © privat
    Jegor Balasejkin bei einer Reise im Schlafwagen / Foto © privat

    Bei der ersten Sitzung vor Gericht, als die Untersuchungshaft festgelegt wurde, das war am 2. März 2023, hat Jegor uns kein einziges Mal angeschaut. Unsere Blicke ließen nicht von ihm ab, und er schaute kein einziges Mal her. Auch beim ersten Besuch in der Untersuchungshaft war er irgendwie vorsichtig. Erst einige Zeit später haben wir darüber gesprochen. Er sagte da, es sei ihm so vorgekommen, als würden wir ihn nicht unterstützen: „Ich werde jetzt allein sein in meinem Kampf.“ Mein Mann und ich waren perplex: „Wie können wir dich nicht unterstützen, wo wir dich doch dein ganzes Leben lang unterstützt haben? Wir haben alle deine Entscheidungen immer akzeptiert.“ Jegor meinte, er habe befürchtet, dass wir uns ja von ihm abwenden und ihn nicht weiter begleiten würden. Aber nach dem Gespräch war ihm dann sehr viel leichter ums Herz und froh zumute. Er hatte verstanden, dass wir diesen Weg gemeinsam bis zum Ende gehen. Unser Verhältnis wurde noch enger, nun vertraut er uns blind. 

    Wir können jetzt sogar über mehr Themen reden als in der Zeit, als er noch in Freiheit war. Er hat keinen Zugang zu Informationen, außer über den Fernseher. Jetzt sind wir seine Informationsquellen. Wir informieren uns über alles Mögliche: Literatur, Geschichte, Geografie, die Geschichte militärischer Konflikte. Alles, was wir erfahren, schicken wir ihm per Brief. Militärische Konflikte haben mich nie interessiert. Ich habe mich immer mehr für Sprachen interessiert – ich bin Englischlehrerin. Jetzt müssen wir die unterschiedlichsten Themen studieren, kurze Exzerpte schreiben und sie ins Gefängnis schicken. Und die Themen, über die wir sprechen, sind noch zahlreicher geworden. 

    * * *   

    Jegor wurde am 28. Februar 2023 unweit einer Rekrutierungsbehörde in Kirowsk festgenommen. Erst nach zwei Stunden wurden mein Mann und ich informiert. Zuerst dachten wir, dass wir jetzt irgendwelche Erklärungen unterschreiben, ihn dann mitnehmen und nach Hause fahren. Der Ermittler sagte uns aber, dass Jegor nicht nach Hause kann. Alle seine Sachen seien jetzt Beweisstücke, weswegen wir ihm neue bringen müssten. Dann folgten Durchsuchungen und Verhöre. Alles ging sehr schnell. Nach dem Verhör wurden die Ermittlungen neu eingestuft, es ging nicht mehr um § 167 des Strafgesetzbuches [„Vorsätzliche Sachbeschädigung“ – dek.], sondern um § 205 [„Terroristischer Akt“ – dek.]. 

    Bis er hinter Gitter wanderte, hatte ich noch Hoffnung: Ich ging zu Hause auf und ab und fragte mich immer wieder: „Wie können wir dich da rausholen?“ Vom Gericht kehrte ich dann mit anderen Gedanken zurück: „Wir können dich da nicht rausholen. Wir müssen etwas unternehmen.“ Wir suchten im Internet nach Informationen, nach Menschenrechtsorganisationen und so weiter. Beim ersten Besuch sagte Jegor, wir sollten nicht mal daran denken, auf etwas zu hoffen, und dass es keinen Sinn hat, Geld für Anwälte auszugeben: „Ist doch völlig klar, wie es weitergeht. Ihr versteht ja, dass sie mir den 205er nicht deshalb anhängen, weil ich Flaschen geworfen habe, sondern wegen dem, was ich gesagt habe.“ 

    * * *  

    Unser Leben hat sich in diesen 15 Monaten um 180 Grad gewendet. Aus naiven Erwachsenen, die an Gerechtigkeit, Ehrlichkeit und Anständigkeit glaubten, haben wir uns in komplette Realisten verwandelt. 

    Die erste Zeit nach der Verhaftung war am schmerzlichsten und schrecklichsten. Als ob man mich von einem Planeten auf einen anderen geworfen hätte, wo alles ringsum für mich fremd ist. Die Hoffnung und der Glaube an das Gute schwand mit jedem Prozesstag. Uns war klar, dass er nicht mit einer Bewährungsstrafe davonkommen wird. Wir hatten ja gehört, wie der Staatsanwalt und der Sekretär des Richters miteinander flüsterten und Jegor einen politischen Verbrecher nannten. Und obwohl einem all das bewusst ist – auf die Urteilsverkündung bist du dann doch nicht vorbereitet. Emotional kannst du damit unmöglich zurechtkommen. Als ich von den sechs Jahren hörte, wurde ich hysterisch, obwohl ich mich darauf eingestellt hatte. Am 15. Mai wurde Jegor auf die Liste der „Terroristen und Extremisten“ gesetzt: Wir wussten, dass das passieren würde. Aber wenn du ihn dann auf den Listen siehst, bist du doch wieder erschüttert. Zwei Tage stand ich total neben mir, das war wirklich ein Schlag für mich. 

    Mein Mann wurde einen Monat nach Jegors Verhaftung von seinem Arbeitgeber entlassen. Er kann nirgendwo mehr Arbeit finden, weil es überall, wo er sich bewirbt, eine Überprüfung durch die Staatssicherheit gibt. Und überall leuchtet knallrot, dass unser Sohn ein Terrorist ist. 

    Jegor Balasejkin mit seinen Eltern Daniel und Tatjana. Nachdem Ermittler an seinem Arbeitsplatz aufgetaucht waren, verlor Daniel Balasejkin seinen Job als Elektriker / Foto © privat
    Jegor Balasejkin mit seinen Eltern Daniel und Tatjana. Nachdem Ermittler an seinem Arbeitsplatz aufgetaucht waren, verlor Daniel Balasejkin seinen Job als Elektriker / Foto © privat

    Ich habe versucht in die ONK (Gesellschaftliche Beobachtungskommission) der Leningrader Oblast zu kommen. Die suchten zusätzliche Mitglieder. Ich schickte meine Papiere hin und machte sofort klar, wegen welches Paragrafen mein Sohn einsitzt. Sie sagten mir, dass sei gar kein Problem. Einige Wochen später rief man mich an und erklärte: „Wir haben die Bewerberlisten zur Prüfung an den FSB geschickt. Leider steht neben ihrem Familiennamen „Aufnahme kategorisch nicht empfohlen“. 

    Unser Freundes- und Bekanntenkreis hat sich von Grund auf verändert: Wir haben praktisch mit niemandem mehr Kontakt, der vor dem 28. Februar Teil unseres Lebens war. Überhaupt versuchen wir, uns mit niemandem zu treffen. Weil es uninteressant ist, über aufgeblühte Blumen und die Preise im Supermarkt zu reden. Früher war es für mich wichtig, dass ich leckeres Essen koche, dass die Wohnung aufgeräumt ist, dass alle Handtücher so hängen, wie ich es möchte. Jetzt weiß ich, dass mir völlig egal ist, wie die Handtücher hängen und was ich zu Essen koche. Ich nutze die Zeit lieber für Sachen, die jetzt wichtig für mich sind: Ich werde die Strafprozessordnung studieren. Die Werte haben sich für mich vollkommen verschoben. 

    Unsere Freunde und Verwandten sind geteilter Meinung: Einer hat Jegor des Verrats beschuldigt. Andere meinten, dass er ein dummer Junge sei und jetzt dafür büßen wird. Aber unsere Gerichte seien gerecht, und er werde natürlich freigesprochen und nach Hause kommen. Als dieses „gerechte“ Gericht dann sein Urteil fällte, war das ein Schock für diese Leute. Es gab niemanden, der sich vollkommen auf die Seite von Jegor stellte. Solche gab es nur unter denen, die wir nach seiner Verhaftung kennenlernten: seine Abonnenten, Menschen, die zu den Gerichtsprozessen gehen, die ihm Briefe schreiben. 

    Wir haben immer zu unserem Sohn gehalten und wir werden weiter zu ihm halten. Die Art und Weise, mit der er seine Überzeugung deutlich gemacht hat, war vielleicht nicht ganz korrekt. Aber er hat ein Recht auf diese Überzeugung. 

    * * *   

    Eine Zeit lang hörte ich Lieder, die mich aufmunterten. Dann begriff ich, dass sie keinen Trost mehr spenden: Wenn ich ein Lied abspiele, beginne ich sofort zu weinen. Das ist nicht gut, denn so werde ich immer trauriger. Zu Hause hängen die beiden T-Shirts, die wir beim Berufungsverfahren anhatten, mit Fotos von Jegor. Jeden Tag wache ich auf und sehe das Gesicht meines Sohnes. Ich gehe hin, küsse es, grüße ihn, spreche mit ihm, während ich durchs Zimmer gehe. Das gibt mir das Gefühl, dass er bei mir ist. 

    Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich es schaffe, und dann wieder nicht. Ich wünsche mir, dass ich in den kommenden fünf Jahren nicht vollkommen den Verstand verliere, dass ich geistig gesund bleibe. 

    Ich bin übervoll mit Hass, und das macht mir Angst. Ich wäre gern wie Jegor, weil er keinen Hass gegen die Menschen hegt, die ihn hinter Gitter gebracht haben und diesen Irrsinn in unserem Land veranstalten. Ich würde mich gern von diesem Hass befreien, weil Hass schlecht ist. 

    * * *   

    Ich denke, wenn Jegor 2029 freikommt, wird sich im Leben des Landes nichts verändert haben, und es wird kein wirklich demokratisches Land sein. Für Jegor wird hier kein Platz sein. Ihm wird der Weg in eine Zukunft versperrt sein. Uns ist er jetzt schon verbaut. 

    Nach seiner Freilassung wird Jegors Name noch acht oder zehn Jahre auf der Liste der Terroristen und Extremisten stehen. Ist Ihnen klar, was das heißt? Ihm werden Rechte vorenthalten: keine Uni, keine Arbeit. Mit 22 Jahren werden ihm hier alle Wege verschlossen sein, wenn sich nichts ändert. Als wir darüber redeten, sagte er: „Ich werde das Land keinesfalls verlassen, wenn ich freikomme. Ich werde es in dieser Lage nicht hängenlassen. Wenn ich rauskomme und alles gut ist, dann denke ich vielleicht über Emigration nach.“ 

    Das ist seine Entscheidung, und er hat ein Recht darauf. Wenn er diesen Weg wählt, werden auch wir hierbleiben. Wir können natürlich unsere Meinung sagen, doch die Entscheidung wird allein er treffen. Wir werden jede seiner Entscheidungen unterstützen. 

    Familie Balasejkin im Juni 2022. Acht Monate später wurde Jegor festgenommen. Er soll versucht haben, ein Rekrutierungsbüro der Armee in Brand zu stecken / Foto © privat
    Familie Balasejkin im Juni 2022. Acht Monate später wurde Jegor festgenommen. Er soll versucht haben, ein Rekrutierungsbüro der Armee in Brand zu stecken / Foto © privat

    Hoffnung, dass Jegor früher freikommt, haben wir nicht. Wir sind in Berufung gegangen und sammeln jetzt die Papiere für die nächste Instanz. Erstens tun wir das, weil wir das Recht dazu haben. Und zweitens zeigen wir damit, dass wir mit der Entscheidung des Gerichts nicht einverstanden sind. Drittens können wir nur darauf hoffen, dass all diese Verfahren revidiert und die betroffenen Menschen rehabilitiert werden. Und dafür müssen wir alle Wege beschreiten, die das Gesetz vorsieht. Obwohl wir keine Hoffnung haben, dass das Verfahren jetzt revidiert wird. 

    * * *  

    Das letzte Mal haben wir uns am 5. Juni gesehen. Er sah aus wie immer, erzählte nur, er habe sich gewogen und habe vier Kilo abgenommen, obwohl er sich wie immer ernährt und wie immer trainiert. 

    Emotional ist es natürlich schwieriger, weil 15 Monate in einer kleinen Zelle mit fünf Leuten schwer zu ertragen sind. Sie haben nur selten Hofgang. Meistens findet der auf dem Dach statt. Der Ort unterscheidet sich kaum von einer gewöhnlichen Gefängniszelle: die gleichen gemauerten Wände, nur anstelle einer Decke ist oben ein Gitter. 

    Jegor ist ein gebildeter, reifer, intellektueller Junge. Ihm fällt es nicht leicht, 24 Stunden am Tag mit Jungs zusammen zu sein, die von nichts eine Ahnung haben. Denen ist schwer begreiflich zu machen, warum man sich wäscht, die Zähne putzt, die Füße wäscht. Er hat jetzt die Funktion eines Erwachsenen, eines Erziehers, der diesen Jungs (die meisten von ihnen sind aus einem Heim oder aus schwierigen Familienverhältnissen) ganz einfache Dinge beibringen soll. Er führt sie ein bisschen ans Lesen heran. Wenn er ein Buch ausgelesen hat, gibt er es weiter. 

    * * *   

    Die Häftlinge brauchen unsere Unterstützung. Sonst lebt man hinter Gittern mit dem Gefühl, dass man alleingelassen wurde. Als Jegor dann Briefe bekam, hat ihn das seelisch unglaublich gestärkt! Er sagte mir: „Du kannst dir nicht vorstellen, was für Leute mir schreiben. Die sind so stark und mutig, dass mein Glaube an die Menschen wiederkommt. Und daran, dass es mit der Zeit wieder gut wird im Land.“ 

    Die Briefe helfen dabei, den Kontakt zur Realität nicht zu verlieren. Die Leute schicken Nachrichten, und man hat mehr oder weniger einen Überblick, was so vor sich geht. Sie schreiben aus aller Welt, aus Montenegro, Deutschland, der Schweiz, Kanada … Sie erzählen etwas über ihre Städte. Das erweitert seinen Horizont. Ich bin in einigen Chatgruppen, in denen sich die Leute austauschen, die Briefe an politische Gefangene schreiben. Und ich bin begeistert, wie viel Energie die da hineinstecken. Die Leute schreiben mitunter 20 Briefe am Tag. Und wieviel Kraft sie haben, dass sie für jeden politischen Gefangenen, mit dem sie im Briefwechsel stehen, Nachrichten zusammenstellen und Geschichten erzählen. 

    Finanzielle Unterstützung ist ebenfalls sehr wichtig: Anwaltskosten, Versorgungspakete, wenn etwas auf dem Konto des politischen Gefangenen ankommt, kann er sich wenigstens ein bisschen was davon kaufen. Mit den Paketen muss man übrigens vorsichtig sein: Für Minderjährige ist deren Gewicht nicht begrenzt. Bei Volljährigen ist alles streng reglementiert, und jedes Paket, das nicht mit der Unterstützergruppe abgesprochen ist, kann den Plan durcheinanderbringen. 

    Auch vom Ausland aus können die politischen Gefangenen unterstützt werden: Man kann Aktionen organisieren, ihre Geschichten bekannt machen und Menschen für sie interessieren. Ich verfolge die Mahnwachen zur Unterstützung für Jegor, auch wenn es nicht viele sind. Vor kurzem fand in Berlin ein Briefeschreibabend für politische Gefangene statt. Wir waren per Video zugeschaltet. Ich berichtete von Jegor, und die Teilnehmer schrieben ihm dann Briefe. Man kann alles Mögliche unternehmen, nur eines darf man gewiss nicht tun – schweigen. 

     

    Tajana Skurichina  

    Ehefrau von Dmitri Skurichin 

    Wir sind beide im Dorf Russko-Wyssozkoje geboren, das liegt hinter Krasnoje Selo, einem Vorort von Petersburg. Ich ging auf die Hochschule für Handel und Wirtschaft, fuhr mit dem Bus zu den Vorlesungen. Er studierte am Wojenmech [Staatliche technische Ostseeuniversität]. Wir haben uns im Bus kennengelernt. Ich musste in dieser Zeit lernen, wie man Integrale berechnet. Und ich versuchte, seine Bekanntschaft zu machen: Er lernte mit mir, wir machten Übungsaufgaben. So wurden wir ein paar und heirateten schließlich. 

    1998 wurde unsere erste Tochter geboren. Das Jahr war ziemlich schwierig: die Rubelkrise, alles. Wir mussten ein Gläschen Babybrei buchstäblich auf mehrere Tage strecken. Nach fünf Jahren kam unsere zweite Tochter. Vor ein paar Tagen haben wir ihren Geburtstag gefeiert. Ich habe meinem Mann ein Festtagspäckchen ins Lager geschickt. 

    Wir haben insgesamt fünf Töchter. Die Älteste lebt schon seit anderthalb Jahren mit ihrem Mann in Montenegro. Die Zweitälteste studiert an der Polytechnischen Universität Sankt Petersburg Werbewirtschaft und Öffentlichkeitsarbeit. Dann kommen die Zwillinge, 13 Jahre alt. Als ihr Papa verhaftet wurde, rief mich jemand an und sagte, dass es im Moskauer Umland ein gutes Internat gebe, wo man sie unterbringen könnte [was ich auch tat]. Ich besuche sie natürlich, packe Päckchen, schicke Leckereien. Die Jüngste geht hier [in Russko-Wyssokoje] zur Schule. 

    Dmitri Skurichin beim Langlauf mit seinen Töchtern / Foto © privat
    Dmitri Skurichin beim Langlauf mit seinen Töchtern / Foto © privat

    Natürlich ist es schwer für mich allein. Als die beiden Mädels ins Internat kamen, konnte ich etwas durchatmen. Jetzt sind aber Ferien, und alle sind zu Hause. Ich habe vor kurzem eine Woche Urlaub genommen. Mir ist klar geworden, wie erschöpft ich bin, selbst im Urlaub. Alle sind zu Hause, alle wollen was essen, alle wollen versorgt werden, damit sie beschäftigt sind, von den Handys loskommen, Bücher lesen, sich bewegen. Manchmal rufe ich meinen Mann an und klage. 

    Wir hatten neulich ein längeres Treffen. Die Besuchszeiten fielen auf Werktage, und das ließ sich auch nicht ändern. Ich musste mich ganz schön ins Zeug legen, um diese drei Tage freizubekommen. Als ich wiederkam, musste ich sofort zur Arbeit. Nach Feierabend begrüßten mich die Mädels mit „Mama, wir haben Hunger!“ Sie hatten den Schokoladevorrat gefunden, den ich zu Hause versteckt hatte, auch die, die für ein Päckchen an Dima vorgesehen war. Die Buletten im Kühlschrank hatten sie „übersehen“. Ich schmiss schnell Nudeln in die Pfanne, versorgte alle und machte mich wieder schnell auf zur Arbeit, um dort alles aufzuholen. So strampele ich mich seit über einem Jahr ab. 

    Jeder Tag ist ein Kampf. Es müssen Alltagsfragen geklärt werden. Und ich reiße mich in Stücke. Wir leben vor der Stadt, im eigenen Haus, und man muss sich um alles selbst kümmern: Die Kinder, das Auto, der Garten. Wer wird bei der Reparatur helfen? Wer bringt das Gewächshaus in Ordnung? Fast immer winde ich mich alleine heraus. Dima ruft aus der Strafkolonie manchmal Verwandte an und bittet sie, mir zu helfen. Es ist gut, dass wir wenigstens per Telefon Kontakt zu meinem Mann halten können. 

    * * *  

    Ende der 1990er Jahre [hatten wir] die Möglichkeit, in unserer Siedlung ein Gebäude zu kaufen. Dima beschloss, daraus einen Laden zu machen. Der gleiche Raum, unser Raum, an den er seine Parolen geschrieben und wo er die Plakate aufgehängt hat. Und als die Kioske von Supermarkt-Filialen abgelöst wurden, baute er das Gebäude ein bisschen um und vermietete es. Ich bin von der Ausbildung her Buchhalterin und habe ihm immer geholfen. 

    Sein Interesse für Politik ging ziemlich an mir vorbei. Es gab ja die fünf Kinder, immer wieder Arbeit, die Buchhaltung [im Geschäft]. Und in den 2000er Jahren kandidierte er für den Kommunalrat. Das hat ihn sehr interessiert. Er wurde in den Kommunalrat gewählt. Es gab zwölf Abgeordnete, elf von Einiges Russland und er allein [als Unabhängiger]. 

    Das war kein Zuckerschlecken: Immer waren elf dafür und er dagegen. Bei jeder Erhöhung der Gebühren für kommunale Dienstleistungen zum Beispiel, die von der Regierung der Oblast aufgedrückt wurden, hoben alle zustimmend die Hand, nur er stimmte dagegen. Es war schwierig für ihn. Psychisch ist das kaum zu ertragen. Er befasste sich mit Fragen der kommunalen Versorgung: Die Leute kamen ja und berichteten von ihren Problemen, dass nicht geheizt wird und es kalt ist in den Wohnungen, dass die Gebühren hoch sind. Und Dima versuchte sich in all das einzuarbeiten. Es gab eine Zeit, da wurde ihm gedroht. Sie sagten: „Schau mal, du hast Familie, Kinder … Wenn du dich weiterhin einmischst, dann müssen wir da was unternehmen.“ Der Kommunalverwaltung war er ein Dorn im Auge, deswegen waren seine Jahre als Abgeordneter [von 2009 bis 2014] sehr schwer für uns. 

    Dima war es wichtig, sich in das öffentliche Leben einzubringen und das Leben in seinem Dorf zu verbessern. Ich belästigte ihn nie mit Fragen, etwa, warum hast du dich bloß darauf eingelassen? Ich habe ihn nicht behelligt. Nur einmal sagte ich: „Besser nicht, lass das lieber“, das war, als er sich mit dem Plakat hinstellte „Vergib uns, Ukraine“ [24. Februar 2023]. Zu dem Zeitpunkt lief bereits ein Strafverfahren gegen ihn, bestimmte Sachen waren ihm verboten (er durfte kein Telefon oder Gadgets verwenden). Ich bat ihn nur, es nicht zu tun, ich hatte ein ungutes Gefühl. Aber er sagte, da wird nichts Schlimmes geschehen – am Abend kamen sie dann, um ihn abzuholen. 

    Es war der Hochzeitstag seiner Eltern. Mehrere Autos fuhren vor, Dima ging raus, um mit ihnen zu sprechen. Sie erlaubten allen Gästen, heimzufahren – übrig blieben ich und die zwei Kinder. Wir stiegen ins Auto, fuhren los und realisierten, dass man uns folgte. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir schon zwei Hausdurchsuchungen hinter uns, ich konnte das nicht mehr ertragen: Sie führen sich bei dir im Hof auf wie die Schweine, rauchen, trinken Kaffee, schauen dir nicht ins Gesicht und fluchen heftig rum… unerträglich. Fiese Visagen, eine Meute, die deine Tür kaputt macht, die Fenster, ohne irgendwelche Dokumente vorzuzeigen. Sie führen sich auf wie eine Horde Banditen. Sie nehmen alles mit. Nach der ersten Hausdurchsuchung war nicht einmal mehr Geld da, um das Auto zu betanken. Sie hatten es mitgenommen, sagten, sie „müssen es überprüfen“. Am Morgen nach der ersten Hausdurchsuchung blieb ich mit kaputter Tür zurück und hatte nicht eine Kopeke in der Tasche. Ich hatte nichts, was ich den Kindern zu essen geben konnte. Nur gut, dass schnell eine Sammelaktion organisiert wurde, sonst hätte ich nicht gewusst, was aus uns geworden wäre. 

    Ich sagte meinem Mann, lass uns nicht nach Hause fahren, ich will keine weiteren Hausdurchsuchungen. Wir fuhren bis Krasnoje Selo, Dima gab mir den Schlüssel und sagte, er fahre nach Petersburg; er wolle ein wenig „spazieren gehen“. Ich fuhr allein mit den Kindern nach Hause, merkte, dass uns ein Wagen folgte, und dachte: „Verdammt, ich bin 46 Jahre alt, Mutter von 5 Kindern, und die treiben mit uns solche Agentenspielchen“. 

    Gegen Abend kam Dima zurück, er kletterte durchs Fenster, und wir blieben in der Dunkelheit sitzen, weil wir wussten, dass das Haus unter Beobachtung stand. Am Morgen nahmen sie ihn mit. Ich war schockiert von diesem Verhalten [der Behörden]. Dass man so mit dir umspringt, obwohl du kein Bandit bist, kein Mörder und mit Drogen nichts zu tun hast. Ich dachte: Wir haben vielleicht einen Staat, toll, wie der sich aufführt. 

    Dmitri Skurichin posiert vor einer Statue der Justitia. Er war seit vielen Jahren politisch aktiv, auch als Abgeordneter. Für seinen Protest gegen den Krieg schickte ihn ein Gericht für anderthalb Jahre in ein Straflager / Foto © privat
    Dmitri Skurichin posiert vor einer Statue der Justitia. Er war seit vielen Jahren politisch aktiv, auch als Abgeordneter. Für seinen Protest gegen den Krieg schickte ihn ein Gericht für anderthalb Jahre in ein Straflager / Foto © privat

    Meine zweite Tochter ist dieses Mal schon wählen gegangen [bei den Präsidentschaftswahlen im März 2024], die kleineren Töchter ahnen angesichts der letzten Ereignisse auch schon was, sie beginnen sich für Politik und das, was im Land passiert zu interessieren. Ich agitiere sie nicht, aber die Umstände beeinflussen sie. Sie sehen, wie schwer das alles für mich ist, wie ich allein am Rotieren bin, und sie verstehen, dass ihr Papa wegen seiner Überzeugung im Gefängnis sitzt. Wenn dich der Staat mal dermaßen erschüttert hat, gehen gewisse Chakren auf, du beginnst, viele Dinge in einem anderen Licht zu betrachten 

    Ich begreife nicht, wofür Dima jetzt seine Gesundheit ruiniert. Wenn sie einen jetzt für seine Meinung ins Gefängnis stecken, dann wäre es besser, das Land zu verlassen. Vielleicht wäre das auch besser für die Kinder. Wir haben viele Kinder. Ich mache mir Gedanken darüber, wie wir das bewältigen, was wir tun können. Ich bin ratlos. Ich bin in Panik, wie sollen wir hier weiterleben, wenn Dima rauskommt Ende Sommer 2024? – ich habe keine Ahnung. Wir stehen schon auf der schwarzen Liste: Wie sollen wir jetzt unser Geschäft weiterführen? Wenn man bedenkt, dass sie einen jederzeit wieder verurteilen können.  

    Über das, was war, beklage ich mich nicht. Aber wie sollen wir damit weiterleben? Ins Ausland gehen will Dima natürlich nicht. Doch ich sage ihm immer wieder, dass wir bereits am Boden sind. Ich weiß nicht, wie es uns ergehen würde, wenn wir ins Ausland gingen, aber ich würde diese Erfahrung gern machen. Denn hier habe ich schon viel gesehen – und mehr davon möchte ich nicht erleben. Dima sagt immer: „Wir beide haben doch gut gelebt“. Doch ich sage ihm, dass wir noch nicht am Ende unseres Lebens sind, dass wir noch die Kinder großziehen müssen. Und ich möchte sie zu normalen Menschen erziehen. 

    * * * 

    Als Dima noch in Untersuchungshaft war, haben wir uns Briefe geschrieben; drei Briefe durften wir einander pro Woche schreiben. Das war natürlich ungewohnt: Wir haben unser ganzes Leben zusammen verbracht, deswegen habe ich nie Briefe geschrieben. Mir war wichtig, sie mit der Hand zu schreiben, das Handgeschriebene vermittelt etwas Persönliches. Ich wusste, dass handschriftliche Briefe länger brauchen, aber ich wollte es genau so – Dima sagte dann, es habe ihn gefreut, meine Handschrift zu sehen, das wärme die Seele. Doch zum Straflager sind Briefe sehr lange unterwegs. Ich versuche ihm Bücher mitzubringen, aber es gibt Probleme: Sie lassen nicht alle Bücher durch. Beim ersten Treffen nahm ich ein Büchlein mit: Fahrenheit 451. Ich hatte es eingewickelt, niemand merkte etwas. 

    Seit er im Straflager ist, telefonieren wir miteinander. Das kostet zwar Geld, aber dafür unterhalten wir uns zehn Minuten täglich, tauschen aus, was es Neues gibt. Letzte Woche war die Verbindung schlecht: Mal verstand ich kaum etwas, mal er. Aber diese täglichen Gespräche sind wichtig. Dima fragt viel nach den Kindern, er fürchtet, wenn er rauskommt, werden sie sich verändert haben. 

    Jetzt kämpfen wir dafür, dass er früher rauskommt, und seien es nur zehn Tage. Er will endlich wieder bei den Kindern sein und ans Meer fahren, das wäre ein Traum. 

    * * * 

    Ich denke nicht, dass Dimas Festnahme besonders starken Einfluss auf die Kinder hatte. Aber ich kriege mit, dass sie neuerdings andere Leute fragen, was sie wählen. Ich habe sie gebeten, vorsichtiger zu sein und nicht solche Fragen zu stellen. Ich hatte die Befürchtung, dass sie das [Dmitris Haft] in der Schule nicht verstehen würden, aber alles ist gut – die Lehrer fragen [die Mädchen]: „Und wann kommt der Papa raus?“ 

    Am heftigsten waren für mich die Hausdurchsuchungen. Die erste Zeit saß ich im Dunkeln, damit niemand sehen konnte, dass ich zuhause bin. Wann immer ich konnte, ging ich arbeiten, nur um nicht zu Hause zu sein. Ich hoffe, dass die Mädchen keinen Schaden genommen haben; sie sind noch klein, sie werden zurechtkommen. 

    Seitdem Dima fort ist, habe ich völlig verlernt zu planen. Ich plane nicht weiter als eine Woche im Voraus, aber ich weiß genau, dass ich auf lange Sicht dazu bereit bin, von hier fortzugehen. Früher hatte ich davor Angst, aber jetzt nicht mehr. Ich weiß jetzt, was Gefängnis bedeutet; mehr brauche ich nicht zu wissen. Ich warte sehnlichst auf Dima. Was dann sein wird, weiß ich nicht. 

     

    Xenia Kagarlizkaja 

    Die Tochter von Boris Kagarlizki 

    Es gibt Eltern, die sehr viel zu tun haben, viel Zeit auf der Arbeit verbringen und den Kindern wenig Aufmerksamkeit schenken. Das ist bei mir nicht der Fall. Papa und ich waren immer zusammen. Wir sind zum Beispiel in verschiedene Länder gefahren. Wir waren in Syrien, 2013, noch vor dem Krieg, drei Mal in Kuba, Papa hatte die Idee, dass ich Kuba noch vor dem Tod von Fidel Castro sehen sollte (Castro starb 2016 – Anm. Meduza). Urlaub mit Papa war immer interessant, weil er ein Wikipedia-Mensch ist: Er weiß zu allem etwas zu sagen, zu jedem Thema, jedem Gebäude. Ich kam immer mit viel neuem Wissen von diesen Reisen zurück. Meine ganze Kindheit habe ich in ständigem Austausch mit meinem Vater verbracht. 

    Für kleine Kinder ist es wichtig, zu verstehen, was gut und was böse ist, wo die Grenze zwischen Schwarz und Weiß verläuft. Für Kinder ist es schwer, die Zwischentöne zu verstehen. Aber Papa war da ganz anders: Er hat mir immer alle möglichen Varianten und Sichtweisen beschrieben, und dann gesagt: „Die Schlussfolgerungen ziehst du selbst“. Einerseits entwickelt sich so kritisches Denken, andererseits ist das etwas schwierig zu akzeptieren, wenn du fünf Jahre alt bist. 

    Mit Papas Sicht auf die Welt im Hintergrund wuchs ich zu einem sehr resoluten Menschen heran. Beispielsweise bin ich bereit, jemandem zu kündigen, wenn er sich einmal voll daneben benommen hat – bei Papa würde er noch 1000 Chancen bekommen. 

    Wenn ich irgendwo Unterstützung bekommen kann, dann bei Papa. Ich habe sogar ein T-Shirt mit der Aufschrift „Ganz der Vater“, seit seiner Verhaftung trage ich es ständig. Wir konnten uns immer blind vertrauen. Wir telefonierten täglich, seit ich volljährig und ausgezogen bin. Wir haben zusammen Fargo, Breaking Bad, Game of Thrones gesehen. Das war unser allabendliches Ritual.  

    Boris Kagarlizki mit seiner Tochter Xenia. Sie half ihm bei den ersten Schritten mit seinem eigenen YouToube-Kanal. Für ein Video verurteile ihn ein Gericht zu fünf Jahren Lagerhaft / Foto © privat
    Boris Kagarlizki mit seiner Tochter Xenia. Sie half ihm bei den ersten Schritten mit seinem eigenen YouToube-Kanal. Für ein Video verurteile ihn ein Gericht zu fünf Jahren Lagerhaft / Foto © privat

    Als Teenager bekam ich genauer mit, was Papa macht, weil ich begann, mich auch für YouTube zu interessieren. Mit der Zeit wurde aus dem Zeitvertreib Arbeit. Damals war der Kanal Rabkor nicht besonders aktiv, aber irgendwann brachte ein Bekannter Papa auf die Idee, zu streamen: „Die Menschen könnten euch ihre Fragen schicken und dafür spenden sie“. Papa kam zu mir und fragte: „Kannst du einen Stream einrichten?“ Ich sagte, nein. Also fanden wir es gemeinsam heraus.  

    Wir streamten das erste Mal, als ich 15 war. Der Stream brach dauernd ab, von Zeit zu Zeit waren wir nicht sicher, ob die Verbindung zu den Zuschauern steht oder nicht. Ich musste immer wieder ins Bild laufen, um etwas auszubügeln. Wir streamten ja mit einer normalen Webcam vom Computer. Und den Leuten gefiel es, dass mal ich im Bild auftauchte, mal unser prächtiger Kater Stepan. Gleich beim ersten Stream spendeten die Menschen.  

    Daraus entstand allmählich das Genre unserer häuslichen Streams: Ich verlas zu Beginn die Fragen aus dem Off und erschien dann immer mal wieder im Bild. Dann nahm ich einen Job bei einer größeren Firma an, die auch mit YouTube arbeitet. Ich trennte mich von Rabkor, aber seit Papa 2023 verhaftet wurde, helfe ich dem Team wieder. 

    * * * 

    Wie gefährlich das ist, was Papa macht, wurde mir klar, als ich in der achten Klasse war. Es gab eine Demonstration auf dem Bolotnaja-Platz [6. Mai 2012], und Papa bestand darauf, dass ich mit ihm hinging. Warum auch immer, ich wollte nicht, obwohl ich schon zuvor auf Demonstrationen gewesen war. Seit der fünften Klasse hatte Papa mich ins Schlepptau genommen.  

    Eine Woche nach dieser Aktion lud man ihn zum Verhör ins Ermittlungskomitee. Er sagte, er fahre in einer Woche nach Deutschland und wenn sie bei ihm eine Hausdurchsuchung durchführen wollen, sollten sie nicht in diesem Zeitraum kommen. Natürlich taten sie genau das. Um sieben Uhr früh kamen komische Typen zu uns nach Hause, Mama stand ihnen Rede und Antwort, in dieser Situation spürte ich zum ersten Mal, wie gefährlich das wirklich war. Danach machte ich mir keine Illusionen mehr. 

    Familienbild mit Katze / Foto © privat
    Familienbild mit Katze / Foto © privat

    Aber so richtig Angst um Papa hatte ich erst nach seiner Verhaftung [im Jahr 2023]. Eine Hausdurchsuchung ist nur eine Hausdurchsuchung: Sie kommen und gehen wieder. Selbstverständlich belastet einen das, aber man kommt darüber hinweg. Nachdem er das erste Mal wieder freigekommen war [Mitte Dezember 2023], kam mir der Gedanke, dass ich mir wünsche, er würde das Land verlassen. Er würde unterrichten, einer ganz anderen Tätigkeit nachgehen, auch auf seinem Gebiet. Aber er würde sich keiner Gefahr mehr aussetzen. Er ist aber nicht ins Ausland gegangen. Und er ist nicht ich, er ist anderer Ansicht. Was ich will oder nicht will, das beeinflusst ihn nicht im Geringsten. 

    * * * 

    Am Tag seiner Verhaftung [26. Juli 2023] kehrte Mama [die Dozentin Irina Gluschtschenko] aus Argentinien zurück, Papa sollte sie am Flughafen abholen. Aber er kam nicht. Für uns gab es zwei Möglichkeiten: Entweder liegt er irgendwo und atmet nicht mehr oder die Staatsmacht steckt dahinter. Als wir erfuhren, dass die Behörden der Grund sind, beruhigten wir uns, denn das ließe sich irgendwie wieder in Ordnung bringen. Ich öffnete den [Telegram-Kanal] Avtozak LIVE und sah, dass bei einem Mitarbeiter von Rabkor eine Hausdurchsuchung läuft. Im ganzen Land gab es Hausdurchsuchungen. 

    Alle waren in Panik, in Angst und Schrecken, wussten nicht, was tun. Aber sie rauften sich irgendwie zusammen, initiierten einen Stream zu seiner Unterstützung und starteten eine Sammelaktion. Rabkor hat seine Übertragung nicht einen Tag ausgesetzt – ich denke, das ist ein großer Erfolg angesichts dessen, dass sie bei den wichtigsten Mitarbeitern die ganze Technik mitgenommen haben, für die wir über Jahre Spenden gesammelt hatten. Zur gleichen Zeit starteten wir eine internationale Kampagne [um Papa und Rabkor zu unterstützen], die enorm viel einbrachte: Ein offener Brief, unterschrieben von vielen bekannten Leuten wie zum Beispiel [dem slowenischen Philosophen] Slavoj Žižek, [dem britischen Politiker] Jeremy Corbyn, [dem französischen Politiker und Journalisten Jean-Luc] Mélenchon.  

    Im Endeffekt wurde Papa [am 12. Dezember 2023] mit einer Geldstrafe [609.000 Rubel; 6500 Euro] entlassen. Wir waren überglücklich, versuchten sofort, ihn davon zu überzeugen, das Land zu verlassen. Er weigerte sich. Er war der Meinung, wenn er ausreisen würde, würde er seine Ideen verraten. 

    Die Staatsanwaltschaft fand allerdings mit der Zeit, dass diese Geldstrafe nicht Strafe genug sei für solche „Taten“, wie ein [aus Sicht der Ermittler] verfehlter Titel eines kurzen Films auf YouTube (im Augenblick der ersten Verhaftung war der Clip über zehn Monate auf dem Kanal zu sehen gewesen). Und so wurden aus der Geldstrafe fünf Jahre wegen „Rechtfertigung von Terrorismus“. 

    Dieser Titel war das Einzige, was sie gegen Papa vorbringen konnten. Papa war immer imstande gewesen, subtile Formulierungen zu finden, hatte sich immer an alle russischen Gesetze gehalten und nie dagegen verstoßen. Offensichtlich hatten sie [die Ermittler] einfach die Aufgabe, irgendetwas gegen ihn zu finden, und dieser Titel erwies sich als das Einzige, was sie auftreiben konnten. 

    Einen Tag vor seiner zweiten Festnahme [am 13. Februar 2024] telefonierten Papa und ich. Ich spürte, dass sie ihn einbuchten würden, sprach mit ihm darüber. Doch er antwortete, das werde nicht passieren. 

    * * * 

    Das letzte Mal haben wir uns vor zwei Jahren gesehen – wie schrecklich, schon zwei Jahre sind seitdem vergangen! Es war im Herbst, nach der Mobilmachung. Wir sprachen über meinen Umzug [von Russland nach Montenegro], aßen gemeinsam zu Abend. Danach haben wir über Video telefoniert. Wir hatten den Termin wie echte Profis in unseren Kalender eingetragen. Wir haben immer alles genau reglementiert. Doch jetzt geht das leider nicht mehr. Jetzt läuft unsere Briefkorrespondenz über den Föderalen Strafvollzugsdienst

    Inzwischen nehme ich kein Blatt mehr vor den Mund, schreibe alles, was ich denke, Zensur hin, Zensur her. Ich mache mir da gar keinen Kopf. Was mich beunruhigt, ist etwas anderes: Was wird, wenn er wieder frei ist? Er ist 65 Jahre alt, und er hat es dort sehr schwer. Das Leben im Straflager ist kein Erholungsaufenthalt im Sanatorium. Ich verfolge die Nachrichten über andere politische Gefangene, und das macht mir Angst. Ich will nicht, dass sie meinen Vater in die Strafzelle stecken. Und außerdem denke ich an den Kater Stepan. Der ist jetzt 11, er liebt Papa, vermisst ihn. Wer weiß, ob er noch so lange leben wird, bis Papa zurück kommt. 

    Und außerdem ärgern mich die Anfeindungen gegenüber Papa wegen seiner Anschauungen oder wegen Äußerungen von vor 100 Jahren. Im Internet schreiben sie häufig abschätzig, er sei Kommunist, sie bringen uralte Äußerungen von ihm aufs Tapet. Darum geht es jetzt überhaupt nicht. Wenn ein Mensch auf freiem Fuß ist, kann man mit ihm diskutieren, wenn er im Gefängnis ist, dann nicht, dann muss man ihn einfach nur unterstützen. 

    Boris Kagarlizki mit seiner Tochter Xenia. „Früher war ich ihm böse, weil er beschlossen hat, zu bleiben“, sagt sie / Foto © privat
    Boris Kagarlizki mit seiner Tochter Xenia. „Früher war ich ihm böse, weil er beschlossen hat, zu bleiben“, sagt sie / Foto © privat

    Früher war ich ihm böse, weil er beschlossen hat zu bleiben. Sind denn diese Ideen tatsächlich wichtiger als wir? Aber so ist er nun mal, für ihn ist das eben wichtig. Das ist sein Leben und er weiß, wenn du dich mit Politik befasst, besteht die Gefahr, dass du im Gefängnis landest. Wenn du Feuerwehrmann bist, kannst du bei der Arbeit verbrennen, und wenn du in der Politik bist, können sie dich einbuchten oder umbringen. 

    Dass Papa seine Überzeugungen voranstellt, ist für mich nichts Neues. Es war immer so: Erst kommt der politische Kampf, dann die Familie. Die Familie ist sehr wichtig, aber der Kampf ist wichtiger. Die Familie ist sein persönliches Interesse, der politische Kampf aber ist im allgemeinen Interesse. Wie kann da sein persönliches Interesse wichtiger sein als das allgemeine Interesse? Aber wie soll ich damit leben und das akzeptieren? Ich bin daran gewöhnt, bin schon abgehärtet. Ich habe, wie mir scheint, aufgehört, irgendetwas zu fühlen. 

    Ich würde mir wünschen, dass Papa Dozent für Geschichte wäre. Aber sich vorzustellen, wie alles hätte anders kommen können, hieße, ihn nicht zu respektieren. Er will der sein, der er ist. Wenn ich ihn liebe, muss ich das akzeptieren. Ich habe wirklich gute Eltern. Wir sind eben nur in eine sehr ungerechte Lage geraten. Nicht nur wir, sondern das ganze Land. 

    * * * 

    Die Arbeit hilft mir, mit der Angst zurecht zu kommen: Ich habe viele Projekte. Neben meiner Hauptarbeit in einem großen Unternehmen, veranstalte ich das Festival Zone der Freiheit zur Unterstützung politischer Gefangener [in Montenegro, Armenien, Litauen, Israel und anderen Ländern], ich fahre zu Abendveranstaltungen, bei denen die Teilnehmer Briefe an politische Gefangene schreiben, helfe bei Rabkor. Ich schlafe wenig, die meiste Zeit arbeite ich. Wenn ich mit meinen Gedanken ganz allein bin, verlässt mich der Mut. Doch solange man Probleme lösen muss, ist der Kopf abgelenkt. 

    Mama hat es schwerer. Nach der zweiten Inhaftierung setzte bei ihr das Gefühl einer Kränkung ein: Warum gerade er? Warum haben sie ihn mitgenommen, wieder freigelassen und dann wieder mitgenommen? Mein Bruder [Georgi Kagarlizki] und ich sind ins Ausland gegangen, und sie ist allein in Russland und ohne Papa. Ich hoffe, sie kommt bald zu uns zu einem langen Wiedersehen. 

    Meine Mama ist ein wunderbarer Mensch. Wir sprechen heute mehr miteinander als früher, sie kommt mich regelmäßig besuchen. So ist sie immerhin öfter am Meer. Man muss ja auch versuchen, irgendetwas Positives zu finden. 

    * * * 

    Papa sagt, er freue sich sehr, wenn er Briefe bekomme [von den Briefschreibabenden für politische Gefangene]. An den Abenden verlese ich seine Briefe, zeige den Menschen, dass er sein Gesicht nicht verloren hat, den Kopf nicht hängen lässt. Und seine Unterstützung durch mich hilft auch anderen Menschen, unter anderem mir.  

    Das Berufungsverfahren war die letzte juristische Möglichkeit, um auf den Staat einzuwirken. Zum jetzigen Augenblick haben wir getan, was wir konnten. Ich weiß nicht, was passieren müsste, um etwas zu verändern. Außer globalen Veränderungen. 

    Ich hoffe, dass das alles für uns nicht erst in fünf Jahren zu Ende sein wird, sondern so bald wie möglich. Ich wünsche uns allen Freiheit. Ich wünsche nicht nur Papa Freiheit, sondern auch mir selbst. Ich will die Möglichkeit haben, nach Russland zurückzukehren, ich will keine Angst mehr haben. Ich will spüren, dass auch ich und mein Papa in unserem Land leben können und das tun können, was wir wollen.

    Weitere Themen

    Das russische Strafvollzugssystem

    FAQ #8: Warum regt sich in Russland so wenig Protest?

    Protest und Widerstand gegen den Krieg

    „Unterschreib oder wir vergewaltigen dich“

  • „Natürlich habe ich Angst, vor allem um meine Kinder“

    „Natürlich habe ich Angst, vor allem um meine Kinder“

    Jekaterina ist 50 Jahre alt und Mutter von sechs Kindern. Bis zum 24. Februar 2022 hat Politik in ihrem Leben keine Rolle gespielt. So wie bei den meisten Menschen in Russland, die gelernt haben, die Politik dem Kreml zu überlassen. Jekaterina studierte Psychologie und Pädagogik und kümmerte sich um ihre Kinder. Doch mit dem offenen Überfall auf die Ukraine änderte sich ihr Bild von der Welt grundlegend. Seitdem veranstaltet sie regelmäßig Protestaktionen. Auch wenn sie nicht viel bewirken – als gläubige Christin will sie nicht schweigen. Sogar in ihrer Gemeinde hat sie einige Gleichgesinnte gefunden. Nadezhda Beliakova und Kirill Emelianov haben Jekaterina für das Portal Christen gegen den Krieg interviewt – und zu ihrem Schutz auch ihren Namen geändert.

    Blumen am Solowezki-Stein niederzulegen, ist eine der wenigen Möglichkeiten, seine Haltung zum aktuellen Regime auszudrücken. Der Findling steht vor der Zentrale des Geheimdienstes in Moskau und erinnert an die Opfer des Totalitarismus / Foto © shaltnotkill.info

    Christen gegen den Krieg: Wann sind Sie erstmals öffentlich aktiv geworden? 

    Ich bin nie politisch aktiv gewesen. Ich habe studiert, dann habe ich gearbeitet. Nach zehn Jahren Ehe, nach vielen vergeblichen Versuchen, ein Kind zu bekommen, kam unser erstes Kind zur Welt. Drei Jahre später kam das zweite. Und dann im Abstand von jeweils einem Jahr zwei weitere, schließlich die Zwillinge … Ich war rundum mit der Familie beschäftigt und habe bis zum 24. Februar 2022 gedacht, dass alles in dieser Welt ohne mich entschieden wird. Ich war ehrlich der Ansicht, dass wir im 21. Jahrhundert leben und die Menschen human sind. Dass man sich mit Worten streiten, sich missverstehen kann, und dennoch niemals diese Grenze überschreitet, nämlich einen Angriff auf einen Nachbarstaat zu unternehmen. Und ich hatte gehofft, dass in der Politik die dort Verantwortlichen entscheiden und ich einfach gute Kinder großziehe, für unsere Zukunft. Jetzt erscheint mir das fast lächerlich, so zu reden. Aber bis zum Mittag des 24. Februar konnte ich nicht glauben, dass so etwas überhaupt möglich ist! Ich versuchte allen – vor allem mir selbst – einzureden, dass das manipulierte Videos sind, dass das Fake ist und einfach nicht wahr sein kann … Es war niederschmetternd für mich, für meine Weltsicht. Ich konnte einfach nicht glauben, das so etwas möglich ist. Ich setzte mich an den Computer und schaute nach … Ich fand die Orte, die beschossen wurden. Und ich fand Videos von dort vor dem Angriff. Ich verglich sie mit den aktuellen Bildern … und mir wurde schließlich klar: Die Videos waren keine Montage.

    Und schon am Abend des 24. Februar nahm ich zum ersten Mal in meinem Leben an einer Protestaktion teil. Obwohl wir (die Protestierenden) recht schnell eingesammelt und in einen Gefangenentransporter gesteckt wurden, waren wir absolut glücklich. Wir waren überzeugt, dass sich nach uns das gesamte riesige Land erheben würde, dass dieser Irrsinn, der Krieg, beendet wird. Unser Transporter war bis zum Anschlag gefüllt – und er war bei Weitem nicht der einzige. Doch alle waren gehobener Stimmung und überzeugt, dass uns viele andere folgen würden. Während wir zum Polizeirevier fuhren, sangen wir Lieder, scherzten und freuten uns, dass wir zusammen sind und nicht allein.

    Wie lang hielt diese Euphorie an?

    Ja, Euphorie ist wohl das richtige Wort. Weil einfach niemand damals begriff, was vor sich geht. Von da an ging ich jeden Tag zu den Protesten, die immer um sieben Uhr abends stattfanden. In Telegram-Kanälen wurden ständig wechselnde Routen vorgeschlagen, damit die Polizeistreifen es nicht schaffen, rechtzeitig vor Ort zu sein.

    Die einen haben Briefe gegen den Krieg geschrieben oder unterschrieben, andere trugen Antikriegssymbole – weiße Tauben oder Buttons. Warum wollten Sie sich ausgerechnet an Straßenaktionen beteiligen?

    Ich trage seit dem 24. Februar Antikriegssymbole. Das ist sozusagen meine Erfindung, die „wandelnde Mahnwache“. Am Rucksack habe ich eindeutige Symbole befestigt, die nicht misszuverstehen sind: Bändchen, Buttons, Friedenszeichen. Gerade baumelt da auch eine Nawalny-Ente. Und ein Button mit dem durchgestrichenen Wort FREIHEIT. Es gab auch noch gewagtere: das durchgestrichene Wort „Krieg“. Wegen dieses Zeichens wurde ich dann auch festgenommen und der Diskreditierung der Streitkräfte Russlands beschuldigt. Dann noch die Aufschrift „Ich bin für Frieden“. Mit der bin eine ganze Weile rumgelaufen. Doch schließlich haben sie mich festgenommen und mir noch eine „Diskreditierung“ aufgebrummt. Mit diesen Zeichen und Symbolen bin ich auf den Roten Platz gegangen, auf den Manegenplatz, über die Twerskaja, in den Sarjadje-Park. Und ich sah, dass die Leute auf die Symbole reagieren. Einige kamen näher und gaben mir mit ihrer Mimik oder mit Gesten zu verstehen, dass sie das gut finden und unterstützen. Insgesamt gab es sehr viele positive Reaktionen. Und ich trage diese Symbole bis heute.

    Kann man Sie als christliche Aktivistin bezeichnen? Kann man sagen, dass Ihre Haltung auf Ihren christlichen Überzeugungen beruht? 

    Ja, unbedingt. Eine der Mahnwachen fand vor der Christ-Erlöser-Kathedrale statt, mit dem Plakat: „Gewöhnt euch nicht an den Krieg!“. Ich bin mit diesem Plakat eigens zur Kathedrale gekommen, weil es mir sehr wichtig war zu versuchen, wenigstens einige ein bisschen wachzurütteln, damit sie, wenn sie die Kathedrale besuchen, ins Nachdenken kommen.

    Kam jemand auf Sie zu? Gab es Reaktionen?

    Ich habe dort eigentlich nur acht Minuten gestanden. Sie haben mich recht schnell festgenommen. Aber wissen Sie, in diesen acht Minuten gab es doch einige Kontakte. Obwohl die Leute Angst hatten, zu mir zu kommen. Sie zeigten Ihre Solidarität aus der Distanz. Zwei auf einem E-Scooter – ein junger Kerl und seine Freundin – hielten an, machten das Victory-Zeichen, lächelten und winkten. Die Leute, die in die Kathedrale gingen, hielten inne, kamen aber leider nicht zu mir her. Darauf hatte ich da auch schon nicht mehr gehofft. Ich wollte nur, dass irgendwer vielleicht doch ins Grübeln kommt, dass wenigstens ein Samen gesät wird.

    Und was denkt man in Ihrer Gemeinde, in Ihrer Kirche über Ihre Aktionen? Gehen Sie immer in dieselbe Kirche, oder in unterschiedliche? 

    Wir gehen mit der ganzen Familie seit 17 Jahren in dieselbe Kirche. Ich fing an, dort hinzugehen, als ich schwanger war. Die Kirche war damals gerade erst gebaut worden, nicht weit von unserem Haus. Nach dem 24. Februar habe ich in der Sonntagsschule sofort allen freudig berichtet, dass ich bei der Mahnwache war und festgenommen wurde. Und was war ich schockiert darüber, wie negativ  das aufgenommen wurde! Die Lehrer und der Direktor der Sonntagsschule zeigten ganz deutlich ihre kategorische Ablehnung.

    Wie haben sie denn argumentiert? Gab es eine inhaltliche Diskussion? 

    Ich weiß nicht, ob man das eine Diskussion nennen kann? Sie reden nur von „acht Jahren im Donbass“, von gekreuzigten Jungen … Und so geht es bis heute weiter; leider hat sich in diesen zweieinhalb Jahren nichts geändert. Gleichzeitig hat sich in der Gemeinde eine Gruppe gebildet, wobei sich die Leute erst gewissermaßen „abgetastet“ und sich dann zusammengefunden haben. Das ist eine Gruppe von Kirchgängern, die kategorisch gegen den Krieg sind. Wir treffen uns und beten zusammen. Wir lieben unsere Gemeindemitglieder, unsere Gemeindepriester. Wir sind traurig und beten für sie; wir hoffen, dass ihnen die Augen geöffnet werden.

    Ist das eine große Gruppe?

    Nein, sie ist ganz klein, vier Leute. Aber wenn man die Kinder mitzählt, sind es sehr viel mehr. Eine Frau hat fünf Kinder, eine andere drei und noch eine zwei. Es sind nämlich alles Mütter. Und es war ein interessanter Prozess, wie wir einander „abtasteten“. Wir haben uns nicht sofort einander offenbart, wir waren uns nicht sofort im Klaren, dass wir auf der gleichen Seite stehen. Nachdem ich mir an der extrem negativen Haltung der Lehrer der Sonntagsschule die Finger verbrannt hatte, hatte ich Angst bekommen, dass mich auch andere enttäuschen würden. Deswegen tastete ich mich da ganz behutsam vor. Sehr vorsichtig. Und schließlich stellte sich heraus: Es gibt sie! Es gibt doch Leute, die den Krieg ebenfalls kategorisch ablehnen. Besonders deutlich wurde das beim ersten Osterfest nach Kriegsbeginn, als ich sah, wie die Leute ihre Kulitsche gestaltet hatten: Bei einigen war die Dekoration gelb-blau und einige Eier waren ebenfalls in dieser Weise gefärbt. Was für eine Freude! Ich habe es nicht geschafft, irgendwie zu reagieren. Ich hätte so gern mit diesen Leuten gesprochen. Aber ich wusste ja nicht, von wem welcher Kulitsch oder welcher Eierkorb kam! Jedes Mal, wenn du in blau und gelb geschmückte Oster-Gaben siehst, wird dir klar, dass du nicht allein bist. Ich kann kaum beschreiben, wie wichtig dieses Gefühl ist!
     

    Symbole für und gegen Krieg: Das orange-schwarze Sankt-Georgs-Band ist seit 2014 Erkennungszeichen russischer Militaristen. Die gelbe Badeente war ironisches Symbol in Alexej Nawalnys Wahlkampf 2018 / Foto © Shaltnotkill.info

    Zurück zu Ihren Protestaktivitäten. Sind Sie jedes Mal, wenn Sie auf Demonstrationen oder zu Mahnwachen auf die Straße gingen, festgenommen worden? 

    Nein, natürlich nicht. Es haben ja viele protestiert, die konnten unmöglich alle eingesammelt werden. Meine zweite Festnahme war am 6. März. Und am 13. März wurde ich zum ersten Mal mit Hilfe von Sfera in der Metro festgenommen. Da wurde klar, dass ich bereits auf irgendwelchen Listen stehe, von Personen, die regelmäßig an Protesten teilnehmen. Bis zum 21. September 2022 sind gegen mich acht Verfahren wegen Ordnungswidrigkeiten eröffnet worden. Darüber hinaus wurde ich drei Mal aufgrund von Sfera in der Metro festgenommen.

    Was passierte mit Ihnen nach den Festnahmen in der Metro? Gab es Verhöre, Anzeigen? Ließ man Sie einfach gehen?

    Unterschiedlich. Einmal ließen sie mich einfach gehen. Ein anderes Mal brachten sie mich aufs Revier und bedrängten mich lange mit Fragen. Sie wollten meine Fingerabdrücke nehmen und mich moralisch unter Druck zu setzen. Das dritte Mal hielten sie mich vier Stunden fest, zwei in der Metro und zwei auf dem Revier.

    Und was war währenddessen mit Ihren Kindern?

    Die Kinder sind meine verwundbare Stelle, und die Polizei weiß das genau! Gerade da können sie ihren Druck ansetzen. Jedes Mal, wenn ich [zu Protesten] aufgebrochen bin, hatte ich alles bis ins Detail durchgeplant. Jedes Mal waren mein Mann und die Oma (meine Mutter) zu Hause. Und im Kühlschrank standen Töpfe mit Essen. Die Schuluniformen der Kinder waren gebügelt und die Zimmer perfekt aufgeräumt. Sie drohten mehrfach mit dem Jugendamt und einer Pflegschaft. Ich habe alles so eingerichtet, dass sie [die Leute vom Jugendamt], wenn sie doch auftauchen sollten, ein ideales Zuhause vorfinden würden: ideale Kinder, die Hausaufgaben gemacht, der Kühlschrank gut gefüllt … Deshalb war ich, wenn beim Verhör das Thema auf meine Kinder kam und die Drohungen mit Entzug des Sorgerechts losgingen, gut vorbereitet: Kommen Sie nur, Sie werden erwartet! Von der Oma, meinem Mann, den Kindern … Das heißt, ich habe jede Mahnwache vorher intensiv zu Hause vorbereitet. Einmal war es so, dass einer unserer Freunde zu uns kam. Er hatte zufällig bei OWD-Info meinen Namen gelesen und dann meinen Mann angerufen, weil er wissen wollte, ob das stimmt. Er blieb dann bei den Kindern, während mein Mann zu mir aufs Revier fuhr. Unser Freund half der Oma dann, die Kinder ins Bett zu bringen, kam mit dem Auto zum Revier und wartete mit meinem Mann bis Mitternacht, bis mich die Polizei frei ließ.

    Ihre Verwandten unterstützen Sie also. Teilen sie Ihre Einstellung zum Krieg? 

    Meine Mutter steht felsenfest hinter Putin. Nach dem Tod meines Vaters haben wir sie zu uns genommen. Sie hat außer mir niemand mehr. Um die ohnehin angespannte Lage nicht noch weiter zuzuspitzen, reden wir nicht über Themen rund um den Krieg. Wenn ich in die Küche komme, schaltet sie das Radio einfach aus.

    Ihre Kinder hören wahrscheinlich auch Radio? Oder gibt es eine Abmachung, dass das Radio nur ohne Kinder läuft?

    Die Kinder sind ganz auf meiner Seite. Wenn sie in die Küche kommen, schalten sie sofort auf den Kinderkanal um. „Wenn wir in die Küche gehen“, erzählen sie mir, „sagen wir: Oma, Oma, es gibt jetzt ein super interessantes Märchen auf dem Kinderkanal. Wir schalten jetzt um, OK?“ Und sie schalten um, obwohl doch klar ist, dass sie längst aus dem Alter raus sind, in dem sie den Kinderkanal gehört haben. Einerseits kämpfen sie für reine Luft „in einer Wohnung“ [im Original eine Anspielung auf „Sozialismus in einem Land“ – dek]. Andererseits vermeiden alle Streit. Manchmal fragen sie: „Mama, wie kann Oma das alles nur glauben?“. Sie lieben ihre Oma, sie tut ihnen leid, sie finden, dass sie getäuscht wurde. Dass unsere gute, liebe Oma einfach getäuscht wurde. Und deswegen wollen sie nicht, dass sie weiterhin diese Lügen hört. Es war übrigens ihre Idee, diese Tricks mit dem Radio zu veranstalten. Ich habe sie zu nichts aufgefordert. Und dafür haben sie meine Hochachtung, dass sie einen wirklich sehr menschlichen Weg gefunden haben, der Lüge entgegenzutreten.

    Ihr Mann ist solidarisch mit Ihnen?

    Mein Mann ist einer von den „Uneindeutigen“. Wissen Sie, einer von denen, die oft sagen: „Krieg ist natürlich etwas Schlechtes, das ist schrecklich, aber alles ist nicht so eindeutig …“ Einerseits sieht er meine kategorische Haltung und meine Unbeugsamkeit, und er versucht, das zu akzeptieren. Andererseits, wenn wir dann doch mal darüber reden, dann gerät er wieder in die eingefahrene Spur, nach dem Motto: „Ja, Krieg ist schon schlecht, aber dir ist ja wohl klar, dass wir provoziert wurden. Es stimmt zwar, dass wir angefangen haben. Aber andernfalls hätten sie uns doch angegriffen …“ Er ist gegen die Luftangriffe, gegen eine Konfrontation; er ist für Verhandlungen. Ich dagegen bin für einen vollständigen Sieg der anderen Seite! Manchmal scheint mir, dass er eher auf der anderen Seite steht. Für ihn ist die NATO ein Feind, Amerika ist ein Feind … Putin hat er aber nie gemocht. Na immerhin.

    Hat dieser Krieg die Haltung Ihrer Familie zu Putin verändert? 

    Das kann man eigentlich nicht sagen: Mein Mann hat ihn nie gemocht, meine Mutter hingegen fand ihn immer gut.

    Haben Sie sich vor dem Krieg an Protestbewegungen beteiligt? Etwa an Nawalnys Bewegung gegen Korruption, oder haben Sie vielleicht an Protesten im Zusammenhang mit der Ermordung Nemzows teilgenommen?

    Es ist mir peinlich …, peinlich, das zu sagen, aber ich … ich habe mich ausschließlich um die Kinder gekümmert.

    Warum ist Ihnen das peinlich?

    Ich schäme mich vor mir selbst, weil ich nichts gesehen, nichts gemerkt habe. Schließlich hat der Krieg ja nicht aus dem Nichts begonnen. Und jetzt fragen mich viele, wo ich denn eigentlich früher war? Früher habe ich in einer Idealwelt gelebt.

    Haben Sie keine Angst, hinter Gittern zu landen? Sie haben in Gefangenentransportern gesessen, wurden auf dem Polizeirevier festgehalten. Haben Sie keine Angst vor dem russischen Gefängnis? 

    Natürlich habe ich Angst, aber längst nicht in dem Maße, wie ich Angst um meine Kinder habe. Es gab einen Augenblick, während einer der Festnahmen, da dachte ich, dass sie mich diesmal nicht wieder frei lassen. Das dauerte nur zwei Stunden. Aber ich dachte: Das war’s jetzt! Ich erinnere mich genau an meinen Zustand in diesen zwei Stunden, wenn man an die Kinder denkt. Als das Schloss der Zellentür eingerastet war und ich auf dem Boden lag und mit aller Kraft versuchte, Gedanken an die Kinder zu vermeiden, daran, was mit ihnen passieren wird. Weil mir ganz schrecklich zumute war: Was wird aus ihnen, wer wird ihnen bei den Schulaufgaben helfen, wer bringt sie zu den AGs, wer wird sie in ihrer Entwicklung fördern, und vor allem – wer wird sie vor der Propaganda schützen?

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  • „Heimat, kehr zurück nach Hause“

    „Heimat, kehr zurück nach Hause“

    Im Frühjahr 2010 trifft sich Wladimir Putin mit Kulturschaffenden in Sankt Petersburg. Einer der Anwesenden erhebt sein Glas: „Ich möchte auf unsere Kinder anstoßen. Darauf, in was für einem Land sie leben werden: in einem finsteren, bösen, korrupten, totalitären, autoritären, mit nur einer Partei, einer Hymne, einer Denkweise … Oder in einem hellen, demokratischen Land, in dem wirklich alle gleich sind vor dem Gesetz. Mehr muss es nicht sein. Leider haben wir all das noch nicht. Aber ich wünsche sehr, dass unsere Kinder in diesem Land leben und gesund werden.“ Der Redner ist Juri Schewtschuk – eine Ikone der russischen Rockmusik, der mit seiner Band DDT Geschichte geschrieben hat.

    Für den Blog Inymi slowami hat Denis Bojarinow ein Porträt verfasst über den Rockstar und prominenten Kriegsgegner Schewtschuk, der seine Heimat über alles liebt und an ihr leidet.

    „Heimat, kehr zurück nach Hause … Werde nicht verrückt, das ist nicht dein Krieg“, beschwört Juri Schewtschuk auf seinem aktuellen Album / Foto © Imago, Scanpix

    In den engsten Kreisen des Leningrader Rock-Klubs erzählte man sich über Juri Julianowitsch Schewtschuk folgende Geschichte: Eines Nachts spazierte er mit ein paar Leuten über den Platz vor dem Winterpalast. Inspiriert startete er mehrere beharrliche Versuche, auf die Alexandersäule zu klettern, also auf ein mit den Armen nicht zu umfassendes Monument aus poliertem Granit. Er schaffte es nicht einmal auf den Sockel, brüllte aber laut über den ganzen Schlossplatz: „Ich fühle die Kraft in mir!“  

    Es gibt auch eine andere Geschichte. Ungefähr aus derselben Zeit, aber bereits dokumentiert. Bei einem Rock-Festival in Tschernogolowka bei Moskau im Juni 1987 trat Juri Schewtschuk mit seiner Band DDT in neuer Besetzung als Shootingstar des Undergrounds auf: Das ganze Land überspielte sich in dieser Zeit die Alben Periferija (dt. Peripherie) und Ottepel (dt. Tauwetter) auf Kassetten, und DDT galt als größte Entdeckung auf dem fünften Festival des Leningrader Rock-Klubs, das ein paar Wochen zuvor stattgefunden hatte. Frontman Schewtschuk – Bürstenschnitt, Militärhemd mit drei Oktjabrjata-Sternchen – eroberte mit seinem elektrisierten Auftritt die in Tschernogolowka versammelten Rockfans. Am Morgen mussten ihn die Festivalveranstalter aus einer Gefängniszelle befreien. Da war er hineingeraten, weil er in den frühen Morgenstunden in seinem Hotelzimmer eine klassische Rock’n’Roll-Aktion hingelegt hatte: Er warf Möbel aus dem Fenster und schrie: „Wer hat was zu trinken für den großen Sänger Juri Schewtschuk?“ Als die Polizei kam, schlief der Bandleader bereits; sie rüttelten ihn wach, und mit den Worten „Ich glaube, ich träume“ gab er dem nächststehenden Polizisten eins auf die Schnauze. So landete er im Tschernogolowker Kittchen, wo später eine Gedenktafel angebracht wurde: „Hier war vom 27. bis 28. Juni 1987 Juri Schewtschuk.“ Die ist aber heute bestimmt nicht mehr da.  

    Ungestüme Wildheit und eine unerklärliche Herzlichkeit

    Diese beiden Geschichten illustrieren die enorme Energie, die Juri Schewtschuk und seine Songs bis heute ausstrahlen: Zu so hochgradigem Übermut und ungestümer Wildheit waren nur wenige seiner zeitgenössischen Rock-Kollegen fähig. Ganz zu schweigen von den Nachfolgern; der Maßstab von Geste und Tat war später – tja, einfach nicht mehr derselbe. Das humanistische Pathos in Schewtschuks Songs, sein treuherziges Charisma und die unerklärliche Herzlichkeit, die ihm anhaftet, milderten die rockige Hochspannung immer schon ein wenig ab. Gänzlich verschwand sie aus den DDT-Songs aber nie. Mit den Jahren wurde Juri Schewtschuk vielleicht so etwas wie ein Lew Tolstoi des russischen Rock, doch Aufstand, Chaos und göttlicher Wahnsinn leben immer noch in seinem Herzen; jeden Moment kann in seinen Augen ein kecker Funken aufglühen und seiner Brust ein wilder Schrei entfahren. 

     
    Juri Schewtschuk singt den DDT-Song Swoboda (dt. Freiheit) von 1997

    Mit seinem dichten Bart, der unmodischen Frisur, der Intellektuellenbrille und dem bürgerbewussten Pathos in seinen Liedern sah Schewtschuk erwachsener aus als all die anderen Stars des Rock-Klubs. Sogar älter als Boris Grebenschtschikow, von [Rocksänger] Konstantin Kintschew oder Viktor Zoi ganz zu schweigen. Vor dem Hintergrund der Leningrader Rockszene, die stets die westlichen Trends im Blick hatte, wirkte Schewtschuk wie aus einer anderen Welt und einer anderen Zeit. Angeblich witzelten die hippen Petersburger Rocker hinter seinem Rücken und nannten ihn etwas abfällig den „Barden aus Ufa“. Irgendwie blieb er immer mit einem Bein in den 1970er Jahren – einem Jahrzehnt, in dem in der UdSSR die Subkulturen der Barden und der Hippies verbreitet waren. Schewtschuk schaffte es, diese beiden Richtungen in einer Person zu vereinen. 

    Ein Hippie aus der Provinz

    Seiner Abstammung nach ist Juri Schewtschuk ja wirklich ein Hippie aus der Provinz. Er singt auch oft von Hippies, Hippari, Hippany – mit besonderer Zärtlichkeit. Die sowjetischen Hippies waren Kinder aus der Mittelklasse, da war Schewtschuk keine Ausnahme; er ist ein Vertreter der „goldenen Jugend“, Sohn eines hochrangigen Parteifunktionärs im Regionalkomitee und einer Universitätsdozentin, die ihr Kind zum Künstler erzogen. „Ich bin selbst einer von denen“, gab Schewtschuk in seiner Satire Maltschiki-mashory (dt. Bonzenkinder) zu. Als Jugendlicher hing er auf dem Broadway von Ufa ab (der Lenin-Straße), hörte westliche Schallplatten, schrieb Lieder, die von Wyssozki und Okudshawa inspiriert waren, und versuchte sich als Rockmusiker. Einen ersten Konflikt mit der Polizei hatte er bereits als Schüler: Weil er ein T-Shirt mit dem selbst aufgemalten Schriftzug „Jesus war ein Hippie“ trug, wurde er auf die Wache mitgenommen.

    Schewtschuk ist und bleibt ein treuer Bekenner zum Weltbild der Blumenkinder. Seine Philosophie beruht auf den Maximen All you need is love und Make love, not war. Der erste Song von DDT, aufgenommen im Studio des baschkirischen Fernsehens, war die pazifistische Hymne Ne streljai (dt. Schieß nicht). Wie Schewtschuk sich erinnert, schrieb er dieses Lied, als er von einem aus Kabul zurückkehrenden Schulkollegen erfuhr, dass die UdSSR ihre Soldaten nach Afghanistan in den Krieg schickte und nicht, damit sie dort Kindergärten bauen, wie die Propaganda behauptete. Predigten vom Widerstand gegen das Böse mit Liebe und Güte sind in jedem DDT-Album zu hören, angefangen von Periferija aus dem Jahr 1984, mit dem Schewtschuk sich in Ufa Probleme mit dem KGB einhandelte. 

     
    Am 10. April 2022 spielt DDT Ne streljai (dt. Schieß nicht) im russischen Woronesh

    Die ersten, die den DDT-Sänger nach seinem erzwungenen Umzug von Ufa nach Leningrad schätzten und willkommen hießen, waren alteingesessene Hippies rund um Gena Saizew – dem ersten Vorsitzenden des Leningrader Rock-Klubs. Er vermutete in dem bärtigen Landei einen Nachfolger für Shora Ordanowski mit seiner Band Rossijane, der Anfang der 1980er Jahre der Star der Leningrader Hippieszene war. Gena führte Schewtschuk in die Bohème ein, machte ihn in der Puschkinskaja 10 bekannt und half ihm, in Leningrad neue Mitglieder für seine Band DDT zu finden, deren Manager er dann wurde. In Alexej Utschitels Dokumentarfilm Rok (dt. Rock), der die zukünftigen Idole kurz vor dem richtigen Durchbruch verewigte, sehen Schewtschuk und seine Clique wie eine happy Hippie-Kommune aus: Sie spazieren mit Frauen und Kindern durch die Natur, lachen von Bäumen herunter, machen Lagerfeuer und grölen Zigeunerlieder zu Gitarre und Geige. Häuptling dieses Camps ist Jurka Schewtschuk, noch mit langer Mähne wie der König der Löwen. 

    Er erzählt, wie wichtig ihm die Anerkennung seines Vaters war, der mit siebzehn Jahren als Soldat an die Front musste. Er hatte das, was sein Sohn tat, lange nicht verstanden und nicht akzeptiert, doch dann war er auf einem der ersten Konzerte von DDT in Leningrad, befragte das Publikum streng nach seiner Meinung und war mit den Reaktionen zufrieden. „Na, Papa, wie hat’s dir gefallen?“, fragte Schewtschuk ihn. „Wie auf dem Panzer nach Berlin!“, war die stolze Antwort des Vaters. 

     
    Ljubow (dt. Liebe) war der erste Song nach Schewtschuks Rückkehr aus dem kriegszerstörten Tschetschenien 1996. Später sagte der Musiker, dieser Song sei seine Rettung gewesen

    Im Herzen ein Hippie und bekennender Anarchist und Pazifist, kennt Juri Schewtschuk den Krieg nicht nur aus Erzählungen. Im Winter 1995 zog er mit seiner Gitarre los nach Grosny, das die russische Armee gestürmt hatte. Er sang für die Soldaten, machte sich als Pfleger nützlich und beteiligte sich am Austausch von Kriegsgefangenen. Als 1996 das Waffenstillstandsabkommen von Chassawjurt geschlossen wurde, gab DDT in Tschetschenien drei Konzerte: Im Stadion von Grosny für die Stadtbewohner und auf russischen Militärstützpunkten. Diese Touren machten auf Schewtschuk großen Eindruck. In Tschetschenien schrieb er seine eindringlichsten Songs – Mertwy gorod. Roshdestwo (dt. Tote Stadt. Weihnachten) und Pazany, und er trug ein posttraumatisches Belastungssyndrom davon. Doch seinem Glauben an die heilende Kraft der Liebe blieb er treu – das erste Lied nach seiner Rückkehr aus dem Krieg hieß Ljubow (dt. Liebe). Das gleichnamige Album erschien im selben Jahr, 1996. Später sagte der Musiker, dieser Song sei seine Rettung gewesen.      

    „Alle meine Lieder handeln von der Liebe und der Heimat“ 

    Liebe ist in Schewtschuks poetischer Welt mehr als eine philosophische Kategorie. Oft tritt sie als personifiziertes Wesen auf, meist als göttliche Natur. Oder als Mensch, dann trägt sie einen Frauennamen (Galja, Antonina, Jekaterina, Marina, Nacht-Ljudmila). Es kann auch ein reales Vorbild geben, wie im Fall von Aktrissa Wesna (dt. Schauspielerin Frühling), das Schewtschuk seiner ersten Frau Elmira widmete, die auf tragische Weise ganz jung an Krebs gestorben ist. Schewtschuks Glaube an die Kraft der Liebe, die auch das Ende aller Zeiten überleben wird, kommt in seinen Texten nicht nur in platonischer Form, sondern auch in sinnlichen Bildern zum Ausdruck, was für die sowjetische Rock-Tradition völlig untypisch ist, die von der westlichen Formel „Sex, Drugs & Rock’n’Roll“ abweicht. So ausgiebig wie er sang da wohl keiner über die irdische Liebe.

    Sein lyrisches Ich hatte niemals Potenzprobleme – in seiner Jugend faszinierte ihn der Körper („Ich falle von den Gipfeln deiner Brust. Ich irre durch die Taiga deines Haars“) genauso wie die Augen („Arterhaltung fordern diese Teufelsaugen!“). Sein Bett blieb nicht kalt: Schewtschuk sprach poetisch von einem „Hochofen zwischen den Beinen“, und dessen Hitze loderte in seinen Liedern. Bei den unschuldigsten Themen schwang der Eros mit, auch wenn es scheinbar um naturphilosophische Betrachtungen ging – wie etwa in dem Dauerhit Weter (dt. Wind): „O, schöne Weite, die den Himmel verschluckt / Wolken, die sich wie an die Geliebte an die Erde schmiegen / Wo du und ich unter einem einfachen Dach / aneinander Wärme suchen.“ Mit den Jahren denkt dieses Ich zwar mehr und mehr an das Ende des Lebens, doch seine Vitalität lässt trotzdem von sich hören: Im Album Twortschestwo w pustote – 2 (dt. Kreativität in der Leere – 2) aus dem Jahr 2023 heißt es: „… und die Alte mit der Sense will Sex mit mir“. 

     
    Weter (dt. Wind) aus dem Jahr 1995 zählt zu den Dauerhits von DDT

    „Alle meine Lieder handeln von der Liebe und der Heimat“, sagt der DDT-Leader gern mit einem Augenzwinkern, wobei das nicht nur ein Witz ist. Seine Heimat hat Schewtschuk sogar noch lieber als die Frauen. Sie ist die Heldin seiner feurigsten Romanzen und Grund für bittere Beobachtungen voller Enttäuschungen. Wie wir aus seinem berühmten Song wissen, der jetzt am Ende von Konzerten im Ausland immer auf besondere Weise erklingt, ist die Heimat grad „ein Dornröschen, das Arschlöchern vertraut“, und davon kommt alles Übel. 

    „Heimat – das ist nicht der Arsch des Präsidenten“ 

    Schewtschuks Gedanken über sein Land sind der Grund dafür, warum die russische Kultband mit hunderttausenden Fans heute nur mehr außerhalb der Russischen Föderation auftreten darf. Während eines Konzerts in Ufa im Mai 2022 teilte Juri Schewtschuk, der sich wenig überraschend gegen den Krieg positioniert, dem Publikum mit, was er vom aktuellen Geschehen hält. Im Internet verbreitete sich daraufhin ein Video, in dem Schewtschuk zum applaudierenden Publikum sagt: „Heimat, liebe Freunde, das ist nicht der Arsch des Präsidenten, den man ständig bespeicheln und küssen muss. Heimat, das ist das arme Großmütterchen am Bahnhof, das Kartoffeln verkauft. Das ist Heimat.“ Das sagte er auch früher schon – etwa ein paar Tage zuvor beim Konzert in Jekaterinburg, doch die Polizei holte ihn erst in seiner Heimatstadt Ufa. Sofort nach dem Auftritt, als er vor dem Beifall klatschenden und skandierenden Publikum die Bühne Richtung Backstage verließ, sperrten ihm die Ordnungshüter den Weg ab. Am 16. August 2022 verhängte ein Bezirksgericht in Ufa gegen Schewtschuk eine Geldstrafe in Höhe von 50.000 Rubel [530 Euro]. Der Einspruch, den er dagegen erhob, wurde abgewiesen. Das Konzert in Ufa wurde somit das Letzte, das die Band in Russland gab.

     
    Schewtschuk beschreibt im Interview mit Katerina Gordejewa, wie 2022 bei einem Konzert in Ufa Ordnungshüter in den Backstage-Bereich kamen, nachdem er sich auf der Bühne kritisch geäußert hatte

    In ihrem 40-jährigen Bestehen war es nicht das erste Mal, dass DDT auf einer schwarzen Liste stand. Schewtschuk hatte seit 2010 immer wieder bei Protestaktionen gesungen, weswegen des Öfteren DDT-Konzerte gecancelt wurden. Doch dieses Verbot tat ihm weh. Im Interview mit Katerina Gordejewa kommentierte er die aktuelle Situation so: „Russland würde DDT momentan mehr denn je auf seinen Bühnen brauchen. Wir sind eine extrem soziale Band. Wir haben viele Songs und Betrachtungen – über Heimat, Vergangenheit, Zukunft … Wir müssen in Russland spielen. Im Westen gibt es genug Friedensstifter, hier fehlen sie. Dass sie uns die Konzerte abgedreht haben, das ist ein schwerer Schlag. Weil sie uns unsere wichtige und notwendige Arbeit genommen haben. Da geht es gar nicht um Geld. Wir können unsere Pflicht gegenüber Russland nicht mehr erfüllen: unsere Gedanken formulieren, unsere Wärme mit den Menschen teilen.“    

    2023 hatte Juri Schewtschuk einen Herzinfarkt, im Januar 2024 ging er aber schon wieder auf Tournee – im Ausland: Bulgarien, Serbien, Türkei und Emirate. Generell verlassen hat er Russland aber nicht; er lebt nach wie vor als Einsiedler in einem Dorf bei Sankt Petersburg.

    Unmissverständliche Anti-Kriegs-Botschaften

    Man kann Juri Schewtschuk zwar verbieten, in seiner Heimat aufzutreten, aber nicht, über sie zu singen. Im Juli 2023 kam sein neues Album Wolki w tire (dt. Wölfe im Schießstand) heraus. Er nahm es nicht mit DDT auf, sondern mit dem jungen Gitarristen und Producer Dimitri Jemeljanow, der in den letzten Jahren immer mit Zemfira zusammenarbeitete. Schewtschuks Begründung war, dass er ein wenig experimentieren und einen „analogen Tube Sound im Stil der 1970er Jahre“ erzielen wollte. „Uns verbindet die Liebe zur Blütezeit der echten Rockmusik“, sagte er. Die Anti-Kriegs-Botschaft von Wolki w tire ist auffällig und unmissverständlich wie ein Plakat: Schon als Kunststudent hatte Schewtschuk ein Händchen für einprägsame Agitation, er kann Dinge auf den Punkt bringen. Das Album, das lauter Lieder enthält, die nach der Invasion in der Ukraine entstanden, wird von dem Appell eröffnet: „Heimat, kehr zurück nach Hause.“ „Werde nicht verrückt, das ist nicht dein Krieg“, beschwört Juri Schewtschuk im Refrain. 

     
    „Heimat, kehr zurück nach Hause“ heißt es in dem aktuellen Song von Juri Schewtschuk und Dimitri Jemeljanow

    Darauf folgen bissige Botschaften an den Präsidenten: Tanzy (dt. Tänze) mit dem Refrain „Solang er nicht verreckt ist, der Onkel im Betonsack“ und die tintenschwarzen Lieder Nadeshda (dt. Hoffnung) und Dron (dt. Drohne). Am Schluss kommt ein ritueller Reigentanz anlässlich einer imaginierten Bestattung des Krieges, in dem Schewtschuk sich selbst oder jene anspricht, die auf seine Worte hören: „Sing ein schönes Lied, Alter, sing von der Liebe – dann kommt es auch so.“ Und er demonstriert selbst, wie man das tun kann und soll: Das Album Wolki w tire enthält mit Tschaikowski und Potop (dt. Flut) wahrscheinlich die erhabensten Liebeslieder, die er in den letzten Jahren verfasst hat. Der Hippie vom Land, Barde aus Ufa, Jura mit der Gitarre, der irre Klassiker des russischen Rock glaubt immer noch an die messianische Idee des Rock’n’Roll und versucht wieder und wieder, seine unerschöpfliche Heimat mit Salven von Liebe und Güte zu wärmen. Und auch wenn das ein aussichtsloses Unterfangen zu sein scheint – Hauptsache, er fühlt die Kraft in sich. 

     
    Aus einer Zeit, in der die Band noch in Russland auftreten konnte: DDT spielt 2017 in Moskau den zeitlosen Klassiker Eto wsjo (dt. Das ist alles)

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    Anna Netrebko

    „Schande! Schande!“, klingt es die Berliner Prachtstraße Unter den Linden hinauf. Die Staatsoper spielt an jenem Abend im September 2023 Giuseppe Verdis Macbeth. In der Hauptrolle der Lady Macbeth: Anna Netrebko – und an dieser Besetzung entzündet sich Widerstand. Die Sängerin hatte sich in der Vergangenheit bereitwillig in die Dienste des Kreml gestellt und sich nur halbherzig vom Angriffskrieg auf die Ukraine distanziert. Einige Protestierende haben sich in ukrainische Flaggen gehüllt. Sie halten Schilder mit der Aufschrift „Nonetrebko“ in die Höhe. Auf einem Plakat ist eine Ballerina in Russlands Nationalfarben mit umgehängtem Maschinengewehr zu sehen. Auf einem anderen steht: „Wer Putin und die Terroristen unterstützt, ist auf Berliner Bühnen nicht willkommen.“ 

    Anna Netrebko während ihres Auftritts auf dem New Wave Song Contest 2019 anlässlich des 65. Geburtstags des Komponisten Igor Krutoi in Sotschi / Foto © Vyacheslav Prokofyev/Imago/Itar-Tass

    In der Welt der klassischen Musik sind Superstars selten geworden. Anna Jurjewna Netrebko ist eine Ausnahme und seit Anfang des Jahrtausends eine der erfolgreichsten Sopranistinnen. Ihr Gesicht ziert zahlreiche Alben in Nahaufnahme, ihr Name ist oft größer geschrieben als der des Komponisten oder des begleitenden Orchesters. Seit der Krim-Annexion im Jahr 2014 ist dieser Name jedoch – mit Hashtag als #Nonetrebko versehen – zur Chiffre geworden: für die Verantwortlichkeit von Kunstschaffenden in Diktaturen und für den Umgang mit der russischen Hochkultur im Westen. Aber auch für das Spannungsverhältnis zwischen Musik und Politik, das in den Jahren nach dem Ende des Kalten Kriegs aus dem Blick geraten war. Diese Entwicklung ist eng mit Anna Netrebko, ihrer Biografie und ihren Entscheidungen verbunden.  

    Netrebko wurde 1971 in Krasnodar als Tochter eines Geologen und einer Ingenieurin geboren. Ihre Ausbildung erhielt sie während der Perestroika-Zeit am Leningrader Konservatorium. Gerade rechtzeitig, um noch von der staatlichen Kultursubvention und der überragenden Qualität der Künstlerausbildung in der Sowjetunion zu profitieren, die nach 1991 in sich zusammenfiel.  

    Im 20. Jahrhundert war der Konzertsaal über Jahrzehnte ein Schlachtfeld des Kalten Kriegs gewesen.1 In der sowjetischen Zeit investierte der Staat Unsummen in die Förderung von Pianistinnen, Dirigenten, Sängerinnen und Musikern. Er schuf ein System der Musikausbildung, das heute noch seinesgleichen sucht. Wer es durchlaufen hatte, dem winkten Ruhm und Ehre – in der Heimat wie auch international. Dafür hatten die Absolventinnen und Absolventen eine wichtige Aufgabe: Sie sollten fortan von der Überlegenheit des sozialistischen Systems, der Kultiviertheit des Sowjetmenschen und seinem friedliebenden Charakter zeugen.  

    Als Anna Netrebko im Jahr 1993 in Moskau mit 22 Jahren den Internationalen Glinka-Gesangswettbewerb gewann, schien diese politische Indienststellung von Künstlerinnen bereits ein Relikt der Vergangenheit zu sein. Ihre Karriere führte sie schnell um die ganze Welt; als Ljudmila in Glinkas „Ruslan und Ljudmila“ an der San Francisco Opera gelang ihr 1995 der internationale Durchbruch. Anfang der 2000er Jahre war Netrebko ein Klassikstar, mit Wohnsitzen in Wien und New York. Dem russischen Publikum, insbesondere am Petersburger Mariinskii-Theater, blieb sie dennoch eng verbunden.  

    Neben ihrer dunklen, voluminösen Stimme sorgte auch ihr sorgsam inszeniertes Aussehen dafür, dass ihre Alben zu Kassenschlagern werden. Verträumt blickt sie mit großen Augen vom Cover herab ihre potenziellen Käufer an, ihre langen Haare kunstvoll verzwirbelt oder offen und wild um ihr Gesicht herum drapiert. Zusammen mit dem Dirigenten Waleri Gergiew steht sie für eine neue Generation russischer Kulturbotschafterinnen und Kulturbotschafter, die erstmals nach den Maßstäben westlicher Popkultur vermarktet werden. Wladimir Putin nutzt sie, um seit dem Ende des Zweiten Tschetschenienkriegs mit denkwürdigen Konzertauftritten seine Charmeoffensive im Westen zu befeuern. 

    Netrebko nahm die Rolle einer populären Unterstützerin des Präsidenten bereitwillig an, auch als sein politischer Kurs immer stärker ins Autoritäre drehte. 2011 unterzeichnete sie eine Petition, in der Prominente im Stil einer Eingabe des Volkes an den Zaren die Kandidatur Wladimir Putins für eine weitere Amtszeit unterstützten. Es sei Putins „Engagement für die Kunst“ gewesen, das sie zu diesem Schritt bewogen habe, erklärte die russische Vorzeige-Künstlerin. Zu diesem Zeitpunkt lebte sie bereits in Österreich. Von ihrer Nähe zum Regime profitierte sie zuvor bereits mehrfach: 2005 wurde sie mit dem auf mehrere Millionen Rubel dotierten Staatspreis der Russischen Föderation ausgezeichnet. 2008 verlieh ihr Putin persönlich den Ehrentitel einer „Volkskünstlerin Russlands”.2 Bei der Auftaktveranstaltung der Olympischen Winterspiele in Sotschi durfte sie die Olympische Hymne singen – offensichtlicher konnte ihre Indienststellung durch den Staat kaum inszeniert werden.3  

    Im Dezember 2014 spendete Netrebko eine Million Rubel (knapp 19.000 Euro) an die Oper im russisch besetzten Donezk. Bei einem Pressetermin tritt sie mit dem Sprecher des „Parlaments“ von „Neurussland“, Oleg Zarjow, auf. Gemeinsam halten sie eine Flagge des Separatisten-Staates / Foto © Imago/Russian Look

    Im Dezember 2014 ging ein Foto von Netrebko um die Welt, das sie im festlichen Abendkleid und mit roten Rosen neben dem vom Kreml unterstützten Separatistenführer Oleg Zarjow zeigte. Gemeinsam entrollten sie eine Flagge des Pseudostaates Neurussland, einer kurzlebigen Verbindung der beiden selbst ernannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk. Bereits vier Jahre zuvor hatte ein Auftritt von ihr in Wien Empörung ausgelöst: Zu einem anschließenden Pressetermin erschien sie in einem weißen Kleid mit der Aufschrift „Na Berlin“ (dt. Nach Berlin!) und einem angehefteten St. Georgs-Band. Die Losung und die Schleife sind beide unmissverständliche Chiffren russischer Militärpropaganda. In Interviews beteuerte Netrebko jedoch stets, von Politik wenig zu verstehen und sich eigentlich nur ihrer Kunst widmen zu wollen – eine oftmals von Kunstschaffenden ins Feld geführte rhetorische Strategie, um die eigene Indifferenz apologetisch zu verklären. 

    Russlands Überfall auf die gesamte Ukraine am 24. Februar 2022 beendete endgültig eine kulturpolitische Epoche der russländischen Geschichte, in der Kunst auch ohne politische Positionierung möglich gewesen war. Russische (und mit ihr auch das Erbe der sowjetischen) Kultur ist seitdem wieder untrennbar mit nationaler Ideologie verknüpft. Kulturschaffende sehen sich mit der unausweichlichen Frage konfrontiert, wie sie dem Regime gegenüberstehen. Negativ? Dann bleibt ihnen nur das Exil. Positiv? Dann müssen sie sich von einer internationalen Karriere im Westen verabschieden. Dazwischen ist kein Platz mehr. 

    Anna Netrebko aber wollte beides: Eine glitzernde Karriere auf den Bühnen der Welt und ein ungetrübtes Verhältnis zu ihrem Förderer Putin. Dieser Spagat war nicht zu halten: Am 1. März 2022 schrieb sie auf ihrem Instagram-Profil: „Ich rufe Russland auf, diesen Krieg jetzt zu beenden, um uns alle zu retten! Wir brauchen Frieden“. Noch am selben Tag wurde der Beitrag wieder gelöscht.4 Für die polarisierte Gesellschaft in ihrem Heimatland war das genug, vielen gilt sie seitdem als Verräterin. Von einem geplanten Auftritt in Nowosibirsk wurde sie prompt ausgeladen, die Kreml-treue Wochenzeitung Argumenty i Fakty bezeichnete sie als „schwache Frau“. 

    Bis heute hat Netrebko gleichwohl nicht klar Stellung gegen den russländischen Angriffskrieg gegen die Ukraine bezogen. Der faustische Pakt, den sie mit dem Regime einging, ließ sie nicht mehr los. Die New Yorker Metropolitan Opera und die Berliner Staatsoper verlangten von ihr, sich öffentlich vom Angriffskrieg zu distanzieren. Doch der Forderung wollte sie nicht nachkommen, verklagte die Met sogar auf Schadensersatz. In der Folge luden europäische und amerikanische Opernhäuser sie aus und besetzten ihre Rolle neu.  

    Proteste gegen Netrebkos Engagement an der Berliner Staatsoper im September 2023 / Foto © Imago/Frank Gaeth

    Diese Entscheidungen wurden von einer heftigen öffentlichen Debatte begleitet, die bis heute andauert und die nicht nur Netrebko betrifft: Wie soll der Konzertbetrieb mit Künstlerinnen und Künstlern aus Russland umgehen, die er vor 2014 gefeiert hat? Die Diskussion bewegt sich zwischen zwei Polen: Auf dem einen Ende des Spektrums stehen diejenigen, die einen Boykott aller russischen Kulturschaffenden fordern; die Gegenseite setzt die Kunstfreiheit absolut. 

    Im Zentrum dieser Debatte steht – auch in Deutschland – Anna Netrebko. Matthias Schulz, der Intendant der Staatsoper Unter den Linden begründete seinen Entschluss damit, dass Netrebko Russlands Krieg deutlich kritisiert habe. Man könne es als Zeichen sehen, dass Netrebko auf einer pro-ukrainischen Bühne wie der Staatsoper auftrete, weil sie dafür in Russland mit Konsequenzen rechnen müsse, sagte Schulz dem SWR2.5 Anlässlich eines Auftritts von Netrebko bei den Internationalen Maifestspielen in Wiesbaden verteidigte der damalige Intendant Uwe-Eric Laufenberg seine Entscheidung, die Sängerin nicht auszuladen: „Das gehört für mich aber auch zur Kunstfreiheit, dass man auch Kunst machen kann, indem man sich eben nicht politisch äußert. Das muss ja auch eine Art von Freiheit und von Möglichkeit sein“, sagte er zu Festivalbeginn.  

    Im Berliner Fall stellten sich 38 Organisationen und etwa 100 Wissenschaftlerinnen (darunter der Autor dieser Gnose) und Prominente dieser fragwürdigen Entpolitisierung des Kunstschaffens entgegen. Sie verwiesen auf die herausragende kulturpolitische Bedeutung Netrebkos für die russische Propaganda und forderten die Leitung der Staatsoper auf, Netrebko auszuladen.6 Auch Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner und sein Kultursenator Joe Chialo kritisierten den Auftritt. Das Publikum der Berliner Aufführung allerdings ließ sich weder von politischen Bedenken noch durch den lautstarken Protest vor dem Operngebäude beeindrucken und bejubelte die Sopranistin. Für die Saison 2024/2025 kehrt Netrebko nach Berlin zurück – als Abigaille in Verdis Nabucco.  


    1. Caute, David, The Dancer Defects. The Struggle for Cultural Supremacy During the Cold War, Oxford 2003. ↩︎
    2. https://www.classicalmusicnews.ru/news/anna-netrebko-stala-narodnoi-artistkoi-rossii/ ↩︎
    3. https://www.youtube.com/watch?v=pFqEKpjw-ns ↩︎
    4. https://www.br-klassik.de/aktuell/news-kritik/anna-netrebko-2022-wie-sie-sich-zu-putin-und-ukraine-verhaelt-100.html ↩︎
    5. https://www.swr.de/swrkultur/musik-klassik/kontroverse-um-anna-netrebko-intendant-staatsoper-berlin-matthias-schulz-netrebko-hat-sich-glaubwuerdig-distanziert-100.html ↩︎
    6. https://vitsche.org/news/offener-brief-keine-buhne-fur-putin-unterstutzerin-anna-netrebko/ ↩︎

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